05 – 2024 Weltwoche: »Eine Jurassierin in Basel«

Wunschwelten

Eine Jurassierin in Basel

Meine französischsprachige Mutter hat sich in der Deutschschweiz nie integriert.Warum sollten es junge Männer aus Afghanistan und Nordafrika tun?


Claude Cueni

Darf dieser Mann für Deutschland singen?», fragte die Bild -Zeitung 1998 besorgt, als sich der Sänger Guildo Horn («Guildo hat euch lieb!») in der deutschen Vorentscheidung mit 60 Prozent der Stimmen für die Eurovision qualifizierte. Dank der negativen Presse erlangte Guildo Horn grosse Medienaufmerksamkeit. Guildos Liebe stiess jedoch nicht auf Gegenliebe. Von den meisten Ländern erhielt er null Punkte. Er landete auf Platz sieben.

Auch bei den Themen Migration und Integration vertraten seit Herbst 2015 einige die Meinung, wir müssten alle Gäste Angela Merkels lieben, dann würden wir das schon schaffen. Doch als es die Gäste waren, die uns zunehmend schafften, hatten einige die Idee, man müsse kostenlose Sprachkurse anbieten. In diesem Punkt waren sich alle einig: Ohne Sprachkenntnisse ist Integration kaum möglich. Doch auch mit dieser Massnahme liess sich die Wunschwelt nicht realisieren. Die kostenlosen Kurse waren kein Renner. Viele haben sich gewundert: Wieso wollen sie unsere Sprache nicht erlernen? Haben wir sie zu wenig geliebt? Oder liebten sie uns gar nicht?

Buchhandlung und Tombola

Ich habe mich nicht gewundert. Meine Mutter wuchs in einem jurassischen Dorf auf. Ihr gesamtes Erwachsenenleben verbrachte sie in Basel. Mit ihr hätte man keine Wunschwelt realisieren können. Auch nicht mit Geld. Meine Mutter liess sich nicht integrieren, weil sie die deutsche Sprache hasste, weil sie die Deutschschweizer ( les boches ) nicht mochte und weil es in Basel schon so viele Jurassier gab, dass diese ihre eigene Kirche, ihre eigene Buchhandlung und ihre eigenen Tombolaabende hatten. Integration war gar nicht mehr notwendig.

Wenn man schon meine Schweizer Mutter nicht integrieren konnte, wie soll man dann einen jungen Mann aus Nordafrika oder Afghanistan integrieren? Die «Experten», die gerne für uns einordnen, haben meistens den gleichen Ratschlag: Wir müssen uns mehr bemühen. Es liegt an uns. Wer anmerkt, dass einige Zuwanderer nicht uns lieben, sondern unsere Sozialsysteme und unsere Beutegesellschaft, gerät umgehend in Verdacht, ein Rechter zu sein, wobei das heute gleichbedeutend ist mit Rechtsextremen oder Nazis.

Die deutsche Kabarettistin Monika Gruber brachte es kürzlich auf den Punkt: «‹Du bist rechts›, das ist das Schlimmste, was man über jemanden sagen kann, der gar nicht rechts ist und auch nicht rechts denkt. Mit einem solchen Satz stellst du den anderen in eine Ecke, aus der er nicht mehr herauskommt. [. . .] Es gibt aktuell in Deutschland eine aggressive politische und mediale Minderheit, die für sich in Anspruch nimmt, die einzig gültige Wahrheit für sich gepachtet zu haben. Jeder, der auch nur im Geringsten von dieser Ideologie abweicht, wird sofort diskreditiert, diffamiert. [. . .] Dieses ewige Links-rechts-Einordnen finde ich ohnehin vollkommen veraltet. Es muss doch in einer Demokratie möglich sein, über kontroverse Themen [. . .] sachlich zu diskutieren.»

Auch bei der Migration sollten Realisten zu Wort kommen, die ihr ideologisches Weltbild nicht im Elfenbeinturm gebastelt haben. Der ehemalige Fallschirmjäger Denny Vinzing sagte 2021 nach seiner Rückkehr aus Afghanistan der NZZ : «Die meisten halte ich nicht für integrierbar. Sie leben nach ganz anderen Werten. Die Stellung der Frau ist radikal anders. Die kommen hier nicht zurecht.»

Hubachers Erkenntnis

Mittlerweile sind religiös motivierte Morde, Vergewaltigungen und Raubüberfälle im EU-Raum an der Tagesordnung. Selbst Medien, die bis vor kurzem noch jeden Skeptiker diffamiert haben, nehmen die Realität zur Kenntnis. Das tat bereits der Sozialdemokrat Helmut Hubacher (1926–2020) in einem Weltwoche -Interview von 2019: «Wir haben nie eine Lösung gefunden, wie man anständig mit den Ausländern umgehen und trotzdem kritisch sein konnte. Für viele Sozialdemokraten war jeder Ausländer ein armer Siech, den man wie einen Kranken hegen und pflegen musste. Dass auch Ausländer kriminell sein und nicht anständig arbeiten können, wurde ausgeblendet.»

Man löst das Problem nicht, indem Facebook und Co. dazu angehalten werden, kritische Beiträge zu löschen. Man löst das Problem auch nicht, wenn man die Nationalität der Straftäter verschweigt. Wer die Realität zugunsten seiner Wunschwelt unter den Teppich kehrt, gerät selber unter den Teppich. Deutschland ist ein warnendes Beispiel: Gut Ausgebildete wandern aus, nicht Integrierbare wandern ein. Peter Scholl-Latour warnte einst: «Wer halb Kalkutta aufnimmt, hilft nicht etwa Kalkutta, sondern wird selbst zu Kalkutta.» Kalkutta liegt heute in Nordafrika und im Nahen und Mittleren Osten. Ein Blick in die Klassenzimmer genügt, um zu realisieren, dass nicht alle Guildo lieben.

04-2024 Weltwoche: »Die edle Lüge der Algorythmiker«

Die edle Lüge der Algorithmiker
7.3.24


In der Passionsgeschichte berichten die Evangelien, dass Jesus vor seiner Verhaftung voraussagte, Petrus werde ihn noch in dieser Nacht dreimal verleugnen, ehe der Hahn krähe. Seitdem wissen wir: Leugner sind Hardcore-Sünder, eine besonders üble Sorte des Menschengeschlechts. Wenn der Mainstream etwas als gesicherte Erkenntnis einstuft, ist jeder ein Leugner, der eine abweichende Meinung hat. Es ist möglicherweise beabsichtigt, dass Einfachgestrickte «Leugner» mit «Holocaust-Leugner» assoziieren. Somit erstaunt es nicht, dass die Medien auch den «Klimaleugner» kreiert haben. Im Gegensatz zum geschichtsblinden und unbelehrbaren «Holocaust-Leugner» widersetzt sich der «Klimaleugner» dem aktuellen wissenschaftlichen Konsens.

Dass die Erde eine Scheibe ist, galt bis Galileo Galilei als wissenschaftlicher Konsens. Dass der Aderlass ein effizientes Mittel gegen allerlei Beschwerden ist, war bis ins 19. Jahrhundert ein anerkanntes Heilverfahren. Und lange Zeit glaubte man, dass «Faktenchecker» keine Fakes streuen, dass der ukrainische Bruderkrieg kein Stellvertreterkrieg ist, dass die Covid-19-Impfung vor Ansteckung und Verbreitung schützt und dass zig Millionen Menschen sterben werden. Wer widersprach, war ein Leugner. Sorry seems to be the hardest word.

Erinnerungen an Einstein

Der Nobelpreisträger Anton Zeilinger, ein emeritierter Physikprofessor an der Universität Wien, gibt zu bedenken: «Als Einstein seine Ideen vorstellte, galt er als verrückt und als Aussenseiter.» Und weiter: «Es ist in der Wissenschaft schon vorgekommen, dass die Mehrheit völlig falschlag.» Er habe keine Ahnung, ob das beim Klima der Fall sei, aber die Wissenschaft müsse offen sein für Diskussionen.

Es ist schick, Diversität zu fordern, aber bei Meinungen fehlt der Mut, gegen den Strom zu schwimmen. Nach so vielen nachweislichen Irrtümern fragt sich heute der eine oder andere: Wie ist das mit dem menschengemachten Klimawandel? Dass das Klima wärmer wird, ist unbestritten. Niemand leugnet das. Dass die Luftverschmutzung in manchen Ländern wie Indien, China oder Pakistan so stark ist, dass Menschen daran sterben, ist auch unbestritten. Gestritten wird über die Frage, ob der Klimawandel mehrheitlich eine Naturkonstante oder ausschliesslich menschengemacht ist.

Greta Thunberg und ihre Follower wiederholen gebetsmühlenartig: Hört auf die Wissenschaft. Aber auf welche? Obwohl die asphalt potatoes nach eigener Einschätzung keine Experten sind, bestimmen ausgerechnet sie, auf welche Wissenschaftler man hören soll. Soll man auf den Physik-Nobelpreisträger John F. Clauser hören? Er sagt, der Planet sei nicht in Gefahr, die Temperatur der Erde werde in erster Linie durch die Wolkenbedeckung bestimmt und nicht durch die Kohlendioxidemissionen aus der Verbrennung fossiler Brennstoffe. Er kommt zum Schluss, dass die Wolken eine kühlende Wirkung auf den Planeten haben, so dass es keine Klimakrise gebe.

Einige Medien melden, führende Klimawissenschaftler seien wegen Professor Clauser alarmiert, und sie zitieren Experten, die den wissenschaftlichen Konsens vertreten. Wer dies nicht tut, erhält weniger oft Forschungsgelder. Somit ist weiter nicht erstaunlich, dass die Mehrheit der publizierten Arbeiten den wissenschaftlichen Konsens bestätigt.

Wissenschaft ist nicht demokratisch. Wissenschaft, sagt Martin Vetterli, der Präsident der Ecole polytechnique fédérale de Lausanne, sei ein Wettbewerb. Es ist die Bemühung, vermeintlich gesichertes Wissen, also den wissenschaftlichen Konsens, stets aufs Neue zu hinterfragen. In der Wissenschaft gilt nicht Halal/Haram. Es kommt nicht von ungefähr, dass man kaum einen muslimischen Nobelpreisträger findet und muslimische Forscher kaum Patente anmelden. Hier liegt die Schweiz übrigens mit 1031 Patenten pro Million Einwohner einsam an der Weltspitze.

Der Rhein war ausgetrocknet

Die von den regierungsnahen Medien ausgewählten Experten warnen (im Konjunktiv), «dass Hitzewellen, Hungersnöte und Infektionskrankheiten bis zum Ende des Jahrhunderts Millionen zusätzlicher Menschenleben fordern könnten, wenn die Menschheit die Emissionen aus der Verbrennung fossiler Brennstoffe nicht rasch reduziert». Und mehr noch: Wir würden die stärkste Klimaerwärmung der letzten tausend Jahre erleben. Wirklich?

Im Jahr 1540 dokumentierte ein Chronist, was im 16. Jahrhundert geschah: Zuerst kam der Regen. Neun Monate lang. Die Menschen klagten und beteten. Dann kam die Hitze, elf Monate lang, sie war ungewöhnlich stark, «glühend und schrecklich», mit Temperaturen weit über 40 Grad. In Italien war es bereits im Winter wärmer als normalerweise im Hochsommer. Ganze Seen trockneten aus, in Basel konnte man an einigen Stellen den Rhein zu Fuss überqueren, Wälder brannten, Felder verkümmerten, Ernten fielen aus, das Vieh verendete auf den Weiden, in Europa verdursteten über zehntausend Menschen, viele kollabierten bei der Feldarbeit, die Nahrungsmittelpreise schossen in die Höhe, Mord und Totschlag waren die Folge.

In über 300 Chroniken wird Europas grösste Naturkatastrophe detailliert geschildert. Das meteorologische Phänomen übertraf alle späteren Hitzesommer bei weitem. Schuld waren weder Verbrennungsmotoren noch Kohleabbau, sondern Satan und eine fünfzigjährige Hexe, die angeblich schwarze Magie betrieb: Prista Frühbottin. Am 29. Juni 1540 wurde sie in Wittenberg wegen angeblichen «Wetterzaubers» verhaftet und an Eichenbalken geschmiedet. Sie wurde «geschmäucht und abgedörrt», bis nur noch ein Häufchen Asche übrigblieb. Martin Luther bezeichnete diese Hexenverbrennung als «Gottes Strafe für die Verachtung seines lieben Wortes». Es dauerte 473 Jahre, bis der Rat der Stadt Wittenberg Prista Frühbottin rehabilitierte.

Wettermodelle scheitern schon an Tagen

Nun behauptet John F. Clauser, dass es keine Klimakrise gebe. Auch der Achtzigjährige betont, Skepsis sei ein wichtiger Teil des wissenschaftlichen Prozesses, «in den 1970er Jahren gab es einen überwältigenden Konsens darüber, dass das, was ich tat, sinnlos war. Es hat fünfzig Jahre gedauert, bis meine Arbeit mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde. So lange dauert es, bis sich Meinungen ändern.»

Der Mainstream ordnet für uns ein: Nobelpreisträger Clauser ist jetzt «umstritten», er «prahlt», er «schwurbelt», er «leugnet». William Happer, ein emeritierter Physikprofessor der Princeton University, vertritt sogar die Ansicht, dass die globale Erwärmung gut für die Menschheit sei. Wer entscheidet nun, wer recht hat? Rückblickend werden wir es wissen.

Ob die Klimaerwärmung weitgehend menschengemacht ist oder nicht, entscheiden zurzeit von Menschenhand programmierte Algorithmen. Liefern mathematische Modelle den ultimativen Beweis?

1992 lernte ich, was ein Algorithmus kann. Zusammen mit meinem Team entwickelte ich «Hannibal», ein Strategiespiel für DOS- und Amiga-Computer. Das Game basierte auf den Bevölkerungszahlen und Anbauflächen von 756 historischen Städten, die der Althistoriker Karl-Julius Beloch 1886 publiziert hatte. Hintergrund war der Zweite Punische Krieg (218 bis 201 v. Chr.). Wir programmierten einen Algorithmus, der jeweils hochrechnete, wie sich Regendauer und Niederschlagsmenge auf Reisedauer und Nahrungsmittelproduktion auswirken. Die Wetterdaten entnahmen wir einem geschätzten (!) Jahresdurchschnitt.

Drehte man geringfügig am Rad des Algorithmus, bremste der Schlamm die Geschwindigkeit der Armee, drehte man das Rad etwas zurück, brachte das Wetter Dürre, Ernteausfälle und Hungersnöte, was wiederum die Armee schwächte. Bei Temperaturen über 40 Grad wurde die Wetterkarte als Warnung blutrot eingefärbt wie heute die Wetterkarten von ARD, ZDF und SRF bei 25 Grad. Alles war miteinander verzahnt.

Wir hatten eine klare Vorstellung vom Schwierigkeitsgrad. War dieser zu hoch, demotivierte man Spieler, war er zu niedrig, verlor man die Hardcore-Gamer. Wir schraubten so lange, bis das gewünschte Resultat erreicht war. Und als kleine Überraschung hatten wir einen Zufallsgenerator, der Vulkanausbrüche simulierte, deren Asche die Sonneneinstrahlung verringerte und sämtliche Wettermodelle obsolet machte. Als ich später die Game-Firma verkaufte, sagte mir mein Berater: «Erkläre mir keine Zahlen, sag mir bloss, welchen Preis du für die Firma willst. Ich starte mit dem Ziel, denn das Ziel führt zur Begründung.» Gilt das auch für Klimamodelle?

Das Schweizer Paul-Scherrer-Institut (PSI) publizierte im Sommer 2023 im Fachmedium Energy Policy das Studienergebnis einer umfangreichen Computersimulation. Während die meisten bisherigen Modelle davon ausgingen, dass alle Parameter für die Zukunft bekannt sind, haben die Schweizer Forscher mit Kollegen aus den USA, aus China, Irland, Finnland und Schweden 4000 mögliche Szenarien durchgespielt. Für jede einzelne Hypothese rechneten sie 72 000 Variablen durch und berücksichtigten dabei achtzehn Unsicherheitsfaktoren.

Wettermodelle scheitern an Voraussagen für die nächsten zehn Tage und verursachen Hoteliers jeweils zahlreiche Last-Minute-Stornierungen – aber das Klima kann man für die nächsten zehn oder dreissig Jahre voraussagen? Von Menschen programmierte Algorithmen sagen uns abwechselnd den Hitze- oder Kältetod voraus.

Wissenschaftler der University of California in San Diego haben im Fachjournal Astrophysical Journal Letters Neues zum Klima publiziert. Sie sehen ab 2030 das Aufkommen einer neuen kleinen Eiszeit in der Nordhalbkugel voraus. Aufgrund der «zahlreichen Einflüsse» sei dies jedoch «schwer zu prognostizieren». Hat etwa die deutsche Regierung ihre Wirtschaft etwas voreilig gegen die Wand geradelt? Oder war das Klima nur Vorwand für den «Great German Reset»?

«Angst hat die Götter erschaffen»

«Rebuilding Trust» war das Motto des diesjährigen WEF. Vertrauen kann man nicht befehlen. Vertrauen muss man sich verdienen. Vielen Menschen ergeht es mittlerweile wie den Dorfbewohnern in der griechischen Fabel «Der Wolf kommt!». 1972 spielte der Club of Rome mit seinem Bestseller «Die Grenzen des Wachstums» den Hirtenjungen. Mayday! Die Ölquellen werden versiegen! Wann haben Sie zuletzt getankt? Es folgten 38 Spiegel -Cover, die mehr oder weniger das Ende der Welt voraussagten: «Der Wald stirbt» (1981), «Wer rettet die Erde?» (1989), «Vor uns die Sintflut» (1995), «Achtung, Weltuntergang» (2006), «Sind wir noch zu retten?» (2019), um nur einige zu nennen. Auch für die Medien gilt: «Bad news are good news», und für die Politik gilt: «Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern?» (Adenauer)

«Angst hat die Götter erschaffen», schrieb der römische Philosoph Lucretius (ca. 98–55 v. Chr.), Angst macht auch Regierungen zu Halbgöttern. Angstkampagnen sind mittlerweile ein beliebtes Regierungsinstrument, um via Notrecht demokratische Prozesse auszuhebeln. Während der Pandemie sagte Wolfgang Schäuble in einem Interview mit der Hannoverschen Allgemeinen: «Der Widerstand gegen Veränderungen wird in der Krise geringer. Wir können die Wirtschafts- und Finanzunion, die wir politisch bisher nicht zustande gebracht haben, jetzt hinbekommen.» Auch Klaus Schwab folgte in seinem «Great Reset» der Dramaturgie von Hollywoods Katastrophenfilmen: Zuerst malt man alle drohenden Gefahren aus, und dann präsentiert man dem verängstigten Publikum die rettende Lösung, den «Great Reset».

Medien, Wissenschaft, Institutionen und auch Faktenchecker lassen sich zu oft für politische Zwecke einspannen. Ideologisch imprägnierte Wissenschaft ist keine Wissenschaft. Es ist Zeit, dass man Skeptiker an den runden Tisch holt und nicht länger ächtet und beruflich schädigt. Vielleicht wäre jetzt ein «Small Reset» angezeigt, nicht Verbote zum rot-grünen Umbau der Gesellschaft, sondern eine ergebnisoffene, unaufgeregte Debatte.

Der dänische Professor Bjørn Lomborg, der 2001 mit seinem Bestseller «The Skeptical Environmentalist» (dt. «Apocalypse No!») Weltruhm erlangte und 2004 von Time zu den wichtigsten Intellektuellen der Welt gezählt wurde, bestreitet den Klimawandel in keiner Weise, hält jedoch die beschriebenen Folgen für heillos übertrieben. Vor lauter Klimaobsession habe man Bildung und Innovationen vernachlässigt, und beides sei für die Zukunft der Menschheit wesentlich wichtiger als die von den Medien mit Schreckensszenarien aufgebauschten möglichen Folgen des Klimawandels. Lomborg schreibt, die Weltbevölkerung werde kontinuierlich reicher und widerstandsfähiger. Allein die Zahl der Todesfälle durch Extremwetterereignisse sei in den letzten hundert Jahren um 99 Prozent gesunken. Nach Schätzungen der Uno würde der durchschnittliche Weltbürger in 75 Jahren etwa 450 Prozent wohlhabender sein als heute. Die globale Erwärmung würde seinen Wohlstand lediglich um 16 Prozentpunkte schmälern.

Was Extinction Rebellion wirklich will

Vielleicht gehört nicht nur ein Bjørn Lomborg an den runden Tisch der Zukunft, sondern auch der britische Geograf und Klimatologe Mike Hulme. Für seine Kommissionsarbeit im Uno-Umweltprogramm (IPCC) wurde der Professor vom Nobelpreiskomitee mit einer personalisierten Urkunde geehrt. In seinem vor sieben Monaten erschienenen Bestseller «Climate Change isn’t Everything» nennt er den ausgerufenen Klimanotstand eine «edle Lüge». Es gebe keine Dringlichkeit, die das Aussetzen demokratischer Prozesse rechtfertigen würde.

Diese Meinung teilt auch die amerikanische Klimaforscherin Judith Curry. Die Professorin gehört mit 143 wissenschaftlichen Beiträgen und etlichen Sachbüchern zu den Koryphäen der Branche. Sie sieht die Ursprünge des Klimaalarmismus im ideologischen Umweltprogramm der Uno. Sie sagt: «Es besteht ein überwältigender Konsens, dass die Klimakrise erfunden ist, es ist ein fabrizierter Betrug.»

Noch deutlicher äusserte sich am 10. Januar 2019 Stuart Basden, der Co-Gründer von Extinction Rebellion: «Extinction Rebellion isn’t about the Climate, it’s not even about climate justice.» Es gehe weder um das Klima noch um Klimagerechtigkeit. Es gehe um die radikale Beseitigung eines toxischen Systems, und der Menschheit blieben nur noch wenige Jahre bis zum Untergang.

Jetzt, wo auch die von Greta Thunberg bereits im Sommer 2018 prognostizierte «Auslöschung der Menschheit» ausgeblieben ist, diversifiziert die Klimaheilige. Ihre infektiösen Panikattacken beeindrucken kaum noch. Mit ihrem pathologischen Alarmismus wird sie keine weiteren Millionen verdienen. Die 21-Jährige trägt nun Antifa-Shirt und Palästina-Schal und kehrt mit antisemitischen Parolen in die Schlagzeilen zurück. How dare you, Greta. War dein Glaube zu schwach? Bist du zur «Leugnerin» geworden?

03-2024 Weltwoche »Sie nannten ihn Silverfinger«

Sie nannten ihn Silverfinger


Die Hunts waren einmal die reichste Familie der USA. Heute gehören ihnen die Kansas City Chiefs. Stammvater Haroldson Lafayette Hunt gilt als Vorbild für J. R. Ewing in der Kultserie «Dallas».1980 wollte der exzentrische Klan alles Silber der Welt kaufen – bis die Börsenaufsicht einschritt. Das ist die Geschichte einer verrückten Spekulation. Und wie ich mir dabei die Finger verbrannte.


Das Unglück begann an einem Mittwoch, genauer gesagt am Mittwoch, dem 26. März 1980. Seit Monaten redeten alle vom steigenden Silberpreis, vom Taxichauffeur bis zum berühmten «Dienstmädchen». Wenn kaum informierte Kleinanleger das Börsenparkett betreten, ist das Ende der Blase nah. Auch ich mit meinen 24 Jahren hatte, wie die meisten in meinem Alter, von Tuten und Blasen keine Ahnung und unterlag der madness of the crowds . Ich beschloss, Silber zu kaufen. Der Haken dabei: Ich hatte kein Geld. Aber ich hatte eine Freundin, die welches hatte.

Kaufen!

Sie war Krankenschwester wie auffallend viele Freundinnen von schreibenden Hypochondern, die von der Fantasie leben und sich in der Realität behaupten müssen. Wir waren leidenschaftlich ineinander vernarrt, und obwohl wir uns damals noch kaum kannten, vertraute sie mir ihre bescheidenen Ersparnisse an. Weil Liebe tatsächlich blind macht.

Am nächsten Tag betrat ich pünktlich um 8 Uhr die Filiale des damaligen Bankvereins. Der Schalterbeamte wies mich darauf hin, dass Silber heute Morgen gerade den historischen Höchststand von fünfzig Dollar pro Unze erreicht habe. Ich lächelte vielsagend, denn ich wusste, morgen war ich reich und er würde immer noch hinter dem Schalter stehen. Im Stil eines abgebrühten Profis sagte ich: Kaufen!

Am nächsten Tag realisierte ich, dass ich die Silberunzen am Vortag gleich zum historischen Höchstkurs gekauft hatte und dass das Edelmetall seit einigen Stunden im freien Fall war. Nun kannte mich meine Freundin schon etwas besser, denn ich hatte möglicherweise über Nacht vier ihrer Monatslöhne verbrannt. Sie nahm es mir nicht wirklich übel, da einige Zeitungen schrieben, das sei bloss eine Verschnaufpause, und so heirateten wir trotzdem. Dreissig Jahre später hätte sie mich wohl geteert und gefedert.

Dank meinem misslungenen Start als Möchtegern-Trader begann ich, täglich mit Aktien zu handeln. Aber bloss auf dem Papier. Das mag rückblickend clever erscheinen, aber das war lediglich dem Umstand geschuldet, dass ich weiterhin kein Geld hatte. Von meinem ersten Roman hatte ich gerade mal 457 Exemplare verkauft, obwohl die NZZ diese pubertäre Peinlichkeit grosszügig gelobt hatte.

Ich begriff, dass erfolgreiches Trading interdisziplinäres Wissen voraussetzt. Das schien mir aufwendig, aber machbar und interessant und motivierte mich entsprechend, und das bis zum heutigen Tag. Und jetzt, wo sich die grösste Silberspekulation aller Zeiten zum 44. Mal jährt, gedenke ich Nelson Bunker Hunts (1926–2014) und seiner Brüder William (geb. 1929) und Lamar (1932–2006), die in sieben Jahren den Preis der Silberunze von $ 1.50 auf $ 50 trieben und damit die grösste Silberspekulation der Geschichte auslösten.

Öl statt nur Schlamm

Im Gegensatz zu den legendären John D. Rockefeller, Henry Ford oder J. Paul Getty gingen die Hunts nicht als Wirtschafts-Tycoons oder Spekulanten in die Geschichte ein, sondern als einflussreichste Sportdynastie der USA. Lamar Hunt war einer der Gründer der American Football League (AFL) und Besitzer zahlreicher Sportklubs. Sein Sohn Clark ist heute Besitzer der Kansas City Chiefs, die soeben zum dritten Mal innert fünf Jahren den Super Bowl gewonnen haben. Fast alle Kinder der drei Hunt-Brüder sind heute im Sportbusiness erfolgreich.

Den Grundstein für diese ausserordentliche Dynastie legte der Öl- und Rinderbaron Haroldson Lafayette Hunt Jr. (1889—1974). Er war Vorlage für eine der erfolgreichsten TV-Serien: «Dallas». In 357 Folgen liessen die Drehbuchautoren ihren bad guy J. R. Ewing seine Intrigen schmieden. William Gaddis hatte zwar die Romanvorlage geliefert, aber in den ausgestrahlten Episoden war J. R. Ewing eher ein Mix aus einem Dutzend larger-than-life oil tycoons of Texas .

Als Sechzehnjähriger hatte Haroldson die Farm seiner Familie verlassen, war durch die USA getrampt und hatte sich mit Gelegenheitsjobs als Holzfäller und Cowboy durchgeschlagen. Später verdiente er an den Pokertischen der umliegenden Saloons nicht nur Geld, sondern auch den Spitznamen «Arizona Slim». In einer Nacht, die so trostlos war wie die vorherigen, setzte ein Mitspieler seinen letzten Dollar und ein unscheinbares Ölfeld im Niemandsland. Beides verlor er an den stets risikofreudigen Haroldson Hunt, der umgehend zu einer wild cat der Ölbranche wurde, also zu einem Mann, der überall munter drauflosbohrt und darauf spekuliert, dass eines Tages nicht Schlamm, sondern Öl aus dem Boden schiesst.

Der Selfmademan hatte wider Erwarten Erfolg und wurde der erste Ölmilliardär der Vereinigten Staaten. Wie die meisten Ausnahmeerscheinungen entsprach auch Haroldson nicht der Norm seiner Zeit. Er war dreimal verheiratet, mit zwei Frauen gleichzeitig, und hatte fünfzehn Kinder. Wer einen solchen Vater hat, kämpft ein Leben lang um Anerkennung. Gibt es eine grössere Motivation?

In sexueller Hinsicht stand auch Nelson, der Leithammel der Brüder, dem Senior in nichts nach: Er setzte vierzehn Kinder mit drei verschiedenen Frauen in die Welt, wobei auch er mit zwei von ihnen gleichzeitig verheiratet war. Er trank und rauchte nicht, seine Obsession galt seinem Gestüt mit über tausend Rennpferden. Er gewann mit einigen historische Rennen, er selbst wurde mehrfach als Züchter ausgezeichnet. Wenn er von etwas angefressen war, begehrte er nicht ein Stück des Kuchens, sondern gleich die ganze Bäckerei. Auch das Lebensmotto von «Silverfinger», wie ihn das Magazin Playboy später nannte, könnte einem James-Bond-Film entnommen worden sein: «The World Is Not Enough».

Masslos war der Feinschmecker auch im Kulinarischen, was sich in einem Kampfgewicht von 125 Kilo niederschlug. Er sammelte luxuriöse Limousinen wie damals die Gebrüder Schlumpf im Elsass, liebte das weibliche Geschlecht und vor allem das Risiko. All in war stets seine Devise. Für feines Tuch und blue suede shoes hatte er hingegen nichts übrig. Er flog stets Economy in abgetragenen Anzügen, doch für seine antiken Silbermünzen war kein Preis zu hoch. Irgendwann schmiedete er den tollkühnen Plan, gleich das gesamte Silber des Planeten aufzukaufen. Der exzentrische Milliardär fand im arabischen Raum Verbündete. Die Silberunze schlummerte noch bei schäbigen $ 1.50.

Silberschatz bei der Credit Suisse

Sein Kaufwahn war nicht nur seiner Sammelwut geschuldet, sondern vor allem der US-Regierung, die unter Richard Nixon am 15. August 1971 die Goldbindung des Dollars aufgehoben hatte, um den Vietnamkrieg zu finanzieren. Jetzt konnte man Geld drucken wie Konfetti, Geld aus dem Nichts erschaffen, sogenanntes Fiat-Geld, das es den Regierungen bis heute erlaubt, die Schuldenspirale weiterzudrehen, bis am Ende nur noch eine Weginflationierung der Staatsschulden, eine Währungsreform oder eine Teilenteignung der Bevölkerung nach zypriotischem Muster möglich ist.

Nelson teilte die Meinung von Voltaire, wonach Papiergeld früher oder später zu seinem inneren Wert zurückkehrt, nämlich null. Mit Sachwerten wie Silber wollten die Hunt-Brüder deshalb auch ihr Milliardenvermögen absichern. Sie kauften Tonnen von Silberbarren, physisch, und da die USA 1933 den Besitz von Gold mit einem Wert von über hundert Dollar verboten hatten, flogen die Hunts ihren Silberschatz sicherheitshalber ins Ausland und bunkerten ihre Barren in den Tresoren der Credit Suisse.

Der Silberpreis kannte jetzt nur noch eine Richtung: nach oben. Als alle verfügbaren Tresore rappelvoll waren, kauften sie kein physisches Silber mehr, sondern begannen an den Warenterminbörsen mit Calls auf steigende Kurse zu wetten. Dafür liehen sie sich von verschiedenen Banken Millionenkredite und hinterlegten als Sicherheit ihr physisches Silber. Stieg der Kurs um einen einzigen Dollar, stieg der Wert ihres Silbers um einen dreistelligen Millionenbetrag. Selbst nachdem sich der Preis verdreissigfacht hatte, schien der Hype kein Ende zu nehmen.

Stunde der «Dienstmädchen»

«Only the sky is the limit» schallte es von überallher, auch Medienleute waren investiert und pushten, Finanzexperten schrieben, jetzt würden völlig neue Bewertungsmassstäbe gelten, kleine Privatanleger brachten ihr Silbergeschirr zum Einschmelzen, einige schmolzen ihre Münzen ein, weil der Silberpreis nun höher war als der Silberanteil in den Gebrauchsmünzen. The madness of the crowds erfasste die ganze Welt und erinnerte an vergangene Hypes wie die holländische Tulpenmanie oder die Spekulation des John Law of Lauriston. Doch die Silverbrothers, die mittlerweile auf dem Papier zu Multimilliardären geworden und vorübergehend die reichsten Männer Amerikas waren, wollten mehr. Noch mehr Silber.

Nun beklagte sogar der Juwelier Tiffany’s in Zeitungsanzeigen den exorbitanten Preisanstieg, der Woche für Woche seine Silberwaren verteuerte. Die CFTC, die Terminmarkt-Aufsichtsbehörde, kontaktierte Nelson und bat, die Spekulation zu beenden. Er lehnte ab. Als das Edelmetall die Frontseiten der Boulevardpresse eroberte, war für erfahrene Spekulanten der Zeitpunkt zum Ausstieg gekommen. Doch jetzt sprangen noch mehr Kleinanleger ohne jegliche Börsenerfahrung auf den Zug auf. Und dann kam der Tag, an dem auch das berühmte «Dienstmädchen» Silberunzen kaufte.

Am 21. Januar 1980 zog die Börsenaufsicht entnervt den Stecker und verbot Wetten auf steigende Silberpreise. Der Kurs sackte ab. Da die Bankkredite bald einmal ungenügend mit physischem Silber gedeckt waren, begann eine Bank nach der andern, die Kredite zu stornieren.

Don’t panic, but panic first . Die Hunts mussten physisches Silber verkaufen, was den Kurs noch schneller in den Keller trieb. Die Leute realisierten, dass sich die Party dem Ende näherte und dass es für sie kein Happy End geben würde. Nun wollten alle ihr Silber loswerden. Die grösste Silberspekulation der Geschichte platzte wie alle Blasen. Der 27. März 1980 ging als «Silver Thursday» in die Geschichte ein.

Ich habe nie mehr Silber gekauft, sondern nach jedem eingegangenen Drehbuchhonorar eine Unze Gold. Wer klug ist, lernt auch aus den Fehlern der andern: G ambeln mit geliehenem Geld ist für Privatanleger ein No-Go. Man sollte nur Geld einsetzen, das man auch verlieren kann, ohne dass der bisherige Lebensstil tangiert wird, und man sollte nie vergessen, dass Psychologie, Hochfrequenzhandel, neue Technologien und unvorhersehbare Ereignisse wie Skandale, Naturkatastrophen, Kriege und staatliche Eingriffe auch solide Weltmarktführer vorübergehend oder dauerhaft durchschütteln können.

Tipp von der künstlichen Intelligenz

And one more thing: Auch Experten irren. Ein Anlageberater riet mir in den 1980er Jahren: Kaufen Sie Swissair, da können Sie garantiert nichts falsch machen. Gestern fragte ich die künstliche Intelligenz Pi AI zum Spass nach ihrem Schweizer Topfavoriten für 2024: « Buy Credit Suisse.»


Claude Cueni ist Schriftsteller und lebt in Basel. Für seine Enkelin schrieb er einen Lebensberater in Romanform («Hotel California», Nagel & Kimche). Ein Kapitel ist dem Umgang mit Geld gewidmet.

02-2024 Weltwoche: Reich werden mit Nancy Pelosi

Reich werden mit Nancy Pelosi

Es gibt keine sicheren Wetten an der Börse. Aber manche Tipps sind besser als andere.Hier kommt einer: Kaufen Sie dieselben Aktien wie amerikanische Spitzenpolitiker.


Claude Cueni / 8.2.2024


Eine Woche bevor Corona im Jahre 2020 zur globalen Pandemie mutierte, beschwichtigte US-Senator Richard Burr die Bevölkerung mit der Aussage, die Angst sei übertrieben. Burr war nicht irgendwer. Als Vorsitzender des Geheimdienstausschusses im US-Senat erhielt er von den Geheimdiensten täglich die aktuellsten Briefings zur Entwicklung von Covid-19. Er wusste früher als alle andern: Das kommt nicht gut.

Er und seine Ehefrau verkauften deshalb umgehend Aktien im Wert von 1,7 Millionen Dollar, Aktien, die von einer weltweiten Pandemie betroffen sein würden. Dann schlug die WHO Alarm. Die Aktienkurse sackten um 30 Prozent, Billionen an Börsenwerten wurden vernichtet, die Welt stürzte ins Elend. Nicht aber das Ehepaar Burr. Andere Senatorinnen und Senatoren hatten es ihnen gleichgetan. Es waren allesamt Republikaner und Demokraten, die in Ausschüssen sassen und deshalb einen Informationsvorsprung hatten.

«Queen of Investing»

Als Nancy Pelosi vor 37 Jahren ihre Politkarriere startete, wies sie noch ein Vermögen von rund 2 Millionen Dollar aus, mittlerweile sind es über 100 Millionen. Allein im Jahre 2023 erzielte die einstige Sprecherin des Repräsentantenhauses eine Performance von unglaublichen 65,5 Prozent. Damit schlug die «Queen of Investing» nicht nur Warren Buffett (20 Prozent), sondern auch alle relevanten Aktienindizes.

Als Pelosi letztes Jahr erfuhr, dass die US-Regierung dem Chipentwickler Nvidia die Bewilligung erteilen würde, nach China zu exportieren, wettete sie umgehend mit einem Call auf steigende Kurse. Das taten andere später auch, sie tat es früher. Die Aktie stieg innert Wochen um 28 Prozent. Allein mit diesem Trade realisierte die linke Demokratin in wenigen Wochen eine halbe Million Dollar, also rund das Doppelte ihrer Vergütungen als Abgeordnete.

Kollege Michael Guest ist der Vorsitzende der Ethikkommission. Er kaufte Aktien des Online-Casinos Evolution. Kurz darauf schoss der Kurs um 38 Prozent in die Höhe.

Senatorin Tina Smith ist Mitglied des Gesundheitsausschusses. Im November kaufte sie für 250 000 Dollar Aktien des Medizintechnikunternehmens Tactile Systems Technology. Danach stieg die Aktie um 50 Prozent. Die Liste liesse sich schier endlos weiterführen.

Welche Aktien die Volksvertreter kaufen, ist kein Geheimnis. Es gibt eine staatliche Meldepflicht und Aktivisten, die mit kostenpflichtigen Newslettern informieren. Sie nennen den Trader, seine Funktion in den Ausschüssen, listen den Aktienkurs vor und nach dem Kauf und nennen auch die Insider-Info, die mutmasslich zum Trade geführt hat. Auf dem Papier habe ich siebzehn Trades nachgespielt. Vierzehn waren erfolgreich. Ich bin weder US-Senator, noch arbeite ich im staatlichen Beschaffungswesen. Dort sind Insider-Trades besonders problematisch, weil man über die Berücksichtigung von Unternehmen entscheidet, deren Aktien man möglicherweise im Depot hat.

Ist Insiderhandel strafbar? Wo kein Kläger ist, ist auch kein Richter. Es gab in der Vergangenheit Anklagen wie die gegen Buff oder Kelly Loeffler, aber sie wurden eingestellt. Während in den USA Insiderhandel eine «Veruntreuung von Informationen» darstellt, dient das europäische Verbot dem Kapitalmarktschutz. In der Schweiz ist Insiderhandel seit 1988 verboten.

In der Praxis sind diese Insider-Gesetze jedoch genauso nutzlos wie damals die Prohibition in den USA (1920–1933). Wer Insider-Infos hat, kann sie einem Familienmitglied oder Freund weitergeben, der in seinem Auftrag tradet. Gibt es neue Obergrenzen für die Meldepflicht, kauft man gestaffelt oder verteilt den Börsenauftrag auf mehrere Personen.

Wutbürger auf den Strassen

Es wird auch in Zukunft unvermeidlich sein, dass Insider einen Informationsvorsprung monetarisieren. Die Verlockung ist zu gross, die Abschreckung zu klein.

Da die meisten Leute nur gerade die Jahre überblicken, die sie bisher erlebt haben, glauben sie, dass heutige Volksvertreter besonders unethisch handeln. Aber würden sie selbst der Versuchung widerstehen, aus einer Insider-Info Kapital zu schlagen? «Der Nutzen», sagte nicht erst der niederländische Philosoph Spinoza (1632–1677), «ist das Mark und der Nerv aller menschlichen Handlungen.» Das wird immer so sein und das Vertrauen in Politik, Medien und Institutionen mindern. Die Wutbürger in den Strassen spüren, dass die Mehrheit der «Volksvertreter» kaum an ihren Problemen interessiert ist.

Wer nebenbei ein Vermögen im Schlaf verdient, hat längst Gefallen an diesem Spiel gefunden und den Draht zur Bevölkerung verloren. Man interessiert sich nicht mehr für die Menschen links und rechts der texanisch-mexikanischen Grenze, sondern eher für die Auswirkungen der schwindenden Kaufkraft auf seine consumer- Aktien.


Claude Cueni ist Schriftsteller und lebt in Basel. Ein Kapitel in seinem Lebensratgeber «Hotel California» (Nagel & Kimche) ist dem Aktienhandel gewidmet.


 

01-24 Weltwoche: Erich von Däniken, »Karl May der Ausserirdischen«

Erich von Däniken ist der Weltstar der Prä-Astronautik. Jetzt folgt sein neuster Streich. Das Timing könnte besser nicht sein.

Der Basler Bestseller-Autor Claude Cueni liefert die längst fällige Würdigung dieses grossen Schweizer Schriftstellers und Forschers.


Er hat mehr Bücher verkauft als alle lebenden Schweizer Autorinnen und Autoren zusammen. Über 67 Millionen Exemplare in 32 Sprachen. Für die einen ist Erich von Däniken (EvD) der «Prophet der Vergangenheit», für andere der Karl May der Ausserirdischen. Er selbst, der am 14. April seinen 89. ​Geburtstag feiern wird, bezeichnet sich als «Autor narrativer Sachbücher». Er sieht sich nicht als Wissenschaftler, sondern als Vertreter der Prä-Astronautik, einer Disziplin, die Altertumswissenschaften mit Astronautik verbindet und nach Spuren ausserirdischer Intelligenz sucht (auch Seti genannt).

Was schreibt einer, der bereits 46 Bücher zum Thema publiziert hat? Sein 47. Werk erscheint unter dem Titel «Und sie waren doch da!», ein «Best of Erich von Däniken», eine Zusammenfassung seines Lebenswerkes, das Bücher, Reisen, TV-Dokus und -Serien umfasst. Auf 240 Seiten präsentiert er «die ultimativen Belege für den Besuch von Ausserirdischen», die er seit seinem Erstlingswerk «Erinnerungen an die Zukunft» (1968) zusammengetragen hat.

Bibel wird zu Science-Fiction

Man fragt sich unwillkürlich: Wozu noch weitere Beweise? Hält er seine bisherigen für nicht stichhaltig genug? In der Tat sind in den letzten 56 Jahren viele seiner eigenwilligen Interpretationen von Archäologen, Historikern und Reenactment-Gruppen widerlegt worden. Doch nicht alles spricht gegen EvD, denn Wissenschaft bedeutet, dass man vermeintliches Wissen ständig hinterfragt und neusten Erkenntnissen anpasst. Dank neuen Technologien, die oft Nebenprodukte der Rüstungsindustrie sind, werden beinahe im Wochentakt neue archäologische Fundstätten aufgespürt, datiert und ausgewertet. Sie schreiben die Geschichte teilweise neu. Auch das Schmelzen der Gletscher legt mittlerweile so viele über tausend Jahre alte Fundstücke frei, dass Glazialarchäologen mit dem Einsammeln kaum nachkommen.

Als 1968 von Dänikens erstes Buch erschien, hielten ihn viele für einen liebenswerten Spinner, doch die Art und Weise, wie er historische Fakten deutete, faszinierte viele und machte seine Bücher und Filme zu Bestsellern. Der historische Teil war stets interessant, weil mit Quellen belegt. Die Kernthese blieb über all die Jahre gleich: Ausserirdische haben vor langer Zeit die Erde besucht und werden eines Tages wiederkommen. In zahlreichen Kulturen sind solche Geschichten überliefert, und wenn man «Engel» und «geflügelte Götterboten» durch «ausserirdische Briefträger» ersetzt, liest sich sogar die Bibel wie spannende Science-Fiction.

Von Aliens zurückgelassen

Etliche Autoren haben sich in den letzten 200 Jahren mit dem Thema beschäftigt, aber die meisten dümpelten zwischen Mystik und Esoterik. EvD hätte in den 1970er Jahren locker eine lukrative New-Age-Religion gründen können. Damals erfand der französische Sportjournalist Claude Vorilhon eine Ufo-Religion und reiste als Raël, Sohn der ausserirdischen Zivilisation Elohim, Uriella-mässig durch Europa, um Spenden für den Bau eines Ufo-Flughafens zu sammeln. Später nannte er sich «Bruder von Jesus».

Im Unterschied zu all diesen religiös angereicherten Ufo-Sekten beschränkte sich EvD auf historisches Material, das er im Stil eines Science-Fiction-Autors spannend verpackte. Er gründete die internationale Forschungsgesellschaft für Archäologie, Astronautik und Seti (A. A. S.), tourte als nimmermüder Tausendsassa durch die Welt, besuchte archäologische Fundstellen, hielt zigtausend Vorträge, moderierte zahlreiche TV-Dokus und -Serien, betrieb erfolgreiches Marketing in eigener Sache und begeisterte mit seiner Leidenschaft Millionen von Lesern, Zuhörern und Zuschauern. Sie nehmen ihm nicht übel, dass er längst widerlegte Thesen, wie zum Beispiel die Interpretation der Moai Figuren auf der Osterinsel, weiterverbreitet. 

Mit bald 89 Jahren ist es Zeit, über einen Nachfolger nachzudenken. In der Person seines langjährigen Sekretärs Ramon Zürcher, 40, hat er ihn gefunden. Dieser betreibt die Plattform «Sagenhafte Zeiten» und kooperiert mit dem Online-Magazin Hangar 18b , das seinen Namen mit der Zeile «Ufos, Mysterien, Paranormales» unterlegt. Ein Fall von Rebranding? Das wird ihn kaum kümmern, denn er ist längst zur Marke geworden.

Stephen Hawkings Warnung

Das Timing für von Dänikens 47. Buch könnte besser nicht sein. Letzten Sommer behauptete David Grusch, ein ehemaliger US-Geheimdienstmitarbeiter der Air Force, vor dem Kongress des Repräsentantenhauses: «Es gibt tote Ufo-Piloten.» Zusammen mit David Fravor, einem Ex-Kommandanten der US-Navy, und Ryan Graves, einem ehemaligen Navy-Piloten, beteuerte er unter Eid, dass die US-Regierung und das Pentagon ausserirdische Raumschiffe geborgen hätten und daran forschten. Grusch sagte, er habe diese Informationen von mehr als vierzig Insidern erhalten. Er deutete an, er habe auch Akten gesehen. Kürzlich bestätigte auch Tim Gallaudet, Navy-Konteradmiral a. D. und ehemaliger Direktor der US-Ozean- und Atmosphärenbehörde NOAA, dem TV-Sender News Nation: «Wir werden von nichtmenschlicher Intelligenz besucht, mit Technologien, die wir ebenso wenig verstehen wie deren Absichten.»

Im Gegensatz zu Europa ist das Thema «nichtmenschliche Intelligenz» in den USA omnipräsent. Selbst die New York Times interviewte Piloten der Marines, die behaupten, zwischen 2014 und 2015 fast täglich über der Ostküste der USA unbekannte Flugobjekte gesichtet zu haben. Und auch im Repräsentantenhaus wird heftig darüber debattiert, ob die Regierung ihre Ufo-Akten veröffentlichen soll, und wenn ja, in welchem Umfang. Der Widerstand lässt darauf schliessen, dass hier die Mutter aller Scoops gehütet wird.

Die einen glauben, dass insbesondere religiöse Menschen beim Lüften der Ufo-Akten in Panik geraten würden, andere glauben, dass der Rüstungskonzern Lockheed Martin sichergestellte Ufos nachbaut und dies aus naheliegenden Gründen geheim halten muss. Generell deuten die zunehmenden Meldungen darauf hin, dass man den Menschen schonend beibringen will, dass es da draussen noch etwas anderes gibt und dass diese Weltraumtouristen uns Tausende von Jahren voraus sind. Mittlerweile glauben gemäss einer Online-Umfrage des Magazins Focus bereits über 85 ​Prozent, dass wir von Ausserirdischen besucht werden. Für sie sind von Dänikens Theorien wahrscheinlich nicht mehr so interessant, Hollywoods Blockbuster haben sie längst überzeugt.

Nichtmenschliche Intelligenzen, die bei uns auf Safari sind, wären uns Jahrtausende voraus. Nicht nur Stephen Hawking hatte davor gewarnt, zu früh mit ihnen in Kontakt zu treten. Die einen fürchten, dass sie uns so behandeln werden, wie wir als Konquistadoren technologisch unterlegene Kulturen zerstört haben. Andere glauben an (oder hoffen auf) die in den meisten Kulturen thematisierte Rückkehr der göttlichen Lehrmeister, die uns von allem Übel erlösen.

Ist nun mit dem 47. Buch alles gesagt? Für einen Workaholic gibt es kein «letztes Buch». Wer ein Leben lang geschrieben hat, kann auch im fortgeschrittenen Alter die Tinte nicht halten. Gemäss seinem Sekretär Ramon Zürcher plant Erich von Däniken noch eine Publikation mit dem Arbeitstitel «Notizen», ein autobiografisches Buch über Begegnungen mit Menschen und über das, was ihn das Leben gelehrt hat. Ein weiteres Buch mit «ultimativen Beweisen» macht keinen Sinn mehr, die nächsten Kapitel werden US-Medien schreiben. Hatte EvD trotz einiger  Irrtümer mit seiner Kernthese doch recht? 

«Akademisches Blabla»

Dass ihn die Wissenschaft belächelt, scheint ihn immer noch zu kränken. Im letzten Kapitel seines neuen Buches zieht er über «die da oben» vom Leder, nennt einige ihrer Gegenargumente «akademisches Blabla», hält sie für «Unsinn», sie «stinken zum Himmel», «heiliger Bimbam!!». Er spart nicht mit Ausrufezeichen. Und «basta!».

Auch dafür lieben ihn seine Fans: David gegen Goliath, Autodidakt gegen Wissenschaft. Wer hätte gedacht, dass ein Schweizer Hotelier zum Weltstar der Prä-Astronautik wird?

Heiliger Bimbam, das muss man können.

EvD kann es.


Der Text erschien erstmals am 11. Januar 2024 in der Weltwoche.


 

155 Blick: »Mein Jahresrückblick 2023«

Der Bund plant die grosse Vegi-Offensive. Die Migros meldet «Poulet-Boom» und baut Schlachtkapazitäten aus.

Darkroom katholische Kirche. Ausgerechnet der mitbeschuldigte Basler Bischof Felix Gmür (57) will als Präsident der Schweizer Bischofskonferenz die Missbrauchsfälle aufarbeiten.

Eidgenössische Wahlen. «Die Schweiz zeigt ihr hässliches Gesicht», schreibt das deutsche Magazin «Focus», während in Berlins Strassen religiöse Fanatiker «Allahu Akbar» skandieren, die Einführung der Scharia fordern und jüdische Einrichtungen zerstören.

Schwarzer Tag für die Grünen. Minus 3,42 Prozent. Parteipräsident Balthasar Glättli (51) glaubt, «die Kampagne sei so gut wie nie gewesen». Meint er die Aktionen der Asphaltkleber, die 90 Prozent der Bevölkerung nerven?

Bundesratswahlen. Der Basler Beat Jans (59) steigt in die Top 7 auf und wird als Nichtjurist Justizminister.

Trotz massiver Zuwanderung bleibt der Mangel an Fachkräften bestehen. Ist für einige die Aufnahme ins Sozialsystem bereits die höchste Sprosse der Karriereplanung?

Regimetreue Eritreer prügeln sich mit Gegnern des Diktators Isayas Afewerki (77). Ein Hotelier aus St. Moritz GR empfiehlt: Man ist freundlich zu den Gästen, und wenn sie die Hausordnung missachten, schickt man sie wieder nach Hause.

Die Europäische Arzneimittel-Agentur im Oktober 2023: «Der Covid-19-Impfstoff wurde nicht zur Verhinderung der Übertragung von einer Person auf eine andere zugelassen.» Man muss zweimal lesen.

Von Oprah Winfrey (69) bis Gil Ofarim (41): Die Inszenierung als Opfer bleibt populär. Wurden Sie heute schon beleidigt?

Jetzt werden auch Krisen «diverser». Vor der Midlife-Crisis kommt die Quarterlife-Crisis. Ist das Leben in der Mimosengesellschaft eine Abfolge von Krisen?

«8-Stunden-Tage sind einfach verrückt», weint eine Gen-Z-Influencerin in ihrem Tiktok-Video, während der Schwiegervater von Briten-Premier Rishi Sunak (43) die 70-Stunden-Woche für Indiens Jugend fordert.

«Langfristig werden wir nicht mehr arbeiten», sagt Ex-OpenAI-Manager Zack Kass, und «es gibt eine gute Chance, dass ich ewig leben werde». Künstliche Intelligenz (KI) wird ein Booster für alle Bereiche, von der Krebsforschung bis zur Kriegsführung. Wird KI den Menschen als Ungeziefer einstufen? Demnächst soll es möglich sein, mit Hunden zu sprechen.

USA. Ein Whistleblower sagt im US-Kongress unter Eid: «Wir haben tote Ufo-Piloten.» Ex-Admiral Timothy Gallaudet (56) doppelt nach: «Wir werden von einer nicht-menschlichen Intelligenz besucht.» Hatte Erich von Däniken (88) mit seiner Kernthese etwa doch recht?

Weltuntergang abgeblasen. Die Klimaszenarien des Atmosphärenphysikers, Klima- und Polarforschers Markus Rex (57) zeigen kein Aussterben der Menschheit. Er rät weiter zu Klimaschutz, aber Klimaschutz ohne Panik.

Greta (20) muss also diversifizieren. Nachdem die von ihr für Sommer 2023 prophezeite Auslöschung der Menschheit ausgeblieben ist, trägt sie jetzt das Banner jener, die Israel auslöschen wollen. How dare you? Folgt demnächst der Aufruf «Kauft nicht bei Juden»?

Die neue Abnehmspritze setzt den Nahrungsmittelriesen zu. Auch ihre Umsätze und Gewinne nehmen ab.

Immer mehr Nahrungsmittel gelten als gesundheitsschädigend. Beruht es auf Unwissenheit, dass wir uns überhaupt noch ernähren?

Nach mir die Sintflut. Die aktuelle Verschuldung der USA hat die Marke von 33,5 Billionen US-Dollar überschritten.

«2025 führen die USA Krieg mit China», prophezeit Air-Force-General Mike Minihan (56). Auslöser sollen die Wahlen 2024 in Taiwan sein. Die mittlerweile hochgerüsteten Philippinen würden als Landebahn dienen.

Die Haut der Zivilisation ist dünn. Der Nahost-Konflikt offenbart eine unglaubliche Barbarei. Glaubt noch jemand, man könne alle Kulturen integrieren?

Nach fast zwei Jahren nennt Wladimir Putin (71) seinen Angriffskrieg nicht mehr «militärische Operation», sondern Krieg und stellt auf Kriegswirtschaft um. Deutschland besorgt, weil militärisch unterversorgt.

«Der Krieg in der Ukraine eröffnet auch Chancen für die französische Industrie. Es tut mir leid, dass ich das so sage, aber man muss dazu stehen.» Sébastian Lecornu (37), französischer Verteidigungsminister in «France Info».

Der neugewählte argentinische Präsident Javier Milei (53) startet eine ultraliberale Revolution. «Alles, was in den Händen des privaten Sektors sein kann, wird in den Händen des privaten Sektors sein.»

Nachdem Uncle Ben’s von allen Reisverpackungen vertrieben worden ist, taucht er nun stark verjüngt in allen möglichen Werbekampagnen auf.

Grossartige Frauen-WM in Australien/Neuseeland verhilft dem Frauenfussball zum medialen und finanziellen Durchbruch.

Ich schliesse meinen Jahresrückblick 2023 mit den Worten von Joe Biden (81) (Pressekonferenz in Vietnam): «Ich weiss nicht, wie es euch geht, aber ich werde jetzt ins Bett gehen.»

 

154 Blick: »Merry Christmas, Woke Disney«

 

In diesem Jahr feiert der Walt-Disney-Konzern sein 100-Jahr-Jubiläum. Hat er Grund zum Feiern? Der Aktienkurs fiel in den letzten zwei Jahren um über 39 Prozent. Zu allem Übel entzog Florida dem Freizeitpark Disney World auch noch die Sonderrechte und nächstes Jahr läuft der Patentschutz für den Ur-Mickey-Mouse (ohne Hut und Handschuhe) aus dem Jahre 1928 aus. Die Aktionäre sind not amused.

 

Es war gut gemeint, als der Konzern die süsse Minnie zum Herrenschneider schickte und Schneewittchen ins Solarium. Bei den sieben Zwergen diskutiert man wahrscheinlich noch eine Hormontherapie, auf jeden Fall könnten in Zukunft zwei schwul, einer trans und einer behindert sein. Und alle schön bunt. Das wären dann mindestens 48 Zwerge.

 

Es bleibt das Geheimnis der Marketingabteilung, wieso sie nicht einfach neue Storys mit woken Charakteren kreiert. Das hätte niemanden gestört. War also der missionarische Eifer stärker als die Marktforschung? Praktisch alle Online-Umfragen zeigen, dass sowohl Mickey Mouse als auch das Publikum Indoktrination ablehnen. Man bezahlt für Unterhaltung, nicht für Belehrung.

 

Man muss schon besessen sein, um derart am Markt vorbeizuproduzieren. Eine alte Regel lautet nämlich: Wer die Masse erreichen will, sollte sich nicht politisch äussern. Jeder Facebook-Nutzer kann ein Lied davon singen. Auch Anheuser-Busch, Adidas und viele andere.

 

Nun musste Disney ausgerechnet im Jubiläumsjahr der US-Börsenaufsichtsbehörde SEC melden, dass sie Fehler in der politischen Ausrichtung gemacht hat: «Wir sind Risiken im Zusammenhang mit einer Fehlanpassung an den Geschmack und die Vorlieben der Öffentlichkeit und der Verbraucher in den Bereichen Unterhaltung, Reisen und Konsumgüter ausgesetzt, die sich auf die Nachfrage nach unseren Unterhaltungsangeboten und -produkten sowie auf die Rentabilität aller unserer Unternehmen auswirken.»

 

Walt Disney diskutiert diese Woche einen Zusammenschluss mit Reliance Industries, dem grössten Privatunternehmen Indiens. Doch mit Blackwashing dürfte Disney dort Probleme haben, denn über 65 Prozent der Asiatinnen benutzen Hautaufheller. Wird dann die Doku über Nelson Mandela mit einem weissen Schauspieler besetzt?

 

Merry Christmas, «Woke Disney».

153 Blick »Selenski allein zu Hause«

Am 24. Februar 2022 begann der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine. Der damalige Bundesrat Ueli Maurer sprach von einem «Stellvertreterkrieg». Dafür wurde er kritisiert. Im September 2024 sagte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg vor einem EU-Ausschuss, dass die Nato-Erweiterung Kriegsgrund war: «Präsident Putin erklärte im Herbst 2021, die Nato solle versprechen, sich nicht mehr zu erweitern. Es war seine Bedingung, um nicht in die Ukraine einzumarschieren. Natürlich haben wir das nicht unterschrieben.» Die fehlende Unterschrift kostete bisher über eine halbe Million Tote und Verletzte und den westlichen Steuerzahler wohl über eine Viertelbillion.

Der israelische Ex-Premier Naftali Bennett versuchte gleich nach Kriegsbeginn zu vermitteln, «der Frieden war zum Greifen nah», aber USA und Nato hätten das verhindert, weil sie zuerst Russland militärisch schwächen wollten.

Der Westen behauptet, Selenski verteidige die freie Welt, ausgerechnet er, der die Meinungsfreiheit mit Füssen tritt, Parteien verbietet und Oppositionelle inhaftiert. Jean-Claude Juncker, ehemaliger EU-Kommissionspräsident, sagt der «Augsburger Allgemeinen»: «Wer mit der Ukraine zu tun gehabt hat, der weiss, dass das ein Land ist, das auf allen Ebenen der Gesellschaft korrupt ist.» Der nigerianische Präsident Muhammadu Buhari verrät: Korrupte ukrainische Militärs verkaufen Nato- und US-Waffen auf eigene Rechnung an islamistische Terroristen von Boko Haram und IS.

Ein enger Berater von Selenski sagt dem Magazin «Time»: «Er macht sich etwas vor. Wir haben keine Optionen mehr. Wir werden nicht gewinnen. Aber versuchen Sie mal, ihm das zu sagen.» Ins gleiche Horn bläst Saluschni, Oberkommandierender der Streitkräfte. Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko wirft Selenski vor, die Öffentlichkeit anzulügen, «aber am Ende dieses Kriegs wird jeder Politiker für seine Erfolge oder Misserfolge zahlen».

Wer Kriege nicht gewinnen kann, sollte sie möglichst schnell beenden und keine Landsleute mehr in den Tod schicken. Olexij Arestowytsch, ehemaliger Berater von Selenski, will verhandeln und fordert Neuwahlen. Vielleicht braucht der ruppige Showbiz-Präsident demnächst doch eine Mitfahrgelegenheit.

152 Blick: »Als Dagobert seine Neffen grüsste«

Die gestern (27.11.23) in Bellinzona verurteilten Basler Bombenleger nannte der Richter «skrupellos und habgierig». Ihr Idol war »Dagobert«, aber sie waren schlicht zu dumm, um »Dagobert« zu sein. Mein Text auf:


Kaufhaus-Erpresser Arno Funke war Idol der Basler Sprengstoff-Täter

Die jungen Basler Sprengstoff-Täter, die vom Bundesstrafgericht in Bellinzona TI zu fünf und sechs Jahren Haft verurteilt wurden, hatten ein Idol: den deutschen Kaufhaus-Erpresser Arno Funke alias Dagobert. Er wurde ein Medienstar.


Er träumte davon, Picasso zu werden, und wurde Dagobert, der Kaufhauserpresser. Zuvor hatte Arno Funke (73) eine Ausbildung als Fotograf begonnen. Auch in den 1970ern träumten viele Jugendliche davon, Künstler zu werden, irgendetwas Kreatives, bloss kein Achtstundenjob, man wollte ein bisschen «Gipsy» sein – das war die Zeit, in der man «Zigeuner» noch mit «Lebenskünstler» assoziierte.

Nach dem Abbruch der Fotografenlehre schaffte Arno Funke einen Lehrabschluss als Schildermaler und versuchte sich weiterhin als Kunstmaler. Ohne Erfolg. Ab 1980 arbeitete er als Kunstlackierer in einer Autowerkstatt. Den Achtstundentag empfand der 68-er als Folter, und so erpresste er 1988 das Berliner Kaufhaus des Westens. Um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen, deponierte er eine Bombe, die zur Nachtzeit detonieren sollte. Sie tat es nicht, die Geldübergabe scheiterte.

Eine halbe Million erpresst – und pleite

Also legte Arno Funke erneut eine Bombe. Diesmal detonierte sie und verursachte nicht nur einen Schaden von einer Viertelmillion Deutschen Mark, sondern ebnete auch den Weg für eine erfolgreiche Übergabe von 500’000 DM Lösegeld. Bereits nach vier Jahren war Funke wieder pleite. Arbeiten kam nach wie vor nicht infrage, also versuchte er es erneut mit einer Kaufhauserpressung. Diesmal forderte er 1,4 Millionen DM. Mit der Polizei kommunizierte er über Zeitungsannoncen mit dem Code «Onkel Dagobert grüsst seine Neffen».

 

Etliche Straftäter versuchen, mit Humor Medien und Öffentlichkeit für sich zu gewinnen: Bonnie (1910–1934) und Clyde (1909–1934) bedankten sich beim Autobauer Henry Ford für den neuen Achtzylinder, der jedes Polizeiauto abhängt; der Schweizer Ausbrecherkönig Walter Stürm (1942–1999) hinterliess die Notiz «Bin Ostereier suchen gegangen». Dagobert war beste Unterhaltung.

So aufwendig war kein anderer Erpressungsfall

Das änderte sich auch nicht, als Funke in einem Warenhaus in Hannover (D) eine weitere Bombe legte und diese während der Öffnungszeit im Lift detonierte. Dass dabei nicht Menschen in Fetzen gerissen wurden, war nicht sein Verdienst, sondern dem Zufall geschuldet. Einige Journalisten stilisierten Dagobert zu Robin Hood, obwohl Arno Funke Tote in Kauf nahm, um sich, und niemand anderes, zu bereichern.

Im Frühjahr 1994 endete der aufwendigste Erpressungsfall der deutschen Kriminalgeschichte. Dagobert wurde wieder das, was er nie sein wollte: ein Verlierer, ein Nobody. Neun Jahre Haft kassierte er vom Berliner Landgericht in zweiter Instanz.

Gast in Talkshows und im «Dschungelcamp»

Als verurteilter Krimineller betrat Arno Funke 1996 seine Zelle in der Justizvollzugsanstalt Plötzensee, als Medienstar Dagobert verliess er sie bereits nach sechs Jahren wieder. Wegen guter Führung. Während der Haft hatte er Karikaturen für die Satirezeitschrift «Eulenspiegel» gezeichnet, darunter auch das antisemitische Cover zur Titelstory über den jüdischen Politiker Michel Friedman. Er entwarf auch Wahlplakate für die Partei «Die Linke».

Funke wurde gefeiert, schrieb seine Autobiografie, nahm an Literaturfestivals teil, trat in Talkshows und Filmen auf – und 2013 im «Dschungelcamp».

 

Heute stellt er seine Karikaturen in Galerien aus und hält Vorträge. Für ihn hat sich Verbrechen gelohnt. Anders als für die beiden jungen Basler Sprengstoff-Täter, die ihn zum Vorbild nahmen und nun vom Bundesstrafgericht in Bellinzona TI zu mehreren Jahren Haft verurteilt wurden.


Erstmals erschienen im Blick vom 27.11.23


 

151 Blick »Gilt Diversität auch bei Meinungen«?

«Ich missbillige, was Sie sagen, aber ich würde bis zum Tod Ihr Recht verteidigen, es sagen zu dürfen.» Der Satz stammt nicht von Voltaire, sondern von der englischen Schriftstellerin Evelyn Hall (1868–1956), die in ihrem Buch «The Life of Voltaire» (Das Leben von Voltaire) den Satz niederschrieb. Sie hat dabei nicht Voltaire zitiert, sondern seine Denkweise wiedergegeben.

George Orwell (1903–1950) formulierte es später so: «Meinungsfreiheit bedeutet, Dinge zu sagen, die niemand hören will.» Das gilt auch für Unanständiges, das ist der Preis für Meinungsfreiheit, das muss man aushalten. Für Strafbares sind die Gerichte zuständig und nicht der Mob mit der grössten medialen Unterstützung.

Jeder Wimpernaufschlag wird mittlerweile politisch gedeutet, die Welt, ein einziges Fettnäpfchen. Man lebt im permanenten Duell-Modus. Noch bevor der politische Gegner den Mund aufmacht, zieht man blank. Man ist entweder Pro oder Kontra, jeder verharrt in seiner Trutzburg, man verteidigt Liebgewonnenes wie die Konservativen von einst.

Vielen fällt schwer zu akzeptieren, dass Diversität auch bei Meinungen gilt. Die Kita-Abteilung der SP (18 % Wähleranteil) glaubt, dass die SVP (27 %) keine Daseinsberechtigung hat. Sie schliesst ihr Positionspapier vom 24. September 2023 mit den Worten: «Die Schweiz hat keinen Platz für die SVP. Die SVP muss weg.» Und dann sind FDP und Mitte fällig? Das ist die Denkweise von Staaten wie China, Kuba, Nordkorea, Eritrea und anderen Diktaturen. Was für ein unreifes Demokratieverständnis! Sowohl SP als auch SVP sind für eine funktionierende Demokratie wichtig, weil beide einen Grossteil der Stimmberechtigten vertreten.

Eine Studie über die Polarisierung in Europa kommt zum Schluss, dass Menschen, die «links, urban und gebildet» sind, am meisten Mühe haben, andere Meinungen zu akzeptieren. Das ist nicht neu. Neu ist, dass es dazu eine Studie gibt.

Wer Diversität ernst nimmt, ist nach allen Richtungen offen. Unabhängig von Hautfarbe, sexueller Orientierung und politischer Gesinnung. Wer nur mit seinesgleichen verkehrt, hört nur, was er schon weiss. Man wünscht sich mehr Gelassenheit und Humor. Ein Demokrat, der eine andere Meinung hat, ist kein Feind.

NZZ Sehr lesenswert

Die Hamas mordet und schändet wahllos Kinder und Frauen – und das linke Milieu applaudiert. Was läuft hier gerade falsch?
Der Gazakrieg hat eine Orgie des Antisemitismus entfesselt, der die besten Traditionen der Sozialdemokratie verrät: Aufklärung, Liberalität und universelle Werte.


Autor: Josef Joffe. Distinguished Fellow in Stanford, lehrt internationale Politik und Geistesgeschichte. Als Journalist bearbeitete er den Nahen Osten.


 

Menschen demonstrieren Mitte November in Belgrad aus Solidarität mit den Palästinensern in Gaza. Marko Djurica / Reuters
August Bebel, Mitbegründer der SPD, ist berühmt für den Spruch «Antisemitismus ist der Sozialismus der dummen Kerls», doch gehört das Copyright dem österreichischen Genossen Ferdinand Kronawetter. Bebel ermahnte die Partei 1893, den «widernatürlichen» Antisemitismus zu ächten. Der Feind sei nicht der «jüdische Kapitalist», sondern die «Kapitalistenklasse».

Es gab Ermahnungsbedarf. Judenfeindschaft war wie heute kein völkisches Monopol. Für Karl Marx war das Unheil der Jude, der dem «Eigennutz» und «Schacher» gehorche; sein «weltlicher Gott ist das Geld». Folglich sei die «Emanzipation vom Judentum» das Gebot der Stunde. Bei Stalin eskalierte das Abstraktum zur Praxis. Er liess reihenweise jüdische Mitstreiter wie Trotzki liquidieren. Juden waren im Sowjetsprech «wurzellose Kosmopoliten», Volksverräter. Dennoch wurde Stalin von linken Literaten wie Sartre und G. B. Shaw beklatscht. Heute spricht die Intelligenzia die Hamas heilig. Sie plappert nach, was die Hamas will: Weg mit Israel, doziert das Politbüro-Mitglied Osama Hamdan am 11. Oktober im libanesischen Fernsehen; nur so «können alle anderen Probleme gelöst werden».

Die neue Linke hantiert mit Dekonstruktivismus und Neologismen. Vergessen sind die altlinken Parolen von «Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit», weggedrückt wird die blutrünstige Tyrannei der Hamas. Ein zweites Novum: Seinerzeit war die demokratische Linke eine Bewegung von unten. Heute ist «links» alias «woke» ein Projekt der Elite.

Beheimatet ist es nicht in den Slums, sondern in den schicken Stadtteilen von Berlin bis Boston. Der typische Protagonist ist gebildet und gut alimentiert. Er wird vom Staat getragen. Sein Habitat ist die Universität, die Schule, der städtische Kulturbetrieb, der staatsnahe Rundfunk. Die Ironie: Diese neue Linke kämpft gegen Privilegien, doch könnte sie selber nicht privilegierter sein. Ihr Einkommen ist so gesichert wie ihre Kulturhoheit.

Heros der neuen Linken
Die demokratische Linke wurzelte in der Aufklärung (selber denken), im Liberalismus (das Individuum ist König), in «unveräusserlichen Rechten», die niemand antasten durfte. Im Zentrum stand Gleichheit in Freiheit. Ihr herausragender Theoretiker war der Sozialdemokrat Eduard Bernstein (1850–1932). Dessen Vorbild war nicht Marx, sondern Kant, Philosoph des Liberalismus. Revolutionäre Gewalt war ihm ein Greuel, sein Leitstern der Reformismus. Die Demokratie war zugleich «Mittel und Zweck». Was wir ironisch oder abschätzig «woke» nennen, hat mit der klassischen Reform-Linken so viel zu tun wie ein Knüppel mit einem Taktstock.

Der Heros der neuen Linken ist die Hamas, die 2006 in einer freien Wahl die Macht in Gaza eroberte, 2007 die Fatah-Konkurrenz vertrieb und Dutzende abschlachtete. Es war das Ende aller Träume, die 1993 nach dem Arafat-Rabin-Handschlag im Weissen Haus aufblühten. Ein palästinensischer Protostaat sollte Gaza werden, erst recht nach 2005, als die letzten Israeli abzogen. Tatsächlich entstand ein religiös-totalitäres Monstrum, dem die illiberale Linke huldigt. Es folgten Raketenattacken und israelische Gegenschläge. Das probate Gerede von der «Spirale der Gewalt» ignoriert die Crux. Am 7. Oktober trat die Hamas keinen Befreiungskrieg los, sondern eine sadistische Mordorgie. Das Ziel war nicht «Palästina», der Antrieb extremer Zynismus.

Demonstranten fordern am 18. Oktober unter dem Slogan «Nicht in meinem Namen» vor dem deutschen Aussenministerium in Berlin eine friedliche Lösung des Nahost-Konflikts. Maja Hitij / Getty
Erstens sollten die Massaker massive Vergeltung provozieren, um den Westen und die Araber gegen den Judenstaat aufzubringen. Diese Rechnung ging rasch auf.

Zweitens sollte die Mordlust den «katalytischen Krieg» auslösen, der Hizbullah und Iran in ein Mehrfronten-Gemetzel ziehen, zumindest die nahöstlichen Friedensschlüsse zerfetzen. Prinz Turki, einst saudiarabischer Geheimdienstchef, verurteilte deshalb «kategorisch den gezielten Mord an Zivilisten durch die Hamas». Diese wollte Riads Versuch torpedieren, eine friedliche Lösung für das Unglück der Palästinenser zu finden.

Drittens hat die Hamas das eigene Volk als Geisel genommen. Sie hat ihre Befehlszentralen und Waffen unter Hospitälern und Wohnblocks versteckt, was die Genfer Konventionen verbieten. Was soll’s? Im Krieg der Bilder sind die eigenen Leichen noch mehr wert als die des Feindes.

Die Unmoral von der Geschicht? Wir sind ja nicht antisemitisch, beteuern die Hamas-Apologeten, nur antizionistisch. Doch sind die Zielscheiben Synagogen, Schulen und Juden, die als solche zu erkennen sind.

Gefährliche Doppelmoral
Wieso ist die Hamas mit ihrem Todeskult zum Darling der woken Avantgarde geworden? Diese zeigt keine Sympathie für Kurden, Uiguren, Tibeter. Auch nicht für die Polisario, die seit Jahrzehnten in der Westsahara einen Staat gegen Marokko erkämpfen will. 100 000 christliche Armenier flohen im September vor den muslimischen Aserbaidschanern aus Berg-Karabach. Kein Progressiver vergoss eine Träne. Keiner echauffiert sich über die 1,7 Millionen Afghanen, die Pakistan jetzt deportieren will.

Woher die Doppelmoral? Dazu müssen wir tiefer in die absonderliche Ideologie der neuen Linken eindringen. Die alte Linke schwenkte nicht die Regenbogenfahne, sondern die Flagge der Aufklärung. Auf ihr prangten Säkularismus («kein Gottesstaat!»), Internationalismus («kein Chauvinismus!») und universelle Menschenrechte, unabhängig von Herkunft und Glauben.

Die falschen Erben malen ein manichäisches Weltbild, das nur «Unterdrücker» und «Unterdrückte» kennt. Der globale Schinder ist der weisse Mann, seine Opfer sind alle People of Color (POC), als wenn Pigmentierung Schicksal sei. Das ist historischer Unsinn. Lange vor dem weissen Mann haben POC erobert: Ägypter, Babylonier, Assyrer, Perser. Im 13. Jahrhundert reichte das Mongolen-Imperium vom Pazifik bis zur Donau; unter Dschingis Khan sind geschätzt bis zu vierzig Millionen umgekommen. Kein weisser Imperialist hat diesen Rekord gebrochen. Nach Entkolonisierung und Zweiteilung des Subkontinents flohen zwölf Millionen Hindus nach Indien und Muslime nach Pakistan. Heute bringen Muslime hauptsächlich einander um – siehe den Irak-Iran-Krieg der 1980er Jahre, wo eine Million Soldaten und Zivilisten umkamen. Im postkolonialen Afrika tobt der Binnenkrieg Schwarz gegen Schwarz.

Auf der Anklagebank sitzen allein der Westen und Israel als sein jüdischer Erfüllungsgehilfe, das ein «kolonialer Siedlerstaat» sein soll, was ebenfalls Geschichtsklitterung ist. Diese Siedler sind nicht von Kaiser und König unter Flottenschutz entsandt worden. Sie sind die Nachfahren von Ausgestossenen. Die Hälfte ist arabischer Herkunft – so weiss wie die Nachbarn. Der renommierte britische Historiker Simon Sebag Montefiore zieht das dürre Fazit: «Die Israeli sind weder ‹Kolonialisten› noch ‹weisse› Europäer.» Man muss ihnen dennoch die Besiedlung des Westjordanlands ankreiden, ein Giftstachel im eigenen wie im Fleisch der Palästinenser. Den zu ziehen, machen die Brutalos auf beiden Seiten tagtäglich undenkbarer.

Selbstgemachte Misere
Historisch richtig ist, dass Palästinenser und Israeli beide Opfer sind. An die 600 000 Araber flohen im israelischen Unabhängigkeitskrieg 1948; an die 900 000 Juden verloren ihre arabische Heimat. Gemäss der neulinken Logik wären alle Amerikaner bis auf die Indigenen und die Ururenkel der schwarzen Sklaven «Siedlerkolonialisten».

Obszön ist das inflationäre «Genozid»-Motiv. Wenn aus den 200 000 Arabern, die im israelischen Verteidigungskrieg 1948 nach Gaza flohen, heute zwei Millionen geworden sind? Noch ein Klassiker ist der Kolonialismus als Ursünde des Westens. Der hat aber seit einem Menschenalter keine Kolonien mehr; dennoch trage er die Schuld am Ungemach der arabischen Welt. Weitaus bessere Sünder geben die muslimischen Osmanen her, die 400 Jahre über Nahost herrschten und eine grosse arabische Kultur plattmachten.

Seit ihrer Unabhängigkeit werden alle islamischen Länder autoritär regiert, die allermeisten schaffen den Anschluss an die Moderne nicht. Die Misere ist selbstgemacht, doch schiebt das postkoloniale Narrativ dem Westen die Täterschaft zu. Das ist so falsch wie schädlich. Wer wie die Entkolonisierten keine Verantwortung trägt, muss sich nicht reformieren. Denn das Böse kommt von aussen, und wir sind die hilflosen Opfer.

Im Westen ist inzwischen ein schiefer Begriff von Gerechtigkeit en vogue. Im westlichen Kanon bezieht sich diese auf den Einzelnen, und jeder ist gleich vor dem Gesetz, ob arm oder reich, braun oder weiss. Im linken Narrativ aber herrscht das Kollektiv, definiert durch Pigmentierung, Herkunft, Identität, vor allem Opferstatus. Die Moral ist selektiv. Da sind manche Gruppen «gleicher»: Schwarze, Muslime, LGBTQ+. . ., nicht aber die Opfer von gestern wie Juden oder, in Amerika, die Nachfahren der Chinesen, die beim Eisenbahnbau wie Sklaven gehalten wurden. Recht wird zugeteilt, nicht gewogen; es geht nicht um Wohl- oder Fehlverhalten, sondern favorisierte Minderheiten.

Mithin um einen neuen Ständestaat, den grotesken Rückschritt in eine Welt, wo König, Kirche und Kaste bestimmten – siehe zuletzt den Austro- und Mussolini-Faschismus. Das Kollektiv schlägt das Individuum, die Quote das freie Spiel der Talente und Ambitionen, das ausgerechnet die Aufsteiger der Leistungsgesellschaft als Privilegienherrschaft verleumden. Angesichts solcher dialektischer Zuckungen war Karl Marx ein kristallklarer Denker.

Auf dem Spiel stehen heute diesseits des Gaza-Gemetzels die verbürgten Freiheiten des Einzelnen, die der Westen mit Strömen von Blut erkämpft hat. Der wird nun in die Zange genommen von der illiberalen Linken und dem frömmelnden Todeskult der Hamas sowie ihrer Terrorgenossen in Nahost. Am Bühnenrand applaudieren schadenfroh die Xis und Putins.

«Untergang des Abendlandes», den Spengler vor hundert Jahren prophezeite? Die demokratische Welt hat im 20. Jahrhundert die schlimmsten Prüfungen bestanden – Bolschewismus, Faschismus, zwei Weltkriege. Dagegen verhalten sich Wokismus und Islamismus wie Corona zur Pest. Das Gegengift ist das kritische Denken, das Erbe der Aufklärung. Dem geht es allerdings nicht gut in Universität und Kulturbetrieb. Ein Vakzin gegen geistige Vernebelung muss noch erfunden werden.

Josef Joffe, Distinguished Fellow in Stanford, lehrt internationale Politik und Geistesgeschichte. Als Journalist bearbeitete er den Nahen Osten.

150 Blick »Der islamische Hitlergruss«

Die Hamas-Gründungscharta stammt aus dem Jahre 1988 und wird bei weitem nicht von allen Palästinensern geteilt. Schon gar nicht von jenen, die für die HMO, eine der grössten Spitalorganisationen Israels, arbeiten. Hier sind auf allen Hierarchiestufen etwa gleich viele Palästinenser/Araber und Juden angestellt. In den Wartesälen sitzen säkulare und orthodoxe Juden neben muslimischen Frauen. Wäre das im Gazastreifen möglich? 1,7 Millionen Muslime wohnen in Israel. Und wie viele Juden in der muslimischen Welt?

Im Artikel 7 der Hamas-Charta lesen wir: «Oh Muslim, oh Diener Allahs, hier ist ein Jude, der sich hinter mir versteckt. Komm und töte ihn!» Und in Artikel 13: «Die Palästina-Frage kann nur durch den Dschihad gelöst werden», das palästinensische Volk sei zu kostbar.

Wie kostbar die eigene Bevölkerung ist, zeigt sich daran, dass sich die Hamas unter Schulen, Kindergärten und Krankenhäusern verschanzt, und von dort aus ihre vom westlichen Steuerzahler mitfinanzierten Raketen abschiesst. Während Israel vor Angriffen die Bevölkerung warnt, hält die Hamas ihre Zivilisten mit Gewalt davon ab, dem bevorstehenden Bombardement zu entkommen. Sie opfert Palästinenser für die Propaganda.

Mousa Abu Marzouk gehört dank westlicher «Palästinahilfe» zu den Milliardären der Hamas-Elite: Er sagt, die kilometerlangen Tunnelsysteme seien für Blitzangriffe gebaut und nicht zum Schutz der Bevölkerung.

Nachdem die Hamas 1400 Menschen massakriert hat, ruft der Westen zu einem Waffenstillstand auf. Soll man Terroristen, die weiterhin den «totalen Krieg» und die «totale Auslöschung» propagieren, eine Pause zur Nachrüstung gewähren?

«Es sind Psychopathen», sagt Ahmad Mansour, 49, ein einstiges Mitglied der Hamas-nahen «Islamischen Bewegung». Als Teenager suchte er Orientierung und Halt. Später studierte er jedoch in Israel und lernte Toleranz schätzen. Heute ist der Experte für Deradikalisierung selbst in Deutschland auf Personenschutz angewiesen, in einem Land, in dem verschleierte Frauen hinter einem Mob junger Araber laufen und dabei den Zeigefinger in den Himmel strecken. Die Geste steht für einen einzigen Gott, eine einzige Wahrheit. Die Extremisten haben daraus den islamistischen Hitlergruss gemacht. Unsere Feigheit ist ihre Stärke.

149 Blick »Wir schaffen das. Doch nicht.«

Im Herbst 2015 öffnete Angela Merkel eigenmächtig die Grenzen. Geheimdienste warnten, dass nun alle Konflikte dieser Welt importiert würden. Es kamen Menschen in Not, aber es kamen auch junge Männer, die Westeuropa in Not brachten. «Asyl» wurde zum Passepartout für alle. Das Unheil, das Merkel über Europa brachte, fasste der Soziologe Ruud Koopmans in Zahlen: «In Deutschland wurden zwischen 2017 und 2020 rund 300 Menschen von Flüchtlingen ermordet, über 3000 Frauen fielen im gleichen Zeitraum einer Vergewaltigung durch einen oder mehrere Flüchtlinge zum Opfer.» Die NZZ kommentierte: »Bei Sexualdelikten sind die Täter aus islamischen Ländern massiv übervertreten«.

In meinem Thriller «Godless Sun» hatte ich aufgrund der Geheimdienstberichte die Folgen beschrieben. Wer 2015 aussprach, was heute Realität ist, erhielt Saures. Wer eine kontrollierte Zuwanderung befürwortete, galt als ausländerfeindlich. Der Roman wurde auf dem Höhepunkt von «Refugees Welcome» aus dem Handel genommen. Man hat wie üblich nicht das Problem beseitigt, sondern die Berichterstattung.

Acht Jahre später sagt SPD-Bundeskanzler Scholz plötzlich: «Wir müssen im grossen Stil abschieben.» Doch was Merkel angerichtet hat, ist irreversibel. Es sind schon zu viele hier, Integration erübrigt sich. Gemäss dem panafrikanischen Forschungsnetzwerk «Afrobarometer» sind über eine halbe Milliarde Afrikaner ausreisewillig. Die Mehrkosten für die auszubauende Infrastruktur bezahlt die arbeitende Bevölkerung.

In Berliner Strassen randalieren junge Muslime: «Macht Deutschland zu Gaza, Allahu akbar.» Dieser lautstarke Gewalthaufen schadet seinen gut integrierten Landsleuten enorm. Letztes Jahr fielen rund 2000 junge Nordafrikaner über einen Badeort am Gardasee her, sie griffen die ausgedünnte Polizei an, begrapschten Frauen und schrien: «Das hier ist Afrika.» Morgen werden es 5000 sein. In Frankreich und England sind es bereits weit über zehntausend.

Schweden hielt tapfer an ihrer Realitätsverweigerung fest, jetzt ist das Land zum Wilden Westen verkommen. Das ist das Resultat einer Laissez-faire-Politik, die man als Toleranz verkaufte, Toleranz gegenüber jenen, die bei uns die Hasskultur ausleben, die ihre Heimatländer in den Abgrund gerissen hat. Wenn wir jetzt bei Abschiebungen von ausländischen Straftätern weiterhin keine Härte zeigen, werden wir selbst Härte erfahren.

148 Blick »Judenfeindlichkeit, die »wokeness« der 1970er-Jahre«

In den 1960er-Jahren fragte ich meine Mutter, was sie eigentlich gegen Juden habe. Wir kannten ja keine. Sie sagte, die Juden hätten Jesus ans Kreuz geschlagen. Schon eine Weile her, dachte ich. Mein Vater riet mir, Juden zu meiden, denn sie seien geldgierig und geizig. Als Teenager verliess ich später nicht nur dieses Elternhaus, sondern auch all die Vorurteile, die man mir wie eine Schluckimpfung verabreicht hatte.

 

In den 1970er-Jahren war es chic, mit dem Schal des damaligen PLO-Terrorchefs Jassir Arafat in die Schule zu gehen, man zitierte aus der roten Mao-Bibel und huldigte Che Guevara, dem Stalin-Verehrer und «Marlboro Man» der Linken. Man schwärmte für die DDR, die selbst nach dem Olympia-Massaker (1972) auf der Seite der Palästinenser blieb und ihnen weiter schwere Waffen lieferte. Die Liebe zum Totalitären war genauso verbreitet wie die Judenfeindlichkeit.

 

Das war der damalige Zeitgeist, die eingebildete «Wokeness» der Siebziger. Die Jungs wurden zwar älter und entsorgten ihre karierten Halstücher, aber nicht ihre Abneigung gegen Juden.

 

Vor Jahren unterhielt ich mich mit einem linken Verleger über eine Autorin. Er mochte sie nicht und sagte, sie sei halt eine Jüdin. Irritiert hat mich, dass er automatisch annahm, dass ich als Schriftsteller seine Meinung teile. Judenfeindlichkeit ist integraler Bestandteil der rot-grünen Agenda.

 

Während man bei Putin keine Sekunde zögerte, Boykotte zu verhängen, zögert man, die Zahlungen an Palästinenser einzufrieren. In den letzten 50 Jahren erhielten diese vom Westen zig Milliarden und sind dennoch nicht in der Lage, selber für Wasser und Elektrizität zu sorgen. Aber sehr wohl für Waffen.

 

Dass in Europa zugewanderte Palästinenser auf offener Strasse die barbarische Abschlachterei von israelischen Senioren, Frauen und Kindern feiern und dabei Hakenkreuze in die Kameras halten, ist widerlich.

 

Die Gräueltaten in Israel belegen einmal mehr, dass man bei uns nicht jede Kultur integrieren kann. Und schon gar nicht junge Männer, an denen die zivilisatorische Entwicklung der letzten 2000 Jahre scheinbar spurlos vorbeigegangen ist.

 

Stossend, dass ich mit meinen Steuern über Umwege eine Terrororganisation mitfinanziere.

147 Blick »Wunschwelt ohne Polizei«

Am 22. Juli 1934 verliess John Dillinger mit der Prostituierten Anna Sage das Kino an der North Lincoln Avenue in Chicago. Als er auf die Strasse hinaustrat, wurde er von FBI-Agenten erschossen. Anna Sage hatte ihn verraten. Das Jahr ging als «Year of the Gangster» (Das Jahr der Gangster) in die Geschichte ein. Nur dank der Modernisierung und massiven Aufrüstung der Polizei konnten in wenigen Monaten alle namhaften Gangster der damaligen Zeit gefasst oder erschossen werden, darunter auch Bonnie und Clyde.

Es war erneut einer personellen und technischen Aufrüstung der Polizei zu verdanken, dass 1985 gleich alle fünf Mafiabosse New Yorks vor Gericht kamen und in allen 151 Anklagepunkten für schuldig befunden wurden.

Mittlerweile ersetzen Ideologien historische Erfahrungen. Die kanadische Feministin Leslie Kern bezeichnet in ihrem Buch «Feminist City» nicht nur westliche Städte als «Phallus-Wälder» und Hochhäuser als «Gebäude, die in den Himmel ejakulieren», sie fordert auch die Abschaffung der Polizei, um die «Sicherheit der Frauen zu erhöhen».

Ricarda Lang, Spitzenpolitikerin der deutschen Grünen, gestand der ARD, dass sie nachts nicht allein durch den Berliner Görlitzer Park spazieren würde. Auch der grüne Landwirtschaftsminister Cem Özdemir gesteht, dass seine 17-jährige Tochter selbst in Begleitung den Park meidet und zu bestimmten Zeiten sogar Busse und Bahnen. Wieso tun sie nichts dagegen? Wer Probleme unter den Teppich kehrt, gerät selber unter den Teppich.

Auch die Schweizer Jungsozialisten (Juso) fordern langfristig dieAbschaffung der Polizei. Das Problem der Ausländerkriminalität, das selbst die Kita der Sozialdemokraten nicht mehr leugnen kann, wollen sie mit einer automatischen Einbürgerung lösen, damit in Zukunft alle ausländischen Sexualstraftäter Schweizer sind und wenigstens in der Statistik die ersehnte «Wunschwelt» von SP-Co-Präsidentin Mattea Meyer Realität wird. Die Bevölkerung wünscht sich jedoch mehr Sicherheit und nicht mehr Gendersternchen.

Vielleicht sollte die Juso ihre nächste Versammlung in einem deutschen Freibad abhalten. Die Unversehrtheit der weiblichen Delegierten könnte allerdings nicht garantiert werden. Zu wenige Securitys.

»Gehet hin und tötet«, Textprobe Seiten 1-3

Textprobe Seiten 1-3

Der Roman erschien in deutscher Spache erstmals als Hardcover bei Heyne München, später bei Lenos unter dem Titel »Der Bankier Gottes«.


VATIKANSTADT  Seiten 1-3

»Es ist nur ein Gerücht«, versuchte Luigi Albertini den alten Mann zu beschwichtigen. Doch jetzt war es zu spät. Er hatte es ausgesprochen, dieses Gerücht, und nun saß der ausgemergelte Greis mit dem schütteren Haar wie eine Mumie in seinem Barocksessel. Er erhob mühsam die rechte Hand für eine abwehrende Geste, als wollte er andeuten, dass es nun genug sei. Die Hand sank kraftlos auf die Armlehne zurück. Die Augen in den tiefliegenden Höhlen waren starr auf die Wand gerichtet. Der alte Mann hatte Angst. Vereinzelte Regentropfen klatschten gegen die hohen Glasfenster der päpstlichen Privatgemächer. Der Petersdom erwachte im Morgengrauen. Nichts würde mehr so sein wie vorher. Luigi Albertini kniete neben dem Heiligen Vater nieder und wiederholte, dass es doch nur ein Gerücht sei. Albertini war ein gutaussehender Mann von knapp vierzig Jahren, sportlich durchtrainiert und kein gewöhnlicher Diplomat des Heiligen Stuhls. Er war als Nuntius mit Spezialauftrag direkt dem Papst unterstellt. Er war der Nunzio Apostolico Con Incarichi Speciali, der Geheimagent des Papstes. »Ich dachte«, sprach der alte Mann mit heiserer Stimme, »ich würde diesen Sommer nicht mehr erleben. Der Herr würde mich vorher zu sich rufen. Er hat es nicht getan. Manchmal fragte ich mich, ob er mich wohl vergessen hat. Ob auch Gott Dinge vergisst. Doch jetzt ergibt alles einen Sinn.« Dem Heiligen Vater versagte die Stimme. Er hustete, versuchte den Schleim aus den verklebten Bronchien zu lösen. Ein paar Speicheltropfen schlierten über die schmalen Lippen. Er ließ es geschehen. Er hatte ein Leben lang versucht, mit dem Rauchen aufzuhören, aber er hatte es nie geschafft. Weder Gebete noch Kehlkopfoperation, noch Chemotherapien hatten ihn zur Vernunft gebracht. Und dennoch gab es nicht ein einziges Foto, das ihn mit einer Zigarette zeigte. Die beiden Männer schwiegen für eine Weile. Zwei Spatzen setzten sich auf den Fenstersims und schüttelten das kalte Nass aus ihrem Gefieder. Erst jetzt fiel dem Papst auf, dass die Spatzen oft zu zweit auf seinem Fenstersims landeten und dass er sein Leben allein verbracht hatte. Eine tiefe Melancholie erfasste ihn. »Dann ist es jetzt so weit«, flüsterte der Heilige Vater. »Es ist wirklich nur ein Gerücht, Eure Heiligkeit«, wiederholte Luigi Albertini, »es stammt von den Leuten, die sich in Rom in der Basilika San Clemente treffen.« Er erhob sich und trat einen Schritt zum Fenster. Eine Straßenkehrmaschine fuhr lärmend über den morgendlichen Petersplatz und verscheuchte die Vogelschwärme. Dann knatterte der Motor, und schwarzer Rauch entwich dem Auspuff. Die Maschine blieb stehen. Der Mann von der Straßenreinigung stieg aus und zündete sich eine Zigarette an. In Italien gewöhnt man sich daran, dass nichts funktioniert. Schwarzer Rauch über dem Petersplatz, dachte Luigi Albertini. Er glaubte nicht an Vorzeichen. Er würde sich später an die Straßenkehrmaschine erinnern, die Vogelschwärme, die Glocken, die zur Frühmesse läuteten, den bröckelnden Kitt im Fensterrahmen, das Wasser, das sich innen auf dem Fenstersims sammelte und an der Tapete entlang hinuntertropfte und in den Teppich sickerte. Er würde sich erinnern, dass der Papst dagesessen hatte, mit offenem Mund, unbeweglich und mit düsterem Blick, als würde er von einer diabolischen Sinnestäuschung heimgesucht, als sehe er eine gewaltige Flutwelle auf sich zurollen, gigantische Wellen, die sich zu einem Berg auftürmen und ihn für immer wegspülen würden. Der Papst hatte Angst. War sein Glaube zu schwach? Es gibt Nachrichten, die keine Reflexe mehr auslösen, keine Fluchtbewegung, kein Aufbäumen, keinen Protest, kein Flehen, kein Bitten. Es gibt Nachrichten, deren Tragweite man sofort begreift, weil sie endgültig sind. Irreversibel. Man begreift sie mit dem ganzen Körper. Albertinis Nachricht war eine solche. Der Heilige Vater wusste an jenem Morgen sofort um die Bedeutung von Albertinis Worten. Er erinnerte sich, wie man ihn als frisch gewählten Papst in den geheimen Archiven des Vatikans eingeschlossen und ihn gebeten hatte, die Siegel eines Dokuments zu brechen, um die letzten Geheimnisse zu erfahren. Er hatte alles gelesen, bis in die frühen Morgenstunden. Danach hatte er das knapp zweihundertseitige Dossier eigenhändig wieder versiegelt, zu Händen seines Nachfolgers. Doch jetzt fragte er sich, ob es nach ihm noch einen Nachfolger geben würde. Denn das Gerücht war in Umlauf gesetzt worden. Bald würde es sein blindwütiges Zerstörungswerk in Gang setzen.


Textprobe 2


LIBYEN  

Gleißendes Licht blendete die beiden nackten Männer, die mit spitzen Speeren in die zerfallene Arena des Amphitheaters von Leptis Magna getrieben wurden. Über dem Tor zur Arena standen Männer mit schwarzen Anzügen und dunklen Sonnenbrillen. Ein frischer Wind wehte vom Meer her über die Ruinen des einst so berühmten Theaters. Auf den erhöhten Rängen waren bewaffnete Männer postiert. Eine Flucht war ausgeschlossen.

»Männer«, begann Salvatore Calame mit lauter Stimme, »vor der Asche unseres verstorbenen Bruders Don Antonio Calame werdet ihr einen ehrenhaften Kampf auf Leben und Tod ausführen, so wie es seit den Etruskern Brauch ist. Bedenkt, dass dieser Kampf eine religiöse Handlung darstellt. Mit eurem Blut werdet ihr den Geist des Verstorbenen versöhnen. Wir opfern euer Blut unserem geliebten Don Antonio Calame.«

Furio und Francesco warfen den beiden nackten Männern je ein römisches Kurzschwert, einen Gladius, zu und zogen sich rasch zurück.

»Wir werden niemals gegeneinander kämpfen«, schrie Frank Bohne zu den Männern auf den Rängen. Der Don antwortete nicht. Man hörte nur das Meer, den Wind, und es war weit und breit keine Menschenseele, die den beiden hätte zu Hilfe eilen können. Bohne schaute verzweifelt zu Lustrinelli. Dieser bückte sich nach seinem Gladius. Blitzschnell ergriff auch Bohne seinen Gladius und wich ängstlich zurück. Frank Bohne umklammerte die Waffe mit zitternder Hand. Er hatte Angst. Er war in allen sportlichen Dingen immer schon sehr ungeschickt gewesen. In seiner Playstation war er unbesiegbar. Aber das hier war kein Spiel. Er war irgendwelchen Irren in die Hände geraten. Gleich würde etwas Unglaubliches, etwas schier Unfassbares geschehen. Sie waren hier in Libyen und würden sich gleich einen Gladiatorenkampf auf Leben und Tod liefern. Und das im einundzwanzigsten Jahrhundert! »Das ist der blanke Irrsinn«, schluchzte King Cruel und zeigte den Männern auf den Rängen sein verweintes Gesicht, »lasst es jetzt gut sein! Ich halte das nicht mehr aus!«

»Ich werde nicht gegen dich kämpfen, Junge«, schrie Lustrinelli mit fester Stimme. Die Hitze machte ihm zu schaffen. Er machte ein paar Schritte nach vorne. Plötzlich hielt er inne: »Ich werde keinen Menschen töten«, flüsterte er leise.

»Ich auch nicht«, schluchzte Bohne, »ich kann das nicht.«

»Wenn sie uns töten wollen, sollen sie es tun«, sagte Lustrinelli, während er ein paar weitere Schritte auf Bohne zuging.

»Wir werfen einfach unsere Waffen weg«, sagte Bohne. Seine Stimme überschlug sich. Es war so erbärmlich hier zu stehen, nackt in der glühenden Sonne, und um sein Leben zu winseln. Lustrinelli zeigte keinerlei Regung. Nackt stand er vor dem Programmierer und wartete. Lustrinellis Unerschrockenheit machte Bohne Angst. Ein böser Traum, fuhr es Bohne durch den Kopf, es ist alles nur ein böser Traum. In diesem Moment durchbohrte Lustrinellis Gladius seinen Bauch. Lustrinelli hatte derart wuchtig zugestoßen, dass er den Halt verlor. Er sackte vor dem verblüfften Programmierer in die Knie und schaute zu ihm hoch. Sein Gladius hatte Bohnes Weichteile oberhalb der linken Hüfte durchbohrt. Lustrinelli wollte den Gladius wieder aus dem Fleisch ziehen, aber Bohne hielt das Schwert fest. Er schaute zu den Rängen hoch. Wabernde Luft verzerrte die schwarzen Gestalten bis zur Unkenntlichkeit. Er sah, dass sie sich ihm näherten, wie stumme Geister aus der Unterwelt. Nur nicht den Gladius herausziehen, dachte Bohne. Ein wildes Schnauben ließ ihn aufhorchen. Furio und Francesco hatten einen Stier in die Arena getrieben. Einen Stier! Es war noch nicht vorbei.

»Lebend werde ich euch von größerem Nutzen sein!«, schrie Lustrinelli, so laut er konnte. »Du besudelst das Andenken des Verstorbenen«, schrie Salvatore in die Arena hinunter, »steh auf, und kämpfe wie ein Mann.«

Dann erhob sich Lustrinelli und wandte sich dem Stier zu. Der Deutsche torkelte rückwärts, als habe er sich noch nicht entschieden, ob er langsam verbluten oder sofort tot umfallen wollte. Unterdessen senkte der Stier seinen monströsen Schädel und scharrte mit dem Fuß im Staub der Arena. Da brüllte Lustrinelli, so laut er konnte: »Sol invictus!«

Der Stier setzte eine Tonne Körpergewicht in Bewegung und donnerte mit stampfenden Hufen auf Lustrinelli los, der erneut »Sol invictus« brüllte.

Mehrere Schüsse peitschten über die Arena. Lustrinelli ging zu Boden und versuchte mit seinem linken Arm sein Gesicht zu schützen. Er sah, wie der Stier vor ihm einknickte. Der schwere Kopf wurde zu Boden gedrückt, während das Hinterteil des Stiers zuerst in die Höhe flog und dann seitlich verkrümmt mit einem dumpfen Schlag auf der Erde aufschlug, während laufend weitere Schüsse abgefeuert wurden. Nach einer Weile richtete sich Lustrinelli auf. Er keuchte und rang nach Luft. Er war unverletzt. Der Stier vor ihm lag im Sterben. Blut floss aus seinem weit aufgerissenen Maul. Dann verdrehte das Tier die Augen, die Zunge glitt heraus. Lustrinelli roch den dampfenden Geruch von warmem Blut. Der Präsident der italienischen Nationalbank wollte aufstehen. Es ging nicht. Seine Knie waren wie aus Watte. Er war unverletzt, aber er konnte sich nicht mehr rühren. Salvatore kam allein die Stufen der Arena herunter. Er blieb vor dem knienden Lustrinelli stehen.

»Was weißt du über die Dinge, die jeder sieht und keiner ahnt?«, fragte Salvatore leise.

»Sol invictus«, antwortete Lustrinelli leise und senkte sein Haupt. Er wollte leben, einfach nur leben.

»Du bist keiner von uns«, flüsterte Salvatore, »wer hat es verraten?«

»Dario Baresi, der Neapolitaner, der in London mit Gold handelt.«

»Dario Baresi«, flüsterte Salvatore fassungslos, »er bricht den Schwur …«

»Ich habe ihm das Gold des Heiligen Stuhls übergeben. Im Auftrag des Vatikans.«

»Der Vatikan hat sein Gold Don Calame anvertraut, wir haben es dir anvertraut. Und du hättest es uns zurückgeben müssen.«

»Nein. Es ist das Gold des Vatikans.«

»Es wäre an Don Calame gewesen, dieses Gold an den Vatikan zurückzugeben. Wir hätten eine Lösung gefunden. Aber du hast dem Vatikan geholfen, sich von Don Calame zu lösen. Dabei verdankst du alles, was du bist, Don Calame. Aber du hast es vergessen. Du verleugnest ihn und lässt ihn im Stich. Du verrätst unsere Freundschaft.«

»Ich konnte nicht anders«, stieß Lustrinelli aus, »es war die strikte Anweisung des Vatikans, das Gold an Dario Baresi zu übergeben. Aber Dario Baresi ist doch einer von euch!«

»Nein, er war einer von uns. Baresi ist wie du. Durch uns ist er geworden, was er ist. Er hat den Auftrag des Vatikans erhalten, weil er sich von uns losgelöst hat. Und jetzt hat er sogar den Vertrag gebrochen. Sol invictus.«

»Sol invictus, aber ich werde es nicht verraten. Ich weiß nichts über eure Bräuche und Ziele.« »Schweig, Lustrinelli. Du wirst uns zu Dario Baresi führen. Er versteckt sich. Wer weiß, vielleicht hat Sol invictus heute tatsächlich dein Leben gerettet.« Salvatore blinzelte in die Sonne, als erwarte er von ihr eine Antwort. Die Hitze war drückend.


Textprobe 3


»Kennen Sie die Filme von Sergio Leone?«

»Ja.«

Albertini schüttelte genervt den Kopf. Was soll die Frage?

»The Good, the Bad and the Ugly, 1966. Mein Geburtsjahr. Ich habe alles gesehen, was damals in die Kinos kam. Aber nur bei diesem Film musste ich weinen. Bei einer Szene.« Francesco atmete tief durch und schaute durch das Panoramafenster in den Garten hinaus. Er kannte Furios Part auswendig.

»Es gibt da eine Szene im Strafgefangenenlager der Nordstaatler. Die gefangenen Südstaatler müssen draußen Musik spielen, The Story of a Soldier, während drinnen in der Holzbaracke Tuco gefoltert wird.«

»Geht’s nicht etwas kürzer?«, unterbrach ihn Francesco.

»Writing is re-writing, ich finde, die Szene wird jedes Mal besser.«

Furio wandte sich wieder Albertini zu, der sich allmählich unwohl fühlte.

»Eli Wallach wird in der Holzhütte zusammengeschlagen, gefoltert, der arme Kerl verliert sogar einen Zahn … und am Ende, und genau darauf will ich hinaus, gesteht er doch alles. Gesteht, wo der Goldschatz vergraben liegt. Und da fragt sich der Zuschauer, wieso zum Teufel hat der arme Kerl nicht sofort geplaudert? Dann hätte er noch all seine Zähne, hm?« Furio grinste breit. Francesco zuckte die Schulter. Er gab Furio recht. Das war eine neue Wendung. Eine eindeutige Verbesserung.

»Aber dann holen sie Clint Eastwood rein«, sagte Francesco und setzte die Erzählung fort, »weil Eli Wallach gesagt hat, der Goldschatz ist auf dem Friedhof vergraben, aber nur der Blonde weiß, in welchem Grab. Und es gibt Tausende von Gräbern da draußen. Also holen sie den Blonden rein. Clint Eastwood. Er sieht das Blut am Boden. Und erneut beginnt die Musik zu spielen …«

»Ja, und jetzt machen wir uns Sorgen«, brummte Francesco wie zu sich selbst. Furio fuhr fort: »Und Clint Eastwood sagt: ›Wollen Sie mir die gleiche Behandlung zukommen lassen?‹ Dabei wäre es schöner, wenn er sagen würde: ›Spielt die Musik für mich?‹ Stellen Sie sich das mal vor. Clint Eastwood kommt rein. Die Musik beginnt zu spielen, und er fragt: ›Spielt die Musik für mich?‹« Furio nahm einen Schluck Wasser und wischte sich die Lippen ab. Nach einer Weile fragte Luigi: »Worauf wollen Sie hinaus?«

»Wir werden dir sehr weh tun, Luigi.«


Buchseite

DIRTY TALKING Textauszug, Seiten 123 – 130

Textauszug DIRTY TALKING Seiten 123 – 130

Bischof Miguel Mateo Degollado empfing Wilson mit offenen Armen. Er war ein grossgewachsener Mann mit hängenden Hamsterbacken und kurzen, graumelierten Haaren. Hochwürden waren bester Laune, wie schon beim morgendlichen Telefonat. Er breitete gönnerhaft die Arme aus, als wolle er ein imaginäres Meer teilen und schaute demütig und dankbar zu seinem unsichtbaren Freund an der Decke: »Gott meint es gut mit uns.«

»Mit Ihnen ganz bestimmt, Hochwürden.«

»Nehmen Sie doch Platz«, bat der Bischof freundlich und wies Wilson den Stuhl vor seinem massiven Schreibtisch zu. Wilson hatte ihm am Telefon erzählt, dass es der Wunsch seiner verstorbenen Eltern gewesen sei, ihr Vermögen dem Bistum zu vermachen, und dass Wilson als Testamentsvollstrecker alles Notwendige in die Wege leiten sollte. Die Story gehörte bestimmt nicht zu Wilsons Highlights, aber entscheidend ist nie, ob eine Story wahr ist, sondern ob sie glaubwürdig ist. Der Bischof gestand ihm mit einem Leidensgesicht, das selbst das Antlitz Jesu am Kreuz toppte, dass ihn der Tod seiner Eltern tief berührt und dass er nach dem Telefongespräch gleich für ihre Seelen gebetet habe. Als Wilson nicht reagierte, schnitt Hochwürden eine noch herzzerreissendere Grimasse, als leide er unter Koliken und sprach Wilson in einer oscarwürdigen Rede das herzliche Beileid des gesamten Bistums Basel aus.

123

»Das war sicher nett gemeint, Hochwürden«, sagte Wilson mit bedrückter Stimme, »aber, ich glaube, meine Eltern selig schmoren bereits in der Hölle, und wenn sie jetzt ihr Vermögen der Kirche vermachen, wird der Teufel höchstens ein Holzscheit weniger ins Feuer werfen.«

Der Bischof hob erstaunt die Brauen, reagierte aber nicht darauf, denn er wollte die Verhandlung nicht gefährden. Er drückte auf eine Taste seines Tischtelefons und flüsterte: »Schwester Bernadette, zwei Kaffee mit Gebäck und eine Flasche Mineralwasser.«

Nun strahlte er Wilson an und erzählte ihm mit grosser Begeisterung, dass sie hier im Bistum alles hätten, was sie bräuchten, er habe eine Haushälterin, einen Chauffeur, nur den Kaffee müsse er am Morgen selber machen, weil er bereits um sieben Uhr aufstehe.«

»Oh, bereits um sieben, das ist sehr beeindruckend«, heuchelte Wilson und kam zur Sache: »Ich habe gelesen, dass Sie gute Nerven haben und das Leben nehmen, wie es ist. Das wird bei unserem heutigen Gespräch von Vorteil sein.«

Der Bischof verstand nicht ganz, nickte aber freundlich und sagte, er lehne prinzipiell jede Anfrage für Homestorys ab, die meisten auf jeden Fall, aber wenn es um den Glauben ginge, sei es seine Aufgabe, das Wort Gottes zu verbreiten und das Wohl der Kirche zu mehren. Zurzeit sei die katholische Kirche stark unter Druck. Zu Recht. Mit jedem neuen Missbrauchsfall verliere die Kirche Gläubige, das stimme ihn sehr traurig. Das sei auch in finanzieller Hinsicht sehr unschön, weil es die Pflicht der Kirche sei, die Opfer wenigstens finanziell zu entschädigen.

124

        »Ich habe davon gehört«, sagte Wilson, »ihr bezahlt jedem Opfer fünftausend Euro. Aber das ist nicht gerade viel für die Vergewaltigung eines Minderjährigen.«

»Das sind jährlich Millionen, Herr Wilson, Millionen. Wir wollen Zeichen setzen!«

Hochwürden sagte, es bräuchte nun eine ehrliche Aufarbeitung, absolute Transparenz und Nulltoleranz. Damit werde ein erster Schritt getan, damit die Menschen wieder Vertrauen in die Kirche schöpfen. Er ballte energisch die Faust und sagte, die Täter müssten gerecht bestraft werden. Den Opfern müsse Gerechtigkeit widerfahren …«

»Damit wären wir fast schon beim Thema«, unterbrach ihn Wilson.

»Wie meinen Sie das?«, fragte der Bischof irritiert, »soll das Geld etwa Missbrauchsopfern zugutekommen?«

»Hier liegt ein Missverständnis vor, Hochwürden. Es geht zwar um eine Schenkung, aber mein Mandant wird der Beschenkte sein und Sie werden der grosszügige Gönner sein.«

Bischof Miguel Mateo Degollado verrutschte das Gesicht: »Ich verstehe nicht, wie war Ihr Name?«

»Sagt Ihnen der Namen Juan Pérez etwas?«

»Nein«, antwortete der Bischof wie aus der Pistole geschossen.

»Überlegen Sie, lassen Sie sich Zeit, ich gebe Ihnen ein paar Anhaltspunkte. Sie waren als Priester Vorsteher des bischöflichen Priesterseminars Nikolaus von Myra. Keine Erinnerung?«

»Natürlich erinnere ich mich.«

»Sie waren für die Lebens- und Ausbildungsgemeinschaft der Seminaristen verantwortlich.«

»Worauf wollen Sie hinaus?«

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        »Einer Ihrer damaligen Seminaristen hat sich gegen das Zölibat entschieden.«

»Das kommt vor.«

»Nachdem Sie ihn jahrelang vergewaltigt haben.«

»Oh« machte der Bischof und wusste nicht mehr, in welche

Richtung er schauen sollte.

»Auch das kommt vor, nicht wahr?«

»Haben Sie Beweise?«, fragte der Bischof leise und starrte

Wilson an, als wolle er gleich über ihn herfallen. In diesem Augenblick betrat Schwester Bernadette das Arbeitszimmer, was ihn sichtlich nervös machte. Sie schenkte beiden Kaffee ein, stellte das Gebäck in die Mitte des Tisches und verliess nach einer kleinen Verbeugung den Raum.

»Soll ich für den Mittagstisch ein weiteres Gedeck auflegen?«, fragte sie.

Der Bischof machte eine abwehrende Handbewegung. Wilson schien, dass er dabei leicht zitterte, er nahm einen Schluck Kaffee, schmeckte hervorragend. Er nickte dem Bischof anerkennend zu und sagte, Gott meine es wirklich gut mit ihm. Dieser ging nicht darauf ein und schob den Teller mit dem Konfekt angewidert über den Tisch, als wolle er sagen, Wilson solle das ganze Zeug fressen und dann verschwinden. Als Schwester Bernadette die Tür hinter sich geschlossen hatte, fragte er erneut, ob er Beweise habe.

Wilson nahm das schwarze iPhone 14 aus seiner Tasche und spielte ein Audiofile ab. Das Audiofile. Man hörte, wie der junge Juan Pérez während der Probefahrt seine Erlebnisse schildert. Der junge Mexikaner beschrieb auch das markante Geschlechtsteil des Bischofs.

»Vor Gericht«, sagte Wilson mit gespieltem Bedauern, »müssten Sie natürlich Ihren kleinen Mann entblössen. Ihr

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        Leberfleck ist so einmalig wie eine Tätowierung. Falls die Ränder nicht scharf abgegrenzt sind, sollten Sie allerdings einen Dermatologen aufsuchen. Da helfen keine Gebete mehr. Aber dem Richter ist die Farbe Ihres Schwanzes egal. Er soll auffallend hässlich sein und gekrümmt wie ein Bischofsstab. Dafür hat er beinahe die Masse eines Eselspenis. Für ein derart monströses Ding bräuchten Sie eigentlich einen Waffenschein. Sie sollten sich schämen. Und mit diesem Monstrum haben Sie den damals minderjährigen Juan Pérez vergewaltigt? Er war noch ein Kind, Hochwürden! Was sagt der liebe Gott dazu? Hat er zugeschaut und sich dabei einen runtergeholt? Oder war er gerade in Urlaub?«

»Pendejo!«, schrie der Bischof und sprang von seinem Stuhl auf, »Sie wissen nicht, mit wem Sie sich anlegen!«

»Pendejo?«, fragte Wilson, »ohne Untertitel kann ich Sie schlecht verstehen.«

»El cabrón! Sie mieser kleiner Erpresser!«

»Was für ein hässliches Wort, Hochwürden, ich bin ein einfacher Geschäftsmann und versuche als Anwalt einem armen Jungen zu helfen.«

»Okay, 5000 Euro? Das ist der weltweite Standard.«

»Wir dachten eher an 250 000 Euro.«

»Vor ein paar Tagen waren es noch 100 000.«

»Die Inflation kennt kein Erbarmen, Hochwürden, morgen ist es bestimmt mehr.«

Degollado verwarf die Hände und gluckste hysterisch:

»Woher soll ich eine Viertelmillion nehmen?«

»Sie verdienen im Jahr 245000, um Dinge zu verkaufen,

die es gar nicht gibt. Stellen Sie sich vor, BMW verkauft Autos, die es gar nicht gibt und die Lufthansa verkauft Flüge zu Destinationen, die auf keiner Landkarte vermerkt sind. Wer für

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        solche Fakenews 245000 im Jahr verdient, bezieht einen fürstlichen Lohn.«

»Damit bestreite ich meinen Lebensunterhalt«.

»Die Frau von der Tankstelle verdient diese Summe in zehn Jahren, obwohl sie im Gegensatz zu Ihnen reale Dinge verkauft, Hüttenkäse, Chips und Dosenbier.«

»Ich habe Unkosten, Miete, Köchin, Sekretär, Chauffeur …«

»Das alles bezahlt der Staat beziehungsweise die Verkäuferin an der Kasse mit ihren Kirchensteuern.«

Degollado schwieg eine Weile.

»Wahrscheinlich bitten Sie gerade den Heiligen Geist um Erleuchtung, aber wenn ich kurz unterbrechen darf …«

Plötzlich wirkte er furchtlos und entschlossen: »Ich werde zur Polizei gehen …«

»Das ist eine gute Idee, denn bei einer Selbstanzeige erhält man Rabatt. Statt 12 Jahre nur noch zehn. Aber zuvor geht Ihr Pimmel auf Tournee, Fotoshooting bei der Untersuchungsbehörde, Demos vor dem Gerichtssaal …«

»Wurde Kardinal Georgette Pell in Australien etwa verurteilt?«, stiess er hervor.

»Ja, er wurde zu sechs Jahren verurteilt.«

»Davon hat er dreizehn Monate abgesessen, darauf wurde er vom obersten Gericht in Brisbane freigesprochen. Also, packen Sie ihr Handy ein und machen Sie, dass Sie von hier verschwinden.«

Wilson blieb sitzen: »In Brisbane gab es kein Beweisvideo, in Ihrem Fall ist die Beweislage eine ganz andere. Wir haben ein Video. Wir haben sogar zwei Videos. Aufnahmen aus Mexiko und eine Aufnahme von jetzt eben.«

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        Wilson zeigte auf die Brusttasche seines Hemdes. Darin steckte sein iPhone 13 mit dem Hofnarren auf dem Case, nur gerade das Kameraauge lugte hervor.

»Die Aufnahme läuft, seit ich Ihr Büro betreten habe.«

Der Bischof dachte fieberhaft nach. Wilson wollte behilflich sein: »Wurde der Kardinal Pell nach dem Freispruch wieder überall mit offenen Armen empfangen?«

Der Bischof schlug die Faust auf den Tisch. Er hyperventilierte, schaute erneut wild in alle Himmelsrichtungen und schüttelte unaufhörlich den Kopf, als könne er es nicht fassen, dass er mit dieser alten Geschichte erpresst wurde.

»Na? Wieder online mit Ihrem unsichtbaren Freund da oben?«

Hochwürden schwieg und presste die Lippen zusammen. Es hatte ihm die Sprache verschlagen.

»Herr Degollado, im Grunde genommen geht es um Mathematik. Wenn Sie verurteilt werden, verlieren Sie jährlich einen Lohn von 245000 Schweizer Franken. Unser kleiner Juan Pérez verliert gar nichts. Wenn Sie bezahlen, haben wir eine klassische Win-Win-Situation: Der kleine Juan erhält eine Viertelmillion und Sie erhalten weiterhin jedes Jahr eine Viertelmillion Lohn. Lehrt man auf dem Priesterseminar auch Mathematik oder nur Science-Fiction? Sie entscheiden jetzt, ob Sie weiterhin wie ein mittelalterlicher Fürst hier oben auf dem Felsen residieren oder ob Sie sich bis ans Ende Ihrer Tage in Somaliland verkriechen. Das ist durchaus eine Alternative. Die Alten dort unten sprechen noch Italienisch, die Warlords und islamistischen Terrorgruppen verstehen ein paar Brocken Englisch. Vielleicht können Sie bei den Piraten als Seelsorger anheuern. Aber wahrscheinlich werden diese Sie ausstopfen und als Galionsfigur an den Bug binden. Eine maritime Version von Jesus am Kreuz.«

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Wilson erhob sich und verbeugte sich knapp: »Es ist Zeit, Busse zu tun, sprach der Herr. Also, setzen Sie Ihren Arsch in Bewegung und schicken Sie eine SMS, wenn das Geld bereit ist.«

Er nahm ein kleines Heft mit dem Titel Spe Salvi von einem Stapel, der auf dem Schreibtisch lag und notierte seine Telefonnummer auf das Cover. Der Bischof nahm das Büchlein und warf es demonstrativ in den Papierkorb. Drohend schaute er zu Wilson hoch und sagte leise, ein Mann müsse wissen, wann er zu weit gehe. Sagt Ihnen der Name Marcial Maciel Degollado etwas?«

»War Delgado nicht ein argentinischer Fussbalspieler?«

»Degollado! Marcial Maciel Degollado! Er war mein Onkel. In meinen Adern fliesst sein Blut, das Blut der Degollados. Nehmen Sie sich in Acht. Was mein Onkel einst gesät hat, ist zu einem kräftigen Baum herangewachsen. Schon mancher ist von seinen Ästen erschlagen worden. Sie werden in der Hölle schmoren.«

»Dann freue ich mich auf das Wiedersehen, Hochwürden.«

Mehr Textproben – Seiten 1-14: Lesen

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146 Blick »Es fährt ein Zug nach Nirgendwo«

1972 sang man noch die Hymne auf die Wirtschaftslokomotive Deutschland. 50 Jahre später gilt der damalige Hit von Christian Anders: «Es fährt ein Zug nach Nirgendwo.» Die deutsche Kavallerie lahmt, das Internet lahmt, der Wirtschaftsmotor stottert, die Infrastruktur lottert, auf den Baustellen sieht man mehr Dixie-Klos als Arbeiter, Behördengänge sind so kafkaesk wie auf den Philippinen, Kölner Silvesternächte gibt es das ganze Jahr über, Bildungsfremde strömen ins Land, deutsche Fachkräfte fliegen ins Ausland. Immer mehr Deutsche sind Analphabeten, immer mehr Analphabeten werden Deutsche. Passiv-Kanzler-Scholz nennt die Kernkraft «ein totes Pferd», jetzt importiert er das tote Pferd. 

Laut OECD liegt Deutschland inzwischen auf dem letzten Platz der G7-Staaten. Staatliche Überregulierung und ideologische Borniertheit lähmen den Alltag. Mittlerweile erlebt auch die Bevölkerung die Deindustrialisierung aufgrund der enormen Stromkosten. Die Kaufkraft schmilzt. 73 Prozent glauben, dass die unqualifizierteste Regierung der Nachkriegszeit nicht fähig ist, ihre Aufgaben zu erfüllen. «Denk ich an Deutschland in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht» (Heine). 

Der «U.S. News Best Countries Report 2023» hat schon wieder die Schweiz aufgrund von 73 Kriterien zum besten Land der Welt erkoren. Obwohl wir in allen sozialen, politischen und wirtschaftlichen Belangen erfolgreicher sind als der Nettozahler der europäischen Verschuldungsunion, lassen wir uns von «unseren Freunden» einschüchtern. Wir leisten uns eine direkte Demokratie, Deutschland würde sich das nie getrauen, die Regierung hat sich längst von der Bevölkerung verabschiedet. Das Einzige, was uns die Politelite im Norden voraushat, sind 178 Lehrstühle für Genderforschung und die Chuzpe, die Führerschaft in Europa für sich zu beanspruchen.

Helmut Schmidt (SPD) warnte 1980: «Wer die Grünen wählt, wird sich später bitterst Vorwürfe machen.» Grüne wie Aussenministerin Annalena Baerbock («Egal, was meine Wähler denken») und Wirtschaftsminister Robert Habeck («Was ist eine Insolvenz») lösen keine Probleme. Sie benennen sie um und radeln das Land gendergerecht gegen die Wand. Die AfD kann sich Wahlwerbung sparen. 

145 Blick »Hannibal und menschengemachte Algorythmen«

Futurist David Shrier glaubt, dass innerhalb von 5 bis 7 Jahren zwischen 30 und 80 Prozent der Arbeitsplätze durch künstliche Intelligenz ersetzt werden. Eher 30 oder eher 80 Prozent? Das hängt vom Modell ab und somit vom eingesetzten Algorithmus, der von Menschen mit handverlesenen Daten gefüttert wird.

1992 lernte ich, was ein Algorithmus kann. Zusammen mit Ingo Mesche, dem Vater des Moorhuhns, und Andy Seebeck, dem Vater der interaktiven TV-Telefonie-Spiele in Europa, entwickelte ich «Hannibal», ein Strategiespiel für DOS- und Amiga-Computer. Das Game basierte auf den Bevölkerungszahlen und Anbauflächen von 756 historischen Städten, die der Althistoriker Karl-Julius Beloch 1886 publiziert hatte.

 

Hintergrund war der Zweite Punische Krieg (218 und 201 v. Chr.). Andy Seebeck programmierte einen Algorithmus, der jeweils hochrechnete, wie sich Regendauer und Niederschlagsmenge auf Reisedauer und Nahrungsmittelproduktion auswirken. Die Wetterdaten entnahm er einem geschätzten Jahresdurchschnitt. Drehte man geringfügig am Rad des Algorithmus, bremste der Schlamm die Geschwindigkeit der Armee, drehte man das Rad etwas zurück, brachte das Wetter Dürre, Ernteausfälle und Hungersnöte, was wiederum die Armee schwächte. Bei Temperaturen über 40 Grad wurde die Wetterkarte als Warnung blutrot eingefärbt. Alles war miteinander verzahnt. Wir hatten eine klare Vorstellung vom Schwierigkeitsgrad. War dieser zu hoch, demotivierte man Spieler, war er zu niedrig, verlor man die Hardcore-Gamer. Die Lösung: drei unterschiedliche Schwierigkeitsgrade, also drei von Menschenhand programmierte Algorithmen. Der Spieler hatte die Wahl.

 

Heute basiert alles auf Algorithmen, vom Währungsrechner über den Body Mass Index (BMI) bis zu Corona- und Klimaprognosen. Das ist hilfreich, weil man durch Veränderung der Parameter Optimierungspotenzial entdeckt. Forschungsgelder erhalten mehrheitlich jene Teams, die belegen, was politisch gewünscht wird. Es ist jedoch nicht hilfreich, wenn alle vom Mainstream abweichenden Modelle von der öffentlichen Debatte ausgeschlossen werden. Die Bevölkerung will sämtliche Argumente hören. Wir sind keine Deppen, die sich keine eigene Meinung bilden können.

NZZ Porträt: »Ich bin der Autor, der niemals stirbt.«

NZZ Interview – Matthias Niederberger                                                    28.7.2023

 

– Wie geht es Ihnen?

 

Es geht mir gut, aber auf tiefem Niveau.

 

– Schreiben Sie derzeit an einem Buch oder auf sonst eine Weise literarisch?

 

Ich wollte dieses Jahr meinen Roman »Bonnie & Clyde & der Achtzylinder« beenden, der Verlag hatte bereits den Publikationstermin für nächstes Jahr reserviert, aber die Polyneuropathie, eine Spätfolge der erfolgreichen Leukämiebehandlung, hat mittlerweile die Nerven in meinen Fingern geschädigt. Wenn das Tippen auf der Tastatur für einige Finger so schmerzhaft ist wie eine Zahnwurzelbehandelung, beenden Sie keinen 450seitigen Roman mehr. Auch nicht mit einem Gummistift. Der reicht nur für kürzere Texte. Ich habe deshalb aus dem Manuskript eine Shortstory für das Kulturmagazin »Literarischer Monat« geschrieben. Erscheint Ende Jahr. Da ich mein ganzes Leben täglich geschrieben und noch nie ein weisses Blatt angestarrt habe, leide ich natürlich unter Entzugserscheinungen. Aber ich habe noch genug zu tun. Daniel Bodenmann hat das englische Kinodrehbuch zu meinem autobiographischen Roman »Script Avenue« verfasst, das bereits in Los Angeles, New York, Tokio, Berlin und auf anderen Festivals ausgezeichnet wurde. Jetzt gilt es, Produzenten zu überzeugen.

 

– In «Script Avenue» heisst es: «Solange ich schreibe, werde ich nicht sterben.» Können Sie das etwas genauer erläutern, und stimmt das auch heute noch?

 

Früher erkrankte ich oft nach Abschluss eines grossen Projekts an einem Infekt.  Das wollte ich vermeiden und flüchtete in meine fiktiven Welten. Kaum hatte ich einen Roman beendet, schrieb ich bereits den nächsten, fast jedes Jahr ein neues Buch. Das Schreiben gab mir eine Struktur, ein Ziel. Was ich anfange, will ich auch zu Ende bringen. Disziplin und Durchhaltewillen sind wichtig. Ich stehe täglich, wenn auch nicht freiwillig, um zwei Uhr morgens auf, beginne mein Rehabprogramm und lese zwei bis drei Stunden die internationale Presse. Wer nur ein Medium konsumiert erfährt nur einen Teil der Fakten. Halbe Wahrheiten sind keine Basis für eine Debatte.

 

– Sie haben Ihr letztes Buch eigentlich schon geschrieben. Nun war es doch nicht das letzte. Wie fühlt sich das an?

 

Etwas merkwürdig. »Hotel California« war tatsächlich als »letztes Buch« geplant, der Roman war ein Lebensratgeber für meine damals noch ungeborene Enkelin. Mein Arzt sagte mir kürzlich, mein Krankheitsverlauf sei in der Tat ungewöhnlich. Ich bin mittlerweile der Autor der niemals stirbt. Aber das ist nicht mein Verdienst. Ich habe eine grossartige Frau an meiner Seite, einen wunderbaren Sohn und geniesse im Zellersatzambulatorium der Basler Hämatologie eine hervorragende Pflege und Betreuung.

 

– Zu SRF sagten Sie vor einigen Jahren: «Je beschissener eine Biografie, desto besser wird das Buch.» Schreibt man besser, wenn man ein Leben mit vielen Schicksalsschlägen hat? Inwiefern bezieht sich das auf Sie selbst?  

 

Ich weiss nicht, ob man besser schreibt. Aber sicher authentischer, und das ist etwas das die Leserinnen und Leser schätzen. Ich kriege regelmässig Mails von Menschen, die sich für einen Roman bedanken, weil er ihnen Mut gemacht hat, Mut, nicht aufzugeben. Besonders berührt hat mich die Mail eines mexikanischen Spastikers. Nach der Lektüre der spanischen Uebersetzung von »Cäsars Druide« hatte er nach Jahren wieder den Mut gefasst, sich um einen Job zu bemühen und einen gefunden. Die Hauptfigur in dieser Dramatisierung des Gallischen Krieges ist ein junger, keltischer Spastiker, der in Caesars Schreibkanzlei anheuert. Fast alle meine Romane sind Mutmacher. In gewissem Sinne habe ich mir meine Vorbilder selber erschaffen. Ich wurde mein eigener Motivator, Unterhalter und Hofnarr.

 

– Bekannt wurden Sie mit historischen Romanen: Blicken Sie lieber in die Vergangenheit als in die Zukunft?

 

Wer die Vergangenheit kennt, versteht die Gegenwart besser und kann sich eher ein Bild von der Zukunft machen. Mich fasziniert seit Teenagertagen die Universalgeschichte. Je mehr man weiss, desto mehr will man wissen.

 

– Sie veröffentlichen regelmässig eine Kolumne im Blick, schreiben über Klimakleber, Schuhe, ChatGPT. Ihre Zeit ist befristet und wertvoll. Weshalb tun sie genau das? 

 

Weil es mir Freude macht. Weil ich gerne recherchiere. Das würde ich auch ohne Auftrag tun. Ich bin mir bewusst, dass mir meine teilweise politisch nicht korrekten Kolumnen im Kulturbetrieb dauerhaft geschadet haben. Meine Bücher werden seitdem in der Schweiz kaum noch besprochen. Viele Kollegen teilen zwar meine Ansichten, aber in der Oeffentlichkeit tun sie so, als hätten sie immmer noch ihr Che-Guevara Poster auf dem Klo. Sie fürchten vielleicht den Verlust von Werkbeiträgen und Literaturpreisen. Ich werde nie verstehen, wieso Schriftstellerinnen und Schriftsteller ihren Rohstoff, die Sprache, verhunzen. Die Neue Political Correctness hat uns zu einer Gesellschaft von Heuchlern, Duckmäusern und Feiglingen gemacht.

 

– Der Schweizer Strafrechtsprofessor und Autor Peter Noll sagte einmal, es lebe sich besser, wenn man den Tod vor Augen habe. Wie denken Sie darüber?

 

Es lebt sich anders. Manchmal fühlt man sich wie ein Ausserirdischer auf einem fremden Planeten, weil man grenzwertige Erfahrungen gemacht hat, die anderen fremd sind. Das trennt. Man wird bescheiden und etwas stiller, man zieht sich zurück. Man wird auch gelassener, weil man weiss: Vieles ist bedeutungslos. Peter Noll kann ich sehr gut verstehen.

 

– Wie wichtig ist Humor in Ihrer Situation?

 

Mit Humor, egal wie schwarz er ist, meistert man auch grenzwertige Situationen besser. Humor verhindert, dass man in Selbstmitleid zerfliesst. Humor entspannt.

 

– In einem Interview sprachen Sie einmal von der «narzisstischen Selfie-Gesellschaft.» Nehmen wir uns selbst zu wichtig?

 

Auf jeden Fall. Der junge Clemens Traub und ehemalige Friday for Future Aktivist, nannte Kapitel 8 seines Bestsellers: »Die Jagd nach dem nächsten Selfie. Arzttochter sucht Anwaltssohn«. Der Asphalt ist für etliche Klimakleber eher eine Datingplattform und Selfie-Kulisse, mal Asphalt, mal Palmenstrand. Die »Letzte Generation« ist ohne Zweifel die letzte Generation, die derart privilegiert und verwöhnt aufwachsen durfte. In meiner Muttersprache nennt man sie »pourri gâté«, wobei gâtè sowohl verwöhnt als auch beschädigt bedeutet. Pourri ist die Steigerungsform und bedeutet verfault. Auch meine Generation wurde seinerzeit als »pourri gâté« bezeichnet. Verweigerung, Rebellion und Opposition gehören zur Pubertät, aber damals wurden die Kids nicht zu egoistischen Prinzen und Prinzessinen erzogen, die glauben, man könne die arbeitende Bevölkerung verärgern, um die Regierung zu erpressen.

 

– In der Schweiz geht es uns so gut wie noch nie, wir haben alles was wir brauchen ­– und noch mehr. Da bleibt nur noch Selbstoptimierung.

Haben wir zu grosse Erwartungen an uns selbst und an das Leben? Und haben wir vielleicht auch Bescheidenheit verlernt?

 

Kinderzimmer sehen bei uns aus wie Abteilungen von Franz Karl Weber, während Kinder in ärmeren Ländern mit dem spielen, was die Natur hergibt und dabei wesentlich zufriedener sind. Ich habe seit 13 Jahren täglich Kontakt mit meiner Grossfamilie in der philippinischen Provinz. Mehrmals wöchentlich fällt in den umliegenden Dörfern der Strom aus oder fliesst kein Wasser. Bei uns jammert man gendergerecht über ein zu kurzes iPhone-Kabel. Wir haben jegliche Verhältnismässigkeit verloren. Vor lauter Ichbezogenheit sehen wir nicht mehr über den eigenen Tellerrand hinaus, sehen nicht, dass die westliche Welt und ihre Werte laufend an Bedeutung verlieren. Deutschland, das immer wieder die Führerschaft Europas für sich reklamiert, marschiert auch beim Niedergang voran. Aber die Welt wird deshalb nicht untergehen, denn der Westen ist nicht die Welt.

 

– Was zählt wirklich im Leben? Können wir uns dessen überhaupt bewusst sein, wenn der eigene Tod gefühlt in weiter Ferne liegt?

 

Als ich damals während der Knochenmarktransplantation extrem hohes Fieber entwickelte und die Krankenschwester meiner Frau sagte, man könne jetzt leider nichts mehr tun, fragte ich mich nicht, wie viele Romane ich geschrieben habe, sondern was ich für andere Menschen getan habe. Denn was am Ende übrigbleibt, das sind die Gene, die man weitervererbt hat und die guten Taten. Ich bin weder religiös noch abergläubisch, aber ich denke, dass im reiferen Alter Schenken mehr Freude und Befriedigung schafft als Beschenktwerden. Deshalb finanziere ich seit 13 Jahren u.a. Stromgeneratoren, Wasserpumpmaschinen und Schulausbildungen auf den Philippinen.

 

– Was sind Ihre Wünsche? Haben Sie noch Ziele?

 

Meine Wünsche sind längst erfüllt. Als junger Autor wünschte ich mir beruflichen Erfolg. Später hoffte ich, dass mein Sohn trotz Handicap ein gutes Leben hat und dass ich nach dem Krebstod meiner ersten Frau nochmals die ganze grosse Liebe erfahre. Dies alles ist in Erfüllung gegangen. Schmerzfreie Nächte bleiben eine Illusion, die Ziele sind bescheidener geworden. Ich nehme einen Tag nach dem andern, gemäss dem Motto von Winston Churchill: »If you’re going through hell, keep going«.

 

Claude Cueni 28.7.2023

 

 

 

Claude Cueni: «Ich bin der Autor, der niemals stirbt»


Er leidet an einer unheilbaren Krankheit. Trotz Muskelkrämpfen schreibt Claude Cueni jeden Tag. Er entwickelte über die Jahre Computerspiele, schrieb Drehbücher für den «Tatort», seine Romane verkauften sich tausendfach. Im schweizerischen Literaturbetrieb bleibt er jedoch ein Aussenseiter.


Von Matthias Niederberger


«Ich wurde mein eigener Motivator, Unterhalter und Hofnarr.» – Claude Cueni. Karin Hofer / NZZ


Claude Cuenis Küche wird streng bewacht. In einer Ecke, gleich neben dem Bartresen, steht eine lebensgrosse Figur von John Law, dem Erfinder des Papiergeldes. Law ist die Hauptfigur von Cuenis bekanntestem Roman, «Das grosse Spiel». Mit ihrem langen Lockenhaar und der gemusterten Weste bildet die Figur einen krassen Gegensatz zum glatzköpfigen, Schwarz tragenden Cueni, der gleich daneben am Esstisch sitzt und ein kleines Mikrofon installiert.

Das Mikrofon ist nötig, weil Cueni schlecht hört. Die Krankheiten haben seinen Körper malträtiert. Das sieht man ihm auf den ersten Blick nicht unbedingt an. Zumindest heute nicht. Für einen Todkranken bewegt er sich auffällig mühelos, seine Stimme klingt kräftig. Auf die Frage, wie es ihm gehe, sagt er: «Gut, aber auf tiefem Niveau.»

2009 erkrankte Cueni an Leukämie, kurz nachdem seine damalige Frau gestorben war. Es folgten Chemotherapien, Bestrahlungen und eine Knochenmarktransplantation. Seither gehören Schmerzen zu Cuenis Alltag. Um zu verhindern, dass seine Lunge abgestossen wird, wird das Immunsystem künstlich niedergehalten. Seit 2010 hat Cueni über 50 000 Tabletten geschluckt. Den Winter verbringt er jeweils in Quarantäne, nicht erst seit der Corona-Pandemie.

Dina, Claude Cuenis zweite Frau, bringt Wasser und Kaffee an den Tisch. Seit 13 Jahren sind sie verheiratet. Kennengelernt haben sie sich in der U-Bahn von Hongkong. Während des Gesprächs betont Cueni mehrmals, dass er kein Pflegefall sei. «Aber ohne Dina hätte ich schon längt aufgegeben.»

Tippen mit dem Gummistift

1980 schrieb Cueni sein erstes Buch. Er veröffentlichte historische Romane, Kriminalromane, Hörspiele und Theaterstücke, schrieb über 50 Drehbücher, unter anderem für Fernsehserien wie «Alarm für Cobra 11», «Peter Strohm» und den «Tatort». Ausserdem entwickelte er Computerspiele und gründete eine Firma, die 1991 das erste interaktive TV-Telefonie-Format in Europa entwickelte. Cuenis Roman «Das grosse Spiel» über den Papiergeld-Erfinder John Law landete 2006 auf Platz eins der Schweizer Bestsellerliste. Das Buch wurde in 12 Sprachen übersetzt, die deutsche Version verkaufte sich 35 000 Mal.

Mit seinen 67 Jahren könnte Cueni längst im Ruhestand sein. Aber er schreibt immer noch so viel, wie es sein Körper zulässt. Häufig wird er um zwei Uhr morgens von Muskelkrämpfen geweckt. Sind sie erst einmal abgeklungen, liest er zwei bis drei Stunden die internationale Presse, bevor er schreibt. Weil seine Finger schmerzen, tippt er mit einem Gummistift auf die Computertasten. Eine mühselige Angelegenheit.

Eigentlich habe er dieses Jahr seinen Roman «Bonnie & Clyde & der Achtzylinder» beenden wollen, sagt Cueni, eine Entmythologisierung des amerikanischen Verbrecherduos. Doch die Polyneuropathie, eine Spätfolge der erfolgreichen Leukämie-Behandlung, hat mittlerweile die Nerven in seinen Fingern geschädigt. «Wenn das Tippen auf der Tastatur so schmerzhaft ist wie eine Zahnwurzelbehandlung, beenden Sie keinen 450-seitigen Roman mehr.» Deshalb schreibt Cueni nur noch kurze Texte, eine alle zwei Wochen in der Schweizer Boulevardzeitung «Blick» erscheinende Kolumne beispielsweise.

Das Schreiben, erklärt Cueni, gebe ihm eine Struktur. Früher sei er oft nach Abschluss eines grossen Projekts an einem Infekt erkrankt. «Das wollte ich vermeiden und flüchtete in meine fiktiven Welten.» Kaum hatte er einen Roman beendet, schrieb er bereits den nächsten – fast jedes Jahr ein neues Buch.

Vom Leben geplagt

Schon bevor er erkrankte, hatte Cueni ein schwieriges Leben. Als Kind litt er unter der Repression seiner streng katholischen Eltern. Cueni spricht von einem «gewalttätigen, religiösen Irrenhaus». Später brach er die Schule ab, um Schriftsteller zu werden, und schlug sich zeitweise mit Gelegenheitsjobs durch. Cuenis Sohn erlitt nach der Geburt eine spastische Lähmung. Seine erste Frau und Jugendliebe starb 2008 an Krebs.

Schreibt man besser, wenn die eigene Biografie derart viele Schicksalsschläge aufweist? Er wisse es nicht, sagt Cueni, «aber sicher authentischer. Das ist etwas, das die Leserinnen und Leser schätzen.» Fast alle seine Romane sind Mutmacher. In gewissem Sinne habe er sich seine Vorbilder selbst erschaffen: «Ich wurde mein eigener Motivator, Unterhalter und Hofnarr.»

Humor sei für ihn enorm wichtig. Er und seine jetzige Frau Dina könnten sogar über seine schmerzhaften Krampfanfälle lachen. Mit Humor, egal, wie schwarz er sei, meistere man grenzwertige Situationen besser, ist Cueni überzeugt: «Er entspannt und verhindert, dass man in Selbstmitleid zerfliesst.»

Keine Zeit für Networking

Im Schweizer Literaturbetrieb war Cueni stets ein Aussenseiter . Wenn bekannte Schweizer Autoren aufgezählt werden, fällt sein Name kaum je. Cueni gewann weder einen Literaturpreis, noch wurde er jemals an die Solothurner Literaturtage eingeladen. Dafür gibt es wohl mehrere Gründe. So haben sich zwar einige von Cuenis Romanen gut verkauft, wurden aber in den letzten Jahren kaum noch in den Feuilletons besprochen.

Zudem ist Cueni ein Mann, der in der Öffentlichkeit gerne den Konflikt sucht. In seinen «Blick»-Kolumnen regt er sich über «Klimaheuchler» auf, über die Rot-Grünen, die nicht wahrhaben wollten, «dass man nicht jede Kultur integrieren kann». Und er echauffiert sich über politische Korrektheit: «Viele Kollegen teilen zwar meine Ansichten, aber in der Öffentlichkeit tun sie so, als hätten sie immer noch ihr Che-Guevara-Poster auf dem Klo. Die neue Political Correctness hat uns zu einer Gesellschaft von Heuchlern, Duckmäusern und Feiglingen gemacht.» Er werde nie verstehen, wieso Schriftsteller ihren Rohstoff, die Sprache, verhunzten. Mit solchen Aussagen macht man sich im Literaturbetrieb keine Freunde.

Cueni sieht den Hauptgrund für sein Aussenseiterdasein noch mal woanders: «Ich hatte keine Zeit für Networking.» Wer die richtigen Leute kenne, erhöhe seine Chancen, als ernsthafter Autor wahrgenommen zu werden, massiv. Er habe jahrelang «wie am Fliessband» schreiben und Bücher verkaufen müssen, um die Therapie für seinen handicapierten Sohn zu bezahlen. Abends ging er dann lieber ins Bett als an einen Apéro.

Auf die Philippinen reisen

Mit «Hotel California» hat Claude Cueni sein Abschiedswerk eigentlich schon geschrieben. Der 2021 erschienene Roman war als Lebensratgeber für seine damals noch ungeborene Enkelin gedacht. Mittlerweile ist sie vier Jahre alt, und ihr Grossvater lebt immer noch. Ein Arzt habe ihm kürzlich gesagt, sein Krankheitsverlauf sei ungewöhnlich. Eigentlich müsste er längst tot sein, sagt Cueni: «Ich bin mittlerweile der Autor, der niemals stirbt.» Doch das sei nicht sein Verdienst. Er werde hervorragend betreut: von den Hämatologen des Basler Zellersatzambulatoriums, von seiner Frau und von seinem Sohn.

Schmerzfreie Nächte blieben allerdings eine Illusion. Sonst hätten sich all seine Wünsche längst erfüllt: «Als junger Autor wünschte ich mir beruflichen Erfolg. Später hoffte ich, dass mein Sohn trotz Handicap ein gutes Leben hat und dass ich nach dem Krebstod meiner ersten Frau nochmals die ganze grosse Liebe erfahre.»

Dann äussert Claude Cueni doch noch einen Wunsch: Er möchte die Familie seiner Frau auf den Philippinen besuchen. Zwar würden sie jeden Tag telefonieren, aber physisch hätten sie sich noch nie getroffen. Im Moment lässt sein körperlicher Zustand das nicht zu. Damit er in ein Flugzeug steigen und den geringeren Luftdruck aushalten kann, muss seine Lungenleistung weiter zunehmen. Dafür trainiert er.

Cueni plante, in der Woche nach dem Gespräch auf den 2100 Meter über Meer gelegenen Gotthardpass zu fahren. Er wollte testen, wie sein Körper bei geringerem Luftdruck reagiert. Für den Notfall sollte ein Sauerstoffgerät ins Gepäck.

Dann kam ein Infekt dazwischen. Vorerst kann Claude Cueni nicht mehr reisen.

144 Blick »Ungeziefer in bunten Kleidern«

Als der spanische Konquistador Hernán Cortés 1519 Mexiko erreichte, kam das nicht gut. Seine Männer brachten Tod und Verderben, die Ureinwohner waren den Viren und Bakterien genauso hilflos ausgesetzt wie der überlegenen Waffentechnik. Einige begrüssten die Neuankömmlinge anfangs mit Freude, wenig später waren sie ihre Sklaven.

 

Magellan eroberte für den spanischen König Philipp die Philippinen (daher der Name), von da an war das Inselvolk für 500 Jahre unterjocht.

 

Die Indianer Nordamerikas nutzen die Feuerkraft der Briten und Franzosen, um andere Stämme zu unterwerfen. Am Ende verloren sie alles, ihr Land und ihr Leben.

 

Wie würden wohl ausserirdische Lebewesen, die auf Shoppingtour durch die Galaxie sind, mit uns verfahren? Ihre Flugobjekte demonstrieren, dass sie uns einige hundert oder gar tausend Jahre voraus sind. Werden Sie uns behandeln, wie wir Tiere behandeln, die wir minderwertig finden, weil sie sich auf Fortpflanzung und essen beschränken? Werden uns die Aliens in Zoos einsperren, in Arenen gegeneinander antreten lassen? Werden sie uns die Haut abziehen, uns in Labors als Versuchskaninchen einsetzen, auf den Märkten als Arbeitstiere verkaufen oder uns als Nuggets verspeisen? Werden wir an neuartigen Viren und Bakterien zugrunde gehen?

 

Wir wissen es nicht. Kann sein, dass sie uns als Ungeziefer in bunten Kleidern einstufen. Niemand kann voraussagen, wie Zivilisationen ticken, die uns technologisch derart überlegen sind.

 

Gemäss Nasa gibt es mehrere Milliarden erdähnliche Planeten in unserer Galaxie. Es ist eher unwahrscheinlich, dass wir alleine sind. Sollte dies eines Tages offiziell bestätigt werden, stehen wir mit kurzen Hosen da, egal ob wir Papst Franziskus, Joe Biden oder Xi Jinping heissen. Einige werden die fremden Lebewesen als Götter verehren, andere werden ähnlich hilflos reagieren, wie der indigene Stamm im brasilianischen Amazonasgebiet, der mit Pfeilen auf den eisernen Vogel zielte, der über sein Dorf ratterte.

 

Stephen Hawking meinte für den Fall, dass wir eines Tages Signale aus dem Weltraum erhalten, sollten wir besser erst antworten, wenn wir uns ein bisschen weiterentwickelt haben. Also wohl eher in einigen tausend Jahren.

Shortstory: Die hölzerne Handprothese von Capitaine Danjou


Die hölzerne Handprothese von Capitaine Danjou

Claude Cueni über seinen Onkel, der einst Fremdenlegionär war


Ich verbrachte meine ersten Lebensjahre in einem kleinen jurassischen Dorf, wo noch heute der Rauch der letzten Hexenverbrennungen über den Höfen weht. Alle meine Tanten und Onkel lebten dort. Bis auf Onkel Arthur. Man sagte mir, er würde eines Tages zurückkehren. Wohl oder übel. Er kam nach einigen Jahren. Ich hörte ihn frühmorgens draussen auf dem Hof Holz hacken. Er hackte nicht, er zerstörte das Holz, er zertrümmerte es mit brachialer Gewalt. Er war ein klein gewachsener Mann mit dem Oberkörper eines Gladiators, eine Naturgewalt. Da ihn die Familie ächtete, suchte er vermehrt den Kontakt zu mir. Er fuhr mich oft in seinem knallroten Cadillac Eldorado ins Kino nach Belfort und sang unterwegs Frank Sinatra.

Einmal verweigerte mir der Besitzer den Eintritt, weil ich noch viel zu jung war. Onkel Arthur schnauzte ihn an: «Weisst du, kleiner Scheisser, was wir in Algerien mit Typen wie dir gemacht haben?» Mein Gott, dachte ich, wie kommt er bloss auf Algerien?

«Ich rufe die Polizei», entgegnete der Besitzer.

«Les flics?», brüllte Onkel Arthur. «Ich war 57 unter dem Kommando von General Massu in der Schlacht von Algier. Ich war einer der Fallschirmjäger der 10. Division. Wir waren die Brutalsten. Und du willst mich verhaften lassen?»

Onkel Arthur donnerte seine Faust in die Glasfront des Kassahäuschen und zerrte den Besitzer über den Tresen. Die folgende Schlagstafette war furchtbar. Nur Mike Tyson hat später noch so geboxt.

Onkel Arthur verbrachte einige Zeit wegen schwerer Körperverletzung im Gefängnis. Er wohnte dann in der Stadt, in Basel, und besuchte meine Familie jeden Tag. Er hatte ja keine: «Die Legion war meine Familie. Nationalität, Religion, Rasse, das spielte alles keine Rolle. Wir waren Waffenbrüder, Elitesoldaten. Ehre, Stärke, Mut und Gehorsam, das waren unsere Tugenden. Wir waren Legionäre.»

Am 30. April, dem höchsten Feiertag der Legion, kam er jeweils mit einem Replikat der hölzernen Handprothese von Capitaine Danjou, um in unserer Küche Camerone 1863 zu gedenken; das ist der Erinnerungstag an ein legendäres Gefecht französischer Legionäre in Mexiko. Mein Onkel trank dazu Beaujolais. Wenn er betrunken war, erzählte er mehr. «Weisst du, bei unseren Veteranentreffen reden wir über Indochina, aber keiner verliert ein Wort über Algerien. Es ist vielleicht das Grausamste was Menschen jemals getan haben.»

Es war kurz nach dem Fest Camerone 1863, als ich Onkel Arthur als minderjähriger Dolmetscher zum Personalchef eines Basler Chemiekonzerns begleiten musste.

«Es gibt da ein paar Lücken in Ihrem Lebenslauf», sagte der Personalchef. «Hier zum Beispiel, fünf Jahre …»

«Da war ich in der Legion», sagte Onkel Arthur ohne zu zögern, obwohl ich ihm doch eindringlich davon abgeraten hatte. Und als der Personalchef ihn fragte, mit welchen Fahrzeugen er Erfahrung habe, erwähnte er tatsächlich den AMX-13- Panzer.

«Sie waren also in der Legion», murmelte der Personalchef.

Onkel Arthur riss sein Hemd auf und zeigte seine Wunden: «Sehen Sie, so haben die mich damals in Algerien zusammengeflickt. Heute lassen sich die Weiber neue Titten und Ärsche machen, und man sieht nicht die kleinste Operationsnarbe. Mich haben sie wie ein Schwein zusammengeflickt. Wann kann ich anfangen?»

«Sie hören von uns», sagte der Personalchef knapp und erhob sich.

«Arthur, nennen Sie mich Arthur. Oder Captain. In Algier nannten sie mich Captain.»

«In Ordnung, Captain», sagte der Personalchef und unterdrückte ein Schmunzeln.

Als wir über den Parkplatz zum Auto liefen, strahlte Onkel Arthur über das ganze Gesicht. «Ich war saugut», lachte er, «das mit der Legion hat ihn mächtig beeindruckt. Am Schluss hat er mich sogar Captain genannt. Das ist Respekt unter Männern. Verstehst du, Claude, Respekt unter Männern.»

Im Auto begann er euphorisiert «Tiens, voilà du Boudin» zu grölen und hielt plötzlich in einem nahen Waldstück an. Er riss seinen Hosenschlitz auf und nahm sein erigiertes Glied heraus. Er wollte sich auf mich stürzen, aber ich konnte gerade noch rechtzeitig die Beifahrertür öffnen und davonrennen. Ich war ein guter Sprinter. Ich höre noch das Lachen von Onkel Arthur. Die Welt sei schlecht, rief er mir nach, in Algerien sei er auf den Geschmack gekommen. So hätten sie Väter gebrochen, wenn sie zuschauen mussten. Ich verstand nicht, was plötzlich in diesen Kerl gefahren war. Ich erzählte die Geschichte meiner Lieblingstante, aber sie meinte, sie wolle diesen Schweinekram nicht hören. Die gesamte Verwandtschaft wollte ihn nicht hören. Ich habe dieses Dorf nie mehr besucht. Im Gegensatz zu Onkel Arthur. Das Wegschauen seiner Geschwister hatte ihn animiert, es nun mit meinen wesentlich jüngeren Cousins zu versuchen. Zwei von ihnen hat er vergewaltigt, jahrelang. Einer brachte sich schliesslich um. Niemand ging zur Polizei. Onkel Arthur wurde verbannt, ausgeschlossen.

Jahrzehntelang lebte Onkel Arthur als Untermieter in der kleinen Wohnung einer verwitweten Seniorin. Etliche Jahre später, es war ein 30. April, wollte ich ihn besuchen und ihm eine reinhauen. Doch seine betagte Vermieterin sagte, er sei am letzten Weihnachtsabend verstorben. Er habe nur eine hölzerne Handprothese hinterlassen.


Die Shortstory erscheint mit anderen Kurzgeschichten in meinem »Lesebuch 1974 – 2024« zusammen mit Essays, Kolumnen und Interviews Ende 2024 (?).

ca. 500 Seiten.


 

143 Blick »Schweizer Söldner auf Reisen«

Schweizer Söldner auf Reisen

 

Vor rund 600 Jahren exportierte die Schweiz weder Flugabwehrsysteme nach Katar noch gepanzerte Fahrzeuge nach Botswana, sondern Zeitsoldaten aus Fleisch und Blut. Man nannte sie «Reisläufer», weil diese Söldner «reisten». Bei ausländischen Herrschern war die Kriegskunst der Schweizer gefragt. Mit ihren sechs Meter langen Spiessen stachen sie Ross und Reiter nieder und waren manchem Ritterheer überlegen. Man hielt diese «Gewalthaufen» deshalb für unbesiegbar. Für junge Männer war der Anreiz, im Ausland Kriegsdienst zu leisten, gross, zumal Überbevölkerung und die damit verbundene Arbeitslosigkeit immer mehr Menschen in die Armut trieb.

Auf Söldner spezialisierte «Jobcenter» vermittelten zwischen Herrscherfamilien und jungen Schweizern, die einem trostlosen Dorfleben entfliehen wollten. Später übernahmen Kantone dieses lukrative Business. Sie setzten durch, dass sich vermittelte Söldner bei Verfehlungen keinem fremden Richter stellen mussten. Als die Inflation die Kaufkraft des Soldes schmälerte und das Recht auf Plünderung eingeschränkt wurde, verlor die Reisläuferei an Attraktivität. Es war schliesslich das Schiesspulver, das den Mythos der Unbesiegbarkeit zerstörte.

Während den französischen Kolonialkriegen in Indochina (1946–1954) und Algerien (1954–1962) traten rund 7500 Schweizer der französischen Fremdenlegion bei. Diese Eliteeinheit für Auslandeinsätze war bereits 1831 gegründet worden.

Seit der Revision des Militärstrafgesetzes im Jahre 1927 ist Schweizern der Dienst in fremden Armeen verboten. Einige schliessen sich trotzdem der Legion an. Wer jedoch nach den obligaten fünf Dienstjahren zurückkehrt, muss (theoretisch) mit einer Haftstrafe rechnen. Das gilt auch für die wenigen Schweizer, die sich in der Ukraine der «Internationalen Territorialverteidigungs-legion» angeschlossen haben.

Vom Söldnerverbot ausgenommen ist die 1506 gegründete päpstliche Schweizergarde. Ihre Tätigkeit wird als Polizei- und nicht als Militärdienst eingestuft. Die Motivation, in einer Renaissance-Uniform in der brütenden Hitze Wache zu schieben, gleicht in einem Punkt den Beweggründen der Reisläufer: Es ist der jugendliche Drang, der Eintönigkeit zu entfliehen.

142 Blick »Sture Koryphäe auf Verbrecherjagd«

Der Franzose Alphonse Bertillon (1853– 1914) war ein verschrobener Kauz, der zu cholerischen Anfällen neigte und wegen seiner chronischen Migräne zum Eigenbrötler wurde. Er begann seine Karriere mit 26 in der Pariser Polizeipräfektur. Sein Job bestand darin, Beschreibungen von Kriminellen auf Karteikarten zu übertragen.

Da er seine Kindheit unter Statistikern, Mathematikern und Anthropologen verbracht hatte, war ihm bekannt, dass es keine zwei Menschen mit den exakt gleichen Massen gibt. Er entwickelte ein System zur Identifizierung von Personen und begann Untersuchungshäftlinge zu vermessen, was ihm den Spott seiner Kollegen einbrachte.

Vier Jahre später gelang ihm aufgrund elf körperlicher Merkmale die Identifizierung eines rückfälligen Straftäters. Die Gefahr einer Verwechslung lag bei eins zu circa vier Millionen. Bertillon wurde zum Leiter des polizeilichen Erkennungsdienstes befördert. Sein System der «Bertillonage» wurde nun mit Fotografien erweitert. Bertillon setzte die inhaftierte Person auf einen Drehsessel und entwickelte einen Apparat, der es erlaubte, hintereinander und auf derselben Platte, ein Front- und ein Profilbild («mug shots») herzustellen, ohne dass sich der Verhaftete bewegen musste. Er weigerte sich jedoch, Fingerabdrücke in seine Kartei aufzunehmen, weil er diese für unzuverlässig hielt.

Als 1911 im Louvre die «Mona Lisa» gestohlen wurde, hinterliess der Straftäter Vincenzo Peruggia auf der Türklinke Fingerabdrücke. Diese waren zwar registriert, aber eben nicht in der Kartei. Bertillon hielt stur an seiner Meinung fest und widmete sich zusätzlich der Grafologie. Im Prozess gegen den jüdischen Offizier Alfred Dreyfus war er Gutachter und behauptete absurderweise, dass das belastende Dokument gerade deshalb von Dreyfus sein müsse, weil nicht zu beweisen sei, dass es von ihm sei. Selbst nach der Rehabilitierung von Dreyfus wollte Bertillon seinen Fehler nicht eingestehen. Es wäre die Bedingung gewesen für die Verleihung eines Verdienstordens. Bertillon blieb erneut stur und verzichtete auf die Ehrung. Es ist nicht gerade selten, dass Menschen, die auf einem Gebiet Grossartiges geleistet haben, charakterlich weniger grossartig waren.

Von Facebook gelöschter Textauszug.

(Redaktionssitzung:)

»Ist ja schon gut Malika, slow down, als meine Mutter in deinem Alter war, galt der Zigeunerlook als Synonym der Freiheit. Nur Spiesser hatten einen festen Wohnsitz. On the road again and fuck around the world and Sex & Drugs and Rock ’n’Roll.«

»Bobby«, unterbrach Malika unwirsch, »Woodstock, das ist schon eine Weile her, heute sind die Menschen sensibler, die meisten jedenfalls.«

»Okay, Malika, wie kann ich das wieder gutmachen?«

»Lass dir was einfallen.«

»Ich könnte mir ein Büssergewand ausleihen und in den Roma-Camps im Elsass den Müll wegräumen, den unsere Mitmenschen ohne festen Wohnsitz hinterlassen haben.«

Mehr über das Buch

Die ersten 14 Seiten


141 Blick »Die vermeintlich letzte Generation«

Fast jeder kennt sie, die zirka 1500 Jahre alten Moai, die kolossalen Steinskulpturen der polynesischen Osterinsel im Pazifischen Ozean, aber nur wenige erkennen in ihrem Niedergang eine Metapher für den ökologischen Suizid einer Gesellschaft, die sich durch hemmungslosen Raubbau die eigene Existenzgrundlage vernichtet hat und schliesslich an einer Klimaveränderung zugrunde ging. Dies geschah lange bevor die ersten europäischen Seefahrer ihren Fuss auf die isolierteste Insel der Welt setzten, isoliert wie unser Planet zwischen Merkur und Venus.

Die monumentalen Moai-Statuen gehören seit 1995 zum Weltkulturerbe. 683 Figuren wurden einst katalogisiert, Experten zählten später über 1000 Skulpturen, einige sind noch am Zählen.

Erich von Däniken spekulierte, Aliens könnten die Statuen aus dem Vulkangestein geschnitten und die roboterhaften Gesichtszüge der «Astronauten» erschaffen haben. Die Insulaner selbst halten die Statuen für einen religiösen Totenkult, Denkmäler für berühmte Häuptlinge und Angehörige. Zwölf Sippen, die «Grossmächte» jener Zeit, lieferten sich über Jahrhunderte ein «Wettrüsten». Sie zerstörten einander die Moai gegenseitig und errichteten neue, grössere. Dafür brauchte es noch mehr Holz und Seile.

Die bis zu drei Meter hohen Palmen, die um 900 n. Chr. noch die ganze Insel bedeckt hatten, fielen in den folgenden Jahrhunderten den Rodungen zum Opfer. Eine starke Bodenerosion durch Regen und Wind war die Folge. Die Erträge aus der Landwirtschaft gingen zurück, die Nahrung wurde knapp. Nach 1650 fehlte sogar das Brennholz, um die kalten, regnerischen und stürmischen Wintermonate zu überstehen. Die Zivilisation brach zusammen, es herrschte Anarchie und Kannibalismus, man verkroch sich in Höhlen, Warlords verdrängten die Priesterkaste.

Als Jakob Roggeveen (1659–1729), ein niederländischer Seefahrer und Forschungsreisender, 1722 an einem Ostersonntag (deshalb der spätere Name der Insel) das Eiland betrat, war die Gegend bereits kahl geschoren. Captain Cook notierte 50 Jahre später, die Inselbewohner seien «klein, mager, ängstlich und elend».

Doch die vermeintlich letzte Generation war nicht die letzte. Heute leben rund 8000 Menschen auf der kleinen Insel. Und rund 3000 ausgewilderte Pferde.

Einige meiner Dioramen finden Sie jeweils hier

140 Blick »Wasser predigen und Wein trinken

Die Kolumne erschien gestern in Blick. Dass gleichzeitig über die private Flugreise des Klimaklebers Max Voegtli nach Mexiko berichtet wurde, ist Zufall. Das Mitglied von »Renovate Switzerland« nennt sich privilegiert und ist ein weiterer Klimaheuchler aus gutem Hause. Er reist zwei Monate durch Südamerika und kommt dann (mit vielen schönen Selfies) in die Schweiz zurück, um gegen private Flugreisen zu demonstrieren.


»Ich weiß, sie tranken heimlich Wein und predigten öffentlich Wasser.« Die oft benutzte Redewendung stammt aus Heinrich Heines (1797-1856) satirischem Versepos »Deutschland. Ein Wintermärchen«.

Bereits in der schwarzhumorigen Kultserie «Californication» (2007–2014) spottete der trinkfeste Womanizer Hank Moody (David Duchovny) über all die Hollywoodstars, die auch in Dürreperioden ihren Rasen sprenkeln und seit 1979 in ihren Privatjets zu Klimakonferenzen fliegen, um ihren Fans zu predigen, dass sie aufs Fliegen verzichten sollten.

Diese Medienevents sind längst zu Dating-Plattformen für Netzwerker aus Politik, Wirtschaft und Kultur verkommen. Hilde Schwab, Fachfrau für Eventmarketing am WEF, schätzt die Begegnungen mit Künstlern am meisten. Was hat jedoch die Anwesenheit von Leonardo DiCaprio, Brad Pitt oder Angelina Jolie dem Klima gebracht?

Für viele sind die Klimapredigten so faszinierend wie Werbeunterbrechungen auf Youtube. Den alarmistischen Ruf: «Es gibt keinen Planeten B», haben sie bereits gefühlte zwei Millionen Mal gehört. Nicht Sprechblasen helfen dem gehäuteten Planeten, sondern Forschung und Arbeit. Bei uns trifft man an Klimademos immer wieder mal Promis mit kindlich gemalten Plakaten, auf denen etwa geschrieben steht: «You can’t breathe money» («Du kannst Geld nicht atmen»). Die frische Luft atmen die Gutsituierten anschliessend an weissen Sandstränden auf Bali oder in Dubai. Sie demonstrieren eher gegen das Vergessenwerden. Selbst in Kreisen der Asphalt-Potatoes ist es heute kein Widerspruch mehr, in ferne Länder zu jetten. Der Ablasshandel erlaubt, die «Sünde» via Myclimate mit Geld zu kompensieren. Weniger Betuchte müssen am Wochenende auf ihre Grillwurst verzichten.

Wer dreimal durch die Fahrprüfung fällt, fährt neu dem Klima zuliebe nicht Auto. Wer nie Kinder wollte, «verzichtet» jetzt dem Klima zuliebe auf Nachwuchs. Wer bisher erfolglos abspeckte, fastet nun öffentlich für das Klima. Man läuft Marathon, radelt und schwimmt für das Klima. Der Nutzen für das Klima: null.

Der enorme Druck, sich andauernd erklären und rechtfertigen zu müssen, macht uns zu einer Gesellschaft von Heuchlern, Duckmäusern und Feiglingen. Mittlerweile gibts den Button «Klima Rebell» als Anstecknadel. Für 3.50 Franken retten Sie den Planeten.

Wie ist es, mit Schmerzen zu leben?

Der heutige Beitrag im »Blick« war auf maximal 3000 Anschläge beschränkt. Hier lesen Sie die Rohfassung mit 4679 Anschlägen. Ich habe diese für die Printausgabe gekürzt. Mehr erfahren Sie in meinem autobiographischen Roman »Script Avenue«, 640 Seiten.


Ich kann mich nicht erinnern, wann ich in den letzten 13 Jahren vierundzwanzig schmerzfreie Stunden erlebt habe. Ich bin hauptberuflich krank und Dauerpatient im Zellersatzambulatorium der Hämatologie, in der Pneumologie, in der Neurologie, in der Urologie, in der Dermatologie, in der Kardiologie und im Augenspital. Meine tägliche Medikamentenliste umfasst 14 Positionen. Einige Pillen lösen plötzliche Muskelkrämpfe aus, tagsüber, in der Nacht, manchmal bricht dabei ein Stück Zahn ab. Die Kieferkrämpfe beim Essen und Zähneputzen nehmen meine Frau Dina und ich mit Humor. Sieht zu komisch aus. Das ist mein Leben, ein anderes gibt es nicht.

Selbstmitleid ist Zeitverschwendung und verstärkt lediglich die Schmerzen. Ich kann meine Krankheiten nicht heilen, aber ich kann meine Einstellung dazu ändern. Ich hatte stets eine sehr sportliche Einstellung zum Leben und habe längst akzeptiert, dass ich in der Nachspielzeit lebe. Ich fokussiere auf das, was mir Freude macht: Familie, Arbeit, Natur.

Wenn die Schmerzen stark sind, singe ich oft aus Trotz die Hits der 1970er-Jahre. Man kann nicht singen und sich gleichzeitig sorgen. Die Hits aus Teenager-Tagen bringen die Zeit zurück, als das Leben noch unbeschwert war. Singen ist auch gut für die Psyche und hilfreich für meine Lunge, die nach der leukämiebedingten Knochenmarktransplantation bis auf 37% abgestossen wurde. Man sagte mir damals, das sei irreversibel. Nichts hat mich in meinem Leben mehr motiviert, als wenn man mir sagte, etwas sei unmöglich. Nach jahrelangem Training zu Hause und optimaler Betreuung durch das Basler Universitätsspital, erreichte ich im April erstmals wieder 50%.

Ich fragte letztes Jahr meinen Arzt, wieso ich noch am Leben sei. Gemäss Statistik müsste ich längst tot sein. Er antwortete, mein Verlauf sei in der Tat ungewöhnlich und zeigte auf meine Frau Dina, die mich stets begleitet. Für ein Martyrium unter dem Damoklesschwert braucht es die richtige Lebenspartnerin. Dina hat nach dem Krebstod meiner ersten Ehefrau die philippinische Sonne in mein Leben gebracht. Sie leidet mit, bemitleidet mich aber nicht. In der philippinischen Kultur zählt nur der Augenblick. Sie spürt, wenn ich Schmerzen habe. Wir sprechen nicht darüber. Manchmal zwinkert sie mir zu und sagt: Spartacus. Die Larmoyanz in unseren Breitengraden ist ihr fremd. Auf den Philippinen fühlen sich die Leute nicht permanent traurig, deprimiert, überfordert und wegen jeder Lapalie unwohl.

Ich schlafe sehr selten vier Stunden ohne Unterbruch. Oft reissen mich ab zwei Uhr morgens Krämpfe aus dem Schlaf. Dina hilft mir auf die Beine, ich hake ihr unter, wir spazieren durch die Wohnung, wir sind Bonnie & Clyde, aber gewaltlos.  Wenn ich nachts online bin, melden sich manchmal Leserinnen: »Können Sie auch nicht schlafen? Haben Sie auch solche Schmerzen?« Viele Menschen tragen einen wesentlich schwereren Rucksack. Jeder Mensch hat einen Rucksack, aber nicht jeder Rucksack ist gleich schwer.

Ich habe mich als Autor historischer Romane ein Leben lang mit dem Alltag in anderen Epochen beschäftigt. Leid und Schmerzen gehören zum Leben. Der Mensch ist stärker als er glaubt, sonst hätte unsere Spezies gar nicht überlebt. Man kann Schmerzen medikamentös unterdrücken, aber bei der Dosis, die ich bräuchte, würde ich nur noch vor dem PC dösen. Für einen Roman würde es nicht mehr reichen, höchstens für einen Einkaufszettel.

Ernährung und Bewegung können im Einzelfall Schmerzen lindern, aber den Schmerzen kann man nicht davonlaufen.

Man sagt oft, hinter einem erfolgreichen Mann steht eine kaputte Frau. Bei uns ist es umgekehrt: Neben einem kaputten Mann steht eine starke Frau.

Mittlerweile bin ich an einem weiteren Krebs erkrankt und die fortschreitende Polyneuropathie hat die Nerven in Füssen und Händen geschädigt. Das ist ein ganz neuer Schmerzlevel, eine Spätfolge der erfolgreichen Chemos und Bestrahlungen, das ist der »Nachteil«, wenn man so lange überlebt

In meinem autobiographischen Roman »Script Avenue« schrieb ich: Solange ich schreibe, werde ich nicht sterben und ich schrieb seitdem jedes Jahr ein neues Buch, als könne ich damit den Tod überlisten. Zurzeit arbeite ich an einem neuen historischen Roman, der Verlag hat für Frühling 2024 bereits den Publikationstermin reserviert, aber das Buch wird weder 2024 noch 2025 beendet sein. Vielleicht später, vielleicht auch nicht.

Jeder hat seine rote Linie. Es ist ausgerechnet die oft kritisierte Sterbehilfe, die einem die Kraft gibt, Schmerzen zu ertragen. Weil man es jederzeit beenden könnte. Weil das Leben trotz allem grossartig ist, verschiebt man die rote Linie immer wieder. Sei es auch nur für Dinas Pancit, ein philippinisches Nudelgericht.


Im Verlag »Nagel & Kimche« erschien 2021 der Lebensratgeber »Hotel California« für meine Enkelin.


 

 

 

 

139 Blick »Der Neid der Langschläfer«

Disclaimer: Es geht um »Langschläfer« im erwerbsfähigen Alter und NICHT um Pensionierte, die den verdienten Ruhestand angetreten haben.


 

«Die Jagd nach dem Sündenbock ist die einfachste», soll US-Präsident Dwight D. Eisenhower (1890–1969) einmal gesagt haben. Auch im Jahr 1540 suchte man die Schuldigen für die Wetterkapriolen. Elf Monate lang gab es praktisch keinen Regen – Elf Monate lang lagen die Temperaturen nie unter 40 Grad. In über 300 Chroniken wurde Europas grösste Naturkatastrophe detailliert geschildert. Ohne Zweifel hatte jemand die Natur verhext. Die 50-jährige Magierin Prista Frühbottin wurde beschuldigt und am 29. Juni 1540 «geschmäucht und abgedörrt».

Wenn etwas schiefgeht, schlägt die Stunde der Neider. Digitale Treibjagden hetzten vermeintliche Sündenböcke. Vor Kurzem war es noch der alte, weisse Mann, der das Klima versaut. Da die vorwiegend weiblichen Megaphons der Klimareligion auch liebe Papis und Opis haben, wurde modifiziert und neu der «reiche» alte weisse Mann als Übeltäter identifiziert. Nachdem es sich aber herumgesprochen hat, dass Greta & Co. in Millionärshaushalten aufgewachsen sind und eines Tages Millionen erben werden, wurde die Hetze erneut anpasst und der «superreiche» alte weisse Mann zum Abschuss freigegeben. Es spielt dabei keine Rolle, ob jemand durch Geburt, Heirat, Erbe oder Leistung superreich geworden ist. Diese populistische Unschärfe unterscheidet sich kaum von der Hysterie der Hexenverbrenner.

Neider sehen stets die Blumenbeete, aber nie den Spaten. Mir ist es völlig egal, ob andere Menschen Millionäre oder Milliardäre sind, ob sie Privatjets bunkern wie andere Bierkisten, ob sie in Villen mit 18 Badezimmern leben. Aus einem einfachen Grund: Es hat weder Einfluss auf mein Wohlbefinden noch Einfluss auf meine Darmtätigkeit. Und zum Pinkeln genügt mir ein einziges Klo.

Für Leute (wie z.B. SP-Co-Präsident Cédric Wermuth), die um neun Uhr morgens erstmals aufrecht im Bett sitzen, sind erfolgreiche Grossverdiener nicht wie in Asien motivierend, sondern Auslöser für Neid und Missgunst. Sie möchten den Frühaufsteher am liebsten verbieten, vor neun Uhr aufzustehen. Damit alle gleich wenig haben. Wohin das führt, sehen wir in den Schulen: Man senkt die Anforderungen, bis alle gleich schlecht sind.

Wer nicht gerne Steuern bezahlt, sollte um jeden Superreichen froh sein. Wer bloss neidet, schafft keinen Mehrwert und schadet sich selbst am meisten.

138 Blick »Als Schuhe weder links noch rechts waren

Manchmal steckt eine Idee noch in den Kinderschuhen oder ist schlicht «eine Nummer zu gross». Probiert man es dennoch, «steht man schon bald neben den Schuhen». Mit zunehmendem Alter «drückt der Schuh überall», und man ist nicht mehr «fit wie ein Turnschuh», sondern bewegt sich so langsam, dass «man einem im Gehen die Schuhe besohlen» könnte, bis man schliesslich «aus den Schuhen kippt».

 

Die ältesten Hinweise auf Schuhe sind über 40 000 Jahre alt. Unsere Vorfahren wickelten sich Felle um Füsse und Waden – ein Vorläufer des Stiefels –, aber dort, wo die Hitze den Boden zum Glühen brachte, band man sich Sohlen aus Palmblättern unter die Füsse, ein Vorläufer der Sandale. In der Schweiz entdeckte man den ersten Fetzen Lederschuh am Schnidejoch in den Berner Alpen. Er wird auf ca. 4300 v. Chr. datiert. Ötzi, die Gletschermumie mit Schuhgrösse 38, war etwas älter und hatte seine Bärenfellsohlen mit «Schnürsenkeln» festgezurrt.

 

Obwohl man bereits in der Antike wusste, dass der linke und der rechte Fuss unterschiedliche Schuhformen brauchen, ging dieses Wissen, wie vieles andere auch, im Mittelalter verloren. Erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts erschienen Streitschriften von Ärzten und Anatomen, die bei der Herstellung von Schuhen eine Unterscheidung zwischen links und rechts forderten, um Skelettschäden zu verhindern.

 

Dass dies Sinn macht, bewiesen die Soldaten der Nordstaatenarmee. Während des amerikanischen Bürgerkriegs marschierten sie mit anatomisch angepasstem Schuhwerk weiter als die Südstaatler mit ihren konventionellen Schuhen.

 

Mit Beginn der Industrialisierung im 19. Jahrhundert begann die Fliessbandproduktion von Schuhen. Die Preise sanken und machten gutes Schuhwerk für die breite Masse erschwinglich. Die abstumpfende Fliessbandarbeit in schlecht durchlüfteten Hallen war jedoch gesundheitsschädigend.

 

War der Markt gesättigt, folgte eine Vielfalt von Modellen mit unverwechselbarem Design, mit denen sich die Käuferschaft abgrenzen und Individualität und Gesinnung zum Ausdruck bringen konnte.

 

Der CEO eines Dax-Unternehmens sagte mir einst: «Wenn jemand mein Büro betritt, achte ich auf die Zähne und dann auf die Schuhe.» Ist beides ungepflegt, gibt er ihm den Schuh.

137 Blick »Claude Cueni ist tot. Quelle: ChatGPT«

ChatGPT wiederholte, ich sei definitiv am 7. August 2010 gestorben

Gemäss ChatGPT bin ich 2016 gestorben. Da ich wider Erwarten noch am Leben bin, bat ich den Chatbot seine Antwort zu überprüfen (regenerate response). Drei Sekunden später kam die Entschuldigung, ich sei erst 2018 gestorben. Ich klickte erneut auf regenerate response, insgesamt zwölf Mal. ChatGPT sagte zwölf Mal Sorry und schrieb dann, ich sei im Jahre 2010 gestorben. Aber immer noch tot. Ich antwortete, dass es nicht möglich sei, dass Claude Cueni verstorben sei, ich hätte ihn kürzlich am Flughafen gesehen. ChatGPT wiederholte, ich sei definitiv am 7. August 2010 gestorben. Der Chatbot mutmasste, ich hätte am Flughafen eine Person gesehen, die Claude Cueni ähnelt.

 

Ich bat um Quellenangaben. Prompt kam eine Liste mit den Links zu einigen Medien, die über meinen Tod berichtet haben sollen, darunter «Tages-Anzeiger», Diogenes Verlag, Swissinfo («Author Cueni dies aged, 58»), «NZZ» («Der Schweizer Autor Claude Cueni ist tot»). Ich klickte alle Links an und erhielt nur leere Error-Seiten. Fakes über Fakes.

 

Der Chatbot verblüffte aber auch im positiven Sinne: Er konnte längere Texte schreiben, die inhaltlich und sprachlich nicht als KI-Produkt erkennbar waren. Ich bat um ein Liebesgedicht für meine Frau Dina und postete es auf Facebook. Einige fanden es «mitfühlend» und «wunderschön», andere beängstigend gut.

 

Werden wir in Zukunft noch Wahres von Unwahrem unterscheiden können? Wohl kaum. Egal, ob wir das gut oder schlecht finden: Die Weiterentwicklung ist nicht zu stoppen.

 

Stephen Hawking befürchtete bereits 2014, KI werde eines Tages fähig sein, sich selbst zu verbessern. Eine superintelligente künstliche Intelligenz würde den Menschen verdrängen, weil sie keine Ethik kennt.

 

Ist ChatGPT lernfähig? Und wie! Ich tippte nach einer Woche nochmals meinen Namen ein. Die Antwort: «Da mein Wissen im September 2021 endet, kann ich nicht mit Sicherheit sagen, ob Claude Cueni noch lebt. Bis zu diesem Zeitpunkt war er am Leben. Es wäre am besten, aktuelle Informationen aus einer verlässlichen Quelle, wie einer Nachrichtenagentur oder einer offiziellen Biografie, zu überprüfen.»

 

Gestern bin ich gemäss ChatGPT wieder 2010 gestorben. Offenbar lernt der Chatbot auch die Verbreitung von Fakes.

136 Blick »Sitzungsgelder für Asphaltkleber«

Kurz bevor meine Frau 2008 starb, musste ich sie mehrmals notfallmässig ins Spital bringen. Wäre ich in einen von Asphaltklebern verursachten Stau geraten, wäre mir mindestens der Kragen geplatzt.

Gut, dass die Klimakleber nun «Fachkräfte» suchen, insbesondere Psychologen, wobei fraglich ist, ob diese Fachkräfte Ewigpubertierende von ihren Angstpsychosen heilen können, zumal Gläubige in Scientology-ähnlichen Sektenblasen kaum ansprechbar sind. Hilfreich wäre auch Nachhilfe in Geografie, denn Asien besteht nicht nur aus weissen Sandstränden, wo vom Sitzen Erschöpfte Erholung finden, sondern auch aus Ländern, die die Luft verpesten, um den Lebensstandard zu erreichen, den auch die Asphalt-Potatoes genossen haben.

Klimaproteste wären in China eigentlich angebrachter, aber leider ist dort keine Medienpartnerschaft möglich und örtliche Polizeikräfte benehmen sich nicht wie deutsche Polizeibeamte, die ausrücken, um Demonstranten vor aufgebrachte Autofahrer zu schützen.

Eine Fachkraft sollte auch den Unterschied zwischen Moral und Gesetz erläutern. Während Gesetze scharfe Konturen haben und für alle gelten, ist Moral dehnbar und kann wie auch das Geschlecht täglich gewechselt werden. Übrigens: Stammt die Idee des Gesellschaftsrates eigentlich von Ravensburger?

Die Welt wird auch in 100 Jahren nicht untergehen. Europa mag seinen Niedergang fortsetzen, aber Europa ist nicht die Welt. Untergehen werden jene, die für einen Monatslohn von 1280 Schweizer Franken ihre Zeit in Märtyrerpose auf dem Asphalt vertrödeln und zu spät erkennen, dass sie nichts, aber auch gar nichts für das Klima getan haben. Ganz im Gegensatz zu all den Hochmotivierten, die mit Freude und Leidenschaft erfolgreich in Labors geforscht haben.

Aber wie Stuart Basden, einer der Gründer von Extinction Rebellion, bereits am 10. Januar 2019 schrieb: Es geht gar nicht um das Klima, es geht um einen Systemwechsel, eine Gesellschaft ohne Demokratie. So wie es auch Multimillionärin Greta Thunberg in ihrem neuen Buch fordert: Öko-Diktatur statt Kapitalismus. Sie wollen ausgerechnet Multimilliardäre wie Aileen Getty bodigen, die Erbin des Öl-Tycoons J. Paul Getty, die ihre Religion mitfinanziert.

135 Blick »Bonnie & Clyde«

Kaum hatte die Texanerin Bonnie Parker (1910–1934) ihren Schulfreund geheiratet, sass der wegen Mordes für fünf Jahre im Gefängnis. Bonnie war 19 und glaubte, sie hätte Besseres verdient: zum Beispiel Clyde Barrow. Es war erneut Liebe auf den ersten Blick. Doch auch Clyde landete hinter Gittern. Es war die Zeit der grossen Depression, ausgelöst durch den Börsencrash von 1929. Die Leute verloren ihre Jobs, verarmten, die Inflation stieg und so auch die Kriminalität. Bonnie verhalf ihrem Lover mit einer ins Gefängnis geschmuggelten Waffe zur Flucht.

Fortan flohen sie in gestohlenen Autos durch den Mittleren Westen der USA, überfielen Lebensmittelgeschäfte, Tankstellen und raubten die verhassten Banken aus, die viele für die Wirtschaftskrise verantwortlich machten.

Da das Paar in verschiedenen US-Bundesstaaten Straftaten beging, wurden sie ein Fall für das FBI, aber auch ein Fall für die Medien. Wie so oft, wenn Kriminelle die Polizei narren und dies mit ironischen Kommentaren den Medien stecken, entsteht so was wie eine «Medienpartnerschaft», die den Narzissmus der einen und den Wunsch der anderen nach mehr Auflage befriedigt.

Als Bonnie und Clyde auf einer ihrer überhasteten Fluchten ihren Fotoapparat vergassen, gingen die Bilder durch die Presse und machten die mit Waffen posierenden Outlaws über Nacht zu Celebritys. Sie fanden Gefallen an ihrem plötzlichen Ruhm als «Robin Hood». Bonnie schickte Gedichte an die Presse («Wir müssen stehlen, um zu essen»), Clyde bedankte sich bei Henry Ford für den gestohlenen Achtzylinder Fordor, weil er damit jedes Polizeiauto abhängte. Am 23. Mai 1934 geriet das Paar in einen Hinterhalt und wurde von 167 Kugeln durchsiebt. Über 20’000 nahmen an der Beerdigung teil. Den grössten Kranz spendeten die Zeitungsverkäufer.

Obwohl Bonnie und Clyde 14 Menschen ermordet hatten, erhielt ihre Popularität erst einen Dämpfer, als eine Zeitung eine trauernde Polizistenwitwe am Grab ihres erschossenen Mannes zeigte. Vielen wurde erst jetzt klar, dass ein Robin Hood der 1930er-Jahre keinem Tankwart in den Kopf geschossen hätte wegen einer Tankfüllung von vier Dollar.

Überlebt haben «Bonnie & Clyde» als Synonym für ein verschworenes Liebespaar.

134 Blick »Die WHO probt den Great Reset«

Bisher rief die Weltgesundheitsorganisation (WHO) fünfmal den internationalen Gesundheitsnotstand aus: 2009 drohte die Schweinegrippe, 2014 Ebola, 2018 Zika, 2020 Corona.

2022 schlug die WHO erneut Alarm und Generaldirektor Tedros Ghebreyesus erklärte den Ausbruch der Affenpocken zum internationalen Gesundheitsnotstand. Kaum jemand nahm ihn noch ernst. Zu krass waren die Unwahrheiten, mit denen während der Pandemie die Bevölkerung eingeschüchtert worden war.

Bei der WHO entscheidet ein kleines Gremium, ob ein internationaler Notstand ausgerufen wird. Beim Affenvirus waren sechs Experten dafür, neun dagegen. Der Generaldirektor entschied sich gegen das Votum seiner Experten. Das darf er.

Dass er lediglich Empfehlungen aussprechen kann, soll sich nun ändern. Den 194 Mitgliedstaaten der WHO wurde ein Vertragsentwurf vorgelegt, der bei Ausrufung einer Pandemie nationale Sololäufe unterbindet. Auf den ersten Blick macht das Sinn, da Viren sich nicht an nationale Grenzen halten.

Neu könnte der Generaldirektor im Alleingang entscheiden, ob in der Schweiz ein Lockdown angezeigt ist, ob Geschäfte geschlossen und ob Masken und Impfungen Pflicht werden. Theoretisch könnte also der Generaldirektor, der nicht demokratisch legitimiert ist, den Rechtsstaat der Mitglieder ausser Kraft setzen. Er und seine privaten Geldgeber, die 80 Prozent der WHO finanzieren. Grösster Spender ist gemäss den Faktencheckern des Bayrischen Rundfunks die Bill- und-Melinda-Gates-Stiftung mit 2,5 Milliarden Dollar.

Bundespräsident Berset beruhigt, das Ziel des globalen Pandemievertrages sei lediglich eine bessere Koordination. In Afrika sagt man: «Mit einer Lüge kannst du einmal essen, aber nicht zweimal.»

Auch Klaus Schwab, der die chinesische Diktatur «ein Vorbild für viele Länder» nennt, erklärt in seinem «Great Reset» den Notstand, um eine totalitäre Kommandowirtschaft zu rechtfertigen, ein «Komitee zur Rettung der Welt». Auf den Seiten 133 bis 136 bemüht er gleich siebenmal den Begriff «globale Ordnungspolitik».

Die Aushebelung des Rechtsstaates durch Ausrufung des Notrechts wird populär. Selbst die Klima-Straftäter halluzinieren das bevorstehende Ende der Welt, um ihre Gesetzesbrüche zu legitimieren.

Dirty Talking, Textprobe 2

Bischof Miguel Mateo Degollado empfing Wilson mit offenen Armen. Er war ein grossgewachsener Mann mit hängen- den Hamsterbacken und kurzen, graumelierten Haaren. Hoch- würden waren bester Laune, wie schon beim morgendlichen Telefonat. Er breitete gönnerhaft die Arme aus, als wolle er ein imaginäres Meer teilen und schaute demütig und dankbar zu seinem unsichtbaren Freund an der Decke: »Gott meint es gut mit uns.«

»Mit Ihnen ganz bestimmt, Hochwürden.«

»Nehmen Sie doch Platz«, bat der Bischof freundlich und wies Wilson den Stuhl vor seinem massiven Schreibtisch zu. Wilson hatte ihm am Telefon erzählt, dass es der Wunsch sei- ner verstorbenen Eltern gewesen sei, ihr Vermögen dem Bis- tum zu vermachen, und dass Wilson als Testamentsvoll- strecker alles Notwendige in die Wege leiten sollte. Die Story gehörte bestimmt nicht zu Wilsons Highlights, aber ent- scheidend ist nie, ob eine Story wahr ist, sondern ob sie glaub- würdig ist. Der Bischof gestand ihm mit einem Leidens- gesicht, das selbst das Antlitz Jesu am Kreuz toppte, dass ihn der Tod seiner Eltern tief berührt und dass er nach dem Tele- fongespräch gleich für ihre Seelen gebetet habe. Als Wilson nicht reagierte, schnitt Hochwürden eine noch herzzerreissen- dere Grimasse, als leide er unter Koliken und sprach Wilson in einer Oscar-würdigen Rede das herzliche Beileid des gesamten Bistums Basel aus.

»Das war sicher nett gemeint, Hochwürden«, sagte Wilson mit bedrückter Stimme, »aber, ich glaube, meine Eltern selig schmoren bereits in der Hölle, und wenn sie jetzt ihr Vermögen der Kirche vermachen, wird der Teufel höchstens ein Holz- scheit weniger ins Feuer werfen.«

Der Bischof hob erstaunt die Brauen, reagierte aber nicht darauf, denn er wollte die Verhandlung nicht gefährden. Er drückte auf eine Taste seines Tischtelefons und flüsterte: »Schwester Bernadette, zwei Kaffee mit Gebäck und eine Fla- sche Mineralwasser.«

Nun strahlte er Wilson an und erzählte ihm mit grosser Begeisterung, dass sie hier im Bistum alles hätten, was sie bräuchten, er habe eine Haushälterin, einen Chauffeur, nur den Kaffee müsse er am Morgen selber machen, weil er bereits um sieben Uhr aufstehe.«

»Oh, bereits um sieben, das ist sehr beeindruckend«, heu- chelte Wilson und kam zur Sache: »Ich habe gelesen, dass Sie gute Nerven haben und das Leben nehmen, wie es ist. Das wird bei unserem heutigen Gespräch von Vorteil sein.«

Der Bischof verstand nicht ganz, nickte aber freundlich und sagte, er lehne prinzipiell jede Anfrage für Homestorys ab, die meisten auf jeden Fall, aber wenn es um den Glauben ginge, sei es seine Aufgabe, das Wort Gottes zu verbreiten und das Wohl der Kirche zu mehren. Zurzeit sei die katholische Kirche stark unter Druck. Zu Recht. Mit jedem neuen Miss- brauchsfall verliere die Kirche Gläubige, das stimme ihn sehr traurig. Das sei auch in finanzieller Hinsicht sehr unschön, weil es die Pflicht der Kirche sei, die Opfer wenigstens finan- ziell zu entschädigen.

»Ich habe davon gehört«, sagte Wilson, »ihr bezahlt jedem Opfer fünftausend Euro. Aber das ist nicht gerade viel für die Vergewaltigung eines Minderjährigen.«

»Das sind jährlich Millionen, Herr Wilson, Millionen. Wir wollen Zeichen setzen!«

Hochwürden sagte, es bräuchte nun eine ehrliche Auf- arbeitung, absolute Transparenz und Nulltoleranz. Damit werde ein erster Schritt getan, damit die Menschen wieder Ver- trauen in die Kirche schöpfen. Er ballte energisch die Faust und sagte, die Täter müssten gerecht bestraft werden. Den Op- fern müsse Gerechtigkeit widerfahren …«

»Damit wären wir fast schon beim Thema«, unterbrach ihn Wilson.

»Wie meinen Sie das?«, fragte der Bischof irritiert, »soll das Geld etwa Missbrauchsopfern zugutekommen?«

»Hier liegt ein Missverständnis vor, Hochwürden. Es geht zwar um eine Schenkung, aber mein Mandant wird der Be- schenkte sein und Sie werden der grosszügige Gönner sein.«

Bischof Miguel Mateo Degollado verrutschte das Gesicht: »Ich verstehe nicht, wie war Ihr Name?«

»Sagt Ihnen der Namen Juan Pérez etwas?«

»Nein«, antwortete der Bischof wie aus der Pistole ge- schossen.

»Überlegen Sie, lassen Sie sich Zeit, ich gebe Ihnen ein paar Anhaltspunkte. Sie waren als Priester Vorsteher des bischöf- lichen Priesterseminars Nikolaus von Myra. Keine Er- innerung?«

»Natürlich erinnere ich mich.«

»Sie waren für die Lebens- und Ausbildungsgemeinschaft der Seminaristen verantwortlich.«

»Worauf wollen Sie hinaus?«

 

»Einer Ihrer damaligen Seminaristen hat sich gegen das Zölibat entschieden.«

»Das kommt vor.«
»Nachdem Sie ihn jahrelang vergewaltigt haben.«
»Oh« machte der Bischof und wusste nicht mehr, in welche

Richtung er schauen sollte.
»Auch das kommt vor, nicht wahr?«
»Haben Sie Beweise?«, fragte der Bischof leise und starrte

Wilson an, als wolle er gleich über ihn herfallen. In diesem Augenblick betrat Schwester Bernadette das Arbeitszimmer, was ihn sichtlich nervös machte. Sie schenkte beiden Kaffee ein, stellte das Gebäck in die Mitte des Tisches und verliess nach einer kleinen Verbeugung den Raum.

»Soll ich für den Mittagstisch ein weiteres Gedeck auf- legen?«, fragte sie.

Der Bischof machte eine abwehrende Handbewegung. Wilson schien, dass er dabei leicht zitterte, er nahm einen Schluck Kaffee, schmeckte hervorragend. Er nickte dem Bi- schof anerkennend zu und sagte, Gott meine es wirklich gut mit ihm. Dieser ging nicht darauf ein und schob den Teller mit dem Konfekt angewidert über den Tisch, als wolle er sagen, Wilson solle das ganze Zeug fressen und dann verschwinden. Als Schwester Bernadette die Tür hinter sich geschlossen hatte, fragte er erneut, ob er Beweise habe.

Wilson nahm das schwarze iPhone 14 aus seiner Tasche und spielte ein Audiofile ab. Das Audiofile. Man hörte, wie der junge Juan Pérez während der Probefahrt seine Erlebnisse schil- dert. Der junge Mexikaner beschrieb auch das markante Geschlechtsteil des Bischofs.

»Vor Gericht«, sagte Wilson mit gespieltem Bedauern, »müssten Sie natürlich Ihren kleinen Mann entblössen. Ihr

Leberfleck ist so einmalig wie eine Tätowierung. Falls die Rän- der nicht scharf abgegrenzt sind, sollten Sie allerdings einen Dermatologen aufsuchen. Da helfen keine Gebete mehr. Aber dem Richter ist die Farbe Ihres Schwanzes egal. Er soll auf- fallend hässlich sein und gekrümmt wie ein Bischofsstab. Dafür hat er beinahe die Masse eines Eselspenis. Für ein derart monströses Ding bräuchten Sie eigentlich einen Waffenschein. Sie sollten sich schämen. Und mit diesem Monstrum haben Sie den damals minderjährigen Juan Pérez vergewaltigt? Er war noch ein Kind, Hochwürden! Was sagt der liebe Gott dazu? Hat er zugeschaut und sich dabei einen runtergeholt? Oder war er gerade in Urlaub?«

»Pendejo!«, schrie der Bischof und sprang von seinem Stuhl auf, »Sie wissen nicht, mit wem Sie sich anlegen!«

»Pendejo?«, fragte Wilson, »ohne Untertitel kann ich Sie schlecht verstehen.«

»El cabrón! Sie mieser kleiner Erpresser!«

»Was für ein hässliches Wort, Hochwürden, ich bin ein einfacher Geschäftsmann und versuche als Anwalt einem armen Jungen zu helfen.«

»Okay, 5000 Euro? Das ist der weltweite Standard.«
»Wir dachten eher an 250 000 Euro.«
»Vor ein paar Tagen waren es noch 100 000.«
»Die Inflation kennt kein Erbarmen, Hochwürden, mor-

gen ist es bestimmt mehr.«
Degollado verwarf die Hände und gluckste hysterisch:

»Woher soll ich eine Viertelmillion nehmen?«
»Sie verdienen im Jahr 245000, um Dinge zu verkaufen,

die es gar nicht gibt. Stellen Sie sich vor, BMW verkauft Autos, die es gar nicht gibt und die Lufthansa verkauft Flüge zu Des- tinationen, die auf keiner Landkarte vermerkt sind. Wer für solche Fakenews 245000 im Jahr verdient, bezieht einen fürst- lichen Lohn.«

»Damit bestreite ich meinen Lebensunterhalt«.

»Die Frau von der Tankstelle verdient diese Summe in zehn Jahren, obwohl sie im Gegensatz zu Ihnen reale Dinge verkauft, Hüttenkäse, Chips und Dosenbier.«

»Ich habe Unkosten, Miete, Köchin, Sekretär, Chauf- feur …«

»Das alles bezahlt der Staat beziehungsweise die Verkäuferin an der Kasse mit ihren Kirchensteuern.«

Degollado schwieg eine Weile.

»Wahrscheinlich bitten Sie gerade den Heiligen Geist um Erleuchtung, aber wenn ich kurz unterbrechen darf …«

Plötzlich wirkte er furchtlos und entschlossen: »Ich werde zur Polizei gehen …«

»Das ist eine gute Idee, denn bei einer Selbstanzeige erhält man Rabatt. Statt 12 Jahre nur noch zehn. Aber zuvor geht Ihr Pimmel auf Tournee, Fotoshooting bei der Untersuchungs- behörde, Demos vor dem Gerichtssaal …«

»Wurde Kardinal Georgette Pell in Australien etwa ver- urteilt?«, stiess er hervor.

»Ja, er wurde zu sechs Jahren verurteilt.«

»Davon hat er dreizehn Monate abgesessen, darauf wurde er vom obersten Gericht in Brisbane freigesprochen. Also, pa- cken Sie ihr Handy ein und machen Sie, dass Sie von hier ver- schwinden.«

Wilson blieb sitzen: »In Brisbane gab es kein Beweisvideo, in Ihrem Fall ist die Beweislage eine ganz andere. Wir haben ein Video. Wir haben sogar zwei Videos. Aufnahmen aus Me- xiko und eine Aufnahme von jetzt eben.«

Wilson zeigte auf die Brusttasche seines Hemdes. Darin steckte sein iPhone 13 mit dem Hofnarren auf dem Case, nur gerade das Kameraauge lugte hervor.

»Die Aufnahme läuft, seit ich Ihr Büro betreten habe.«

Der Bischof dachte fieberhaft nach. Wilson wollte behilf- lich sein: »Wurde der Kardinal Pell nach dem Freispruch wie- der überall mit offenen Armen empfangen?«

Der Bischof schlug die Faust auf den Tisch. Er hyper- ventilierte, schaute erneut wild in alle Himmelsrichtungen und schüttelte unaufhörlich den Kopf, als könne er es nicht fassen, dass er mit dieser alten Geschichte erpresst wurde.

»Na? Wieder online mit Ihrem unsichtbaren Freund da oben?«

Hochwürden schwieg und presste die Lippen zusammen. Es hatte ihm die Sprache verschlagen.

»Herr Degollado, im Grunde genommen geht es um Ma- thematik. Wenn Sie verurteilt werden, verlieren Sie jährlich einen Lohn von 245000 Schweizer Franken. Unser kleiner Juan Pérez verliert gar nichts. Wenn Sie bezahlen, haben wir eine klassische Win-Win-Situation: Der kleine Juan erhält eine Viertelmillion und Sie erhalten weiterhin jedes Jahr eine Viertelmillion Lohn. Lehrt man auf dem Priesterseminar auch Mathematik oder nur Science-Fiction? Sie entscheiden jetzt, ob Sie weiterhin wie ein mittelalterlicher Fürst hier oben auf dem Felsen residieren oder ob Sie sich bis ans Ende Ihrer Tage in Somaliland verkriechen. Das ist durchaus eine Alternative. Die Alten dort unten sprechen noch Italienisch, die Warlords und islamistischen Terrorgruppen verstehen ein paar Brocken Englisch. Vielleicht können Sie bei den Piraten als Seelsorger an- heuern. Aber wahrscheinlich werden diese Sie ausstopfen und als Galionsfigur an den Bug binden. Eine maritime Version von Jesus am Kreuz.«

Wilson erhob sich und verbeugte sich knapp: »Es ist Zeit, Busse zu tun, sprach der Herr. Also, setzen Sie Ihren Arsch in Bewegung und schicken Sie eine SMS, wenn das Geld bereit ist.«

Er nahm ein kleines Heft mit dem Titel Spe Salvi von einem Stapel, der auf dem Schreibtisch lag und notierte seine Telefonnummer auf das Cover. Der Bischof nahm das Büchlein und warf es demonstrativ in den Papierkorb. Drohend schaute er zu Wilson hoch und sagte leise, ein Mann müsse wissen, wann er zu weit gehe. Sagt Ihnen der Name Marcial Maciel Degollado etwas?«

»War Delgado nicht ein argentinischer Fussbalspieler?«

»Marcial Maciel Degollado! Er war mein Onkel. In mei- nen Adern fliesst sein Blut, das Blut der Degollados. Nehmen Sie sich in Acht. Was mein Onkel einst gesät hat, ist zu einem kräftigen Baum herangewachsen. Schon mancher ist von seinen Ästen erschlagen worden. Sie werden in der Hölle schmoren.«

»Dann freue ich mich auf das Wiedersehen. Spe Salvi, das ist unser Codewort, Hochwürden. Wenn Sie die SMS Spe Salvischicken, weiss ich, dass das Geld in Hundertfrankenscheinen bereitliegt. Ich hole es persönlich ab oder lasse es abholen. Sie erhalten das belastende Material und damit ist die Angelegenheit auch schon beendet. Deal or No Deal?«


Textprobe 1: Die ersten 14 Seiten


DIRTY TALKING. Die ersten 14 Seiten

133 Blick »Der Hosenteufel«

 

Im Jahr 2016 strich Mondelez drei der zwölf Berggipfel der Toblerone und reduzierte so das Gewicht von 400 auf 360 Gramm. Der Preis blieb unverändert. Bei Haribo verschwanden 25 Gramm Goldbärchen aus der Tüte. Bei gleichem Preis und unveränderter Verpackungsgrösse. In der Wirtschaft nennt man diese Schummelei «Shrinkflation», eine Kombination der englischen Worte «schrumpfen» und «Inflation».

 

Dass man etwas Kleines gross verpackt, um es imposanter erscheinen zu lassen, ist keine Erfindung der Nahrungsmittelindustrie in Zeiten der Inflation.

 

Im Mittelalter ging der «Hosenteufel» um, die sogenannte Schamkapsel, ein modischer Hosenlatz, der hinter dem handtellergrossen Stoffpolster ein Monstergehänge vermuten liess. Der Anblick versetzte den evangelischen Theologen und Reformator Andreas Musculus (1514– 1581) in Rage. Bei jungen Männern war dieser «Hosenteufel» sehr beliebt. Einige wählten gar eine Ausbuchtung in Bananen- oder Gurkenform und signalisierten damit Potenz und «allzeit bereit». Musculus verfasste eine Streitschrift gegen den «Hosenteufel». Das Buch wurde im entstehenden Buchmarkt zum Bestseller, bewirkt hat es nichts.

 

Eine verstärkte Schamkapsel wurde später auch bei der Herstellung von Rüstungen angebracht. Sie sollte die Genitalien schützen, da Pikeniere diesen Körperteil beim Stechen (frz. piquer) bevorzugten. Die metallischen Push-ups hatten einen weiteren Vorteil: Da auch Rüstungen rosten, konnte man die ovalförmig aufgesetzte Metallplatte zum Urinieren abnehmen.

 

Für das weibliche Geschlecht entwickelte der New Yorker Designer Israel Pilot während des Zweiten Weltkrieges einen Büstenhalter, der vergrösserte, was in diesem Umfang nicht vorhanden war. Er nannte diesen ersten Push-up-Büstenhalter «Wonderbra» und liess ihn 1941 patentieren. Nach mehreren Besitzerwechseln war es schliesslich die Designerin Louise Poirier, die 1961 den Wonderbra entwarf, wie wir ihn heute kennen. Je nach Anlass und gewünschtem Décolleté stehen verschiedene halbmondförmige Polsterungen zur Verfügung.

 

Push-ups gibt es heute für alle Geschlechter. Sie trösten über das hinweg, was man nicht hat – und der Humor (falls vorhanden) über das, was man wirklich hat. Frei nach Albert Camus.


© Blick, 17.3.2023

132 Blick »Wieso ich Tintin immer noch mag«

Heute vor 40 Jahren verstarb der belgische Zeichner Georges Remi (1907–1983) 76-jährig an Leukämie. Sein Künstlername: Hergé. Seine Figuren: Tim und Struppi. Mittlerweile wurden über eine Viertelmilliarde Alben in 133 Sprachen und Dialekten publiziert.

 

1957 scheinen Hergés ruhmreiche Tage gezählt. Der Journalist Pol Vandromme plant die erste Biografie. Hergé hat Angst, dass seine «schwarzen Jahre» (1940–1944) thematisiert werden. Denn während für die meisten Belgier die Jahre unter deutscher Besatzung zum Albtraum wurden, begannen für Hergé die «goldenen Jahre». Viele Künstler verweigerten sich den Nazis, «ils cassent leur plumes» (sie brechen ihre Federn). Hergé ersetzt sie alle und verdient viel Geld.

 

Nach dem Krieg steht Hergé wegen Kollaboration mit den Nazis vor Gericht. Man entzieht ihm die Bürgerrechte, er wird mit einem Berufsverbot belegt, doch er verbringt nur wenige Tage hinter Gittern: «too big to fail».

 

1959 kommt die Biografie «Le monde de Tintin» in die Buchläden. Pol Vandromme schreibt, Hergé habe den «Olymp der Literatur» betreten und vergleicht die Alben mit Werken von Hemingway, Hitchcock und Jules Verne. Er legt den Grundstein für die Errichtung eines belgischen Nationaldenkmals.

 

Vier Jahre nach Hergés Tod schliesst seine zweite Ehefrau Fanny Vlaminck die Hergé-Studios und gründet eine Stiftung. Sie pusht das Merchandising und treibt die Preise für Memorabilien. 2021 erzielt das Original-Titelbild des Bandes «Der Blaue Lotos» im Pariser Auktionshaus Artcurial einen Preis von 3,2 Millionen Euro.

 

Hergé hat Grossartiges geleistet, war aber als Mensch alles andere als grossartig. Für mich sind die Comic-Alben jedoch Erinnerungen an meine jurassischen Cousins. Als Kinder interessierten wir uns nicht für den Autor und als Erwachsene lieben wir vor allem jene Abenteuer, die wir damals verschlungen haben. Weil nur sie die Erinnerung wiederbeleben.

 

Wer die Tintin-Alben in seiner Kindle-Bibliothek hat, erhält laufend «Updates»: Anpassungen an den ständig wechselnden Zeitgeist, bis Kinder schliesslich glauben, Kapitän Haddock hätte politisch korrekt geflucht und die Zeit nach Kriegsende sei genauso humorlos, intolerant und spiessig gewesen wie die Gegenwart.

131 Blick: »Manchmal muss man lügen«

In der römischen Antike prägte man meistens den Kopf des Kaisers auf die Denare und die Sesterze. Das war nicht immer so. In den Anfangszeiten zierten Tiere oder Gottheiten die Münzen. Die Abbildung von lebenden Menschen galt als Blasphemie. Ptolemaios I., der Nachfolger von Alexander dem Grossen, beendete diese Tradition und setzte sein Porträt auf den Goldstater.

Fortan war es üblich, dass Könige und Staatsoberhäupter ihr Konterfei auf Münzen und später auf Banknoten abbildeten. Auch der französische König Louis XVI. hatte sein markantes Gesicht auf Münzen prägen lassen. Als er 1791 als Kammerdiener verkleidet aus dem revolutionären Paris floh, endete seine Flucht in Varennes. Der Sohn des Postmeisters hatte ihn erkannt. Anhand der monströsen Nase auf den Münzen.

Auf der ersten schweizerischen Banknotenserie (1907) war auf allen vier Notenwerten das naheliegendste Motiv: die Helvetia. Die 6. Banknotenserie (1976) war historischen Persönlichkeiten gewidmet und mit der 9. Banknotenserie (2016) verzichtete man auf die Abbildung von Menschen. Es sollte nicht mehr die Vergangenheit thematisiert werden, sondern die Zukunft. Design statt Historie. Vielleicht wollte man unnötige Debatten vermeiden. Wer ziert die 1000-Franken-Note, wer die 10-Franken-Note?

Auch die EU hatte damals ein Problem. Es gab mehr Mitgliedstaaten als Wertnoten. Sollte man den Eiffelturm, das Kolosseum oder die Akropolis abbilden? Am Ende entschied man sich für fiktive Bauwerke.

Bald werden solche «Probleme» Geschichte sein. Die Europäische Zentralbank (EZB) erwägt die Einführung des digitalen Euro für 2026. Die Pandemie hat aus hygienischen Gründen bargeldloses Bezahlen gefördert. Bei Strommangellagen wird man Bargeld wieder mehr schätzen. Karte oder Cash? Es geht darum, dass die Bevölkerung die Wahl hat und entscheiden kann, wie viel Privatsphäre sie aufgeben will. Die EZB verspricht zwar Wahlfreiheit, aber von Jean-Claude Juncker, dem früheren Präsidenten der EU-Kommission, wissen wir: «Manchmal muss man lügen.»

Sobald der Detailhandel kein Bargeld mehr annimmt und Banken keins mehr ausgeben, haben wir keine Wahl mehr, und der Staat hat per Mausklick Zugriff auf die Sparguthaben der Bevölkerung.

Weltwoche: Hollywood in Kiew

Hollywood in Kiew

Der ehemalige Schauspieler Wolodymyr Selenskyj brilliert in seiner Rolle als Kriegspremier. Doch wo Licht ist, fallen auch Schatten.

9.2.2023

Claude Cueni

 

Wolodymyr Selenskyj, 45, wächst in einer privilegierten Akademikerfamilie auf, schliesst ein Studium der Rechtswissenschaften ab und gibt bereits mit achtzehn Jahren sein Fernsehdebüt als Moderator einer Kochshow. Schon bald tourt er als Komiker mit seinen Kumpels durch Russland und die Ukraine und gründet das Kabarett Kvartal 95. 2010 beschäftigt seine Produktionsgesellschaft Studio Kvartal 95 bereits zehn Schauspieler und 26 Texter und Hilfskräfte. Die Sketche sind auf Russisch verfasst. Mit seinen TV-Serien («Diener des Volkes»), Slapstick-Auftritten und Parodien von Politikern wird er in beiden Ländern zum Star der TV-Unterhaltung.

«Ich brauche Munition»

Der Neumillionär spendet für die marode ukrainische Armee und ermuntert Soldaten im Kampf gegen die Separatisten im Donbass: «Danke, dass Sie unser Land gegen diesen Abschaum verteidigt haben.» Darauf ist er in Russland unerwünscht. Nach dem Verlust des russischen Marktes schrumpft sein Einkommen um 80 Prozent. Er sagt, die Russen hätten ihm den Beruf gestohlen. Er, der von einem Magazin zum schönsten Mann des Landes gewählt worden war, beschliesst, seine unglaubliche Popularität für den Eintritt in die Politik zu nutzen.

Er kandidiert. Gemeinsam mit seinen Textern entwirft er einen ähnlichen Wahlkampf wie seinerzeit Ferdinand Marcos auf den Philippinen. Er meidet TV-Debatten, denn er hat noch kein politisches Programm – ausser, gewählt zu werden. Er gibt kaum Interviews, denn ohne Skript ist er – wie andere Schauspieler auch – aufgeschmissen. Er setzt voll auf Social Media, die von seinen Textern professionell bespielt werden. Es werden kaum politische Inhalte vermittelt (weil es keine gibt), sondern Emotionen und Pathos und «Slava Ukraini», Ruhm der Ukraine, und so weiter. Einen Tag vor der Wahl stellt sich Selenskyj dann doch einem TV-Duell mit dem amtierenden Präsidenten Petro Poroschenko. Tagelang hatte ihn sein Team mit fiktiven Fragen trainiert. Schauspieler Selenskyj löst die Aufgabe mit Bravour.

2019 gewinnt er mit rund 73 Prozent der Stimmen die Präsidentschaftswahlen. Einige seiner Kumpels folgen ihm in den Palast, sie sind jung, fotogen und grösstenteils politisch unerfahren, inländische Medien nennen sie «Soros Youngster», einige waren bisher Texter in Selenskyjs Filmimperium. Nach Putins Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 zeigen sie, was sie draufhaben. PR-Storys und zitatfähige Sätze, das beherrschen sie aus dem Effeff. Das mutige Statement «Ich brauche Munition, keine Mitfahrgelegenheit» macht Selenskyj schlagartig zum internationalen Helden. Täglich liefern seine Texter filmtaugliche Reden, die bald in Buchform erscheinen, «Kriegsreden Februar bis März 2022», Fortsetzung folgt.

Einmal Showbiz, immer Showbiz. Immer öfter erhält man den Eindruck, Schauspieler Selenskyj wähne sich als Hauptdarsteller in einem B-Movie. Während Abertausende auf den Schlachtfeldern eines vermeidbaren Krieges sterben, posiert Selenskyj mit Ehefrau Olena Selenska, 45, für das Modemagazin Vogue, Olena gar vor Kriegskulissen. Selenskyj lädt Hollywoodschauspieler nach Kiew ein. In Anlehnung an den berühmten «Walk of Fame» in Los Angeles weiht er in Kiew eine ukrainische Variante für ausländische Besucher ein. Bei unzähligen westlichen Anlässen wird er auf Grossleinwänden zugeschaltet und erntet stets Standing Ovations. Gerne vergleicht er sich mit dem von ihm bewunderten Ronald Reagan, kein Vergleich ist zu gross, schon gar nicht ein Vergleich mit Winston Churchill, der mit seinem zwölfbändigen Memoirenwerk 1953 immerhin den Nobelpreis für Literatur erhielt. Groteske Übertreibungen, Pathos, grandiose Selbstüberschätzungen und Nationalstolz gehören zur russisch-ukrainischen DNA.

Immer wieder sucht der 1,70 Meter grosse Schauspieler das internationale Scheinwerferlicht auf Celebrity- und Entertainment-Plattformen, um sich an die Welt zu wenden. Die Reden seiner Texter, mittlerweile über 150, sind hochprofessionell. Am Filmfestival in Cannes würdigt er via Videoschaltung die Rolle des Spielfilms gegen Diktaturen, jeder kriegt, was er hören will. In Katar schafft er den Auftritt dennoch nicht, denn der russisch-ukrainische Bruderkrieg ist nicht dessen Krieg, und ausserhalb der westlichen Welt ist die Sicht der Dinge eine ganz andere. Das ist nicht unser Krieg, sagen auch die Afrikaner.

Autoritärer Umgang mit Weggefährten

Selenskyj drängt auf die Aufnahme in die EU, obwohl das total korrupte Land die Kopenhagener Aufnahmekriterien von 1993 nicht ansatzweise erfüllt: stabile Demokratie, funktionierender Rechtsstaat, konkurrenzfähige Marktwirtschaft. Eine Mitgliedschaft entspräche zirka achtzehn griechischen Fässern ohne Boden. Selenskyjs Umgang mit alten Weggefährten und Journalisten wird im Laufe des Krieges ruppig und autoritär. Hire and fire. Um ihn herum gibt es nur noch Schleudersitze. Selenskyj friert Privatvermögen von Parlamentariern ein, entzieht einigen die Staatsbürgerschaft, schliesst TV-Anstalten, verbietet oppositionelle Vereine. Kvartal-95-Kollege Alexander Pikalow nennt ihn einen «emotionalen Vulkan». Wie nicht wenige Komiker teilt Selenskyj gerne deftig aus, reagiert aber selber hyperempfindlich auf Kritik. Insbesondere, wenn sie von Kvartal 95 kommt.

«Selenskyjs geheime Geschäfte»

Ehefrau Olena, auch sie eine Texterin, kritisiert die ehemaligen Weggefährten: «Humor muss wahr sein.» Der ehemalige Aussenminister Litauens, Linas Linkevicius, sagt: «Die Ukraine wird Ländern ähneln, in denen man die Opposition ins Gefängnis wirft.» Als das Verfassungsgericht auch noch den Korruptionsbeauftragten vor die Tür setzt, melden die USA und die EU, dass weitere finanzielle und militärische Hilfen gefährdet sind. Aus gutem Grund.

Im Oktober 2021 wurden damals zwölf Millionen Dokumente («Pandora Papers») von einem internationalen Netzwerk investigativer Journalisten geleakt. Es ging um Briefkastenfirmen, Geldwäsche, Steuervermeidung und Steuerhinterziehung. 600 Journalisten aus 117 Ländern veröffentlichten die Namen von 29 000 Personen. Die meisten stammten aus der Ukraine. Selenskyj hatte während des Wahlkampfes den amtierenden Staatspräsidenten Poroschenko kritisiert, weil dieser Briefkastenfirmen in Steueroasen unterhielt, nun offenbarten die Pandora Papers, dass auch Selenskyj solche Firmen betrieb.

Der Doku-Film «Offshore 95» thematisierte «Selenskyjs geheime Geschäfte». Die Premiere in der Ukraine wurde vorerst auf Druck des Geheimdienstes SBU in letzter Minute abgesagt, der Film später dann doch noch gezeigt. Menschenrechtsorganisationen schlugen Alarm. Die EU warnte, die Redefreiheit dürfe nicht gefährdet werden, wiederholte jedoch nach Putins Überfall das Mantra, wonach ausgerechnet die Ukraine, der es an Rechtsstaatlichkeit fehlt, die Freiheit des Westens verteidige. Man fürchtete eine Abnahme der westlichen Solidarität. Zu Recht, denn immer mehr Politiker, die Milliarden Steuergelder in die Ukraine überwiesen, hegten Zweifel, ob Gelder und militärisches Gerät auch wirklich am Bestimmungsort ankamen. Dass russische Offiziere Kriegsmaterial entwenden und über das Darknet weiterverkaufen, ist schon länger bekannt. Dass dies auch eine Unsitte ukrainischer Offiziere ist, weiss man mittlerweile, seit gelieferte US- und Nato-Waffen bei kriminellen Clans in Schweden aufgetaucht sind.

Bis vor kurzem fand die Empörung hinter verschlossenen Türen statt, und wer die Korruption thematisierte, galt als Putin-Propagandist. Seit Selenskyj im Januar eine ganze Reihe hochrangiger Regierungsmitglieder wegen Verdachts auf Korruption entliess, ist das Thema nun auch im Mainstream angekommen. Dass er kurz vor dem Eintreffen von EU-Chefin Ursula von der Leyen und ihrer Entourage medienwirksam eine Hausdurchsuchung bei seinem milliardenschweren Wahlkampf-Financier und Freund Ihor Kolomojskyj durchführen lässt, sieht eher wie eine Medienshow aus dem Studio Kvartal 95 aus. Wieso erst jetzt? Kolomojskyj steht nicht erst seit gestern auf der Sanktionsliste der USA und hat ein Einreiseverbot. Die Opposition unterstellt Selenskyj, dass er bei seinem plötzlichen Kampf gegen die Korruption nicht nur die Zweifel der EU ausräumen wolle, sondern bei dieser Gelegenheit auch missliebige Gegner ausschalte, die ihm bei den nächsten Wahlen gefährlich werden könnten. Korruption gehört seit Generationen zur DNA der russisch-ukrainischen Kultur, sie lässt sich nicht innert weniger Jahre ausmerzen. In den geleakten Pandora Papers sind ukrainische Politiker die korruptesten von allen. Dann folgen Russland, Belarus und andere Oststaaten.

Selenskyj lässt nichts unversucht, um die Nato in den Konflikt zu ziehen. Bei jedem Treffer mit westlichen Waffen betont er den Lieferanten, um Putin mitzuteilen, dass im Grunde genommen die Nato und die USA gegen ihn Krieg führen. Als zwei Abwehrraketen russischer Bauart auf dem Staatsgebiet des Nato-Mitglieds Polen niedergehen, will er einen Bündnisfall herbeireden und behauptet trotzig, Russland habe Polen angegriffen, obwohl selbst ukrainische Generäle die von amerikanischen Satelliten widerlegte Story bestätigen.

Wieso nicht verhandeln?

«Never give up» ist bei einem Verteidigungskrieg das Gebot der Stunde, der ukrainische Widerstand verdient grössten Respekt, aber Selenksyj will mittlerweile mehr. «Ich fühle Hass, ich will mich rächen», sagt er einem Journalisten und fordert Langstreckenwaffen, die auch Moskau in Schutt und Asche legen können. Er bekommt GLSDB-Raketen mit einer Reichweite von 150 Kilometern mit der Auflage, diese nicht zu benützen, um russisches Territorium anzugreifen. Selenskyj verspricht, sich daran zu halten, im gleichen Atemzug widerspricht sein enger Berater Mychajlo Podoljak.

Helmut Schmidt sagte einst: «Lieber hundert Stunden umsonst verhandeln als eine Minute schiessen.» Es ist eine sehr bittere Wahrheit, dass man sich am Ende doch noch mit dem Aggressor an den Verhandlungstisch setzen muss. Wieso nicht gleich?

Angesichts des enormen Leids, dass die ukrainische Zivilbevölkerung erleiden muss, fällt es schwer, die Schattenseiten eines Helden zu thematisieren. Aber Propaganda haben wir im Überfluss. Und zwar auf beiden Seiten.

 

130 Blick »Klimamodel als Tischdekoration«

Greta Thunberg, das Original, Dramaqueen Luisa Neubauer, die deutsche Kopie, und Helena Gualinga, die Professorentochter aus Ecuador, haben eines gemeinsam: Sie gehören zu den Rich Kids, die bereits den halben Planeten bereist haben und in ihrer Jugend alles genossen haben, was die alten weissen Männer von heute erforscht und produziert haben.

Sie sind jung, attraktiv und weiblich, werden mit Auszeichnungen überhäuft, posieren als Models in Hochglanzmagazinen und jetten mit ihren Hausfotografen von einer Uno-Klimakonferenz zur nächsten, um den Menschen zu sagen, dass sie aufs Fliegen verzichten sollten. Sie posten in den sozialen Medien, dass sie «nur hier sind, um zu sagen, dass der Klimawandel real ist». Wahrscheinlich hat das mittlerweile bereits jeder Schneehase in der sibirischen Tundra mitbekommen.

Wem gilt also die Message? Oder müssen sie diese endlos wiederholen, bis die Gesellschaft, die nicht ihre Anliegen, sondern ihre zunehmend extremistischen Aktionen, ablehnt, reagiert?

Lautstarke Proteste, die in Hotel Mama zum Erfolg führten, verpuffen in der Öffentlichkeit, weil kaum jemand die selbstbewussten Prinzessinnen für Koryphäen hält. Sie selbst gestehen, sie würden nicht so viel vom Thema verstehen, sie würden deshalb lediglich die Wissenschaft zitieren, aber ausgerechnet sie sind es, die unter den zahlreichen Klimamodellen den Algorythmus auswählen, der «die schlimmste Prognose» macht. Wieso laden die Veranstalter von Umweltkonferenzen nicht ausschliesslich die Originale ein? Sind die Klima-Models etwa nur Tischdekoration?

Halb so schlimm. Um mehr Follower zu generieren und den Marktwert zu steigern, sind Selfies auf der internationalen Bühne immer hilfreich, Flirts mit der Antifa hingegen weniger.

Wieso die Klimabewegung von jungen Frauen dominiert wird, liegt nicht nur daran, dass Medien lieber attraktive Frauen porträtieren, sondern auch daran, dass sich die meisten Softies der Z-Generation kaum mehr getrauen, eine Führungsrolle zu beanspruchen, zu gross ist die Angst, mit dem Vorwurf der toxischen Männlichkeit konfrontiert zu werden. Auch innerhalb der Klimabewegung sind die Fettnäpfchen mittlerweile grösser als die Schlammfelder von Lützerath.

DIRTY TALKING. Die ersten 14 Seiten

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Wie dumm, dass Sie dieses Buch gekauft haben. Es ist bestimmt nicht das, was Sie suchten. Eigentlich ist Dirty Talking eine Dienstleistung von Prostituierten. Einige Kunden mögen das, weil sie sich zu Hause nicht getrauen zu sagen: »Komm her, du geile Schlampe. Ich will dich ficken.« Unter dem Druck der Political Correctness wächst auch in der gehobenen Gesellschaft der Wunsch nach Dirty Talking abseits des Rotlichtmilieus. Gebildete Menschen, die sich eloquent und höflich ausdrücken, kriegen vor lauter Political Correctness einen dicken Hals, dann platzt ihnen der Kragen und ihr Wortschatz fällt vorübergehend in jene prähistorischen Zeiten zurück, als man sich noch mit Grunzen und Drohgebärden verständigte. Wie Tourette-Kranke posaunen sie nach Einbruch der Nacht das Repertoire von Dirty Talking heraus. Sie tun dies in den privaten Salons, wo man die guten Manieren an der Garderobe abgibt. Sie versammeln sich in Debattierclubs mit Gleich- gesinnten wie damals die Republikaner vor Ausbruch der Französischen Revolution. Sie flüstern sich Dinge ins Ohr und sagen, das dürfe man nicht mehr laut sagen. Sie unterhalten sich über Bücher wie dieses hier: Dirty Talking. Und falls Sie es nicht mögen: I give a shit!

PS: Beinahe hätte ich etwas vergessen. In diesem Buch werden oft Kraftausdrücke benutzt, die Sie irritieren oder gar verletzen könnten. Don’t worry. Fluchen setzt physische Kräfte frei, man wird schmerzresistenter. Steckt man Sie kopfvoran in eine Kloschüssel, halten Sie es etwas länger aus, wenn Sie dabei fluchen. Neurologen haben das mit Eiswasser getestet. Im Vergleich mit der Kontrollgruppe hielten es Fluchende fünf Minuten länger aus. Fünf Minuten können eine Ewigkeit sein. Seien Sie also nachsichtig, wenn einige Leute in diesem Buch fluchen, was das Zeug hält. Der Mensch ist nicht perfekt, ich bin es auch nicht. Manchmal erleben wir einen richtig beschissenen Tag und man wünscht sich, man wäre nie geboren. Wir alle kennen diese Anspannung, die wie ein Tsunami unseren Körper flutet. Es wäre in diesem Augenblick unmenschlich, keine vulgären Flüche auszustossen. Lassen Sie ihre Wut raus, bevor Sie implodieren. Das ist ein spontaner Reflex, ein uralter evolutionärer Reflex, der im ruchlosen Teil unseres Gehirns entsteht. Wir teilen ihn mit allen anderen Primaten, Säugetieren und Echsen, er löst Freude, Wut, Angst, trompetenhafte Fürze, Kampfbereitschaft oder Fluchtbewegungen aus. Die Herzfrequenz schiesst in den roten Bereich. Würden wir keine Socken tragen, könnten wir sehen, wie der Angstschweiss zwischen unseren Zehen trieft. Fluchen jagt Blut und Adrenalin durch unsere Venen, es schiesst in alle Extremitäten und so ertragen wir ihn besser, diesen ganzen Scheiss, den uns das Leben dauernd in die Fresse haut.

Fluchen Sie ungeniert! In diesem Buch wird gleich auf Deutsch, Englisch und Spanisch geflucht. Spanisch? Ja, denn die beiden Mexikaner sprechen spanisch. Was zum Teufel suchen Mexikaner in der Schweiz? Und ausgerechnet in Basel. Hatte sich Bobby Wilson auch gefragt. Dirty Talking ist seine Geschichte und ich werde sie erzählen, so, wie sie mir Bobby Wilson erzählt hat. An der jordanisch-israelischen Grenze. Es ist keine alltägliche Geschichte. Als Wilson mittendrin steckte, hatte er keine Ahnung, was die beiden Mexikaner im Schilde führten. Ich weiss es mittlerweile und werde es Ihnen nicht vorenthalten. »What the fuck!«, hatte Bobby Wilson Pote Valdez ins Gesicht geschrien, »ihr könnt mich doch nicht einfach entführen!«

»La boca« hatte Pote gebrummt und ihm eine Kopfnuss verpasst. »La boca« bedeutet so viel wie »Klappe halten«. Was mit Bobby Wilson geschah, ist auch deshalb eine ungewöhnliche Geschichte, weil er ursprünglich Gutes tun wollte. Doch bald darauf steckte er bis zum Hals in der Scheisse. Und das ist seine Geschichte:

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Bobby Wilson wurde am neunten Dezember 1972 im Zürcher Hallenstadion gezeugt. Der Saal war stockdunkel und proppenvoll. Aus den monströsen Lautsprecherboxen dröhnten dumpfe Schläge, Herzschläge, aber es waren nicht die von Bobby Wilson. Die Leute wurden unruhig, einige begannen zu schreien, sie hielten es kaum noch aus. Immer diese monotonen Herzschläge. Die meisten waren bereits so zugedröhnt, dass sie regelrecht ausflippten. Plötzlich wurde der Saal mit grellen Scheinwerferlichtern geflutet und auf der Bühne standen die vier späteren Legenden David, Nick, Roger und Rick an der Orgel. Die britische Rockband tourte durch Europa und die damals 30-jährigen Hippies Jamie und Jolene hatten eine Menge Joints eingepackt und waren ihnen gefolgt. Sie wollten dieses endlos lange Musikstück hören, das mit einem Herzschlag beginnt. Damals, im Winter 72 in Zürich, spielten Pink Floyd eine frühe Version ihres späteren Welthits »Dark Side of the Moon«. Sie sangen, dass der Mond keine dunkle Seite habe, dass er in Wirklichkeit ganz dunkel sei (»There is no dark side of the moon, really; as a matter of fact it’s all dark«) und Jamie und Jolene hatten Sex, mitten in der Menge, wie einst in Woodstock und niemand störte sich daran. Als das Konzert zu Ende war, lagen Jamie und Jolene ermattet von der Liebe inmitten von leeren Bierdosen, Zigarettenstummeln, Unterwäsche und ausgelatschten Espadrilles. Ihnen war etwas widerfahren, dass Normalsterbliche nur aus Komödien kennen. Während die Bühne abgeräumt wurde, stand Jamies’ Penis immer noch wie ein Laternenpfahl und schmerzte grauenhaft. Nach einer halben Stunde bat Jolene die Garderobiere, ihnen ein Taxi zu bestellen. Sie fuhren auf die Notfallstation des Zürcher Universitätsspitals. Die Ärzte diagnostizierten einen Fall von Priapismus, eine schmerzhafte Dauererektion. Mit einer Phenylephrin-Spritze brachten die Notärzte das Ding zum Erschlaffen. Jamie wurde einem Bluttest unterzogen und musste unzählige Fragen beantworten. Nachdem alle möglichen Ursachen ausgeschlossen worden waren, blieb nur noch eine Hypothese übrig: Priapismus in Verbindung mit einer Überdosis Cannabis. Der Fall war damals so aussergewöhnlich, dass er sogar im amerikanischen »Journal of Cannabis Research« aus- führlich dokumentiert wurde. Angeblich reisten einige Ärzte vom »Coliseum Medical Centers« aus dem US-Bundesstaat Georgia nach Zürich, um mehr zu erfahren. Die forschenden Spesenritter vermuteten damals, dass durch übermässigen Marihuanakonsum die Blutgefässe derart erweitert werden, dass die Mutter aller Erektionen entstehen könne. Ein Inhaltsstoff der Pflanze bewirke aber, dass jene Signale des Gehirns ausgeschaltet werden, die normalerweise Erektionen wieder be- enden. Die US-Delegation reiste vergebens an. Jamie und Jolene waren bereits weitergezogen und hatten sich zum ersten schweizerischen Love-in (nach kalifornischem Vorbild) in Birmenstorf, einem kleinen Dorf im Kanton Aargau, nieder- gelassen. Dort, an der Badenerstrasse, lebten ein Dutzend Hippies. Sie lasen Hermann Hesse, Jack Kerouac, Gandhi und das Magazin Konkret, die »Polit-Porno-Postille« und Onanievor- lage der 68er, der Playboy für Linke, verdeckt subventioniert von der DDR. Chefredakteurin war zeitweise eine Ulrike Meinhof, die spätere RAF-Terroristin, die mit Bomben- anschlägen einen Volksaufstand auslösen wollte, aber lediglich schärfere Gesetze bewirkte. Im Keller der Liegenschaft übte eine Band, im ersten Stock war ein Matratzenlager, das nach verwesten Fischen stank. Bobby Wilson kam während einer Jam-Session im verwilderten Vorgarten zur Welt. Fast alle halfen bei der Geburt mit, einige waren allerdings zu bekifft. Shorty übernahm den Lead, denn er hatte Medizin studiert, doch Bobby Wilson weigerte sich, diese beschissene Welt zu betreten. Er versuchte, sich mit der Nabelschnur zu erdrosseln. Shorty schrie verzweifelt, er hätte damals das Studium abgebrochen, das sei alles ganz neu für ihn. Die alte Nachbarin, die hinter ihren Gardinen alles beobachtet hatte, humpelte aus dem Haus, schubste Shorty beiseite und kniete vor Jolene nieder. Sie hiess Agathe Bruhin und es war ausschliesslich ihr zu verdanken, dass Bobby Wilson die Welt einigermassen unbeschadet erblickte und es ist ihr besonders hoch anzurechnen, weil ihr Ehemann, ein Stammgast im »Gasthof zum Bären«, die »Langhaardackel« an der Badenerstrasse als »faule Säcke«, und »Schmarotzer« beschimpfte. Das hatte Jamie und Jolene nicht weiter gestört, denn sie waren stolz, Teil einer jener Grossfamilien zu sein, die sich jenseits der bürgerlichen Kleinfamilie als politisches und künstlerisches Kollektiv verstanden, das ihrer Zeit weit voraus war. Die damalige Elterngeneration war genauso prüde und spiessig wie heutige Wokenesprediger. Im Laufe der Zeit realisierte Jolene, dass die Clique musizierender Kumpels sie nur für Spaghetti Bolognese, Sex und 90-Grad- Wäschen benutzte. Ihr Alltag unterschied sich kaum vom Leben der Agathe Bruhin, die in der Wohnstube eine ein- gerahmte Fotografie von General Guisan unter dem ge- kreuzigten Jesus aufgehängt hatte. Ab und zu schaute der nonkonformistische Volkskundler Sergius Golowin vorbei, eine helvetische Taschenbuchausgabe von Timothy Leary und pries die neuen Wohnformen als Oasen der Bewusstseinserweiterung. Mit Golowin kamen jeweils Gäste, die nur vorübergehend im Matratzenlager schliefen, ein bisschen Sex hatten und dann weiterzogen. Mittlerweile war die Zahl der »neuen Nomaden« im Westen auf über eine Million an- gewachsen. Sie liebten das Zigeunerleben (damals noch ein positiver Begriff) und verachteten einen festen Wohnsitz als verstocktes Spiessertum. Während in den umliegenden Dorfkinos immer noch »Easy Rider« lief, zogen Jolene und Jamie auf eine abgelegene Tessiner Alp, wo Gleichgesinnte sich im Gras paarten, während nackte Kinder von Geissen abgeleckt wurden. Weder den Geissen noch den Kleinkindern setzte man Grenzen. Erziehung galt als Folter, Sex mit einer festen Partnerin war reaktionär. Zur Abwechslung gab es auch Geissen und Kinder auf dem Berg. Das wurde erst 20 Jahre später publik, aber da einigen der pädophilen Grünalternativen der Marsch durch die Institutionen gelungen war, wehte in den Redaktionsstuben mittlerweile der Duft von Che Guevaras exklusiven Montecristo Zigarren.

Was den Tessiner Behörden nicht gelang, schaffte 1983 eine neuartige Krankheit: Aids. Der Tod raffte viele dahin. Bobby Wilson war damals zehn Jahre alt. Jolene und Jamie zogen nach Basel, weil sie dachten, dort würde man die beste medizinische Behandlung kriegen. Beide hatten sich mit HIV infiziert. Bobby Wilson besuchte die Schulen in Basel. Da er bisher mit seinen Eltern nur englisch gesprochen hatte, war die Integration schwierig. Er hatte später die eine oder andere Lieb- schaft, eine feste Partnerschaft hatte sich nie ergeben, sowas kannte er nur aus dem Kino. Er war durchaus auf der Suche nach etwas, aber er hatte keinen blassen Schimmer, was dieses Etwas hätte sein können. Dreissig Jahre später hatte er einen Plan. Jeder Mensch hat einen Plan, bis er eins in die Fresse kriegt. Zum Beispiel die Faust von Pote Valdez. Und das ist die Geschichte eines Mannes, der Gutes tun wollte:

weiterlesen mit eBook (ca. 10 Franken/Euro)

 

 

 

 

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Rezension »Dirty Talking« BZ Basel

River Suite im Grand Hotel Les Trois Rois

von Elodie Kolb, 25.1.2023

Bobby Wilson hat sich ganz schön etwas eingebrockt. Auf der Opel-Anlage wird er angeschossen und anschliessend aus dem Unispital Basel entführt. Doch der Reihe nach: Der Tausendsassa Bobby Wilson, Sohn zweier Hippies, befindet sich auf dem absteigenden Ast. Er verliert seinen Job bei einem Onlinemagazin – dem Nachfolgeprojekt einer Basler Wochenzeitung –, seine Dienste als Ghostwriter werden auch nicht mehr gebraucht und seine Karriere als Comedian kommt nicht in Fahrt.

Um in seiner Not an Geld zu kommen, hilft er einem Kumpel beim Autoverkauf auf dessen Opel-Anlage aus. Dort belauscht Wilson ein Paar bei einem Gespräch über einen Skandal eines Bischofs. In seiner Verzweiflung entscheidet er sich, die Information zu nutzen, diese treibt ihn aber zugleich in die Fänge zweier Mexikaner. In dem Thriller führt Claude Cueni den verzweifelten Bobby Wilson auf humorvolle und rasante Weise von Basel zum Bischof nach Mariastein bis hin zum Kunstfälscher Beltracchi nach Luzern.

 

129 Blick »Monopoly 1904: Landreform als Brettspiel

«Ich hoffe, dass Männer und Frauen schnell begreifen, dass ihre Armut daher kommt, dass Carnegie und Rockefeller mehr Geld haben, als sie ausgeben können.» Das schrieb 1904 die damals 38-jährige amerikanische Stenotypistin Elizabeth J. Magie, eine Quäkerin. Sie vertrat die Ideen des Ökonomen Henry George, wonach arbeitslose Einkünfte von Grundbesitzern verantwortlich für Armut und Verelendung der Nichtbesitzenden sei. Henry George forderte, dass man nur besitzen sollte, was man selbst kreiert hat und dass Land und Wasser allen Menschen gehören sollten. Elisabeth J. Magie entwarf, inspiriert von Georgismus, ein Multiplayer-Brettspiel, das sie 1904 unter dem Markennamen «The Landlord’s Game» zum Patent anmeldete. Da niemand das pädagogisch ausgerichtete Lernspiel lizenzieren wollte, brachte sie es 1906 im Selbstverlag auf den Markt. Das änderte nichts daran, dass die Leute beim Spielen nicht belehrt, sondern unterhalten werden wollen. Hätte Magie den Kids beim Murmelspiel zugeschaut, wäre ihr aufgefallen, dass ein Spiel nur funktioniert, wenn es Gewinner und Verlierer gibt. Das ist auch im Sport so.

Dem Verleger Charles Darrow (1889–1967) gefiel die Grundidee so gut, dass er sie stahl. Er änderte die Spielregeln radikal, liess das Game patentieren und produzierte 1934 das heute bekannte Monopoly. Sieger ist nun, wer alle Mitspieler plattgemacht hat.

Ein Jahr später kauften Parker Brothers dem Plagiator das Patent ab. Als die Firma erfuhr, dass alles nur geklaut war, kauften sie auch der mittellosen Erfinderin Elizabeth J. Magie ihr Patent für lumpige 500 US-Dollar ab.

Ridley Scott versuchte zwanzig Jahre lang einen Film über die «Gier der teuflischen Parker Brothers» zu realisieren. Die Financiers wollten jedoch eine «Aufsteigerstory». Mittlerweile ist eine Komödie «Monopoly» in Arbeit.

Heute gibt es zahlreiche Versionen mit Stadtplänen aus aller Welt oder fiktiven Orten aus Blockbustern wie «Jurassic Park» oder «Star Wars». Das Magazin «Mad» produzierte 1979 eine Version für Matheschwache: Sieger ist, wer zuerst pleite ist. Vielleicht folgt demnächst ein «Monopoly Woke» mit der Karte «Du hast eine Bratwurst gegessen und bezahlst zur Strafe jedem Spieler 100 Dollar.»

WEF Originaltext in deutsch

Willkommen im Jahr 2030. 

Ich besitze nichts, habe keine Privatsphäre, und das Leben war nie besser

Willkommen im Jahr 2030. Willkommen in meiner Stadt – oder sollte ich sagen: “unserer Stadt.” Ich besitze nichts. Ich besitze kein Auto. Ich besitze kein Haus. Ich besitze keine Geräte und keine Kleidung.

Es mag Ihnen vielleicht seltsam erscheinen, aber für uns in dieser Stadt macht das durchaus Sinn. Alles, was wir einmal als Produkt betrachteten, ist in unserer Welt zu einer Dienstleistung geworden. Wir haben Zugang zu Transport, zu Unterkunft, zu Nahrung und all den Dingen, die wir in unserem täglichen Leben benötigen. Nach und nach wurden all diese Dinge kostenlos, so dass es für uns am Ende keinen Sinn mehr machte, viel zu besitzen.

Zuerst wurde die gesamte Kommunikation digitalisiert und für alle kostenlos. Später, als saubere Energie kostenlos wurde, ging es schnell voran. Die Transportkosten sanken dramatisch. Es machte für uns keinen Sinn mehr, Autos zu besitzen, weil wir innerhalb von Minuten ein fahrerloses Fahrzeug oder ein fliegendes Auto für längere Fahrten rufen konnten. Als die öffentlichen Verkehrsmittel einfacher, schneller und bequemer als das Auto wurden, begannen wir, uns viel besser zu organisieren und zu koordinieren. Rückblickend kann ich kaum glauben, dass wir einmal verstopfte Straßen und Staus akzeptiert haben, ganz zu schweigen von der Luftverschmutzung durch Verbrennungsmotoren. Was haben wir uns dabei gedacht?

Manchmal benutze ich mein Fahrrad, wenn ich einige meiner Freunde besuche. Ich genieße die Bewegung und die Fahrt. Es bringt irgendwie die Seele mit auf die Reise. Komisch, dass manche Dinge nie ihre Spannung zu verlieren scheinen: Wandern, Radfahren, Kochen, Zeichnen und Pflanzenzucht. Das macht durchaus Sinn und erinnert uns daran, wie unsere Kultur aus einer engen Beziehung zur Natur entstanden ist.

Umweltprobleme scheinen weit weg

In unserer Stadt zahlen wir keine Miete, weil Andere unsere Räume nutzen, wenn wir sie nicht benötigen. Mein Wohnzimmer wird zum Beispiel für Geschäftstreffen genutzt, wenn ich nicht zu Hause bin.

Von Zeit zu Zeit, wenn ich für mich selbst kochen will, werden mir die notwendigen Küchengeräte innerhalb von Minuten an meine Tür geliefert. Seitdem der Transport von Waren kostenlos geworden ist, haben wir aufgehört, all diese Dinge in unser Haus zu stopfen. Warum sollten wir Kochtöpfe oder eine Kreppmaschine in unseren Schränken haben? Wir können sie einfach bestellen, wenn wir sie brauchen.

Das alles hat auch den Durchbruch der Kreislaufwirtschaft erleichtert. Wenn Produkte in Dienstleistungen umgewandelt werden, hat niemand ein Interesse an Dingen mit einer kurzen Lebensdauer. Alles ist auf Haltbarkeit, Reparierbarkeit und Recyclingfähigkeit ausgelegt. Die Materialien fließen in unserer Wirtschaft schneller und lassen sich recht einfach in neue Produkte umwandeln.

Umweltprobleme scheinen weit weg zu sein, da wir nur saubere Energie und saubere Produktionsmethoden nutzen. Die Luft ist sauber, das Wasser ist sauber, und niemand würde es wagen, die geschützten Gebiete der Natur anzurühren, weil sie einen solchen Wert für unser Wohlbefinden darstellen. In den Städten haben wir reichlich Grünflächen und überall Pflanzen und Bäume. Ich verstehe immer noch nicht, warum wir in der Vergangenheit alle freien Plätze in der Stadt mit Beton ausgefüllt haben.

Der Tod des Einkaufens

Einkaufen? Ich kann mich nicht wirklich erinnern, was das ist. Für die meisten von uns hat es sich in die Auswahl von Dingen verwandelt, die sie benutzen wollen. Manchmal macht mir das Spaß, und manchmal möchte ich einfach, dass der Algorithmus das für mich erledigt. Er kennt meinen Geschmack inzwischen besser als ich.

Als die KI und die Roboter so viel von unserer Arbeit übernahmen, hatten wir plötzlich Zeit, gut zu essen, gut zu schlafen und Zeit mit anderen Menschen zu verbringen. Das Konzept der Rush Hour machte keinen Sinn mehr, da die Arbeit, die wir tun, jederzeit erledigt werden kann. Ich weiß nicht wirklich, ob ich es noch Arbeit nennen würde. Es ist mehr wie Denkzeit, Schöpfungszeit und Entwicklungszeit.

Eine Zeit lang wurde alles in Unterhaltung verwandelt, und die Leute wollten sich nicht mit schwierigen Themen beschäftigen. Erst in letzter Minute fanden wir heraus, wie wir all diese neuen Technologien für bessere Zwecke nutzen konnten, als nur Zeit totzuschlagen.

Sie leben verschiedene Arten des Lebens außerhalb der Stadt

Meine größte Sorge sind all die Menschen, die nicht in unserer Stadt leben. Diejenigen, die wir auf dem Weg verloren haben. Diejenigen, die beschlossen haben, dass es zu viel wurde, all diese Technologie. Diejenigen, die sich rückständig und nutzlos fühlten, als Roboter und KI große Teile unserer Arbeit übernahmen. Diejenigen, die sich über das politische System ärgerten und sich gegen es wandten. Sie führen ein anderes Leben, außerhalb der Stadt. Einige haben kleine sich selbst versorgende Gemeinschaften gebildet. Andere blieben einfach in den leeren und verlassenen Häusern in kleinen Dörfern aus dem 19. Jahrhundert.

Ab und zu ärgere ich mich darüber, dass ich keine wirkliche Privatsphäre habe. Keinen Ort, wo ich hingehen kann, ohne registriert zu werden. Ich weiß, dass irgendwo alles was ich tue, denke und wovon ich träume, aufgezeichnet wird. Ich hoffe nur, dass es niemand gegen mich verwenden wird.

Alles in allem ist es ein gutes Leben. Viel besser als der Weg, auf dem wir uns befanden, wo es so klar wurde, dass wir nicht mit dem gleichen Wachstumsmodell weitermachen konnten. Es geschahen all diese schrecklichen Dinge: Lebensstil-Krankheiten, Klimawandel, die Flüchtlingskrise, Umweltzerstörung, völlig überfüllte Städte, Wasserverschmutzung, Luftverschmutzung, soziale Unruhen und Arbeitslosigkeit. Wir haben viel zu viele Menschen verloren, bevor uns klar wurde, dass wir die Dinge anders machen können.


Dieser Artikel wurde in englischer Sprache unter dem Titel: „Welcome to 2030 – I own nothing, have no privacy and live has never been better“ auf der Webseite der Weltwirtschaftsforums (WEF) veröffentlicht (mittlerweile gelöscht) und unterliegt der Creative Commons Lizenz, Copyright des englischen Originalartikels: Ida Auken. 


https://www.cueni.ch/der-grosse-reset-muss-warten/


 

GODLESS SUN, Seiten 1 – 20

»Godless Sun« Thriller, 2016

Ein migrationskritischer Thriller, der bereits alles beschrieb, was wir seit Angela Merkels unkontrollierter Grenzöffnung 2015 bis heute erleben. Ich bin kein Prophet. Es war voraussehbar. Sicherheitsexperten hatten gewarnt. Auf dem Höhepunkt von »Refugées welcome« wurde das Buch aus dem Handel genommen. Jetzt ist es wird verfügbar als Paperback oder eBook.

Für meine FB Freundinnen und Freunde kostenlos jeden Sonntag die Fortsetzung in 20 bis 30 Seiten. 

1 Folge, Sonntag, den 8. Januar 2023 (Buchseiten 1-20) – Und jeden Sonntag ca. 30 weitere Seiten. Falls Interesse an einer Fortsetzung besteht. 


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Ich habe das nicht gewollt

Ich habe das alles nicht gewollt, die Sache ist aus dem Ruder gelaufen. Sie schleichen nachts um das Haus, manchmal werfen sie Kieselsteine gegen das Fenster oder tote Fische auf die Veranda. Ich bin sicher, eines Tages wird jemand an der Haustür klingeln und mir ein rostiges Messer in den Bauch stechen. Ich habe das wirklich nicht gewollt. Ich bin auch kein Leader. Ich habe weder Charisma, noch bin ich eine stattliche Erscheinung. Ich gehöre nicht zu den Menschen, die man gleich wieder vergisst, ich gehöre zu den Menschen, die man gar nicht wahrnimmt. Das war immer so, bis vor Kurzem.

Nachdem mich Natascha verlassen hatte, wollte ich ein ruhiges Leben führen, alle 14 Tage einen Geronimo-Heftroman abliefern und ansonsten meinen Frieden haben. Ja, ich schreibe Pulp, Pulp Fiction, Schundromane, Trash, Kioskromane, but don’t judge a book by his cover! Es braucht eine Menge Recherchen und Phantasie um alle vierzehn Tage aus dem Leben von Geronimo zu berichten. Geronimo ist der Kriegerhäuptling und Schamane der Bedonkohe-Apachen. Er starb 80jährig in Fort Sill, Oklahoma. Wenn ich schreibe, muss ich mich an die Serienbibel halten. Alle sieben Autoren müssen sich daran halten. Das gilt auch für die Mistery Serie »Insel des Grauens« und die neue Science-Fiction-Reihe »Orion, Herrscher der Galaxy«. Sie wird nächstes Jahr die Geronimo-Serie ablösen, dann findet der Wilde Westen im Weltall statt, endlose Galaxien statt zerklüfteter Canyons, Flüssignahrung statt Bohnen mit Speck, und Laserkanonen statt dem Peacemaker von Samuel Colt. Streng genommen war Samuel Colt 1836 nicht der Erfinder, sondern lediglich der Patentinhaber und Produzent. Aber Bärbel streicht mir jeweils alle historischen Details.

Ich hatte darum gekämpft, dass ich Geronimos ursprünglichen Namen, Bedonkohe, näher erläutern darf, denn er bedeutet »Der Gähnende«, aber Bärbel mailte, so genau wolle es unsere Leserschaft nicht wissen, deshalb würden die Pulp Fiction Leser am Bahnhofskiosk meine Heftromane kaufen und kein Sachbuch bei Amazon bestellen. Ich müsste mich an einem einfachen Publikum orientieren. Das gilt für alle Heftserien. Es gibt klare Regeln: einfache Sätze, am liebsten Hauptsätze, keine vielschichtigen Charaktere und vor allem: No Sex. Es ist in Ordnung, wenn ein Mann seine verdreckten Reitstiefel auszieht, die silberne Gurtschnalle löst, aber dann ist Schluss mit Erotik. Das wäre ein Plot für die pinkfarbene Heftreihe »Leonie«, ein Fortsetzungsroman über eine Prostiuierte, die tagsüber Musikunterricht erteilt und nachts wildfremden Männern einen bläst. »Dylan liebt die Gefahr, aber die Flammen die zwischen ihm und Leonie lodern, jagen sogar dem einsatzerprobten Feuerwehr- mann Angst ein«. Nichts für mich. Die Heftserien »Die Gräfin von Venedig« und die Adaption von Hansruedi Wäschers Comic »Sigurd, der richterliche Held« haben sie leider eingestellt. Dabei mag ich History über alles.

In Pulp Fiction Romanen ist History nur Kulisse, Dekoration, mehr nicht. Eigentlich erzählen wir immer die gleichen Geschichten von Liebe, Hass, Verrat, Rache, Macht, Reichtum, und inszenieren sie vor wechselnden Kulissen. Den Wilden Westen mochte ich am meisten. Wenigstens darf ich noch 18 Hefte schreiben bis die Serie von »Orion, Herrscher der Galaxy« abgelöst wird. Geronimo werde ich vermissen. Vor allem Cochise, den Häuptling der Chokonen- Apachen, der ihm die schöne Taz-ayz-Slath ausspannen will. Ich hätte noch reichlich Figurenmaterial, um bis an mein Lebensen- de neue Plots zu erfinden. Ulzana, Victorio und Nana, sie waren allesamt grosse Mitstreiter von Geronimo, aber sie verfügten  nicht über seine Diya, die göttliche Gabe, Visionen zu empfangen und die Ndaa K’ehgodih, die Kraft, das Gehirn der Feinde zu manipulieren und die Gesetze von Zeit und Raum aufzulösen.

Animistische Religionen, Aberglaube und die Manipulation von Menschen, das alles hat mich schon immer fasziniert, aber Bärbel meint, ich könne ja ein Sachbuch schreiben, in Zukunft sei Mistery gefragt. Die etablierten Kirchen verlören immer mehr Mitglieder, sie verlören den Glauben, aber nicht den Aberglauben. Das müsse bedient werden: Mistery sei die Religion des 21. Jahrhunderts.

So hat es mir Bärbel in ihrer Mail erklärt. Sie ist die Chefin des vir- tuellen Writer’s Room. Sie ist eine der zahlreichen Lektorinnen von Morton & Stanley, die jährlich 18 Millionen Heftromane verkaufen. Bärbel betreut meine Serien und ist somit auch die Lektorin der anderen sechs Autoren. Wir schreiben unter dem gleichen fiktiven Autorennamen, Jack Hogan. Wir sind die Ghostwriter eines Autors, den es gar nicht gibt.

Selbst wenn mich einer dieser Männer, die nachts um das Haus schleichen, erschiesst, werden die neuen Serien überleben. Ich habe einen Vorrat angelegt. Bärbel besteht darauf, dass wir eine Reserve für drei Monate haben, also 6 Heftromane von jeder Serie. Vielleicht würde mich Bärbel vermissen, wenn sie mich niederstechen, vielleicht, aber eher nicht. Sie würde zumindest bemerken, dass plötzlich keine neuen Folgen mehr kommen. Ich habe Bärbel noch nie live gesehen. Wir verkehren nur via Mail. Ich habe sie vor Jahren einmal gegoogelt und ein Foto von ihr gefunden. Sie wirkte etwas aufgedunsen, müde, vielleicht war sie früher mal eine schöne Frau, ich weiss es nicht. Jetzt hatte sie tiefhängende Hamsterbacken, halblanges Haar, nicht sehr gepflegt, ich bin sicher, sie ist mittlerweile Single und ist sich daran gewöhnt. Ich mochte sie. Sie war immer sehr nett. Sie hatte eine einfühlsame Art, manchmal bestimmt und dominant, aber doch warmherzig und mütterlich im guten und im schlechten Sinne. Ich hatte den Eindruck, sie habe das Pensionsalter schon überschritten, aber viel- leicht ergeht es ihr ähnlich wie uns Ghostwritern: Angesichts der bescheidenen Honorare muss Bärbel arbeiten, bis sie tot umfällt. Wie meine Helden in Dodge City, wenn der Fünfuhrzug einfährt. Aber jetzt fährt kein Zug mehr.

Wäre das alles nicht passiert, wäre ich bestimmt in der alten Villa von Onkel Calvin geblieben. Ich habe mich dort immer wohl ge- fühlt. Das ehemalige Herrschaftshaus wurde um 1850 von einem Eisenbahnmogul gebaut. Er soll ein visionärer Mann gewesen sein, der an die Zukunft der Eisenbahn glaubte und deshalb seine maison de plaisance direkt an die projektierte Eisenbahnlinie bau- te. Damals lag die Parzelle noch im Grünen inmitten von Feldern. Heute steht die Villa inmitten von Schrebergärten. Man nennt sie heute Familiengärten, weil Moritz Schreber, der Namensgeber, heute nicht mehr den besten Ruf geniesst. Er war ein Arzt aus Leipzig der zur Zeit der Industrialisierung die sozialen Folgen des Stadtlebens durch die Arbeit im Grünen, in sogenannten Ar- mengärten, abfedern wollte. Er erfand übrigens auch ein Gerät zur Verhinderung der Selbstbefriedigung. Auf jeden Fall nennt man diese Gärten heute Familiengärten, aber man sieht dort unter der Woche kaum junge Leute. Es sind meistens Senioren oder Senio- rinnen, die sich mit Akribie ihrem Gemüse widmen und den ganzen Tag über kaum ein Wort miteinander reden. Am Wochenende kommen auch Türken, Albaner, Kosovaren, Italiener und Portugiesen, sie kommen meistens mit der halben Familie, grillen und reden so laut, dass sich wiederum die einsamen Witwer aufregen, die frustriert ihre Erdbeeren pflücken, Weinbergschnecken mit der Gartenschwere vierteilen und darüber nachdenken, was sie später mit dieser vollen Erdbeerschüssel anfangen sollen. Wann waren die Kinder das letzte Mal mit den Enkeln zu Besuch?

Onkel Calvin wohnte im Erdgeschoss der Villa. Er hatte sich in den ehemaligen Salon zurückgezogen, ein pompöser Saal mit einem wuchtigen Kristallleuchter, der über einem langen Konferenztisch hing. An die Stuckaturdecke war ein blauer Himmel mit weissen Wölkchen gemalt, mit putzigen, bunten Vögeln, die sich in Rosen- ranken versteckten. Am Ende des langen Tisches thronte Onkel Calvin in seinem abgewetzten braunen Chesterfield Sessel. Die übrigen elf Sessel waren stets mit Zeitungen, Büchern und allerlei Nippes beladen. Links führte eine Schiebetür in die grosse Wohn- küche. Aber Onkel Calvin empfing keine Besucher. Nur mich. Das ist nicht immer so gewesen.

Onkel Calvin hatte mir die beiden oberen Stockwerke überlassen, nicht aus Nächstenliebe, denn Onkel Calvin hat ein Leben lang nur sich selbst geliebt. Vielleicht werde ich später noch darauf zurückkommen, auf jeden Fall war Onkel Calvin mit seinen 87 Jahren nicht mehr so gut auf den Beinen. Treppensteigen, das war ihm zu mühsam geworden, nicht ungewöhnlich diese motorische Einschränkung, das kommt ja nicht von heute auf Morgen, das ist der Trost bei diesen altersbedingten Redimensionierungen, man vollzieht sie in kleinen Schritten, schluckt sie in mundgerechten Portionen, und nachdem sich Onkel Calvin zum ersten Mal den Schenkelhals gebrochen hatte, mied er fortan die oberen Stockwerke. Ich hatte diese deshalb für mich alleine, fünf grosse Zimmer im ersten Stock und weitere Räume im Dachstock. Hier lagerte noch ein Teil des Mobiliars des früheren Besitzers, vollgestopfte Kommoden, Stühle mit gebrochenen Sitzflächen aus Bast, Tische mit gedrechselten Beinen, vollbeladen mit Bergen von verstaubten Kleidern, von Motten zerfressen, vergilbte Bücher mit spröden Ledereinbänden. Unter dem kleinen Dachfenster standen einige schwere Reisetruhen aus dem 19. Jahrhundert, in einer der Truhen war noch ein alter Katalog, »Malles et sacs de Louis Vuitton, Paris, 1 rue 

Scribe, Téléphone 239-68. Boîte pour chapeaux de dames, Malle cuir pour hommes«.

Ich weiss, ich verliere mich im Detail, das liegt einerseits daran, dass ich seit 9 Jahren ohne Natascha lebe, aber auch daran, dass es mir körperliche Schmerzen zufügt, dass ich in meinen Heftromanen nicht aus dem Vollen schöpfen darf, dass ich nicht ein bisschen belesener sein darf als das Zielpublikum.

Ich hatte mir im ersten Stock ein kleines Paradies eingerichtet. Jedes meiner Zimmer war im Stil einer Epoche eingerichtet. Das Wild West Zimmer hatte ich als Saloon eingerichtet, Arizona, 19. Jahr-hundert, die Wände mit groben Holzplanken verkleidet. Einen Tresen aus alter Eiche mit antiker Spiegelwand hatte ich in Brüssel ersteigert, und den ganzen Kitsch an den Wänden hatte ich von einem Westernstore übernommen, der konkurs gegangen war. Das alte Klavier war schon da, ich spiele nicht Klaiver, ich bin durch und durch unmusikalisch. Ich bewundere deshalb Sänger, Musiker und Komponisten, wie ich eigentlich alle Menschen bewundere, die Dinge können, die ich nicht beherrsche.

Onkel Calvin hat mich einmal darauf hingewiesen. Er hatte stets Zeit, über solche Dinge nachzudenken. Deshalb war er auch nachtragend, wie viele Menschen, die im Alter unsichtbar werden. Er beschwerte sich oft darüber, dass ich den Boden des Westernzimmers mit schweren Holzdielen verlegt hatte. Er meinte, irgend- wann würde der Boden einstürzen und ihn im Schlaf erschlagen. Sein Salon lag direkt unter meinem Saloon. Die Wortverwandtheit kommt übrigens nicht von ungefähr. Französische Trapper nannten während des Goldrausches in Alaska die Holzbaracken, in denen sie Karten spielten, soffen und sich anschliessend gegenseitig erschossen, Saloon, eine ironische Anspielung auf die gediegenen Pariser Salons Ende des 19. Jahrhunderts. Ich hatte dies letztes Jahr in der Folge »Smokey Smith« beiläufig erwähnt. Aber Bärbel hatte es gestrichen. Wie üblich. Ich muss mich offenbar an das Bildungsniveau von Primarschülern halten. Nur bei den Science-Fiction Serien darf ich einen höheren Schulabschluss voraussetzen, was wiederum für mich recherchenmässig einen dreifachen Aufwand bedeutet, weil ich nicht so viel von Raketenantrieben, schwarzen Löchern und der Relativitätstheorie verstehe.

Aber wir waren bei Onkel Calvin, der mich stets daran erinnerte, dass der Schreiner damals einen Mordslärm gemacht hatte. Aber wenn ich den Boden wieder heraus reisse, entgegne ich jeweils, wird das wieder Lärm machen und eine Menge Staub aufwirbeln. Er behauptete dann, dass er daran ersticken würde, und zürnte, ob es das sei, was ich wolle. Dass er sterbe, und ich das Herrschaftshaus für mich alleine habe. Dabei rauchte er wie ein Schornstein, kubanische Zigarren, und litt fürchterlich, wenn die Pollen im Früh- jahr ihren Flug antraten. Im Sommer ertrug er die Hitze schlecht, im Herbst war er oft erkältet und im Winter fror er unsäglich und bat mich die Heizung aufzudrehen und gleichzeitig Heizkosten zu sparen, ich solle bei mir oben weniger lüften. Ich sagte ihm einmal, er solle weniger rauchen, das beeinträchtige die Durchblutung in den Füssen, aber er nannte das dummes Zeug und zündete sich eine weitere Zigarre an. Wenn er es zu bunt trieb, erinnerte ich ihn daran, dass ich nie darum gebeten hatte, in seine Villa einzuziehen. Dann hielt er für eine Weile den Mund. Manchmal rächte ich mich an ihm, in dem ich unsere Dialoge in der »Insel des Grau- ens« einbaute. Dort gibt es auch sowas wie ein verwunschenes Haus, in dem ein alter, mürrischer Mann die Geister der Vergangenheit heraufbeschwört.

Wären all diese schrecklichen Dinge nicht passiert, wäre ich bestimmt in der Villa geblieben, ich hätte das Anwesen renoviert, ich wäre in diesem Land geblieben und hätte mir alles vom Mund abgespart, um das Orion Schlafzimmer noch etwas auzubauen. Ich hätte mir in London noch einen römischen Gladiator in Lebensgrösse bestellt, vielleicht hätte ich mir sogar den neuen Darth Vader aus Plexiglas gekauft. Das Versandhaus in Nevada hatte mir gemailt, dass sie mir die Transportkosten schenken würden. Wahrscheinlich hätte ich auch zwei Schaufensterpuppen gekauft

um John Law, das Finanzgenie des 17. Jahrhunderts, und einen Kardinal einzukleiden. Ich denke, Kirche, Naturwissenschaften und Militär lenken den Lauf der Menschheitsgeschichte. Und die Frauen natürlich, die Liebe, die Leidenschaft, die Besessenheit. Vielleicht auch der Aberglaube, der Boden auf dem Religionen und Sekten gedeihen.

Ja, Science-Fiction liegt tatsächlich im Trend, als hätten die Menschen allmählich die Nase voll von der Realität, der Gegenwart.

Ich werde nichts renovieren. In Zukunft werden Hotelzimmer mein Zuhause sein. Ich weiss nicht, wohin es mich verschlagen wird, wahrscheinlich wird man mich bis ans Ende der Welt jagen. Aber Science-Fiction könnte ich überall schreiben, in der Hacienda De Los Santos in Mexico oder im Hanoi La Siesta in Vietnam. Die ha- ben sogar ein Spa. Vielleicht gibt’s dort Happy Ending. Bestimmt. Und Highspeed Internet hat heute jedes bessere Hotel. Das ist das einzige was ich bräuchte, um Bärbel weiterhin alle 14 Tage einmal Mistery und einmal Science-Fiction zu mailen.

Ich habe Science-Fiction stets unterschätzt, aber gute Science- Fiction ist die Kombination aus History und Gegenwart. Bei Börsenprognosen benutzt man die Charttechnik. Man schaut, wie sich die Aktie in der Vergangenheit entwickelt hat, wie sie auf politische und psychologische Ereignisse reagiert hat, und wagt eine Prog- nose. Science-Fiction Autoren sind somit die Charttechniker der Gesellschaft.

Ja, Sie haben Recht, ich leide darunter, dass Autoren von Kioskromanen keine Anerkennung finden. Dabei sind sie für viele Menschen sehr hilfreich. Es gibt im deutschsprachigen Raum mittlerweile über 10 Millionen Honks. Das sind Hauptschüler ohne nennenswerte Kenntnisse. Die lesen Pulp Fiction Romane. Auch labile und frustrierte Menschen mögen Pulp Fiction. Auch Männer mit geistigen oder organischen erektilen Dysfunktionen. In Trashromanen ist ein Mann noch ein Mann. Heftromane bieten Struktur, Orientierung, Trost, Hoffnung. Sie helfen zu akzeptieren, dass das Leben trostlos ist. Albert Camus sagte: »Die Fantasie tröstet die Menschen über das hinweg, was sie nicht sein können, und der Humor über das, was sie tatsächlich sind.« Die Gewissheit, dass jeden Donnerstag das neue Heft am Kiosk aufliegt, gibt der Woche eine Struktur, genau wie die Abendnachrichten. Darauf ist Verlass. Fällt ein Feiertag auf den Donnerstag, stürzt der Leser in die Abgründe seiner zerrissenen Seele und säuft wie der Irokese Handsome Lake nach der Schlacht von Devil’s Hole.

Zu meinen Lesern gehören übrigens viele Alkoholiker, Suchtkranke, Menschen in Krisensituationen. Ich erfahre das meistens in den einschlägigen Foren. Ich poste manchmal etwas unter dem Namen »Crazy Horse« und frage scheinheilig: Wie hat euch eigentlich »Hängt ihn höher« gefallen? Pulp Fiction Leser sind treue Leser, sie werden nie richtig erwachsen und selbst wenn sie ihre Lebenskrise überwinden, besuchen sie weiterhin die geheimnisvolle Insel oder fliegen mit Commander Orion durch die Galaxy. Leser von Schundromanen sind leicht manipulierbar, sie träumen sich ihre Welt zusammen und sind dankbar für Illusionen aller Art. Ich glaube deshalb, dass die meisten religiös sind. Auf ihre Art natürlich.

Gefährlich wird es für uns Trashautoren, und natürlich auch für Bärbel, wenn die Leser ihre Einkommensverhältnisse signifikant verbessern, wenn sie plötzlich reisen. Die Tourismusindustrie ist der grösste Feind der Schundliteratur. Immer mehr Menschen können immer billiger reisen. Die fliegen jetzt selber an all die exotischen Orte, die ich mal beschrieben habe. Ich verliere meine Schauplätze, deshalb ist die neue Science-Fiction-Reihe so wichtig für mein wirtschaftliches Ueberleben. Die Galaxy hat noch keiner beflogen. Ich bin der Pilot, verdiene aber weniger als eine Stewardess.

Seit einigen Tagen erhalte ich die zahlreichen Morddrohungen so- gar per Mail, das ist deshalb erstaunlich, weil man den Absender zurückverfolgen kann. Alle Dämme sind gebrochen. Ich hatte die Polizei um Hilfe gebeten, aber ein Beamter riet mir, einen Bodyguard zu nehmen. Ich fragte, ob es nicht die oberste Pflicht eines Staates sei, die Unversehrtheit seiner Bürger zu schützen, doch er meinte, niemand könne mehr für meine Sicherheit garantieren, ich sei selber schuld. Aber ich schwöre, ich habe das nicht gewollt! Niemand konnte mit einer derartigen Eskalation rechnen. Ich ver- abscheue Gewalt, ich bin Pazifist, nicht aus Schwäche, sondern aus Überzeugung. Ich bin auch sonst, im privaten Umgang, ein sehr friedliebender Mensch, fast schon im asiatischen Sinne harmoniebedürftig. Selbst in meiner letzten Beziehung war ich derjenige, der nachgab. Ob das Klugheit oder die Feigheit des Pantoffelhelden war, sei mal dahingestellt. Ich weiss bis heute nicht, wieso mich Natascha vor 9 Jahren verlassen hat. Ich dachte, unsere Liebe würde ewig halten.

Vielleicht war ich zu stark mit Geronimo beschäftigt. Oder mit seiner Geliebten. Aber das ist heute kein Thema mehr, ich mag nicht darüber sprechen. Ich weiss, John Steinbeck schrieb in »Jenseits von Eden«, wenn ein Mensch unter keinen Umständen über etwas sprechen wolle, bedeute es, dass er Tag und Nacht darüber nachdenke. Vielleicht hätte mir Natascha einen Tipp geben können, hätte mir erklären können, was ich bis heute nicht verstehe: Wie konnte das alles nur geschehen?

Ich weiss nicht, wie offen ich über die Ereignisse sprechen kann. In unserer narzistischen Gesellschaft akzeptiert man kaum noch abweichende Meinungen. Political Correctness ist die Pflicht zur Realitätsverweigerung. Ich war stets ein entschiedener, ja kompromiss- loser Befürworter der freien Meinungsäusserung. Meinungsfreiheit bedeutet auch, dass man Dinge sagt, die niemand hören will. Ist von George Orwell, nicht von mir. Ich habe viele Dinge gesagt, die niemand hören wollte. Ich dachte, das kann man aushalten. Dar-über kann man reden. Aber wenn Menschen sich nicht artikulieren können, schlagen sie zu. Das macht mir Angst. Ich werde jetzt Dinge schreiben, die niemand hören will.

Ich bin erleichtert, dass alles geklappt hat mit meinem Ticket. Ich dachte, vielleicht kriege ich unter meinem bürgerlichen Namen gar kein Ticket mehr, vielleicht verweigert man mir die Ausreise. Aber wer kennt mich schon unter meinem bürgerlichen Namen? Ich ha- be viele Namen, selbst Gott hat viele Namen, Autoren sowieso. Verzeihen Sie mir bitte, dass ich nicht immer »Autorinnen und Autoren« schreibe, das ist mir einfach zu anstrengend, physisch, aber auch intellektuell. Ich schreibe schliesslich alle 14 Tage einen Heft- roman à 64 Seiten, Normseiten, das sind 30 Zeilen à 60 Zeichen. Dafür braucht ein erfahrener Autor eine Woche. Ich kriege 1250 Euro für einen Roman, also 5000 im Monat. Sie werden sich viel- leicht fragen, wieso ich mir das antue, wieso ich nicht was Anständiges erlernt habe? Ich bin schreibsüchtig, das ist alles, ich befriedige meine Sucht und verdiene damit meinen Lebensunterhalt. Andere Menschen brauchen Zigaretten, fressen sich voll, kaufen teure Uhren und schnelle Autos, verbringen ihre Freizeit in Casinos oder Bordellen, ich sitze vor meinem Computer, erfinde Geschichten, reise in Gedanken mit meinen Figuren um die Welt, pendle zwischen vergangenen Epochen und zukünftigen Zivilisationen. Es ist die schönste Welt, die ich mir vorstellen kann, die Phantasie. Ich bin zufrieden damit, ich war es jedenfalls lange.

In den letzten Monaten hatte ich oft das Bedürfnis, mich mit den anderen Autoren auszutauschen. Ich bin eigentlich ein Familienmensch, obwohl ich ein Dasein als Robinson friste. Ich denke, ein regelmässiger Austausch unter Berufskollegen, das wäre auch der Wunsch der anderen Autoren, aber Bärbel hat uns für die interne Kommunikation anonymisiert, wir kennen uns lediglich unter Namen wie »Cassidy John« oder »Lady Summerhill«. Ich heisse übrigens »Rebecca La Rue«, und niemand weiss, ob sich ein Amerikaner oder eine Spanierin hinter diesem fiktiven Autorennamen verbirgt. Diese Anonymität ist von »Morton & Stanley« gewollt. Keiner soll sein Honorar mit dem Einkommen der anderen vergleichen können. Für die Leserschaft sind wir alle Jack Hogan.

Viele junge Menschen träumen davon, Schriftsteller zu werden. Aber es ist kein einfacher Job, schon gar nicht, wenn sie in der Pulp Avenue stranden. Wenn Sie abends die »Insel des Grauens« verlassen oder mit Commander Orion aus der Galaxy zurückkehren und hinunterfallen in die reale Welt, in eine Bar, zu einem Date, und wenn sie dann sagen, dass sie Kioskromane schreiben, ist die Dame an der Bar bis ins nächste Jahrzehnt ausgebucht. Problematischer wäre es nur, wenn sie gestehen würden, dass sie ar- beitslos sind. Nun gut, das könnte man schönreden und behaup- ten, man sei Privatier. Aber das Mädchen würde sich fragen, wieso ich wie ein Dudeist rumlaufe. Das sind die Freaks, die sich in der »Church of the Latter-Day Dude« vereinigt haben und den Le- bensstil von »The Big Lebowski« verherrlichen. Aber auch das könnte man schönreden und behaupten, dass Multimillionäre heu- te nicht mehr in Edelklamotten rumlaufen, sondern eher in Jeans, Traineroberteil und Turnschuhen. Die können sich das leisten, die sind auf niemanden mehr angewiesen, die haben genügend Fuck- You-Money. Das bedeutet, sie haben genügend Geld, um in jeder Situation dem Gegenüber Fuck You ins Gesicht zu schleudern.

Aber das ist nicht mehr mein Thema. Wie alle Menschen, die die meiste Zeit mit ihrer eigenen Phantasie verbringen, neige ich zu Abschweifungen, vielleicht ist es auch Geschwätzigkeit oder gar eine Geringschätzung der Realität. Manchmal ist Geschwätzigkeit auch Arroganz, ein übertriebenes Ego, manchmal aber auch Aus- druck von Einsamkeit. Ich bin sicher, Robinson hat wie ein Was- serfall geplappert, nachdem ihn Daniel Defoe nach 28 Jahren von seinem tristen Inseldasein erlöst hat.

Aber worauf ich hinauswollte: Ich denke, ich brauche mit 43 Jahren keine neue Beziehung mehr, die länger als eine Nacht dauert. Nachdem mich Natascha verlassen hatte, wollte ich Single bleiben und niemanden im Haus haben, der mich daran erinnert, dass ich einen persönlichen Jahrestag vergessen habe. Freiheit bedeutet, um drei Uhr morgens zum Kühlschrank zu schlurfen und eine Currywurst fressen. Und niemand fragt wieso. Für Natascha war das sicher nicht einfach. Sie war eine jüdische Russin aus Paris, klingt vielleicht etwas exotisch, war es auch. Sie hatte blondes Haar, ei- nen aufrechten Gang und war eine markante Erscheinung, gross, dominant, raumfüllend, und doch sehr fragil, hungrig nach Aner- kennung und Fürsorge, als Figur hätte Bärbel Natascha zusammengestrichen, zu komplex, versteht keiner. Auch ich hatte Mühe damit. Aber so war Natascha. Manchmal denke ich darüber nach, wo sie im Augenblick sein könnte, ob sie glücklich in einer Bezie- hung lebt. Ich verliere mich in Varianten, ausufernden Geschichten und realisiere erst nach Stunden, dass ich mir das alles ausgedacht habe. Natascha ist keine Heftserie, Natascha war 9 Jahre lang meine Freundin. Wir hatten es gut miteinander, dachte ich je- denfalls.

Ich erwähnte schon, dass mir Lovestorys nicht liegen, ich meine als Autor. Ich hatte Bärbel auch schon Alternativvorschläge unterbreitet für eine neue History Serie, »Priscus, Held der Arena«. Mein Held kämpft in der Zeit von Kaiser Titus im Flavianischen Amphitheater. Damals gab es das Kolosseum noch nicht, er kämpfte gegen seinen besten Freund, den Gladiator Verus. Alles recherchiert. Der Dichter Martial hat diesen Jahrhundertkampf in einem Gedicht festgehalten. Wäre das kein Stoff für eine neue Römerserie gewesen? Aber Bärbel sagte, das Thema Gladiatoren sei ausgelutscht, es gebe schon zu viele davon. Ich mailte zurück, genau das könnte ein Hinweis darauf sein, dass das Interesse besonders gross sei, deshalb gebe es so viele Gladiatorenromane. Ich insistierte und mailte, dass ich gerne den Mithraskult der römischen Legionäre dramatisieren würde, den Kult der göttlichen Sonne, aber Bärbel meinte, ich solle doch gescheiter ein Sachbuch zum Thema schreiben, das sei ein ganz anderes Publikum.

Vielleicht habe ich deshalb heimlich Godless Sun geschrieben und bei Crocodile Books publiziert.

Crocodile Books ist kein richtiger Verlag, eigentlich bloss eine Druckerei, die sich selber Durckaufträge beschafft, indem sie Bücher, die niemand publizieren will, gegen Vorschuss druckt und vertreibt. Marlon, mein Verleger, war ein grossgewachsener Mann um die 40, vom Alkohol ausgezehrt. Sein Vater war ein stadtbekannter Kunstmaler gewesen, der sein halbes Leben in Kneipen verbracht hatte. Jetzt ist er tot, an einer Alkoholvergiftung gestorben, aber in den Kneipen der Altstadt hängen seine depressiven Bilder, die er jeweils den Wirten abtreten musste, um seine Besäufnisse zu be- zahlen. Die Wirte dachten vielleicht, wenn der alte Oscar so wei- tersäuft, stirbt er bald und kleckert keine Leinwände mehr voll, dann steigen die Preise, das ist nun mal das Gesetz von Angebot und Nachfrage. Marlon hat mir das einmal erzählt, als er Flyer für einen Pizza Service druckte. Marlon begleitete seinen Vater bereits im Kindsalter auf seinen Kneipentouren. Marlon sieht sich als Rebell. Tagsüber druckt er Visitenkarten und schmale Broschüren, nachts druckt er Dinge, die kein Feuilletonredaktor anfasst, das macht ihm Spass, deshalb hat er auch Godless Sun gedruckt. Er sagte damals, mein Buch sei ihm derart eingefahren, dass er eine ganze Woche nur noch gesoffen habe. Aber ich glaube, das tat er eh. Vielleicht ist es genetisch, schlechte Vorbilder, ich weiss es nicht. Ich war überglücklich, als Marlon Godless Sun druckte und auslieferte. Wir feierten zusammen mit seiner Freundin Aline drei Tage lang. In Aline war ich ein bisschen verliebt. Marlon hatte lediglich 500 Exemplare gedruckt. Einige Dutzend hatte ich selber bestellt, um zu prüfen, ob Bestellvorgang und Lieferung funktionie- ren. Ja, hat alles funktioniert, ich habe mittlerweile zweihundert Exemplare unter meinem Schreibtisch. Und alle bezahlt. Godless Sun war ein Flop. Ich habe etwa 30 Exemplare verkauft, aufgerundet. Ich traf Aline einmal an einer Bushaltestelle. Sie sagte mir, Marlon saufe immer noch, er schlage sie auch, sie habe eine Fehlgeburt erlitten, er habe sie regelrecht geprügelt. Sie habe sich in der Toilette eingeschlossen und dann sei es passiert, direkt in die Kloschüssel. Man hätte bereits Händchen und Füsschen erkennen können. »Wie kann Gott sowas zulassen?« hatte sie geschluchzt. Hinter ihr hing ein Plakat der christlichen Agentur für den Glauben. Auf blauem Hintergrund stand in grossen gelben Lettern geschrieben: »Gott liebt dich«.

Ich hatte Aline in den Arm genommen und ihr gesagt, sie könne bei mir wohnen. Sie wohnte zwei Tage bei mir. In der zweiten Nacht erschien Marlon im Treppenhaus und grölte, er würde sich eine Kugel durch den Schädel jagen, wenn sie nicht sofort zu ihm zurückkäme. Aline kramte eilig ihre sieben Sachen zusammen und eilte zur Wohnungstür. Er braucht mich, schrie sie verzweifelt als sie die Treppe hinuntereilte. Mir schien, sie platze schier vor Glück. Es ist mir ein Rätsel, wieso sich Frauen sowas antun. Aber die römische Antike ist leichter zu verstehen als die weibliche Psyche.

Ich habe später, wohl aus Trotz und Verzweiflung, Godless Sun noch ins Englische übersetzt. Ich dachte, der englische Markt ist viel grösser als der deutschsprachige Markt. Das ist schon richtig, aber auch die englische Variante hat sich nicht verkauft, ich habe die englische Ausgabe mit der Amazon Software Create Space als Selfpublisher publiziert, als E-Book und Print on Demand, ausser Spesen nix gewesen. Trotz allem Fleiss war alles Scheisse.

Ich sagte vorhin, ich sei froh gewesen, dass alles geklappt hat mit dem Flugticket und so. Nein, nicht alles hat geklappt. Ich habe damals den Abflug verpasst. Venedig war nie meine Destination, aber es war der nächstbeste Flug aus der Hölle. Ich dachte, flieg doch erst mal nach Venedig, von dort kannst du dann weiterreisen, Hongkong, Südamerika, Neuseeland, Miami, einfach so lange zwischen Ost und West hin- und herfliegen, bis alle meine Spuren verwischt oder meine Maschine abgestürzt ist.

Al Ponte Antico, Venedig

Die Maschine stürzte nicht ab, allerdings fiel ich beinahe ins Wasser, als ich das schaukelnde Wassertaxi bestieg. Wir bretterten über den Canale Della Giudecca bis wir schliesslich in gemächlichem Tempo in den Canal Grande einbogen. Das erste, was mir auffiel, war der Gestank, der Gestank von 1000 Jahren Zivilisation und verlotterterten Abwasserkanälen. Der Markusplatz war schon sehr belebt, Touristenschwärme, die sich wie eine bunte Lava in die schmalen Gassen verteilte. Das Hotel Al Ponte Antico hatte eine eigene Anlegestelle, die nachts von vier Laternen erleuchtet wurde. Der Portier, ein grossgewachsener, athletischer Italiener, begrüsste mich wie einen alten Verwandten und genoss mit sichtbarem Stolz meine Bewunderung, als wir von der Anlegestelle durch den Hintereingang in einen gruftähnlichen Hotelflur traten. Das Gewölbe war in Terrakotta Farbtönen bemalt, der Boden mit schwarzweissen Mosaiken ausgelegt, rechts der Eingang zu meiner Suite. Ich hatte mir ausdrücklich das Erdgeschoss gewünscht. Der Portier trug meinen Koffer in den loftähnlichen Salon und sagte, das Gebäude stamme aus dem 16. Jahrhundert und gehöre seit Generationen seiner Familie, Frühstück gebe es um 7.30 Uhr und sein Name sei Bruno. Die Wände waren mit kostbaren Stoffen tapeziert, die Inneneinrichtung bestand aus Möbeln im Stil Louis XV. Schwer beeindruckt schaute ich zu den handbemalten Stuckaturen an der Decke, spürte die steinharte Verspannung im Nacken, der übliche Tribut, den Vielschreiber zu bezahlen haben, und machte ein paar Schritte zum raumhohen Doppelfenster, das den Blick auf den Canal Grande freigab. Der Holzboden war mit dem Wasserspiegel bündig, man konnte die Gondeln und Schiffe vor- beischleichen sehen, und hätte ich mich aus dem Fenster gelehnt, ich hätte dem einen oder anderen Touristen übers Haar fahren können. Aber nicht wahr, wieso hätte ich das tun sollen?

»Mitch«, sagte Bruno freundlich und strahlte übers ganze Gesicht, als er auf die offene Arkade zeigte, früher habe man hier ein Laden betrieben und deshalb den Raum mit der Arkade in zwei Hälften unterteilt, im hinteren Teil hätten noch seine Urahnen geschlafen. Ich erwähne das zögernd, weil mir Bärbel so oft eingetrichtert hat, dass Leser es nicht so genau wissen wollen. Die einen mögen das, die anderen ziehen eine Reservation auf der Insel des Grauens vor, freie Sicht auf das geheimnisvolle Moor und bläulich aufgedunsene Leichen zum Frühstück.

Ich verbrachte den Abend mit einem Amarone di Valpolicella vor den offenen Fensterflügeln und schaute den Booten nach, die wie in Slow Motion an meinem Fenster vorbeizogen. Im Hintergrund leuchteten die Lichter der Rialtobrücke, das Wasser schimmerte in warmen Kup- fertönen, ich fühlte mich einsam, verlassen. Bruno hatte mir ein paar Restauranttipps gegeben, zwischen dem Palazzo dei Camerlenghi und dem Rialtomarkt würde ich viele Kneipen finden, die Livemusik spielten, Venedig sei in der Nacht am Schönsten, in jeder menschen- leeren Gasse können man dem mystischen Gesang der Vorfahren lauschen, man müsse nur genau hinhören, aber ich hatte ihm erklärt, dass mir eine Flasche Amarone genügen würde. Nein, ich wollte auch keine weibliche Gesellschaft.

In der Nacht träumte ich von der Insel des Grauens. Es gab dort ein Haus am See. Vielleicht ist es nur gerecht, dass Autoren Opfer ihrer eigenen Geschichten werden. Ich war nackt und stieg aus dem offenen Fenster. Wie in Trance schritt ich in der Dunkelheit auf das Moor zu. Ich wusste, dass ich das nicht durfte, dass es mein Ende bedeuten würde, aber ich konnte nichts dagegen tun.

Ich musste es tun. Das Moor nahm mich auf, liess mich langsam versinken, und während ich wild mit den Armen ruderte, beschleunigte ich meinen Untergang. Ich sank tief, bis auf den schlammigen Grund. Ich blieb dort eine ganze Weile, bis ich im Schlamm etwas ertastete. Es war ein Flaschenhals. Obwohl es hier unten stock- finster war, konnte ich die Etikette lesen. Es war ein Bordeauxwein. Ich öffnete ihn. Natürlich war mir klar, dass man nicht unter Wasser eine Flasche Wein öffnen kann. Ich tat es trotzdem und nahm einen Schluck dieser trüben Flüssigkeit. Ich bin kein grosser Wein- experte, ich bin eher der Weintrinker, trotzdem hätte ich dieser gräulichen Sauce ein Schwefel-Bukett attestiert mit einer dominanten Krabben-Salzwasser-Note und einem diskreten Benzin- und Essigaroma. Die Flasche stammte aus einem Schiffswrack, das 1864 zur Zeit des amerikanischen Bürgerkriegs vor der Küste Bermudas gesunken war. Normalerweise braucht es für eine sol- che Analyse Historiker, Chemiker und Meeresbiologen, aber in diesem grässlichen Traum wusste ich alles. Bis auf eine Sache: Was hatte der abgetrennte Kopf im Schlamm zu suchen? Ich kann- te diesen Kopf, aber ich konnte mich nicht erinnern, zu welchem Ereignis dieser Kopf gehörte. Oder zu welchem Rumpf. Ich starrte diesen wachsfarbenen Kopf an, die Augen lagen wie verkohlte Ap- rikosenkerne in den Höhlen, ich blickte ins Antlitz des Todes.

Als ich schweissgebadet aufwachte und realisierte, dass ich hier in einem Hotelbett in Venedig lag, beschloss ich meine Geschichte niederzuschreiben. Vielleicht beginne ich jetzt ganz von vorne.

Fortsetzung 2, nächten Sonntag, den 8. Januar 2023

Mehr über GODLESS SUN

128 Blick »Deutschlands Nacht der Wahrheit«

Deutschlands Nacht der Wahrheit

Sieben Jahre nach der Kölner Silvesternacht registriert die Berliner Polizei am Jahresende brutale Angriffe auf Sanitäter, Feuerwehr und Polizei, Brandanschläge, 355 Strafund Ordnungswidrigkeitsverfahren, darunter 22 Sexualstraftaten. Die Täter: mehrheitlich junge Migranten aus Machokulturen. Redakteur Jürg Hasselmann mutmasst im »Tagesspiegel« (Berlin): »Die Temperaturen begünstigten vermutlich die Neigung zu Randale.« Die ARD löscht das Wort »Migrationshintergrund« aus dem Liveinterview mit einem Feuerwehrmann (auf anderen Sendern sehen wir den Feuerwehrmann ungekürzt), einige wollen ein Böllkerverbot für die Gesamtbevölkerung durchsetzen, also auch für den 70jährigen Opa. Nach 7 Jahren nix gelernt.

Nicht verwunderlich, dass junge Abenteuermigranten jeglichen Respekt vor unserem Rechtsstaat verlieren. In ihrer Heimat hätte ihr Verhalten harte Konsequenzen zur Folge. Fordert man solche, wird man mit dem Vorwurf der Ausländerfeindlichkeit mundtot gemacht, auch wenn man explizit junge Straftäter kritisiert, also eine Minderheit, die ihre Landsleute in Geiselhaft nimmt.

«Silvester» ist mittlerweile auch im Sommer. Letztes Jahr stürmten 2000 junge Nordafrikaner den italienischen Badeort Peschiera del Garda und skandierten: «Das ist Afrika!» Während der WM verwüsteten marokkanische «Fans» in Belgien ganze Strassenzüge. Seit Angela Merkels unkontrollierter Grenzöffnung im Herbst 2015 (Betonung auf «unkontrolliert») ist Silvester das ganze Jahr über auch in den Pariser Banlieues, im belgischen Molenbeek, im schwedischen Malmö und in anderen Städten.

Kann man Probleme lösen, die man leugnet? Rot-Grün will nicht wahrhaben, dass man nicht jede Kultur integrieren kann. Die ARD schneidet das Wort «Migrationshintergrund» aus einem Augenzeugenbericht und sendet falsche Zahlen. Der ehemalige ARD-Programmdirektor Herres nennt es «politisch korrektes Geschwurbel».

Helmut Schmidt (SPD) warnte bereits 2010 in einem ARD-Interview vor einer Zuwanderung aus nicht kompatiblen Kulturen. Er nannte den Nahen Osten, Nordafrika und Ostanatolien. Kollegin Ursula Sarrazin begründete ihren Parteiaustritt: «Die SPD ist zu einer Partei geworden, in der man die Wirklichkeit nicht mehr beschreiben darf

Fallschirmjäger Denny Vinzing sagte nach seiner Rückkehr aus Afghanistan: «Die meisten halte ich nicht für integrierbar. Sie leben nach ganz anderen Werten. Die Stellung der Frau ist radikal anders. Die kommen hier nicht zurecht

Der heutigen Politikergeneration fehlt die Kraft des Handelns. Sie interessiert sich mehr für Fotound Talkshowtermine.


Peter Tuth (Die Welt):

»Wo der Staat als schwach gilt, wird er missbraucht (…) In Berlin, wo es einen Bevölkerungsanteil mit Migrationshintergrund von 36,6 Prozent gibt, gab es 355 Straf- und Ordnungswidrigkeitsverfahren und 56 teilweise schwer verletzte Einsatzkräfte. In München, wo fast jeder zweite Migrationshintergrund hat: keine besonderen Vorkommnisse.«

Kommen bayrische Einwanderer aus besonders friedfertigen und zivilisierten Regionen? Nein, nur ist denen bekannt, dass Polizei und Staatsanwaltschaft nicht lange fackeln, wenn es darum geht, Recht und Ordnung aufrechtzuerhalten. Selbst die »letzte Generation« meidet mittlerweile bayrischen Asphalt.

Fazit: Wo es klare rote Linien wie in München gibt und Straftaten ohne Wenn und Aber geahndet werden, lässt keiner mehr die Sau raus. Wo hingegen Rotgreen regiert, schwächen die Regierungen den Reststaat, indem sie bei linken Straftaten wegschauen. Wenn dann auch noch die Polizei »an die Kette genommen wird«, ist das der Freipass für eine grosse Silvesterparty.


»Godless Sun« Thriller, 1906, mehr über das Buch

Ab Sonntag, den 8. Januar 2023, können Sie jeden Sonntag meinen migrationskritischen Thriller GODLESS SUN kostenlos als Fortsetzung lesen, jeweils ca 20 – 30 Buchseiten. 

Der Roman entstand nach der unkontrollierten Grenzöffnung von Angela Merkel und beschrieb bereits 2016 (gestützt auf Warnungen der Sicherheitsbehörden, was wir seitdem erleben und noch erleben werden. Das Buch wurde auf dem Höhepunkt der »Refugées welcome« Aktionen aus dem Handel genommen. Jetzt ist wieder als eBook und Paperpack verfügbar und für FB Freundinnen und Freunde ab Sonntag als kostenlose Fortsetzung auf: GODLESS SUN SEITEN 1 – 20



 

 

Blick »Mein Jahresrückblick 2022«

 

China. Wutbürger made in China. Das Freiheitsvirus ist ansteckender als Corona.

USA. Joe Biden streckt die Hand aus, wo niemand steht, vergisst mitten in der Rede, äh… und verirrt sich im eigenen Garten. Leslie Nielsen («Die nackte Kanone», 1988) hatte Text und Brille besser im Griff.

Alles wird geleakt. Ausser der Gästeliste von Jeffrey Epstein.

Laptop der Hölle. Mark Zuckerberg gesteht: Das FBI hat ihn genötigt, negative Posts über Joe Bidens Sohn zu löschen. War also doch keine Verschwörungstheorie.

Twitter. Elon Musk meint, seine Kritiker würden nicht mehr Hass-Tweets befürchten, sondern mehr Tweets, die sie selber hassen. Die «Twitter Files» geben ihm recht, Twitter war eine «Tochtergesellschaft» des FBI.

Schweiz. Der Frauenverhinderer, aber saisonal feministische Co-Präsident der SP mag keine Männer. Ausser sich selbst.

Gesundheitsminister Berset: «Mit dem Zertifikat kann man zeigen, dass man nicht ansteckend ist.» Kann man mit einem Kassenbon auch zeigen, dass man nicht schwanger ist?

«Guns save lives», der Slogan der US-Waffenlobby, ist jetzt der Slogan der einstigen Armeegegner.

Deutschland. American Dream: Vom Tellerwäscher zum Millionär. German Dream: Vom Tellerwäscher zur Teller waschenden Person.

Angela Merkel ist gegangen, ihre Fachkräfte sind geblieben. 2500 junge Nordafrikaner stürmen den italienischen Badeort Peschiera del Garda und skandieren: «Das ist Afrika!» Ist noch etwas verfrüht.

Über 10 000 gut ausgebildete Deutsche fliehen vor dem Bevormundungsstaat ins Ausland. Muss Rot-Grün eine Mauer bauen? Wer 14 Jahre für einen Flughafen braucht, schafft keine Mauer.

Wahlurnen für die Kita. Die grüne Abgeordnete Emilia Fester (24) fordert das Wahlrecht für Zweijährige. Einige meinen, man sollte es eher auf 25 erhöhen.

EU. «Säcke voller Geld» in der Wohnung der Vizepräsiden-tin des EU-Parlaments. Auch Schweizer EU-Turbos winken bei Erfolg lukrative Sessel im Korruptionsparadies der Spesenritter.

England. London Bridge is falling down.

Auch die Herzogin von Sussex und ihr Prinz Peinlich are falling down. Gleich in Serie auf Netflix.

Ukraine. Es ist alles gesagt. Auch das, was man nicht mehr sagen darf.

Gesellschaft. Winnetou klagt: Bleichgesichter sprechen mit gespaltenem Gehirn. Walking Woke wird Walking Dead.

Foodwaste. Um das Klima zu retten, werden Gemälde mit Tomatensauce, Milch und Kartoffelstock beworfen. Klima reagiert nicht.

Neue Trends: Um den Globus jetten, um den Leuten zu sagen, sie sollen aufs Fliegen verzichten.

Klimaproteste als Sprungbrett für Modelkarrieren.

Das Wort «Sünde erlebt ein Comeback». Früher galt das Fleischverbot nur am Freitag, demnächst das ganze Jahr über.

Auslaufmodell «demokratischer Rechtsstaat». Von links bis rechts wollen immer mehr Leute verbieten, was ihnen persönlich nicht gefällt.

Diversität. Alle fordern sie, ausser beim Meinungsaustausch.

Westliche Feministinnen pochen auf das Recht, den Hidschab zu tragen. Diejenigen, die sie verteidigen, verbrennen ihn.

Goodbye. Legenden der Rolling Sixties sterben, aber ihre Hits leben weiter: «Be my Baby» (Ronny Spector), «Great Balls of Fire» (Jerry Lee Lewis).

Wissenschaft. Forscher entdeckten im genetischen Code des Coronavirus die «Furin-Spalte». Bei natürlichen Coronaviren kommt sie nicht vor. Im Labor hingegen schon.

Studie entschlüsselt elektrische Kommunikation zwischen Pilzen. Beanspruchen Pilze demnächst Menschenrechte?

Erste erfolgreiche Xenotransplantation eines Herzens von einem genetisch modifizierten Schwein zu einem Menschen. Schwein gehabt. Leider nur zwei Monate.

Uno. Sie meldet acht Milliarden Menschen. Demonstrieren Klimakleber demnächst für Familienplanung?

Sport. Tennisgott Federer verlässt den Olymp. Jetzt kämpft er gegen einen irdischen Uferweg vor seiner Villa.

Der FC Basel wird zur Spieleragentur mit eigenem Rasen. Basel nur noch in der Kriminalitätsstatistik Nummer eins.

Katar. Es wurde auch Fussball gespielt. Alte Erkenntnis: Werden Fouls nicht regelkonform geahndet, nehmen diese zu. Gilt auch für den Rechtsstaat.

Generell. Die westliche Welt verliert weiter an Relevanz. Neue multipolare Weltordnung im Entstehen.

Weiterer Vertrauensverlust auf allen Kanälen.

Früher gabs für Leute, die alles aufschieben, einen Tritt in den Hintern. Heute nennt man es «pathologische Prokrastination». Soeben Selbsthilfegruppe gegründet. Jahrestreffen verschoben. Und alles Gute zum Neuen Jahr!


Da der Jahresrückblick auf 4500 Anschläge beschränkt ist, habe ich VOR der Ablieferung über die Hälfte gestrichen. Einige finden Sie nachstehend in blau.


China. »Ich denke, China ist ein Vorbild für viele Länder« und »dass das chinesische Modell sicherlich ein sehr attraktives Modell für eine ganze Reihe von Ländern ist.« Klaus Schwab im November 2022 zum chin. TV Sender CGTN.

SCHWEIZ. Zahlreiche Hochbetagte mit schweren Vorerkrankungen haben Alain Berset vertraut und sich und andere angesteckt. Einige sind gestorben. Ist ein lügender »Volksvertreter« für ein öffentliches Amt geeignet?

DEUTSCHLAND. Die Grünen lieben Prinzipien. Die Macht lieben sie noch mehr. Waffenexporte in Kriegsgebiete okay.

Aussenministerin Annalena Baerbock will acht bis zehn Millionen Migranten aufnehmen und sagt, die Meinung  der Wähler sei ihr egal.

Olaf Scholz träumt von einer EU mit 36 Mitgliedern (darunter null Nettozahler). Schafft sich Deutschland ab?

Peter Sloterdijk: «Deutschland ist die grösste Exportnation für Irrtümer»

EU. Sie bestraft das korrupte Ungarn und will gleichzeitig die noch korruptere Ukraine aufnehmen
 
WHO. Die Weltgesundheitsorganisation folgt Klaus Schwabs Drehbuch »The Great Reset« und ernennt sich zur globalen Pandemieregierung, der sich alle 194 Mitgliedstaaten zu unterwerfen haben. Soziale Medien sollen einer Zensur unterliegen, um »Fehlinformationen« entgegenzuwirken.  Fehlverhalten wird sanktioniert. 
 
UKRAINE »Bellen vor der Haustür«. Papst Franziskus glaubt, die USA und die Nato hätten Putin mit der Ausweitung des transatlantischen Militärbündnisss in die Enge getrieben. 
 

Pandora Papers. Die Bundeszentrale für politische Kultur schreibt, dass Wolodymyr Selenski und seine engsten Mitarbeiter ein Netzwerk aus Offshore Briefkasten-Firmen gegründet haben. Selenskyjs TV-Produktionsfirma habe so 41 Millionen Dollar steuerfrei vom Oligarchen Ihor Kolo¬mo¬js¬kyj erhalten. Mit den Tarnfirmen seien Luxuswohnungen für mehrere Millionen gekauft worden. Hat Kriegsverbrecher Putin Selenski zum Helden geadelt? Ist jeder, der aus den Pandora Papers zitiert, ein Putinversteher?

 
Gemäss New York Times sind die USA zunehmend besorgt, dass ihre Milliardenhilfen im zweitkorruptesten Land Europas nicht immer dort ankommen, wo sie sollten. Werden einige der westlichen Waffen demnächst im Darknet zum Kauf angeboten? Die ersten sind mittlerweile in Schweden aufgetaucht.
 

GESELLSCHAFT. Rektor, Rektorin, Rektum. Neusprech erobert die Comedy-Bühnen.

«Alte weisse Männer»: Diskriminierung der Hautfarbe, Diskriminierung des Geschlechts, Diskriminierung des Alters: der neue Prosecco-Rassismus wird salonfähig.

Zeitgeist: Meinung schlägt Fakten, Moral Pragmatismus, Lautstärke Argumente, Unwohlsein ersetzt Logik, und der gute Zweck Rechtsstaatlichkeit.

Selbstjustiz. Die Enkel und Enkelinnen der Woodstockgeneration übernehmen deren Slogans: »Illegal ist scheissegal« und »macht kaputt was euch kaputt macht«.

Gesucht werden zehntausende Ingenieure. Doch beliebter ist das Studium von Gendergaga.

Corona, Krieg, Affenvirus, Strommangellage, aber was die die Konzerne am meisten fürchten ist der Shitstorm, den eine anonyme Person mit Hilfe der Medien abfeuert.


 
 

127 Blick »Der Kleine Scheisser«

Die Spanier nennen ihn Caganer. Er ist lediglich zehn Zentimeter gross und trägt die traditionelle Kleidung eines katalanischen Bauern: weisses Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln, schwarze Hose, roter Gürtel, Schärpe und rote Mütze. Caganer bedeutet in der katalanischen Sprache so viel wie «kleiner Scheisser» und ist nicht nur ein Kosewort für Babys. Man findet die aus Durexina hergestellten Figuren in vielen spanischen Shops. Nur wer eine von ihnen in die Hand nimmt und dreht, sieht, dass der kleine Scheisser die Hosen heruntergelassen hat und sein Geschäft verrichtet. Ein ordentlicher Haufen türmt sich unter seinem nackten Hintern. Wer zum Teufel kauft solche Figuren? Und wo stellt man sie zu Hause auf?

In Katalonien platziert man sie in Weihnachtskrippen. Wer glaubt, die katholische Kirche würde Protest einlegen, täuscht sich. Sie sieht die Anwesenheit des Caganers bei der Geburt Jesu als Glücksbringer, denn die Figur düngt nicht nur die Erde (und lässt auf eine gute Ernte hoffen), sondern symbolisiert auch den ewigen Kreislauf der Natur. Der Caganer steht bzw. hockt für einen gesunden Körper, «menja bé, caga fort i no tinguis por a la mort!» (Iss gut, scheisse kräftig und fürchte dich nicht vor dem Tod!).

Entstanden ist diese Krippenfigur wahrscheinlich im 16. Jahrhundert. Bei etlichen Kindern ist die Suche nach dem Caganer immer noch ähnlich beliebt wie die Suche nach den Ostereiern. Wo ist er in diesem Jahr versteckt? Zwischen Ochs und Esel oder unter einem Heuballen?

Den kleinen Scheisser gibts mittlerweile in Hunderten Variationen, mit den Köpfen von Prominenten aus Sport, Film, Geschichte und Politik. Wie alle christlichen Bräuche, von Halloween über Allerheiligen, Ostern, Santa Claus bis Weihnachten, liess sich auch der Caganer bestens kommerzialisieren. Da der Markt irgendwann gesättigt war, musste eine weitere Figur her. Sie kam in Form des Pixaners, ein urinierender Verwandter des Caganers. Und da «alle Menschen gleich geschaffen» sind, gibt es auch König Charles III. und den Papst als Caganer und selbst Maria, Josef, die Hirten und die drei Könige gehen mittlerweile in die Hocke und düngen in Katalonien den Boden weihnächtlicher Krippen.

Henry Kissinger, Friedensvorschlag im Original

The first world war was a kind of cultural suicide that destroyed Europe’s eminence. Europe’s leaders sleepwalked – in the phrase of historian Christopher Clark – into a conflict which none of them would have entered had they foreseen the world at war’s end in 1918. In the previous decades, they had expressed their rivalries by creating two sets of alliances whose strategies had become linked by their respective schedules for mobilisation. As a result, in 1914, the murder of the Austrian Crown Prince in Sarajevo, Bosnia by a Serb nationalist was allowed to escalate into a general war that began when Germany executed its all-purpose plan to defeat France by attacking neutral Belgium at the other end of Europe.

The nations of Europe, insufficiently familiar with how technology had enhanced their respective military forces, proceeded to inflict unprecedented devastation on one another. In August 1916, after two years of war and millions in casualties, the principal combatants in the West (Britain, France and Germany) began to explore prospects for ending the carnage. In the East, rivals Austria and Russia had extended comparable feelers. Because no conceivable compromise could justify the sacrifices already incurred and because no one wanted to convey an impression of weakness, the various leaders hesitated to initiate a formal peace process. Hence they sought American mediation. Explorations by Colonel Edward House, President Woodrow Wilson’s personal emissary, revealed that a peace based on the modified status quo ante was within reach. However, Wilson, while willing and eventually eager to undertake mediation, delayed until after the presidential election in November. By then the British Somme offensive and the German Verdun offensive had added another two million casualties.

In the words of the book on the subject by Philip Zelikow, diplomacy became the road less travelled. The Great War went on for two more years and claimed millions more victims, irretrievably damaging Europe’s established equilibrium. Germany and Russia were rent by revolution; the Austro-Hungarian state disappeared from the map. France had been bled white. Britain had sacrificed a significant share of its young generation and of its economic capacities to the requirements of victory. The punitive Treaty of Versailles that ended the war proved far more fragile than the structure it replaced.

Does the world today find itself at a comparable turning point in Ukraine as winter imposes a pause on large-scale military operations there? I have repeatedly expressed my support for the allied military effort to thwart Russia’s aggression in Ukraine. But the time is approaching to build on the strategic changes which have already been accomplished and to integrate them into a new structure towards achieving peace through negotiation.

Ukraine has become a major state in Central Europe for the first time in modern history. Aided by its allies and inspired by its President, Volodymyr Zelensky, Ukraine has stymied the Russian conventional forces which have been overhanging Europe since the second world war. And the international system – including China – is opposing Russia’s threat or use of its nuclear weapons.

This process has mooted the original issues regarding Ukraine’s membership in Nato. Ukraine has acquired one of the largest and most effective land armies in Europe, equipped by America and its allies. A peace process should link Ukraine to Nato, however expressed.

The alternative of neutrality is no longer meaningful, especially after Finland and Sweden joined Nato. This is why, last May, I recommended establishing a ceasefire line along the borders existing where the war started on 24 February. Russia would disgorge its conquests thence, but not the territory it occupied nearly a decade ago, including Crimea. That territory could be the subject of a negotiation after a ceasefire.

If the pre-war dividing line between Ukraine and Russia cannot be achieved by combat or by negotiation, recourse to the principle of self-determination could be explored. Internationally supervised referendums concerning self-determination could be applied to particularly divisive territories which have changed hands repeatedly over the centuries.

The goal of a peace process would be twofold: to confirm the freedom of Ukraine and to define a new international structure, especially for Central and Eastern Europe. Eventually Russia should find a place in such an order.

The preferred outcome for some is a Russia rendered impotent by the war. I disagree. For all its propensity to violence, Russia has made decisive contributions to the global equilibrium and to the balance of power for over half a millennium. Its historical role should not be degraded. Russia’s military setbacks have not eliminated its global nuclear reach, enabling it to threaten escalation in Ukraine. Even if this capability is diminished, the dissolution of Russia or destroying its ability for strategic policy could turn its territory encompassing 11 time zones into a contested vacuum. Its competing societies might decide to settle their disputes by violence. Other countries might seek to expand their claims by force. All these dangers would be compounded by the presence of thousands of nuclear weapons which make Russia one of the world’s two largest nuclear powers.

As the world’s leaders strive to end the war in which two nuclear powers contest a conventionally armed country, they should also reflect on the impact on this conflict and on long-term strategy of incipient high–technology and artificial intelligence. Auto-nomous weapons already exist, capable of defining, assessing and targeting their own perceived threats and thus in a position to start their own war.

Once the line into this realm is crossed and hi-tech becomes standard weaponry – and computers become the principal executors of strategy – the world will find itself in a condition for which as yet it has no established concept. How can leaders exercise control when computers prescribe strategic instructions on a scale and in a manner that inherently limits and threatens human input? How can civilisation be preserved amid such a maelstrom of conflicting information, perceptions and destructive capabilities?

Ukraine has become a major state in Central Europe for the first time in modern history

No theory for this encroaching world yet exists, and consultative efforts on this subject have yet to evolve – perhaps because meaningful negotiations might disclose new discoveries, and that disclosure itself constitutes a risk for the future. Overcoming the disjunction between advanced technology and the concept of strategies for controlling it, or even understanding its full implications, is as important an issue today as climate change, and it requires leaders with a command of both technology and history.

The quest for peace and order has two components that are sometimes treated as contradictory: the pursuit of elements of security and the requirement for acts of reconciliation. If we cannot achieve both, we will not be able to reach either. The road of diplomacy may appear complicated and frustrating. But progress to it requires both the vision and the courage to undertake the journey.

WRITTEN BY

Henry Kissinger

126 Blick »Haben Gartenzwerge Sex?«

Bereits vor 6000 Jahren waren Männer mit geringer Körpergrösse im Bergbau sehr gefragt. Auch Kinder wurden (und werden leider noch heute) eingesetzt, denn für sie gibt es im Berg auch dort noch ein Durchkommen, wo normalwüchsige Erwachsene stecken bleiben.

Zur Ausrüstung der Bergmänner gehörte nebst Laterne, Schaufel und Spitzhacke auch eine stark gepolsterte Kragenmütze mit Schulterschürze, eine Art Schutzhelm, der vor tropfendem Wasser und herunterfallenden kleinen Steinen schützte. Der Zipfel der Mütze war gekrümmt, weil die Stollen tief waren, und er war rot, damit man seine Kumpels im fahlen Licht erkennen konnte. Da viele Bergwerksleute aus dem sonnigen Süden stammten, machten sie auf die blassen Einheimischen einen exotischen Eindruck und traten bald als Kobolde und Zwerge in Märchen und Sagen in Erscheinung. Meist attestierte man ihnen Fleiss, positive Kraft und Hilfsbereitschaft.

An europäischen Königshöfen waren kleinwüchsige Komödianten sehr beliebt. Auch am Hofe der Medici in Florenz. Der Zeichner und Kupferstecher Jacques Callot (1592–1635) war derart begeistert von den abendlichen Darbietungen, dass er zahlreiche Karikaturen anfertigte. Sie verbreiteten sich rasch in Europa und inspirierten Maler und Bildhauer. Aus Callots Radierungen entwickelte sich der kitschige Gartenzwerg, der heute als Inbegriff des spiessigen Kleinbürgers gilt.

1958 entwarf der belgische Comiczeichner Peyo Pierre Culliford (1928–1992) blaue Zwerge und nannte sie «Les Schtroumpfs». Doch erst 23 Jahre später erreichten die Schlümpfe dank einer US-Filmproduktion Kultstatus und eine Milliarde Umsatz mit Merchandising-Artikeln.

Im deutschsprachigen Raum sorgte in den 1960er-Jahren ein liebenswerter Kobold für Aufsehen, der «Pumuckl» von Schreinermeister Eden. Er prophezeite: «Ich komm’ noch öfter auf die Welt.»

Zum Entsetzen von Frank Ullrich, Gründer der Internationalen Zwergenpartei (IZP), wurde der kleine Bergmann als geiler Lustzwerg wiedergeboren, der sich mit einer vollbusigen Gartenzwergin paart. Ullrich sah deutsches Kulturgut bedroht und verlangte von der Antidiskriminierungsbehörde ein Verbot, denn «ein Gartenzwerg hat keinen Sex. Er hat keine Gelüste. Er braucht keine Frau!».


Claude Cueni (66) ist Schriftsteller und lebt in Basel. Er schreibt jeden zweiten Freitag im Blick. Soeben ist sein Thriller «Dirty Talking» erschienen.


 

Rezension: Dirty Talking im Schweizer Monat

schweizermonat.ch

– 01. Dezember 2022 06:03

Kultur

Kultur, Rezension Ausgabe 1102 – Dezember 2022 / Januar 2023

Dreck am Stecken

Claude Cueni: Dirty Talking. St. Gallenkappel: Edition Königstuhl, 2022.

Peter Kuster

Er ist witzig und schlagfertig. Er sorgt sich um die Nächsten, nicht nur um seinen alten jüdischen Nachbarn, sondern auch um seine wenig präsentablen Althippie-Eltern. Und er wurstelt sich recht anständig durch sein unspektakuläres Leben im Basler Mikrokosmos. Doch der mittelalte Stand-up-Comedian und Single Bobby Wilson muss, nicht ganz ohne eigenes Zutun, zunächst tief fallen. Erst als er sein Schicksal annimmt, kann er geläutert ein fast schon romantisches Happy End finden.

«Dirty Talking», der Titel von Claude Cuenis jüngstem Werk, ist aber alles andere als ein klassischer Bildungsroman. Vielmehr wird das Programm bereits im ersten Kapitel (das auch eine Triggerwarnung enthält) explizit definiert. Der Autor versteht unter Dirty Talking primär das Löcken gegen den Zeitgeist der Political Correctness, aber auch deftiges Fluchen und schlüpfrige Sprüche. Er geizt weder mit dem einen noch dem anderen und nimmt keinerlei Rücksichten. Das macht die Story flott und die Lektüre leicht, auch wenn manchmal etwas dick aufgetragen wird. So thront die wohl unsympathischste Figur des Romans als Bischof in Mariastein und ist ein übler Pädophiler. Aber was wäre Dirty Talking ohne Klischees? Und wie liesse sich einigermassen eine gedankliche Ordnung in die chaotische Welt bringen, wenn nicht mit der Hilfe von Klischees?

Das Buch ist auch ein Thriller, und dazu gehört eine rechte Portion Dreck und Gewalt. Es gibt Dreckskerle als Täter, und es gibt nicht ganz makellose Opfer, das prominenteste natürlich der Protagonist Wilson. Doch Leichen gibt es nur eine, und der Tod ist nicht mal Folge einer Ausseneinwirkung. Vielmehr handelt es sich um den hochbetagten Nachbarn, der im gelobten Land friedlich in Wilsons Armen entschläft. (Schweige-)Geld und (Kunst-)Geist sowie (Schuld-)Gefühle sind weitere Zutaten, die Cueni einsetzt, und das alles passt gut in eine Lebenswelt, die von einer langsam verblassenden christlich-jüdischen Kultur geprägt ist.

Apropos christlich: Wer ein anregendes Geschenk sucht, kann Cuenis Werk durchaus unter den Weihnachtsbaum legen – sofern der oder die Beschenkte Sinn für etwas deftigen Humor hat und nicht allzu katholisch ist.

125 Blick »Beruf: Asphaltkleber«

Am Anfang war der Pudding. Eine WG, die sich Kommune I nannte, wollte am 6. April 1967 US-Vizepräsident Hubert H. Humphrey bei seiner Ankunft in Deutschland mit Pudding begrüssen bzw. bewerfen, um gegen den Vietnamkrieg zu protestieren. Ein V-Mann verriet den Plan. Als wenig später der persische Schah Reza Pahlavi anreiste, wurde der Demonstrant Benno Ohnesorg von einem Polizisten erschossen. In Frankfurt brannten Kaufhäuser, und der radikale Kern der Kommune I flüchtete in den Untergrund, gründete die RAF, die Rote Armee Fraktion. In der Isolation verlor sie vollends den Bezug zur Realität. 32 Menschen fielen ihrem Bombenterror zum Opfer. Das Einzige, was sie erreichten, waren schärfere Gesetze.

Am 4. Februar 2019 hielt Roger Hallam, der Co-Gründer von Extinction Rebellion, eine Rede vor Amnesty International in London: «Wir werden die Regierungen zum Handeln zwingen. Und wenn sie nicht handeln, werden wir sie zur Strecke bringen und eine Demokratie nach unseren Bedürfnissen kreieren. Und ja, einige mögen bei diesem Prozess sterben.»

Den politischen Weg lehnen Klimaextremisten ab. Ob aus Faulheit, Ungeduld oder fehlenden Möglichkeiten zur Selbstdarstellung, sei dahingestellt. Da sie mit ihren Aktionen nicht das Klima retten, sondern die arbeitende Bevölkerung verärgern, wird die entstehende Frustration einige radikalisieren.

Im Gegensatz zur RAF werden sie aber keine Banken überfallen. Sie haben Geld. Die kalifornische Stiftung Climate Emergency Fund finanziert ein weltweites Netzwerk von Lemmingen und bezahlt Trainings, psychologische Betreuung, Windeln, Klebstoffe und Medienschulung. Das Geld der Stiftung stammt von Millionenerbinnen wie Aileen Getty, Enkelin des Erdöl-Tycoons J. Paul Getty. Ihre Beweggründe?

Der schwedische PR-Manager und Börsenprofi Ingmar Rentzhog war Vorreiter. Er entdeckte Greta Thunberg und gründete das Unternehmen We Don’t Have Time. Mit ihr akquirierte er für seinen Aktienfonds Investorengelder in Millionenhöhe. Klimarettung als lukratives Businessmodell? Wieso nicht. Leider bleiben einige dabei in ihren Weltuntergangsfantasien haften, denn der Beruf «Asphaltkleber» hat keine Zukunft. Die Zivilisation hingegen schon.


Ein umfassender Bericht über die »Letzte Generation« erschien am 8.1.2022 im österreichischen Magazin PROFIL. Autor: Clemens Neuhold.

https://www.profil.at/oesterreich/letzte-generation-kleben-fuers-klima/402210078

Auszug:

Plakate, Flyer, Banner und Superkleber finanzieren die Aktivisten über einen sogenannten Climate Emergency Fund. In diesen Fonds zahlen laut Aktivistin Thurner „reiche Leute ein, die ein schlechtes Gewissen haben“. Wer diese Gönner genau sind, wisse sie nicht. Thurner gibt an, demnächst über den Fonds ein freiberufliches, versteuertes Nebeneinkommen über 20 Wochenstunden Aktivismus zu beziehen-über eine Kontaktadresse in Deutschland. Mehr verrät sie nicht.

©© Wie mich Ben Hur vor 22 Jahren vom Rauchen befreite

 

Kaum hatte ich als Teenager mit Rauchen angefangen, wollte ich wieder damit aufhören. Aber es war kompliziert. Das Mädchen, das ich gerade kennengelernt hatte, rauchte. Sie bot mir eine Zigarette an. Ich wollte die Frau, aber nicht die Zigarette, und dachte, damit ich die Frau bekomme, muss ich wohl die Zigarette nehmen. Die erste Mary Long schmeckte scheusslich, aber es war der Beginn einer grossen Jugendliebe.

Jahre später wollten wir beide mit dem Rauchen aufhören. Wir warfen unsere Zigaretten in den Müll und schauten uns den Dokumentarfilm von Mario Cortesi an: «Der Duft der grossen weiten Welt» (1980). Er zeigte Cowboys, die durch die Prärie reiten, Marlboro-Männer. Doch als sie aus dem Sattel stiegen und zu reden begannen, verrutschte uns das Gesicht: Die harten Kerle hatten einen Luftröhrenschnitt, und ihre Stimmen waren kaum verständlich. Der Schock sass tief. Jetzt brauchten wir wirklich eine Zigarette.

Dann hörten wir wieder auf. Bis zum Geburtstag meiner mittlerweile verstorbenen Frau. Weder die Blumen noch die Uhr noch meine Kochkünste machten sie glücklich: «Könntest du uns wenigstens Zigaretten holen?»

So ging das ewig weiter. Wenn wir gemeinsam mit Rauchen aufhörten, entwickelte meine Frau Hyperaktivitäten, sie mutierte zu einer weiblichen Ausgabe von Meister Proper. Ich hingegen wurde zum schweigsamen Couchpotato, der sich Western und historische Monumentalfilme anschaute. Es blieb kompliziert.

Einmal bestellten wir uns vom Bundesamt für Gesundheit Hochglanzbroschüren mit Abbildungen von Raucherbeinen und kaputten Lungen. Wir klebten die Blätter an die Küchenschränke. Und rauchten eine Mary Long. Wir waren noch keine 30 und dachten, dass alte Menschen zu einer anderen Rasse gehören und alte Kranke sowieso. Und Churchill war immerhin 91 geworden. Wir dachten, wir würden ewig jung und gesund bleiben. Irgendwie.

In den Medien erschienen vermehrt Artikel, die auf die Gefährlichkeit des Rauchens hinwiesen, doch die Sitzungszimmer bei Fernsehanstalten waren immer noch so verqualmt wie Pennsylvania nach der Schlacht von Gettysburg. Mir erging es wie Clint Eastwood. Jedes Mal wenn er seinen Zigarillo wegspickte und einen Bad Guy vom Pferd schoss, zündete er sich den nächsten Glimmstängel an. Kein wirklich gutes Vorbild.

Als Lucky Luke nach 30 Millionen verkaufter Alben dem blauen Dunst abschwor, wurde der Wilde Westen zur Non-Smoking Area. Dieter Scholz hätte ein Vorbild sein können. Er trampte meilenweit für eine Camel durch die Serengeti und gab nach sechs Jahren das Laster auf. Doch Jahre später gestand er, er sei ein Fake-Raucher gewesen, er habe nie geraucht. Anders als der Marlboro-Mann Wayne McLaren. Er starb 1992 an Lungenkrebs.

Meinen 474. Versuch startete ich in der Nacht auf den 1. Januar 2000. Ich zündete mir einmal mehr «die letzte Zigarette» an und schaute mir einen Film auf DVD an: «Ben Hur» mit Charlton Heston. Ich dachte: Was waren das doch für arme Schweine auf diesen römischen Galeeren, und nach einem weiteren Glas Rotwein fühlte ich mit Charlton Heston und dachte: #MeToo-, ich sei eigentlich auch ein armes Schwein, das in den Galeeren der Zigarettenindustrie angekettet sei ohne Aussicht auf Befreiung.

Verzichtet man aufs Rauchen, fängt man früher oder später wieder an. Manchmal aus Frust, manchmal aus Freude, man ist da nicht so wählerisch, eine Ausrede findet sich immer. Niemand verzichtet gerne. Ich wollte dieses Mal nicht verzichten, sondern mich befreien. Wie Ben Hur. Das war neu. Obwohl in der römischen Kriegsmarine keine angeketteten Sklaven auf den Ruderbänken sassen, sondern durchtrainierte Legionäre, wurde Ben Hur Teil meiner Autosuggestion. Ich überlebte die Tortur der ersten Tage, und wie fast alles im Leben wird Neues nach einiger Zeit zur Gewohnheit. Das gilt für das Gute wie auch für das weniger Gute.

Sparen Sie sich also all die teuren Ratgeber. Der Sieg beginnt im Kopf, das ist nicht nur im Fussball so. Beim Rauchen lautet das Schlüsselwort:

Befreien, nicht verzichten.

Und ja, ich bin immer noch Nichtraucher.


Soeben erschien der Thriller DIRTY TALKING

Rezension »Dirty Talking«

Von Stefan Millius / 23.11.2022


Es sei der erste «anti-woke Roman der Schweiz», sagt der Autor Claude Cueni über seinen neuesten Thriller. Daran lässt er von Beginn an keinen Zweifel. Dort liefert ein unbekannter Erzähler eine Ode an das Fluchen, eine Absage an diplomatische Höflichkeit und beschönigende Beschreibungen. Eine perfekte Grundlage für das, was danach kommt.

«Dirty Talking» ist die Geschichte von Bobby Wilson aus Basel, gezeugt und aufgezogen von Alt-Hippies, die selbst im hohen Alter nicht aus ihrer Haut können. Er ist die Sorte ewiger Verlierer, die man gleich ins Herz schliesst. Der Halbtags-Journalist träumt von einer Karriere als Comedian. In dieser Rolle erleben wir ihn mehrfach, weil er seine Einkommensquellen verliert und sich ein Kleintheater seiner erbarmt.

Die Einschübe von der Bühne sind lustvolle Publikumsbeschimpfungen, prallgefüllt mit all dem, was man heute «nicht mehr sagen darf». Der Autor lässt seinen Helden über Blondinen herziehen, von «Indianern» sprechen oder einen Ausflug in die Religion wagen. «Okay, okay, was sagte der liebe Gott, als er Eva schuf: ‹Hirn ist alle, jetzt gibt’s Titten!›» Das Publikum schwankt zwischen Empörung und Faszination. Nach dem ersten Lachimpuls kommt die Frage: Darf ich denn?

Eher als ein klassischer Thriller ist der Roman ein abgedrehter Roadtrip, auch wenn sich die Story grösstenteils in der Stadt Basel abspielt. Der kleine Schauplatz ist Bobby Wilsons Welt, seine einzige Konstante. Er braucht Geld und konstruiert selbst aus dem flüchtigsten Zufall eine scheinbare Verdienstmöglichkeit. Weil er weder mit einem kriminellen noch wenigstens mit einem unternehmerischen Gen gesegnet ist, geht das meistens schief. Mehr noch, er ruft damit Leute auf den Plan, die nicht besonders viel Skrupel haben und ihm auf den Fersen sind. Mit jedem Schritt reitet sich Wilson noch tiefer ins Elend – oder in die Scheisse, um in der Sprache des Romans zu bleiben.

Wellness auf Papier

«Dirty Talking» lebt von den Figuren, die Wilsons Wege kreuzen. Da tummeln sich unter anderem der Bischof von Basel, dessen zwei gewaltbereite mexikanische Handlanger, ein Ex-Fussballprofi, der heute Occasionsfahrzeuge verkauft, eine vorbestrafte Tankstellenverkäuferin, ein betagter Nachbar mit einem wertvollen Gemälde und ein schmieriger Anwalt mit politischen Ambitionen. Es ist spürbar, wie viel Spass es dem Autor gemacht hat, immer haarscharf an der Überzeichnung vorbei Charaktere zu zeichnen, welche die Story in eine neue Richtung lenken.

Bobby Wilson ist der festen Überzeugung, bald aus eigener Kraft aus der Misere herauszufinden. Er passt seine Pläne laufend der Situation an, ohne wirklich einen Plan zu haben. Aber wir werden nicht mühsam durch seine inneren Zweifel gepeitscht oder mit bedeutungsschweren Monologen eines Versagers gequält. Es ist eine rasante Erzählung mit Dialogen, wie sie wirklich geführt werden und die nicht zuerst auf ihre politische Korrektheit geprüft wurden. «Dirty Talking» ist eine Art Wellness auf Papier. Eine Heilkur für alle, die es satthaben, bei jedem Gespräch wie auf Eiern zu laufen, weil heute so viel Fettnäpfchen warten.

124 Blick »Der Bulle von der Wallstreet«

Blick-Kolumne Geschichte vom 11. November 2022


Als der Spanier Hernán Cortés mit seinen 550 Begleitern im Jahr 1519 die mexikanische Ostküste erreichte, brachte er den Azteken nicht nur Krankheit, Tod und Verderben, sondern auch die Unsitte des Stierkampfs. Im Lauf der Jahrzehnte fand in den meisten spanischsprechenden Ländern eine kulturelle Aneignung statt.

Der Brauch entwickelte sich in jedem Land etwas anders. Die Mexikaner ersetzten den Stierkämpfer durch einen Bären. In Texas, das bis 1845 zu Mexiko gehörte, wählte man Bullen mit langen Hörnern (Longhorns) und hetzte sie in einer Arena gegen angekettete Grizzlybären. Besonders beliebt waren diese blutigen Kämpfe bei den Goldgräbern in Kalifornien während des Goldrauschs (1848–1854).

Bulle und Bär hatten unterschiedliche Kampftechniken. Während der Bulle mit gesenktem Kopf angriff und versuchte, den Gegner aufzuspiessen, von unten nach oben, wehrte sich der Bär in Bud-Spencer-Manier und versetzte dem Angreifer einen wuchtigen Prankenschlag von oben nach unten.

Es war schliesslich der spanische Autor Don Joseph de la Vega (1650– 1692), der mit seinem 1688 erschienenen Standardwerk über die Amsterdamer Börse Bulle und Bär auf das Börsenparkett hievte. In seiner moralisierenden Streitschrift «Verwirrung der Verwirrungen» steht der Bulle wegen seiner Kampftechnik für steigende Kurse, der Bär für fallende Kurse.

Die Bezeichnung «bullish» für Optimisten und «bearish» für Pessimisten hat sich bis heute gehalten. Der Bildhauer Arturo Di Modica (1941–2021) glaubte an die Macht der Wall Street und setzte 1989 mit seiner drei Tonnen schweren Bronzeskulptur dem «Charging Bull» ein Denkmal nahe der New Yorker Börse.

Es waren jedoch weder der Bär noch diverse Vandalenakte, die dem Goldenen Kalb der «Raubtierkapitalisten» die Stirn boten, sondern ein kleines, furchtloses Mädchen («Fearless Girl») aus Bronze, erschaffen von der Künstlerin Kristen Visbal (59). Sie protestierte 2017 gegen den Mangel an weiblichen Führungskräften in amerikanischen Chefetagen. Doch der Bulle war stärker und vertrieb das selbstbewusste Kind von der New Yorker Stock Exchange.

Und der Bär? Für Pessimismus gibt es an der Wall Street keinen Standplatz. Denn: «Only the sky is the limit», nur der Himmel ist die Grenze.


Claude Cueni (66) ist Schriftsteller und lebt in Basel. Er schreibt jeden zweiten Freitag im Blick. Soeben ist sein Thriller «Dirty Talking» erschienen.

Die Bronze-Skulptur des furchtlosen Mädchens bot dem Börsen-Bullen die Stirn.

©© »Prosecco Moralismus«

Für Einfachgestrickte ist Putin Russland und Russland ist Putin. Folgerichtig nötigen sie Bäckereien ihren #Russenzopf umzubenennen. Die Basler Grossbäckerei Sutterbegg nennt das süsse Gebäck nun Nusszopf, bei der Confiserie Steinmann in Thun heisst es nun Hefestollen, in der Baser Edelconfiserie Gilgen: Hefesüssgebäck. Grossartig! Jetzt muss sich Putin vor Schreck gleich mit beiden Händen am Tisch festkrallen.

Die russische Geschichte ist jahrtausendealt, Putin etwas weniger. Mit Russland assoziere ich Gorbatschow, Kasparov, Marina Owsjannikowa, Dostojewski, Leo Tolstois »Krieg und Frieden«, Matrjoschka Puppen, Wodka, Mongolensturm, Peter der Grosse, Lenin, Stalingrad usw. usf. Was hat das mit Putin zu tun?

Putin hat den barbarischen Einmarsch in die Ukraine befohlen. Nicht der Russenzopf. #Putin ist Russe. Aber Russland ist nicht Putin. Man ist stets auf der sicheren Seite, wenn man jetzt pauschal die gesamte russische Kultur verteufelt und cancelt. Was für ein undifferenzierter, opportunistischer Prosecco Moralismus zur täglichen Imagepflege.

Ich habe in Sankt Petersburg einen jungen Kollegen. Er ist orthodoxer Jude, in der Ukraine geboren, hat einen russischen Pass, seine gesamte Verwandtschaft ist russisch-ukrainisch durchmischt, er entzog sich dem Kriegsdienst und verlegte sein Business nach Armenien. Als auch dort der Krieg ausbrach, floh er in die Türkei. Ist er für Putins Krieg mitverantwortlich?


Soeben erschien der Thriller »Dirty Talking«.


Blick 021 »Besuch aus dem Jenseits«

Allerheiligen. Diese Kolumne erschien am 19. Oktober 2018 als Nummer 21.


 

«Alle Menschen fürchten sich vor Samhain. Sie bleiben zu Hause und setzen sich ans Feuer. Wenn sie ein Geräusch hören, stellen sie sich taub. Sie stehen nicht auf und schauen nicht nach. Sie wissen, es sind die Toten, die sie heimsuchen. Man spürt ihr Kommen, ihren Atem. Die Anderswelt vermischt sich mit unserer Welt. Wer Fragen an die Götter hat, stellt sie in der Nacht von Samhain.»

 

So beschrieb ich einst in meinem historischen Roman «Das Gold der Kelten» das irisch-keltische Fest, das in der Nacht zum 1. November gefeiert wird. Das Ahnenfest läutet die dunkle Jahreszeit ein. Es hat einige hundert Jahre gedauert, bis daraus das Fest «aller Heiligen» wurde.

 

Im frühen Christentum gab es bald einmal mehr als 365 heiliggesprochene Verstorbene, und man konnte nicht mehr jedem einen persönlichen Jahrestag widmen. Papst Bonifatius IV. griff deshalb 609 n. Chr. zum Rotstift und versetzte «alle Heiligen» auf den ersten Sonntag nach Pfingsten. Das hielt die Heiden nicht davon ab, weiterhin am 1. November ihr Totenfest zu feiern. Also verschob Papst Gregor IV. im Jahr 835 den Tag «aller Heiligen» auf den 1. November. So wurde aus einem heidnischen Kult ein christlicher Feiertag.

 

Irische Einwanderer brachten Samhain in die USA. Der Kult schwappte von Europa über, verschmolz mit regionalen Bräuchen und verkam als «Halloween» zu einer Karnevals-Variante von «The Walking Dead».

 

Heute pilgern immer weniger Christen an Allerheiligen auf die Friedhöfe, um in ehrfürchtiger Stille den Verstorbenen zu gedenken. Wesentlich entspannter gedenkt man auf den Philippinen der Toten. Man picknickt auf ihren Gräbern, trinkt mit ihnen San-Miguel-Bier (also stets zwei Flaschen aufs Mal), man hört Musik, pokert und zeigt den Verstorbenen, dass sie immer noch Teil der Familie sind.

 

Auch in Mexiko ist «Der Tag der Toten» (Día de Muertos) ein spektakuläres Volksfest, gigantische Skelette werden durch die Strassen getragen, in den Bäckereien werden süsse «Knochen» verkauft.

 

Wie Ostern und Weihnachten ist mittlerweile auch Allerheiligen ein Fest des Detailhandels geworden, an dem nicht Osterhasen oder Christbaumkugeln, sondern Halloween-Masken das Geschäft beleben.

Blick 123 »Jeder will Star sein, keiner Publikum«

Die Strassen waren leer gefegt, Theater, Kinos und Universitäten geschlossen, gebannt starrten im Januar 1962 knapp 90 Prozent der deutschsprachigen Fernsehzuschauer in ihre klobigen Röhrengeräte. War der Papst zum Islam konvertiert? Waren Ausserirdische in St. Moritz gelandet? Nein, gesendet wurde der Krimi-Sechsteiler «Das Halstuch» von Francis Durbridge.

Da der Fernseher noch kein Massenmedium war, traf man sich bei Nachbarn, Freunden oder Verwandten zum geselligen Mörderraten. Schwarz-weiss waren nicht nur die bewegten Bilder, sondern auch die Ansichten. Man war entweder männlich oder weiblich, katholisch oder protestantisch, Cervelat-Fan oder Steak-Fan.

Heute ist man entweder Fleischesser, Flexitarier, Pescetarier, Vegetarier, Veganer oder Frutarier. Man ist nicht mehr entweder männlich oder weiblich, sondern polysexuell, demisexuell, asexuell, ambisexuell oder autosexuell. Hauptsache anders.

Demonstriert man gegen das Klima, will man nicht Fusssoldat in der Fridays-for-Future-Bewegung sein, sondern gründet eine neue Gruppe mit neuem Namen und klebt an anderen Schauplätzen. Betreibt einer im Museum Foodwaste mit Tomatensuppe, benutzt der Nächste Kartoffelstock. Hauptsache unverwechselbar und medientauglich. Das sei für eine erfolgreiche «Jagd nach dem nächsten Selfie» hilfreich, schreibt der ehemalige FFF-Aktivist Clemens Traub. 15 Minuten Ruhm.

Jede radikale Gruppe schärft ihre Konturen, indem sie sich gegen andere abgrenzt und diese anfeindet. Mit dem Untergang der Landeskirchen und des linearen Fernsehens ist gemeinsames Erleben kaum noch möglich. Jeder ist sein eigener Programmdirektor, sein eigener Verleger, und alles, was er anfasst, kann personalisiert werden, von der Kaffeetasse bis zur Fototapete.

Alles soll einmalig sein wie das Individuum selbst. Jeder ringt um Aufmerksamkeit, will ein Star sein wie damals im Hotel Mama, als Quengeleien vor den Schokoriegeln an der Ladenkasse zum Erfolg führten. Keiner will Publikum sein. Mit der Selfie-Kultur wurde die Zellteilung der Ich-Gesellschaft noch beschleunigt.

Trotzdem wollen wir Teil von etwas Grösserem sein, aber innerhalb dieser Gruppe unverwechselbar. Sei es auch nur durch ein Tattoo.


Soeben erschienen »Dirty Talking«


 

Blick 122 »1982. Als Reagan eine russische Gaspipeline zerstörte»

 

Mit dem geplanten Raketenabwehrsystem SDI im All wollte US-Präsident Ronald Reagan (1911–2004) das Wettrüsten gewinnen und das «Evil Empire» (Reich des Bösen) in den Ruin treiben. Mehrere Hundert Sowjet-Spione waren im Westen unterwegs, um moderne Technologie zu stehlen. Die CIA belieferte einige mit manipulierter Software für die Pipeline-Steuerung, um die grösste Einnahmequelle der «Achse des Bösen» zu zerstören.

Damit kein Verdacht aufkam, funktionierte die Software anfangs reibungslos. Erst nach einiger Zeit wachte der im Sourcecode versteckte Trojaner auf und veränderte die Einstellungen für Pumpen, Turbinen und Ventile. Eine der grössten Gaspipelines der UdSSR flog 1982 in die Luft. Der KGB sprach von einem technischen Defekt, andere von Sabotage.

Der Mathematiker David Grimes analysierte bereits in den 1960er-Jahren die populärsten Verschwörungstheorien und errechnete eine Wahrscheinlichkeit von 95 Prozent, dass ein Geheimnis nach durchschnittlich vier Jahren gelüftet wird. Weil es schlicht zu viele Mitwisser gibt. Die einen beginnen zu plaudern, weil sie sich ungerecht behandelt fühlen, andere wollen auf dem Sterbebett noch reinen Tisch machen.

Bei der transsibirischen Pipeline war es schliesslich Thomas C. Reed (88), Sonderberater des Nationalen Sicherheitsrats unter Reagan, der nach einem Vierteljahrhundert das Geheimnis lüftete.

Heute fragen wir uns, wer für die Sabotage von Nordstream 1 und 2 verantwortlich ist. TV-Kommissar Columbo würde nach dem Prinzip «Cui bono?» vorgehen – «Wem zum Vorteil?» – und die USA aufgrund erdrückender Indizien vorladen, zumal diese nie einen Hehl daraus gemacht haben, dass sie Nordstream verhindern werden.

Trotzdem macht es wenig Sinn, wenn sich die «Experten» jetzt gegenseitig anfeinden, denn sicher ist (im Augenblick) nur eins: Keiner weiss mehr. Gemäss David Grimes werden wir es eines Tages wissen.


Blick 121 »Und jetzt noch das Wetter«

Als das römische Imperium sein Reich nach Nordosten erweitern wollte, wurden sie von einem für sie ungewohnten rauen Klima mit Dauerregen, Nebel und Kälte überrascht. Die drei Legionen des Varius versanken mit ihren schweren Rüstungen im Morast und verloren die Schlacht im Teutoburger Wald. Das Wetter hatte den Sieg des germanischen Heerführers Arminius begünstigt.

Im Dezember 1941 nutzten die Japaner einen Taifun, um unentdeckt den US-Stützpunkt Pearl Harbour zu erreichen. Die japanischen Wetterauguren lagen richtig.

Wettervorhersagen sind seit dem Altertum bekannt und für Landwirtschaft und Militär von grossem Interesse. Ähnlich wie Chart-Techniker, die aufgrund der Börsenhistorie die Aktienkurse von morgen schätzen, notierte man früher Luftdruck, Temperatur und Niederschläge der letzten Tage, um das Wetter von morgen zu berechnen.

Doch erst mit der Erfindung des Telegrafen im 19. Jahrhundert wurden verlässliche Voraussagen möglich. Es war der französische Mathematiker und Astronom Urbain Le Verrier, der am 19. Februar 1855 der Pariser Akademie der Wissenschaften die erste wissenschaftliche Wetterprognose präsentierte. Sie war richtig. Er hatte sie aufgrund telegrafisch übermittelter Daten aus ganz Frankreich erstellt.

Auch heute sind Satellitendaten für das Europäische Zentrum für mittelfristige Wettervorhersage (EZMW) verlässlicher als Daten aus der Atmosphäre, die täglich von rund 3500 Flugzeugen geliefert werden. Die Verlässlichkeit beträgt für die nächsten 24 Stunden etwa 90 Prozent. Nicht nur Tourismuszentren würden sich wünschen, das Wetter beeinflussen zu können. Ist das möglich?

Bereits 1940 prophezeite US-Luftwaffenkommandant George Kenney: «Die Nation, die als erste die Wege von Luftmassen kontrollieren kann und lernt, Ort und Zeitpunkt von Niederschlägen zu bestimmen, wird den Globus beherrschen.»

Während des Vietnamkriegs beschoss die US-Armee Regenwolken mit Silberjodid, um diese über den Marschrouten der Nordvietnamesen abregnen zu lassen. In Thailand nützt man das Verfahren Fon luang (königlicher Regen), um Dürreperioden zu verhindern. In China arbeiten bereits 50’000 Wolkenkrieger, um gezielt «Wolken zu melken». Sofern welche da sind.

13 years later

An alle, die eine ähnliche Situation erleben.

Gebt nicht zu früh auf. Die Medizin macht unglaubliche Fortschritte, zahlreiche Krankheiten, die früher rasch zum Tod führten, werden heute zu chronischen  Erkrankungen, die das Leben verlängern. Obwohl ich gemäss Statistik seit Jahren tot sein müsste, lebe ich immer noch. Und dies, obwohl ich mittlerweile an einem weiteren Krebs erkrankt bin. Ich kann das nicht ändern, aber ich kann meine Einstellung dazu ändern.

Das jahrelange Martyrium eines Schmerzgeplagten unter dem Damokles-Schwert ist nicht einfach. Unzählige Spitaltermine, manchmal drei in einer Woche bei unterschiedlichen Fachärzten. Manchmal will man es beenden. Schmerzbekämpfung mit Todesfolge. Aber dann denke ich, okay, das hat bis morgen Zeit. Zweimal hatte ich bereits einen Sterbetermin vereinbart. Und am nächsten Morgen genoss ich Dinas frischgepressten Organgensaft.

Manchmal denkt man, wenn noch dies oder jenes hinzukommt, ist meine rote Linie erreicht. Aber der Mensch ist viel stärker als er glaubt, sonst hätte unsere Spezies nicht überlebt.

Die Tatsache, dass bei uns in der Schweiz Freitodbegleitungen möglich sind, gibt mir die Power, das durchzustehen! Gesunde können das selten verstehen, Politiker, die sich als Gutmenschen profilieren wollen, schon gar nicht. Ihnen fehlt es an Lebenserfahrung und Empathie.

Also: Dont give up! Never give up! 

Es gibt keinen Gott, es gibt kein Jenseits, es gibt nur dieses eine Leben, es ist einmalig, interessant, lehrreich und voller Komik. Was morgen geschieht, geschieht nicht heute, also geniesst diesen Tag.

Ich danke allen, die mit ihren Posts meinen Horizont erweitert und mich mit ihrem Humor erheitert haben.

Herzlichst

Claude Cueni

18.9.2022

An dieser Stelle bedanke ich mich beim anonymen Knochenmarkspender, bei allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Hämatologie des Basler Unispitals, bei meiner aussergewöhnlichen Frau Dina, bei meinem wunderbaren Sohn und meiner lieben Schwiegertochter. 

120 Blick »Schweizer Garde in Not«

«Natürlich besitzt der Vatikan ein Vermögen. Der Reichtum setzt sich in erster Linie aus Gebäuden und Kulturgütern zusammen. Die laufenden Einnahmen sind relativ bescheiden.» So begründete alt Bundesrätin Doris Leuthard, wieso Bund und Kanton einen Teil der 50 Millionen Euro für den Neubau der vatikanischen Gardekaserne übernehmen sollten.

Leuthard leitet das Patronatskomitee der steuerbefreiten Kasernenstiftung. Die von ihr beklagten «bescheidenen Einnahmen» generiert der Milliardenkonzern unter anderem aus Kirchensteuern, Börsengeschäften, Firmenbeteiligungen, Merchandising und Mietzinseinnahmen aus 5174 Liegenschaften.

Die 135 Schweizer Gardisten leben in vergammelten Kasernen aus dem 19. Jahrhundert. Erstaunlich, dass die Prediger der Nächstenliebe ihre Privatarmee nicht anständig unterbringen, zumal die Kirchenfürsten durchaus ein Flair für «schöner Wohnen» haben. Protzbischof Franz-Peter Tebartz-van Elst «renovierte» seinen Dienst- und Wohnsitz im deutschen Limburg für 31 Millionen Euro. Kardinal Tarcisio Bertone wollte in Rom ein 700-Quadratmeter-Penthouse beziehen, bis die italienische Zeitung «La Repubblica» darüber berichtete.

Egal ob man über das Luxusleben einiger Bischöfe und Kardinäle liest oder über die nicht mehr enden wollenden Sexualstraftaten, man kommt sich vor wie Bill Murray in «Und täglich grüsst das Murmeltier». Im April wurde bekannt, dass das Bistum Köln 1,15 Millionen Euro Spielschulden eines Priesters beglich und dieses Geld ausgerechnet dem Fonds für Missbrauchsopfer entnahm: Business as usual.

In der Schweiz gehörten 2020 nur noch 33,8 Prozent der Bevölkerung der katholischen Kirche an; 30,9 Prozent bezeichneten sich als konfessionslos. Mittlerweile gibt es wohl mehr Religionslose als Katholiken.

Dennoch gelang es Doris Leuthard, fast die gesamte Summe zu beschaffen. Von ihren ehemaligen Kolleginnen und Kollegen im Bundesrat erhielt sie fünf Millionen Steuergelder geschenkt. Ausstehend sind die 400’000, die der Luzerner Kantonsrat bewilligt hat. Dagegen haben die Schweizer Freidenker das Referendum ergriffen. Mit Erfolg. Am 25. September wird in Luzern abgestimmt. 400’000 Franken, das entspricht der Standard-Entschädigung für 67 Missbrauchsopfer.

Leseprobe »Dirty Talking« Seite 161

Bobby Wilson überlegte, ob er ins gegenüberliegende Hotel Drei König fliehen sollte, dort hatte bereits Napoleon auf dem Klo gesessen, aber ein Rudel Velofahrer kam ihm entgegen, und es waren so viele, dass Wilson im ersten Augenblick überlegte, ob es bereits Zeit für die Tour de France sei. Sie waren alle schwarz vermummt, obwohl die Corona- Pandemie längst Geschichte war. Einige trugen bunte Fastnachtskostüme und schwenkten Transparente. Sie forderten kostenlose Velos für alle, wollten aber auch an drei kurdische Revolutionärinnen erinnern und den feministischen Antifaschismus bestärken. Das Transparent mit dem geforderten Fleischverbot ging beinahe unter.

Als im Hotel Drei König die ersten Fensterscheiben in Brüche gingen und der gegenüberliegende Kiosk geplündert wurde, war Wilson klar, dass es hier um einen ernsthaften Protest gegen den Kapitalismus ging.

Die Polizei fuhr mit ihrem Kastenwagen vor, einige Beamte stiegen aus, aber es war noch unklar, ob sie für die kosmopolitischen Bourgeois Bohémiens Spalier stehen oder sie daran hindern wollten, die Innerstadt zur Rettung des Klimas zu verwüsten. Das war eben auch noch ein Anliegen.

Wilson hetzte zur Schifflände und blieb vor der Brücke stehen, die Mittlere Brücke genannt wurde, weil sie in der Mitte der Altstadt lag und die aussterbenden Shopping Streets mit den verfickten No-go-Areas auf der anderen Seite des Rheins verband. Doch der Polizeieinsatz galt ihm.

 

 

 

119 Blick »Blackout: Die Nacht der Tiere«

Was passiert, wenn tatsächlich der Strom ausfällt? New York hat die Erfahrung gemacht – sie war nicht gut. Nicht einmal Superman konnte die Bürger vor Kriminellen schützen.

Claude Cueni

Man schrieb den 13. Juli 1977, als Regisseur Richard Donner (1930–2021) seiner Filmcrew das Zeichen gab: Action! Sie drehten in New York gerade den ersten Teil der Comicserie «Superman». Doch um 21.34 Uhr Ortszeit sorgte nicht der Hauptdarsteller Christopher Reeve für Action, sondern zwei Blitzschläge, die einen Transformator der städtischen Elektrizitätsgesellschaft lahmlegten. Die Nebenrolle spielte eine lockere Schraube in einer Schaltstelle, die zu einem Kurzschluss geführt hatte.

New York ohne Strom, alle Strassen- und Schaufensterbeleuchtungen erloschen, U-Bahnen blieben stehen, Tausende blieben in Fahrstühlen stecken.

Während Celebritys wie Woody Allen und Al Pacino auf der Upper East Side «Open-Air-Blackout-Party» feierten, brach in anderen Gegenden das Chaos aus. Menschen zertrümmerten Schaufenster und nahmen alles mit, was nicht niet- und nagelfest war. Verzweifelte Ladenbesitzer verteidigten mit Baseballschlägern und Schusswaffen ihre Existenzgrundlage. Vergebens. Gegen die marodierenden Horden, die reihenweise Häuser abfackelten, hatten sie keine Chance.

25-Stunden-Fest für Plünderer

Ganze Stadtviertel wurden zerstört, Plünderer überfielen Plünderer. Die 8000 eingesetzten NYPD-Polizisten waren überfordert, etliche wurden schwer verletzt. «Das ist die Nacht der Tiere», sagte ein Polizist. Als das Licht nach 25 Stunden wieder anging, rief der Bürgermeister: «Christmas is over.»

Auch wenn die Schweiz nicht die USA ist und ein möglicherweise monatelanger Strommangel im Winter angekündigt würde: Die Haut der Zivilisation ist dünn. Informieren die Behörden im Voraus, in welchen Quartieren der Strom für einige Stunden abgestellt wird, sind auch Kriminelle informiert.

Wie wärs in der Schweiz?

Im Juni hatte ein Mob von rund 2500 jungen Nordafrikanern den italienischen Badeort Peschiera del Garda heimgesucht, Läden geplündert und Frauen sexuell bedrängt. Es braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, was bei einem längeren Stromunterbruch in Europas No-go-Areas zwischen Birmingham, Berlin und Malmö geschieht.

Und in der Schweiz? Wird der Staat seine Bürger schützen können? Gemäss Justiz- und Polizeidepartement haben die Anträge für Waffenerwerbsscheine (verglichen mit dem Vorjahr) um 25 Prozent zugenommen.


Soeben erschien der Thriller DIRTY TALKING.


 

118 Blick »Stellvertreterkriege«

Was haben die Kriege in Korea (1950–1953), Vietnam (1964–1975), Afghanistan (1979–1989) und Syrien (seit 2011) gemeinsam? Es sind Stellvertreterkriege der Grossmächte, weil eine direkte Konfrontation einen Atomkrieg bedeuten würde.

Die »New York Times« berichtet, dass die USA und England nicht nur Milliarden Dollar und Kriegsgerät in die Ukraine schicken, sondern auch »Militärberater«, die auf ukrainischem Boden logistische Hilfe leisten, Millitäroperationen vorbereiten und Ziele definieren, die dann ukrainische Soldaten mit westlichen Waffensystemen ins Visier nehmen. Der Krieg in der Ukraine ist ein klassischer Stellvertreterkrieg.

Ob man für diese Feststellung gescholten oder als Putinversteher diffamiert wird, hängt von der »richtigen Gesinnung« des Postboten ab. Leider erlaubt die politische Debatte mittlerweile nur noch schwarz oder weiss. Es sollte jedoch möglich sein, dass man Fakten vermittelt statt Meinungen von Personen, die nur darauf warten, dem politischen Gegner einen Strick zu drehen.

Putin hat einem barbarischen Überfall auf einen souveränen Staat begonnen und Kriegsverbrechen begangen. Wird Selinski dadurch zur Lichtgestalt? Vor dem Krieg durfte man erwähnen, dass Selinski gemäss den Pandora Papers ein millionenschwerer Oligarch mit dubiosen Firmen in den einschlägigen Steuerparadiesen ist. Heute muss man so tun, als würde der Ex-Schauspieler, der sich im Modemagazin »Vogue« mit seiner Frau als Celebrity inszeniert, die Freiheit des Westens verteidigen. Im eigenen Land tritt er diese mit Füssen und ist entsprechend umstritten, zumal er auch vor dem Krieg keine seiner blumigen Wahlversprechen eingelöst hat. In den USA wächst die Besorgnis, dass die westlichen Milliardenhilfen im zweitkorruptesten Land Europas nicht immer dort ankommen, wo sie sollten. Von den Russen ist bekannt, dass korrupte Offiziere Kriegsmaterial auf eigene Rechnung weiterverkaufen. Wieso sollte das beim Brudervolk Ukraine anders sein? Mentalitätsmässig gibt es wenig Unterschiede: Viel Pathos, Nationalstolz und groteske Übertreibungen.

Dass das erste Opfer des Krieges die Wahrheit ist, bewahrheitet sich auch in diesem völlig unnötigen Krieg, den sich kaum jemand gewünscht hat. Es sind fast immer Menschen im fortgeschrittenen Alter, die über Krieg und Frieden entscheiden. Und über jene, die noch eine Zukunft haben.


 Nächste Woche erscheint Cuenis neuer Thriller »Dirty Talking«.


 

117 Blick »Do you speak english?«

«Lasst uns ihre Sprache verwirren, dass keiner des andern Sprache verstehe!» In der biblischen Sage verhindert Gott den Turmbau zu Babel mit der «babylonischen Sprachverwirrung»: Fortan reden die Handwerker in 72 Sprachen aneinander vorbei und bringen keinen Stein mehr auf den andern.

Die EU wollte ein solches Chaos vermeiden. Doch sie wählte nicht eine einzige europäische Amtssprache, sondern lässt jährlich für 1,1 Milliarden Euro zwei Millionen Seiten in 24 Sprachen übersetzen. Obwohl praktisch alle Malteser Englisch sprechen, wird auch ins Maltesische übersetzt.

Jedes erfolgreiche Start-up, das mit weltweit verstreuten Freelancern arbeitet, pflegt Englisch als Business-Sprache. In meiner Familie sind die Muttersprachen Französisch, Deutsch, Chinesisch und Tagalog. Wie verständigen wir uns? Auf Englisch.

Wer seine Ferien in fremdsprachigen Ländern verbringt, macht die Erfahrung, dass man sich in Sierra Leone oder Hongkong kaum auf Deutsch, Französisch, Italienisch oder Rätoromanisch unterhalten kann, aber meistens auf Englisch. Von den über 7000 Sprachen, die auf der Welt gesprochen werden, ist Englisch, bedingt durch die britische Kolonialgeschichte, die Nummer eins.

Unsere Alltagssprache ist durchsetzt von englischen Ausdrücken, wir nehmen diese gar nicht mehr als fremdsprachig wahr. Wir hören englische Songs und schauen amerikanische Filme. Englisch ist die Sprache der Wissenschaft. Die grösste Ansammlung von Wissen liegt in Englisch vor.

Jeder kann sich autodidaktisch über die nationalen Sprachgrenzen hinaus weiterbilden, sofern er einen Internetanschluss hat und Englisch spricht. Die Karriereleiter von Jugendlichen schrumpft zur Bockleiter, wenn sie kein Englisch sprechen. Es wäre sinnvoll, wenn in Primarschulen Englisch als Zweitsprache eingeführt würde. In diesem Alter lernt man Sprachen schnell.

In der römischen Antike förderte Latein Verständigung und Zusammenhalt des Imperiums. Im Hinblick auf die vermehrte Zuwanderung aus bildungsschwachen Kulturen wäre Englisch als zweite Landessprache hilfreich für die Integration der Integrationswilligen. Vielleicht braucht auch die Politik einen Booster, um das aktuelle Sprachengesetz zu überdenken.


Am 22. August erscheint der neue Thriller DIRTY TALKING.


 

116 Blick »Wir wir zum Reisen gekommen sind«

Wie wir zum Reisen gekommen sind

Man reist ja nicht, um anzukommen, sondern um zu reisen», schrieb Goethe (1749–1832). Das war nicht immer so. Reisen hatte jahrtausendelang stets einen ganz bestimmten Zweck. Unsere Vorfahren waren Nomaden, immer unterwegs nach neuen Regionen, wo es genügend Nahrung gab. Auch Umweltkatastrophen zwangen sie zum Reisen beziehungsweise zum Verreisen. Bis sie schliesslich vor rund zehntausend Jahren sesshaft wurden und Viehzucht und Ackerbau betrieben.

In der Antike reiste man zu den Tempeln der Götter, wie man heute nach Santiago de Compostela oder Mekka pilgert. Nebst den Händlern, die berufsmässig reisten, waren Ferienreisen den Wohlhabenden vorbehalten, sie suchten im Sommer ihre Zweitwohnsitze am Meer auf. Allen anderen fehlten die Zeit und das Geld dazu.

Legionäre und Nichtadlige reisten meistens zu Fuss und legten dabei ca. 30 Kilometer am Tag zurück, in etwa die Distanz von Zürich nach Winterthur, eine Strecke, die wir heute mit dem Auto in 30 Minuten bewältigen. Es gab so was wie ein Fernstrassennetz mit Herbergen, die Reisende und die Pferde der Postboten und Kutscher versorgten und nebst Speis und Trank auch sexuelle Dienste anboten.

In der Renaissance (ca. 1400 bis 1620) sandte der europäische Adel seine Söhne auf die grosse Bildungsreise, die Grand Tour, die meistens nach Italien führte. Dass Reisen bildet, galt schon damals als Binsenweisheit. Unter Bildung verstand man auch das Sammeln erotischer Erfahrungen.

Mit dem britischen Reisepionier Thomas Cook (1808–1892) wurden erstmals Pauschalreisen in die entlegenen Kolonien des British Empire angeboten, das nach dem Ersten Weltkrieg sagenhafte 35 Millionen Quadratkilometer umfasste. Der technische Fortschritt der industriellen Revolution machte es möglich, dass nun Reisen dank Automobil, Eisenbahn und Dampfschiff günstiger und somit auch für den Mittelstand erschwinglich wurden. Die entstehende Tourismusbranche schaffte neue Jobs, die Reiseliteratur boomte, und Louis Vuitton (1821–1892) fabrizierte robuste Reisetruhen.

Doch erst in den 1960er-Jahren setzte dank höheren Realeinkommen, mehr Freizeit und günstigen Charterflügen der Massentourismus ein: Man reiste nicht mehr, «um anzukommen, sondern um zu reisen».


Am 22. August erscheint der neue Thriller DIRTY TALKING.


 

© Privilegierte Asphaltkleber

Die »Letzte Generation« klebt sich auf befahrene Strassen und legt den Verkehr lahm. Auf ihrer Plattform posten sie ihre Highlights, Videos, die erboste Autofahrer zeigen, die, (im Gegensatz zu den privilegierten Asphaltklebern) unterwegs zur Arbeit sind. Auch Ambulanzen, Feuerwehr und Hochschwangere sind motorisiert unterwegs. Für wen will die »Letzte Generation« also das Klima retten, wenn ihnen die Mitmenschen derart egal sind?

 

Oder geht es eher um die Jagd nach Selfies, wie der junge Aktivist Clemens Traub in seinem Buch »Future for Fridays« selbstkrititisch bemerkt? 

 

Die Rücksichtslosigkeit gegenüber der arbeitenden Bevölkerung halten sie für rechtens, bis ihre Forderungen erfüllt sind. Erpressungen, die in Hotel Mama funktionierten, »Nike-Schuhe oder Terror«, sind in der Öffentlichkeit nicht immer erfolgreich. Wer seine Lifestyle-Moral über den Rechtsstaat stellt, verkommt zur Sekte.

 

Tadzio Müller, einer der Wortführer, findet es legitim, in Zukunft Autos zu zerstören und Gaskraftwerke zu sabotieren. Er droht mit einer »Grünen Armee Fraktion« im Stil der »Roten Armee Fraktion«, die in den 1970er-Jahren Staat und Bevölkerung terrorisierten. Doch das Einzige, was die RAF damals errreichte, waren (nebst 33 Morden) schärfere Gesetze.

 

Die gute Nachricht zum Schluss: Es wird noch tausende Generationen geben, weil die Menschen, die technologische Innovationen entwickeln, nicht auf dem Asphalt kleben, sondern forschen und arbeiten.

 

© Agentur C – die Story

1985 gründete der erfolgreiche Schweizer Firmengründer Heinrich Rohrer (Sipuro – Rohrreinigung – SI phon PU tz – RO hrer) mit einigen Freunden den Verein »Agentur C« um mit Plakatkampagnen schweizweit Bibelverse zu verbreiten.

1998 starb der millionenschwere Exzentriker, der auf seinem Anwesen einen Venom-Kampfjet und eine Radgürtelkanone geparkt hatte.

Seitdem produziert der Verein allerlei Merchandising mit Bibelversen, vom Regenschirm bis zum Zuckerbeutel, verschenkt Bibeln und hängt regelmässig neue Plakate auf.

Auf Anfrage wird mir erklärt, dass ihre Zielgruppe alle Menschen in der Schweiz umfasst und leider immer wieder Plakate zerstört werden. Soll ich jetzt Voltaire bzw. seine Biografin zitieren? (Ich teile Ihre Meinung nicht, aber…)

An alle Neandertaler mit unterentwickelten Demokratieverständis: Hört auf, Plakate zu beschädigen. In dieser humorlosen Zeit brauchen wir mehr Comedy im öffentlichen Raum.

© Der Maler Jürg Kreienbühl

Chronist der Endzeit

Zum Tod des Malers Jürg Kreienbühl


© Von Aurel Schmidt


© Quelle: Basler Stadtbuch 2007 / Basler Zeitung vom 3. November 2007


 

 

Zu Jürg Kreienbühls letzten Werken gehört eine Reihe von Bildern, die er in einer <déchetterie>, einer Kehrichtverbrennungsanlage, in der Nähe von Paris gemalt hat. In der auf Hochglanz polierten Welt von heute suchte er seine Motive mit Vorliebe am entgegengesetzten Ende, dort, wo die Armut und die Misere zu Hause sind und sich die so­ zialen Abgründe auftun.

 

Er liebte es, Abfallhaufen zu malen, Friedhöfe, von Ölteppichen verseuchte Häfen. Nichts Schönes, nicht Erbauliches. Er hatte eine bestimmte Vorstellung vom Leben, das er an den dunkelsten Orten suchte, weil er überzeugt war, dass er es nur dort finden würde. Das gab seiner Malerei etwas Düsteres, gelegentlich Pathetisches, aber immer auch Authentisches. Malen hiess für ihn Zeugnis ablegen.

 

Jürg Kreienbühl wurde am 12. August 1932 in Basel geboren. Als junger Mensch hatte er ein Erlebnis, das ihn für das Leben prägte. Der Anblick einer verwesenden, von Maden befallenen Ratte, die er im Jahr 1953 in einer Abfallgrube in Reinach beobachtet hatte, löste in ihm beinahe traumatische Reaktionen aus. Er hat oft davon gesprochen. Mit einem Mal musste er erkennen, dass die Natur eine ungeheuerliche Maschine ist, die alles verschlingt. Sie kam ihm wie etwas Sinnloses vor, wie eine Demütigung des Menschen. Dass der Mensch die Krone der Schöpfung sei, hielt er für blanken Unsinn. Alles stirbt, zerfällt, löst sich auf, geht zu Grunde. Nirgends ist ein Sinn, eine Hoffnung, ein Ausweg.

 

Das waren Kreienbühls nihilistische Jahre. Mit 24 zog er nach Paris, wo er in der Banlieue in einer <roulotte>, einem Wohnwagen, unter Zigeunern, Nordafrikanern, Clochards hauste. Aber unter diesen Gestrandeten erfuhr er eine Menschlichkeit, die ihm den Weg zu einem neuen Verständnis des Lebens eröffnete.

 

Später, als er sich als Künstler einen Namen gemacht hatte, vergass er nie seine Elendsjahre. Clochards in erbärmlichen Verhältnissen, in demolierten Zimmern, an Tischen mit ausgetrunkenen Weinflaschen sitzend, desillusioniert, alles im Detail exakt gemalt, blieben ein bevorzugtes Thema von ihm. Auf diese Weise bekundete er seine Verbundenheit mit den Armen und Benachteiligten und hatte damit – paradoxerweise – Erfolg.

 

Seine Erfahrungen prägten seinen Stil. Er malte in realistischer Weise und liess kaum etwas anderes daneben gelten. Es war für ihn ausgeschlossen, die Welt, die er angetroffen hatte, anders wiederzugeben als in einer krassen Art. Bei allem, was er gesehen und erlebt hatte, gab es für ihn keine Möglichkeit, sich einfach in die ästhetische Unverbindlichkeit zurückzuziehen. Wenn es sein musste, konnte er in künstlerischen Fragen sogar richtig rabiat werden. Rote und blaue Quadrate und Kreise riefen einen heiligen Zorn in ihm hervor. Was kann einer, der nichts zu essen hat, damit anfangen? Dabei muss man sich Jürg Kreienbühl als einen Menschen vorstellen, der sich seinen Freunden gegenüber jederzeit liebenswürdig, grosszügig und hilfsbereit verhielt.

 

Seine grosse Verehrung für den Maler Edouard Vuillard (1868-1940) macht vieles an seinem Werk verständlicher. Doch der Realismus ist heute kein hoch gehandelter Stil. Was aber bedeutete Realismus für Kreienbühl überhaupt? Bedenkt man neben dem Erlebnis mit der toten Ratte und den Erfahrungen in den Bidonvilles auch seine LSD- Versuche, so kann man seine realistische Malweise als Mittel und Methode verstehen, der Essenz, der tieferen Bedeutung auf die Spur zu kommen. Auf die nihilistische Phase seiner Jugend folgte so später eine Zeit, in der er einen Blick hinter die sichtbare Fassade der Erscheinungen warf und eine andere Einstellung zum Leben gewann.

 

Sein Leben lang beschäftigte sich Kreienbühl auch mit den Naturwissenschaften. Viele Jahre malte er in der 1889 erbauten Galérie de Zoologie im Jardin des Plantes (Muséum national d’Histoire naturelle) in Paris, die 1965 wegen Baufälligkeit für die Öf­ fentlichkeit geschlossen werden musste und 1994 in eine etwas geschniegelte Event- Ausstellungshalle zum Thema Evolution umgewandelt wurde. Er besass einen Schlüssel und konnte sich frei darin bewegen. Die Wissenschafter des Museums gehörten zu seinen engsten Freunden.

 

An diesem historischen Prachtbau interessierte ihn der desolate Zustand. Das Gebäude zerfiel zusehends, die ausgestopften Tiere verkamen. Es war ein Ort des Abbruchs. Die Atmosphäre inspirierte Kreienbühl. Wo er hinkam, traf er eine Welt in Auflösung an, eine Welt des Verschwindens, zum Beispiel in der lange zuvor aufgegebenen Fabrik in Vendeuvre-sur-Barse, in der einmal Heiligenfiguren aus Gips hergestellt worden waren, oder in der Warteck-Brauerei in Basel, wo ihn die Braukessel aus Messing im Sudhaus faszinierten, bevor wenig später die Produktion eingestellt wurde.

 

Jede Lebenslage, in die er sich gestellt sah, erwies sich als Niedergang. Er malte Endstationen und wurde zum Chronisten der Endzeit. Es war wie ein vom Schicksal verfügter Auftrag. Bis zuletzt blieben seine dominierenden Themen – neben Basler Motiven – die Banlieue, die anonymen Vorstadtsiedlungen, die Wohntürme von Nanterre, die mit Krimskrams vollgestopften Interieurs, die Hinterhöfe, die Mülldeponien, die Welt der sozial Deklassierten – die Welt, die an einem äussersten Punkt angekommen ist. Aber in dieser Welt erkannte er auch einen Überlebenswillen und eine versteckte Schönheit, die das Ergebnis einer tiefen menschlichen Verbundenheit ist, wenn erst einmal der Weg dahin durch die tiefsten Tiefen des Lebens geführt hat.

 

Auf einem Bild, das Kreienbühl vor einigen Jahren gemalt hat, ist er selbst zu sehen, auf dem Bettrand sitzend, mit einem erschütternden Blick in die Leere und Einsamkeit. Im Nachhinein erkennen wir, in welchem Mass das Bild als Aussage des Künstlers über sich selbst zu verstehen ist. In einem Heim in Cormeilles-en-Parisis ausserhalb von Paris ist Kreienbühl, der die Schweizer und die französische Staatsbürgerschaft besass, am go. Oktober 2007 gestorben, müde und überwältigt von den Strudeln des Lebens. Aber was für ein dichtes und randvolles Leben ist es gewesen.

 

Der Text erschien ursprünglich in der Basler Zeitung vom 3. November 2007

115 Blick »Was, du bist hetero? Voll krass«

 

Passähnliche Papiere gab es bereits vor tausend Jahren, wobei es eher Reisedokumente für Privilegierte waren oder Gesundheitspässe wie die 1374 in Venedig eingeführten Pestbriefe. Legte ein Schiff im Hafen an, musste der Kapitän ein solches Attest vorweisen. Vorsorglich wurde das Schriftstück unter schwefelhaltigem Rauch «sterilisiert». Fehlte das Dokument, musste die ganze Besatzung in Quarantäne, bevor sie ihre Fracht entladen durfte. Diese Pestbriefe waren in gewissem Sinne die Vorläufer des Reisepasses.

Heutige Personalausweise sind Identitätsnachweise. Sie beinhalten überprüfbare biologische Merkmale. Nicht so in den USA. Seit dem 11. April kann man sich einen Reisepass mit einem X für das dritte Geschlecht ausstellen lassen. Kaum jemand macht davon Gebrauch.

In Deutschland sieht das geplante Selbstbestimmungsgesetz vor, dass das Geschlecht sogar jedes Jahr gewechselt werden darf. Wieso nicht auch das Alter? Es wird kompliziert. Nicht nur bei Vermisstmeldungen und Fahndungsaufrufen.

Es gab schon immer Menschen, die seit Geburt das Gefühl hatten, im falschen Körper zu sein. Das war und ist für die meisten eine sehr grosse seelische Qual, die leider schon manchen in den Suizid getrieben hat.

Neu ist jedoch die plötzliche Zunahme jener, die sich meist in der Pubertät als non-binär definieren und dies mit Stolz vortragen, als hätten sie ge-rade im Alleingang die Olympischen Spiele gewonnen. Doch wen (ausser die Medien) interessiert eigentlich die sexuelle Ausrichtung der andern?

Gemäss einer Studie des US-amerikanischen «Trevor Project» identifizieren sich heute bereits 26 Prozent (Tendenz steigend) der befragten Jugendlichen zwischen 13 und 24 Jahren als non-binär. Weitere 20 Prozent sind noch unentschlossen. Ein britisches Spital nannte einen Zuwachs von 4500 Prozent innert sieben Jahren. An österreichischen Universitäten sollen gemäss Umfrage 75 Prozent queer sein.

Man wird den Verdacht nicht los, dass diese plötzliche massive Zunahme eine reine Modeerscheinung ist. Die mediale Aufmerksamkeit, die eine lautstarke Minderheit gezielt von Aktivisten einfordert, steht in keinem Verhältnis zur Anzahl der Betroffenen (1 bis 1,5 Prozent). Sie setzen das soziale Geschlecht (Gender) über das biologische Geschlecht.

Gefühle ändern, der Zeitgeist sowieso.

 

© Der eigene Tod ist nie das Ende der Zivilisation

»Die (russische) Invasion könnte den Beginn eines dritten Weltkriegs darstellen, den unsere Zivilisation nicht überlebt« orakelte Investorenlegende George Soros, 91, am diesjährigen World Economic Forum in Davos und warnte vor dem Missbrauch digitaler Technologien und der Bedrohung offener Gesellschaften, »unsere Zivilisation droht unterzugehen.« Diverse Medien titelten: »Soros warnt vor Weltuntergang».

Einige (nicht alle!) Hochbetagte glauben, dass die Welt demnächst untergeht. Aber sie sind es, die demnächst untergehen. Sie haben den Glauben an eine Zukunft verloren, weil sie selber keine mehr haben. Das ist durchaus verständlich, wenn man den fortschreitenden Abbau von Gehör, Sehkraft, Motorik und kognitiven Fähigkeiten realisiert und die meisten Illusionen bereits verloren hat. »Das Alter ist nichts für Schwächlinge«, scherzte Woody Allen. Alterspessimismus und -depressionen sind nicht ungewöhnlich, aber auch kein Trost für die Betroffenen. Im Angesicht des nahenden Lebensendes erleichtert man sich den ungewollten Abschied indem man schlechtredet, was man verlieren wird. Es fällt leichter eine Welt zu verlassen, die angeblich dem Untergang geweiht ist. Der Lebensabend verdunkelt manche Wahrnehmung.

Vor rund 71.000 Jahren soll der gewaltige Ausbruch des Vulkans Toba (Sumatra) die Population des Homo Sapiens auf wenige tausend Menschen reduziert haben. Trotz Kriegen, Seuchen und Hungersnöten bevölkerten gemäss UNO zu Beginn unserer Zeitrechnung bereits wieder 310 Millionen den Planeten. Pest, Pocken, Hitze- und Dürreperioden, häufige Missernten und jahrelange Kriege bremsten im Spätmittelalter das Bevölkerungswachstum erneut. Apokalyptiker und Propheten sahen das Ende der Zivilisation. Schliesslich führten Industrialisierung, medizinische Fortschritte und bessere Ernährung im 18. Jahrhundert zu einer regelrechten Bevölkerungsexplosion.

Das Gefahrenpotential ist heute massiv höher und globaler, aber die Zivilisation endet weder in Gibraltar noch an der amerikanisch-mexikanischen Grenze. Das Ende von etwas ist selten das Ende von allem, der Zeitgeist ein Chamäleon.

Nicht nur Hochbetagte verfallen manchmal dem von Soros geäusserten Pessimismus. Aus Primarschulen berichten Lehrerinnen und Lehrer, dass viele ihrer Schüler tatsächlich davon überzeugt sind, dass sie die »letzte Generation« sind, die letzte ihrer Art. Offenbar haben die von den Medien täglich zitierten »Weltuntergangsexperten« bei Teenagern mehr Schaden angerichtet als vermutet. Dass »Friday-for-future« mehrheitlich die eigene Klientel in Panik versetzt hat, ist nicht erstaunlich, können Jugendliche doch aufgrund der wenigen Lebensjahre, die sie bewusst erlebt haben, Gefahren der Gegenwart gar nicht richtig einschätzen.

Wer 1972 als Teenager eine Buchhandlung betrat, stockte der Atem. Auf allen Tischen türmte sich der Bestseller «Die Grenzen des Wachstums». Wann haben Sie zuletzt getankt? Wer damals 16 war, ist heute 66, und falls er ab 1981 das Hamburger Magazin «Der Spiegel» gelesen und aufbewahrt hat, findet er heute in seiner Sammlung 38 Cover-Stories, die mehr oder weniger das Ende der Welt voraussagen:  «Wer rettet die Erde?» (1989), «Vor uns die Sintflut» (1995), «Achtung, Weltuntergang» (2006), um nur einige zu nennen.

Alles, was man zum ersten Mal erlebt, prägt sich ein wie ein Brandzeichen, egal, ob es das Sterben eines geliebten Menschen ist, der erste Sex oder die erste Reise in einen bisher unbekannten Kulturkreis. Das gilt auch für die erste Schocknachricht. Erwachsene hingegen reagieren mit der Zeit wie die Dorfbewohner in der antiken Fabel »Der Hirtenjunge und der Wolf«. Für den angekündigten Affenvirus haben deshalb viele nur noch ein müdes Lächeln übrig.

Um sich ein Bild von der Zukunft zu machen, sind Puzzleteile aus Gegenwart und Historie nicht ausreichend. 1899 behauptete Charles H. Duell, der Leiter des US-Patentamtes, »Alles, was erfunden werden kann, wurde bereits erfunden«. Fliegende Autos waren Phantasieprodukte von Science-Fiction Autoren, aber zum Telefonieren suchten die Flügeltaxis immer noch die nächste Telefonzelle auf. Wer hätte gedacht, dass wir eines Tages per Videoschaltung mit den Verwandten in Australien telefonieren?  Werden wir einen Planeten B und zahlreiche weitere feste Himmelskörper bewohnen?

Wie auch immer: In etwa 5 bis 7 Milliarden Jahren geht die Welt trotzdem unter. Wir werden Temperaturen um die 1000 Grad haben. Aber bis dann werden wir gelebt haben.

114 Blick »Science-Fiction im Schuhgeschäft«

Es war ein merkwürdig futuristisch anmutendes Röntgengerät, das der Arzt Jacob Lowe 1920 an der Bostoner Schuhmesse vorstellte. Er nannte es «Pedoskop». Mit diesem «Schuhdurchleuchtungsapparat» konnte die exakte Schuhgrösse ermittelt werden.

Bei Kindern war der jährliche Gang in den Schuhladen fortan so beliebt wie ein Ausflug an die Herbstmesse.

Man schob den Fuss in das Gerät und wackelte mit den Zehen wie die lustigen Skelette auf der Geisterbahn. Das Pedoskop war mit drei Sichtfenstern ausgestattet, sodass Mutter, Verkäuferin und Kind gleichzeitig und in Echtzeit die Passform des Schuhs überprüfen konnten. Sie setzten sich dabei der 20-fachen Strahlenbelastung heutiger Thorax-Aufnahmen aus.

Die Schweizer Schuhfirma Bally sicherte sich die nationale Allein-Vertretung und bewarb die «Pedoskop-Röntgen-Chaussierung» als Dienst am Kunden. Jeder «tüchtige und vorwärtsstrebende» Schuhladen sollte sich das Gerät, das eigentlich niemand brauchte, anschaffen. Den Müttern redete man ins Gewissen: Schlechtes Schuhwerk kann bei Heranwachsenden schlimme Schäden verursachen.

Die Zeit war günstig für solche Innovationen: Der Erste Weltkrieg war vorbei, die letzten Haushalte elektrifiziert, und man wähnte sich in einem neuen Jahrhundert der grenzenlosen Technisierung. Mit Beginn der Depression der 1930er-Jahre gebar die Armut ein weiteres Argument: Mit passgenauen Schuhen spart man Geld, weil diese länger halten.

Obwohl die Detroiter Gewerbeaufsicht 1948 in einer Studie nachwies, dass das Verkaufspersonal einer gesundheitsschädigenden Strahlung ausgesetzt ist, blieben die Geräte bis in die 1960er-Jahre in Betrieb. Stets fanden sich genügend «Experten», die alle Warnungen in den Wind schlugen.

Während Mutter und Kind vielleicht einmal im Jahr einer zweiminütigen Strahlung ausgesetzt waren, bediente das Verkaufspersonal die Geräte mehrmals pro Tag und zwar das ganze Jahr über. Der Werbeslogan «Ihre Füsse haben Sie lebenslänglich» galt leider nicht für alle. Eine Verkäuferin wurde derart verstrahlt, dass man ihr Gliedmassen amputieren musste. In der Schweiz wurde erst 1989 dem letzten Pedoskop der Stecker gezogen. Einundvierzig Jahre nach der Bostoner Studie.

Weltwoche. Die Frau im Rollstuhl, die den Teddybär erfand

Im Alter von eineinhalb Jahren erkrankte Margarete Steiff an Kinderlähmung. Doch mit ihrem ungebrochenen Optimismus schuf sie einen Weltkonzern.


Claude Cueni

Europa im März 1843. Astronomen beobachten am Himmel die ungewöhnlichste Kometenerscheinung der Geschichte. Den Schweif schätzen sie auf eine Länge von 300 Kilometern. Prediger erkennen darin ein göttliches Zeichen und künden (einmal mehr) das Ende der Welt an.

Doch es kam schlimmer. Genau zwei Jahre später sank das Thermometer auf minus 22 Grad. Auf den Feldern faulte die Saat, die Kartoffelernte blieb aus, die Getreidepreise schossen in die Höhe, Hungersnöte führten zu Aufständen und Millionen Toten. Die folgenden Jahre markierten die letzten grossen Hungersnöte der vorindustriellen Zeit. Grosse Teile der Bevölkerung verarmten, ernährten sich von Unkraut und Viehfutter.

Auch in der ehemaligen freien Reichsstadt Giengen im Osten Baden-Württembergs herrschte das Elend. Man schrieb das Jahr 1847, als Maria Steiff ihre dritte Tochter Margarete zur Welt brachte. Maria war bereits einmal verheiratet. Baumeister Johann Wurz, ihr erster Ehemann, war während der Arbeit tödlich verunglückt. Und auch ihre beiden Söhne starben.

Nach den damaligen Regeln der Zünfte musste die Witwe die Werkstatt abgeben. Nur durch eine weitere Heirat konnte sie diese Enteignung verhindern. In grösster Not heiratete Maria den ersten Gesellen ihres verstorbenen Mannes Friedrich Steiff. In der damaligen Zeit waren Eheschliessungen eher pragmatische Entscheidungen, private Joint Ventures. Man verbündete sich gemeinsam gegen die Widrigkeiten des Schicksals. Manchmal entstand im Laufe der Zeit Liebe, manchmal nicht.

Das Schicksal meinte es nicht gut mit Maria Steiff, es war hart und gnadenlos. Maria verlor die Freude am Leben, ihre fünf Kinder sagten später, sie sei oft schlecht gelaunt gewesen, man habe sie nie lachen sehen. Maria forderte viel von ihren Kindern, sie mussten arbeiten, fleissig sein und bei der Versorgung der Familie mithelfen. Ihre Tochter Margarete war dazu nicht imstande. Im Alter von eineinhalb Jahren erkrankte sie an Kinderlähmung und war fortan auf fremde Hilfe angewiesen, von frühmorgens bis spätabends.

Doktor mit Bärenfellmantel

Als die kleine Margarete den Grosseltern zur Pflege übergeben wird, blüht sie förmlich auf. Die Kinder der Nachbarschaft fahren sie in einem Leiterwagen durch die Gassen. Sie erfindet für sie Spiele, erzählt die Geschichten, die ihr die Grossmutter abends erzählt. Spielzeuge besitzen nur Kinder reicher Eltern. Dort, wo Margarete lebt, spielt man mit dem, was die Natur hergibt: Steine, Äste, Knöpfe und Fantasie.

Ihre Eltern geben die Hoffnung nicht auf, dass sie eines Tages laufen kann. Immer wieder bringen sie ihre Tochter zu neuen Ärzten. 1856 wird die Neunjährige von einem Dr. Werner in Ludwigsburg untersucht. Er leitet eine von ihm gegründete Nervenheilanstalt und lässt den Kindern viele Freiheiten. Er trägt einen Mantel mit einem Futter aus Bärenfell. Manchmal trägt er ihn verkehrt herum, dann sieht er aus wie ein Bär, und die Kinder dürfen auf seinem Rücken reiten.

Margarete lebt in einem Haushalt voller Bücher. Sie begeistert sich für Zoologie, lernt Englisch und entwickelt sich zu einem selbstbewussten und unternehmungslustigen Teenager, der es versteht, mit seiner eingeschränkten Mobilität umzugehen. Nach dem Ende der Schulzeit kehrt Margarete zu ihren leiblichen Eltern zurück.

Ihre Schwestern werden allesamt Dienstmädchen, sie arbeiten hart und ernten wenig Anerkennung. Nur eine Heirat kann sie erlösen. Bei ihrer Patentante Appolonia lernt Margarete das Nähen. Ihr Hunger nach neuem Wissen ist kaum zu stillen, ihr Leistungswille ungebrochen. Mit neunzehn näht sie die Aussteuer ihrer Schwestern. Sie selbst wird nie heiraten. Eine Ehefrau, die nicht kochen, putzen, waschen und auf die Kinder aufpassen kann, ist für junge Männer ohne Wert.

Wenn Gleichaltrige abends tanzen gehen, um Bekanntschaften zu machen, arbeitet Margarete in ihrer neueröffneten Damenschneiderei. Sie will Geld verdienen, für sich und die Familie, so viel Geld wie nur möglich, denn ohne Geld lebt man im Elend. 1868 kauft sie mit ihren beiden Schwestern eine Nähmaschine. Ein Traum geht in Erfüllung. Ihre neue Maschine schafft 300 Stiche in der Minute, eine Näherin 50. Jetzt können sie zu Hause preiswerte Kleider herstellen. Margarete hat ein ausgesprochenes Flair für Mode, sie selbst trägt jedoch nur noch Schwarz. Sie wird dies ihr Leben lang tun.

1873 gewinnt der Berliner Joseph Priesner an der Wiener Weltausstellung die Goldmedaille für seine revolutionäre Pelznähmaschine. Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts ist die Epoche der Beschleunigung und der bahnbrechenden Erfindungen wie Grammofon, Dynamit, Telefon, Glühbirne und Repetiergewehr. In New York wird Bartholdis Freiheitsstatue eingeweiht, die Goldgräber in Klondike telegrafieren nach Hause, es entstehen die ersten grossen Industriedynastien.

Margarete schneidert nun Kleider auf Vorrat, das ist neu in jener Zeit. Bisher wurde nur genäht, wenn eine Bestellung vorlag, «on demand». Das Geschäft läuft so gut, dass Margarete Näherinnen einstellen kann. Sie ist eine begnadete Networkerin, charismatisch und von ansteckendem Optimismus. Sie entwickelt sich zur erfolgreichen und allseits geachteten Unternehmerin. Nun hat sie endlich Geld und will die Welt sehen, sie besucht Verwandte in anderen Städten und immer wieder zoologische Gärten. Für die Kinder der Umgebung näht sie kleine Elefanten aus Filz und stopft diese mit Wolle aus. Sie liebt Kinder über alles. Eigene wird sie nie haben.

Ihr Geschäft nimmt immer grössere Formen an. In ihrem Produktekatalog finden sich nun auch Affen, Kamele und andere Tiere. Einige montiert sie auf Gestellen. Sie haben Räder wie ihr Rollstuhl und bewegen Arme und Beine, wie sie es nie vermochte. 1888 verkauft sie bereits mehrere tausend Filztiere. Die Firma platzt aus allen Nähten. Ihr Vater finanziert ihr eine Filz-Spielwaren-Fabrik. Im oberen Stock richtet er Margarete eine rollstuhlgängige Wohnung mit Zugangsrampe ein.

Der Katalog von 1892 zeigt neue Stoffe wie Samt und Wolle. Doch mittlerweile dominieren die Filztiere. Margarete verkauft bereits tausend Exemplare pro Woche. Ihre Schwester Pauline wird Witwe und tritt in die «Margarete Steiff Filzspielwarenfabrik, Giengen/Brenz» ein. Die Ausstellung an der Leipziger Spielwarenmesse 1894 bedeutet für die 47-jährige Gründerin den internationalen Durchbruch. Ihre Geschwister, Schwäger, Enkel und Nichten arbeiten nun allesamt für ihr rasch expandierendes Unternehmen.

Es ist ihr zeichnerisch begabter Neffe Richard Steiff, der die Aufgabe übernimmt, neue Tiere zu entwerfen, sein Bruder ist für die Qualitätssicherung verantwortlich, ein weiterer Bruder kauft die Stoffe ein. Sie sind die Ersten in Giengen, die sich ein Auto leisten können. Die Firma platzt erneut aus allen Nähten.

Wahrscheinlich inspiriert vom Eisenmagier Gustave Eiffel, der für den Pariser Malletier Louis Vuitton das Eisengerüst für das erste Ladengeschäft an der 4, rue Neuve des Capucines erstellt hat, designt Richard Steiff ein lichtdurchflutetes Gebäude aus Glas und Stahl, die dazumal modernste Fabrik Deutschlands. Margaretes Neffen bauen ihrer bewunderten Tante ein Motorrad mit Seitenwagen. Gemeinsam rasen sie über die staubigen Strassen. Margarete liebt den Geschwindigkeitsrausch. Sie kauft den Mädchen der Grossfamilie Fahrräder, obwohl radelnde Frauen damals verpönt sind.

Spielzeug für Roosevelts Tochter

Das Jahr 1907 geht als «Bärenjahr» in die Firmengeschichte ein, Margarete beschäftigt bereits über 2000 Mitarbeiterinnen und Arbeiter und verkauft jährlich rund 400 000 Plüschbären, die meisten in die USA. Das mag auch der Grund sein, wieso Amerika eine eigene Entstehungsgeschichte erzählt. Die geht so: Der Sekretär von US-Präsident «Teddy» Theodore Roosevelt entdeckt in einem Schaufenster einen Plüschbären unbekannten Ursprungs. Da sein Chef ein passionierter Bärenjäger ist, kauft er das Spielzeug für Roosevelts Tochter. Sie nennt ihn «Teddy», das ist der Kosename, den die engsten Freunde des Präsidenten benützten in Anspielung auf sein Faible für die Bärenjagd. Der 9. September wird seitdem in den USA als Teddy Bear Day gefeiert.

Welche Story ist wahr, welche nicht? Es ist nicht ungewöhnlich, dass zwei Menschen auf zwei verschiedenen Kontinenten unabhängig voneinander zur gleichen Zeit etwa die gleiche Idee haben. Der Zeitgeist gebiert ähnliche Ideen. Entscheidend sind stets Wille und Ausdauer.

Als Margarete Steiff 1909 62-jährig an einer Lungenentzündung stirbt, ergeht es ihr wie vielen Berühmtheiten nach dem Tod. Sie wird mehr geehrt als zu Lebzeiten, als sei der Tod eine ganz besondere Leistung. Ausgerechnet einer der ersten neuen Intercity-Express-Züge (ICE 4), die mit einer Geschwindigkeit von bis zu 250 Kilometern von Hamburg-Altona über Basel, Zürich nach Chur fahren, wird 2017 nach der schwarz gekleideten Frau im Rollstuhl benannt.

Die Geschichte von Margarete Steiff ist nicht nur die Geschichte einer aussergewöhnlichen Frau, sondern auch ein Mutmacher für all jene, die mit einem Handicap ins Leben starten: Never give up.

© NZZ vom 14. Juni 22 / Kindsmissbrauch in der katholischen Kirche

Systematisches Leitungsversagen: Im Bistum Münster gabes flächendeckend Missbrauch und Vertuschung

Auch in der katholischen Diözese Münster wurden Sexualstraftaten durch Kleriker lange Zeit verharmlost. Eine Studie belastet vor allem die ehemaligen Bischöfe Joseph Höffner und Reinhard Lettmann.

Nach den Bistümern Köln und München-Freising liegt nun auch für die katholische Diözese Münster eine umfangreiche Studie zum sexuellen Missbrauch durch Kleriker vor. Anders als bei den beiden anderen Bistümernhaben jedoch keine Juristen, sondern Soziologen und Historiker den Zeitraum von 1945 bis 2020 untersucht. Die Ergebnisse freilich sind ähnlich: Vor allem in den 1950er und 1960er Jahren gab es «nahezu flächendeckendenMissbrauch» und systematisches «Leitungsversagen». Lange brachten die verantwortlichen Generalvikare, Weihbischöfe und Bischöfe den «Priestertätern» mehr Verständnis entgegen als den Opfern.

Auch Serientäter wurden nicht bestraft

Insgesamt ermittelte die an diesem Montag vorgestellte Studie der Westfälischen Wilhelms-Universität 196 beschuldigte Kleriker, darunter 183 Priester, und etwa 610 Betroffene im minderjährigen Alter, die in geschätzten 5700 Fällen sexuell missbraucht wurden. Mindestens 43-Mal wurde starke körperliche Gewalt angewandt. In rund drei Vierteln der Fälle waren Täter wie Opfer männlichen Geschlechts.

Neben Einzel- gab es Serientäter wie etwa den 1964 zum Priester geweihten, bereits 1968 auf Bewährung verurteilten pädophil veranlagten Heinz Pottbäcker. Er wurde dennoch weiterhin in der Seelsorge eingesetzt, wo er sich abermals an Jungen verging. Ihm wurden laut dem wissenschaftlichen Mitarbeiter Bernhard Frings «immer wieder Kinder zugeführt». Damals war Joseph Höffner Bischof von Münster, der spätere Kölner Kardinal und langjährige Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz.

Auch andere verurteilte Täter wurden an neue Dienstorte versetzt und nicht dauerhaft vom Dienst suspendiert. Ein Priester, der sich in mindestens 20 Fällen des sexuellen Missbrauchs schuldig gemacht hatte, durfte in Argentinien weiter mit Kindern und Jugendlichen arbeiten. Höffner hat als Teilnehmer am Zweiten Vatikanischen Konzil in Rom einem bischöflichen Mitbruder 1962 einen Priester zur Weiterverwendung empfohlen, um dessen Missbrauchstaten er wusste – berichtete nun der Historiker David Rüschenschmidt. Damals und auch in den Folgejahren galt gegenüber der Öffentlichkeit, aber auch im internen Umgang oft das Motto, man wolle lieber keine «schmutzige Wäsche waschen». Zuweilen wurden die Verbrechen «zur gottgefälligen Tat umgedeutet», so die Soziologin Natalie Powroznik.

Eine hinkende Trennung

Keineswegs der Wahrheit entspricht somit die Aussage des von 1980 bis 2008 das Bistum leitenden Bischofs Reinhard Lettmann, es habe sich nur um Einzelfälle gehandelt. Studienleiter Thomas Grossbölting legt Wert auf die Feststellung, dass 95 Prozent der Priester keine Beschuldigten seien und man die Frage, ob die katholische Kirche ein «Hotspot des Missbrauchs» sei, nicht beantworten könne. Dazu fehle es an vergleichbaren Daten. Wohl aber gebe esein «spezifisch katholisches Gepräge des Verbrechens». Die «Pastoralmacht des Priesters» habe die unheilvolle Mischung aus Scham, Schweigen undBigotterie erst ermöglicht. Rund 90 Prozent der Beschuldigten erfuhren keine strafrechtlichen Konsequenzen. Grossbölting sieht darin einen Beleg für die «hinkende Trennung von Staat und Kirche».

Die Studie, vom Bistum Münster veranlasst und mit etwa 1,3 Millionen Euro finanziert, betrachtet nur das Hellfeld, also die aktenkundig gewordenen Fälle sexuellen Missbrauchs. Ausserdem führten die Wissenschafter Interviews mit über 60 Betroffenen. Das Bistum kooperierte und stellte alle Materialien zur Verfügung.

Generell, berichten die Autoren der Studie, hätten sich die «desaströsen Zustände» seit den 2010er Jahren gebessert. Heute betrachteten esGeneralvikare nicht mehr wie in der unmittelbaren Nachkriegszeit als ihre Aufgabe, die Strafverfolgung zu vereiteln. Doch auch der seit 2009 regierende Bischof Felix Genn habe zu Beginn seiner Amtszeit nicht immer mit der kirchenrechtlich gebotenen Strenge gehandelt. Als Seelsorger, die zugleich Vorgesetzte sind, blieben Bischöfe in einem heiklen Spagat.

113 Blick »Blaues Blut und weisse Engel«

Wenn du dir dann das Gesicht einreibst mit der obigen Mischung, wird es glänzend, dass selbst heller dein Spiegel nicht strahlt», dichtete der römische Schriftsteller Publius Ovidius Naso (43 v. Chr.–17 n. Chr.) vor zweitausend Jahren und gab jungen Frauen Ratschläge, wie sie ihre Haut aufhellen können.

Helle Haut war bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts erstrebenswert, denn vornehme Blässe signalisierte, dass man nicht draussen auf den Feldern der sengenden Sonne ausgesetzt war. Da die Blutadern hellhäutiger Menschen oft bläulich wirken, assoziierte man bereits im Mittelalter «blaues Blut» mit adliger Abstammung.

Wer dem damaligen Schönheitsideal genügen wollte, musste ein bisschen leiden. Man trug ein hochgiftiges Essig-Bleiweiss-Gemisch auf die Gesichtshaut auf. Die englische Königin Elisabeth I. (1533– 1603) benutzte dieses antike Make-up, um ihre Pockennarben zu bedecken, und erhielt darauf den Beinamen «Elfenbein-Regentin». Sie war not amused und löste das Problem, wie wir das heute aus der Politik kennen: Sie liess alle Spiegel im Palast abhängen.

Mit der beginnenden Industrialisierung wurde die Luft in den Städten von giftigem Schwefeldioxid und Rauchgas belastet. Man verbrannte enorme Mengen Kohle. An gewissen Tagen konnte man kaum noch atmen. Die Gutsituierten flohen aufs Land, an die frische Luft, und Sonnenbräune wurde nun mit Gesundheit und Reichtum assoziiert.

Heute bedeutet im Westen gebräunte Haut, dass man sich Ferien in tropischen Ländern leisten kann oder wenigstens ein Abo im Solarium. Während man wie «panierte Schnitzel» (so der Basler Kolumnist-minu) an Asiens Stränden liegt, gilt dort weiterhin das Schönheitsideal der alten Shang-Dynastie (1600–1046 v. Chr.). In fast allen Sonnencremen finden sich Substanzen zur Aufhellung der Haut. Nachgeholfen wird mit Pillen und Injektionen. «White Superfresh» behauptet, dass man sich «nicht frisch fühlt, wenn man nicht weiss aussieht». Oceanlab verspricht in TV-Spots, dass es ein Traum sei, «ein weisser Engel zu sein», in indischen Heiratsanzeigen werden gezielt Frauen mit heller Haut gesucht.

Porzellanweiss oder sonnengebräunt? Attraktiver ist wahrscheinlich ein freundliches Lächeln, Empathie, eine Prise Humor und Selbstironie.


Claude Cueni ist Schriftsteller und lebt in Basel.  Im August erscheint sein Thriller «Dirty Talking» in der Edition Königstuhl.


 

Miss Chiquitas Abenteuer

Die Weltwoche – 09. Juni 2022


Miss Chiquitas Abenteuer

Wie verwegene Geschäftsleute die Banane aus dem Malaria- und Korruptions-Dschungel Zentralamerikas in die Luxusmärkte der Ersten Welt brachten.


Kaum zu glauben, dass Minor Cooper Keith (1848–1929) am Ende des 19. Jahrhunderts die Weichen für einen der ersten Weltkonzerne legte. Denn zuerst hatte er kein Glück, und dann kam noch Pech dazu. Sein Onkel Henry Meiggs hatte ihn 1871 nach Costa Rica gerufen, nachdem er mit dem costa-ricanischen Präsidenten Tomás Guardia Gutiérrez einen Vertrag über den Bau einer Eisenbahnstrecke unterzeichnet hatte. Sie sollte die Hauptstadt San José mit dem karibischen Hafen von Limón verbinden. Minor Cooper Keith war 23 und abenteuerlustig. Er lernte schnell.

Plantagen, so weit das Auge reichte

Das war auch nötig, denn bereits sechs Jahre später starb sein Onkel Henry, und er wurde sein Nachfolger. Keithy erbte einen Haufen ungelöster Probleme, denn sein Onkel war offenbar ein betrügerischer Finanzjongleur, der noch hundert Jahre nach seinem Tod die Gerichte beschäftigte. Keith erbte aber auch grosse Bananenplantagen, die Onkel Henry entlang der Eisenbahn angelegt hatte, um die Lebensmittelversorgung der Arbeiter zu sichern und Lieferkosten zu sparen. Doch es folgte eine Pechsträhne. Die Regierung hielt ihre Zahlungsversprechen nicht ein, Regenfälle, dichter Dschungel und Malaria bedrohten das Projekt. Über 4000 Menschen erlagen dem Sumpffieber, darunter drei von Keiths Brüdern.

Trotz aller Widrigkeiten erreichte Keith schliesslich den Hafen von Limón. Die Freude währte nur kurz. Die Passagiere blieben aus, und Keith blieb auf einem enormen Schuldenberg sitzen. Er hatte nichts mehr. Ausser Bananen. Die Regierung von Präsident Próspero Fernández Oreamuno konnte die vereinbarten Ratenzahlungen nicht zahlen und beglich ihre Schulden mit der Überschreibung von 324 000 Hektaren Land, was fast der doppelten Fläche des Kantons Zürich entspricht.

Jetzt hatte Keith noch mehr Anbauflächen, aber kaum noch Arbeiter, denn die Costa-Ricaner verweigerten den gefährlichen Job im Malariagebiet. Er fand neue Arbeitskräfte in Jamaika. Einer der Schiffskapitäne, die zwischen den Kaimaninseln Passagiere und Waren beförderten, war der Abenteurer Lorenzo Dow Baker, der bereits 1870 160 Bananenbündel aus Mittelamerika nach Hause gebracht hatte. Baker und Keith verstanden sich sogleich, hatten viele Ideen, Bananenplantagen, so weit das Auge reichte, aber sie brauchten Geld – Geld, das sie nicht hatten. Das änderte sich 1885, als sie den berühmten amerikanischen Geschäftsmann Andrew W. Preston als Investor gewannen. Zu dritt gründeten sie vierzehn Jahre später, mit acht Partnerunternehmen, die United Fruit Company (UFC), die sie 1903 an die Börse brachten.

Von nun an beförderte Keith auf seinem Schienennetz keine Passagiere, sondern Bananen. Die Gesellschaft errichtete in Costa Rica rasch die Infrastruktur, die sie für die Expansion ihres Geschäftes brauchten, und bald gehörten ihnen Bahnstrecken, ein Schiffshafen, Telefon- und Radiostationen und eine riesige Flotte von Frachtschiffen mit eingebauten Kühlkammern. Doch Costa Rica war der UFC noch lange nicht genug. Sie breitete sich in ganz Mittelamerika aus und erhielt bald einmal den Namen «el pulpo», die Krake.

Als am 12. November 1928 die Arbeiter auf den kolumbianischen Plantagen wegen mieser Arbeitsbedingungen streikten, verweigerte die UFC Verhandlungen mit den Anführern. Nach erfolglosen Verhandlungen mit der Regierung meldeten die UFC und amerikanische Beamte vor Ort dem US-Aussenminister Frank B. Kellogg «einen kommunistischen Aufstand» und drängten die Regierung, amerikanische Interessen zu schützen. Darauf drohten die USA mit einer Invasion des United States Marine Corps.

Die konservative Regierung von Miguel Abadía Méndez beauftragte General Cortés Vargas, Oberbefehlshaber der Bananenregion, die Situation mit einem auswärtigen Armeeregiment zu klären. An einem Sonntag warteten die gläubigen Bauern nach der Sonntagsmesse dichtgedrängt vor der Kirche auf eine klärende Ansprache des Gouverneurs. Auf den umliegenden Dächern waren 300 Soldaten mit Maschinengewehren in Stellung, sie schossen in die Menge und töteten (je nach Quelle) tausend bis dreitausend Menschen, darunter viele Frauen und Kinder. Das Massaker (Masacre de las bananeras) prägte den Begriff «Bananenrepublik».

Nach dem Zweiten Weltkrieg stieg in den USA die Nachfrage nach Bananen, die als gesund galten, und die UFC bewarb mit einem Millionenbudget eine fröhliche Südamerikanerin mit einem Körper in Bananenform. Kein Geringerer als Dik Browne, der Vater von «Hägar dem Schrecklichen», hatte diese «Miss Chiquita» erschaffen, eine singende Markenbotschafterin mit Sex-Appeal und einem Früchtekorb auf dem Kopf. Für die UFC schien alles bestens zu laufen, bis 1951 Jacobo Árbenz Guzmán, Sohn eines Schweizer Immigranten aus Andelfingen und einer Mestizin, mit einem Stimmenanteil von 65 Prozent zum neuen Präsidenten von Guatemala gewählt wurde. Mit einer Landreform wollte Guzmán ungenutztes Land zum Steuerwert erwerben und umverteilen. Darunter auch die brachliegenden Ländereien der United Fruit Company.

Jagd auf Kommunisten

Diese bat die amerikanische Anwaltskanzlei der Gebrüder Dulles, bei Präsident Eisenhower vorstellig zu werden. John Foster Dulles war damals Aussenminister, der Bruder Allen Welsh Dulles Chef der CIA. Das Klima war nicht ungünstig, denn in den USA hatte der Senator Joseph McCarthy mit seinen Tribunalen die Jagd auf echte oder vermeintliche Kommunisten eröffnet. Die UFC erkannte, dass sie ihre verlorenen Ländereien nur zurückerhalten konnte, wenn sie Regierung und Öffentlichkeit davon überzeugen konnte, dass die Sowjetunion im Begriff war, in Guatemala einen Brückenkopf einzurichten.

Die UFC brauchte einen Profi, um Präsident Guzmán und seine Regierung in Verruf zu bringen. Der Job war wie gemacht für Edward Louis Bernays (1891–1995), Neffe von Sigmund Freud, dem Begründer der Psychoanalyse. Bernays galt als Meister der Propaganda und Vordenker der Public Relation. Gemeinsam mit den Dulles-Brüdern entwarf er die Operation PBSuccess, die von Präsident Eisenhower ausdrücklich begrüsst wurde. Auf Kosten der UFC lud man amerikanische Journalisten nach Guatemala ein. Dort präsentierte man ihnen gescriptete Interviewpartner und verstümmelte Leichen (von Unfallopfern), die angeblich vom Regime zu Tode gefoltert worden waren.

Da Bernays mit Arthur Hays Sulzberger (1891–1968), dem Herausgeber der New York Times, befreundet war, wurde die Öffentlichkeit täglich informiert beziehungsweise desinformiert und mit Fake News verängstigt. Angeblich würde sich der Kommunismus von Guatemala aus wie ein Krebsgeschwür über ganz Mittelamerika verbreiten, Amerika war in Gefahr, die Banane war es auch. Plötzlich hörten alle Medien das sowjetische Bellen vor der Haustür. Zahlreiche Radiostationen, die Bernays kurzfristig im Guatemala eingerichtet hatte, berichteten ununterbrochen von einer fiktiven Rebellenarmee, die unaufhaltsam vorrückte. Im Hintergrund hörte man eingespielte Raketeneinschläge und Maschinengewehre. Vor der Küste tauchten US-Kriegsschiffe auf. Irritiert distanzierte sich das guatemaltekische Militär von der Regierung, Guzmán wurde gestürzt. Er floh mit seiner Familie vorübergehend in die Schweiz und ertrank später in Mexico City in seiner Badewanne. Sein Nachfolger war Diktator Carlos Enrique Díaz de León. Er gab dem Bananenkonzern seine Ländereien zurück.

In den folgenden Jahrzehnten geriet die gesamte Branche immer wieder in Verruf wegen Preisabsprachen, Bestechungen, Kinderarbeit, Raubbau an der Natur und Pestizideinsatz.

In den 1990er Jahren waren in Kolumbien Entführungen und Morde an der Tagesordnung. Um die Sicherheit der Angestellten zu gewährleisten, bezahlten die Konzerne Schutzgelder an paramilitärische Terroreinheiten, zuerst an die linke Farc, später an die rechten AUC. Die USA, die selber jahrelang in Waffenlieferungen (Contra-Krieg) involviert waren, erliessen 2001 ein Anti-Terror-Gesetz, das Zahlungen von US-Unternehmen an ausländische Terrororganisationen unter Strafe stellte. Die UFC stellte sich den US-Untersuchungsbehörden. Mit einer Strafzahlung von 25 Millionen Dollar war die Sache vom Tisch.

Seitdem segelt der Weltkonzern unter einer neuen Generation von CEOs und wechselnden Besitzern in ruhigeren Gewässern. Oscar Grillo, der Schöpfer des «rosaroten Panthers», machte aus der Bananenfrau eine menschliche Miss Chiquita. Sie verkauft heute Kochbücher, Merchandising-Artikel, sponsert Sportanlässe und tritt in Filmen und TV-Shows auf. Trotz gelegentlicher Vorwürfe wegen «Rassierung und Sexualisierung» wurde Miss Chiquita grösser als die Firma, und so war es nur folgerichtig, dass sich die United Fruit Company in Chiquita Brands International umbenannte und schliesslich die Voraussetzungen erfüllte, um von der Umweltschutzorganisation Rainforest Alliance zertifiziert zu werden.

Lukrativste Exportgüter

Heute gehört der weltgrösste Bananenproduzent mit seinen 20 000 Angestellten zum internationalen Netzwerk der brasilianischen Investmentfirma J. Safra Sarasin Group (die auch die damalige Schweizer Bank Sarasin übernahm) und des brasilianischen Saftherstellers Cutrale. Sie nahmen nach dem Kauf Chiquita von der Börse, Plantagen betreiben sie vorwiegend in Costa Rica, Guatemala, Honduras, Panama und Kolumbien. Da in diesen Ländern Bananen zu den lukrativsten Exportgütern gehören, ist das Wohlwollen der Regierungen garantiert.

Die grösste Gefahr für Miss Chiquita ist heute ein Tropical Race 4 (TR4) genanntes Virus, das die Gefässe der Pflanzen verstopft und ganze Plantagen vernichtet. Gegen TR4 gibt es bisher kein Mittel. Inzwischen lässt sich aber mit Genom-Editierung das Erbgut gezielt verändern. An der Queensland University of Technology tüfteln Forscher an einer Miss Chiquita aus dem Reagenzglas. So, wie wir heute Retortenbabys akzeptieren, werden wir uns eines Tages auch an die Babys von Miss Chiquita gewöhnen.

112 Blick »Elon Musk macht den Noah«

Elon Musk macht den Noah

Als der liebe Gott erkannte, welch grässliche Kreaturen er da geschaffen hatte, platzte ihm der Kragen und er beschloss, sein Werk in einer Sintflut zu ersäufen. Wieso seinem «Great Reset» auch alle Tiere zum Opfer fallen sollten, ist nicht schlüssig, aber so will es nun mal die mythologische Erzählung der Sintflut. Gott übergab seinem letzten Fan eine Skizze für den Bau einer Arche. Sie entsprach leider nicht ganz dem Niveau heutiger Ikea-Anleitungen. Biblische Fake News?

Es gab tatsächlich eine grosse Sintflut, aber sie fand bereits vor rund 12 000 Jahren statt, in einer Zeit, als unsere Vorfahren noch die göttliche Sonne anbeteten. Die Gletscher, die bis anhin gewaltige Wassermassen in ihren Eisschilden gebunden hatten, tauten am Ende der letzten Kaltzeit auf. Die Folgen waren katastrophale Überflutungen, die sich über den Planeten ergossen. Der Meeresspiegel stieg um rund 120 Meter, das Schmelzwasser trennte Europa von Afrika, Japan und Australien wurden zu Inseln. (Zum Vergleich: Die Freiheitsstatue ist mit Sockel 93 Meter hoch.)

Elon Musk lässt nun auf Twitter verlauten, dass eine «hundertprozentige Chance» bestehe, dass die Menschheit ausgelöscht werde. Musk sieht überall Gefahren: Killerviren, Asteroideinschläge, Atomkriege, zunehmende Sonnenaktivität, Änderungen im Magnetfeld der Erde, die obligate Sintflut und natürlich Twitter.

Eine Flucht in höher gelegene Regionen könnte hilfreich sein, aber auf Bergspitzen herrscht Dichtestress. Wir sind mittlerweile acht Milliarden.

Elon Musks multiplanetäre Lösung sieht einen Neustart auf dem Mars vor mit einer Kolonialbevölkerung von rund 100 000 Menschen. Diese Auserwählten, die bereits die Erde zugrunde gerichtet haben, kriegten eine zweite Chance. Der Mars hätte in der Tat Vorteile, zumal dort (noch) kein Global Warming stattfindet. Dafür kosmische Strahlung.

Falls Sie eines Tages ein Taxi zum roten Planeten buchen, sollten Sie warme Socken einpacken. Denn laut Nasa liegt die mittlere Temperatur auf dem Mars bei etwa –63 °C (Erde: +14 °C). Aber auch dafür wird es eine Lösung geben, denn «alles, was ein Mensch sich heute vorstellen kann, werden andere Menschen einst verwirklichen» (Jules Verne).

001 Blick »Mit Bitcoins Geld verdienen«

In meiner ersten von mittlerweile 111 Blickkolumnen beschrieb ich im Januar 2018, wieso Bitcoins nicht das »neue Gold«, sondern ein »Schwarz Peter Spiel« sind. Selbstverständlich kann man auch mit etwas Glück beim Kartenspiel reich werden. 

Mittlerweile habe ich mit Bitcoins mehr verdient als mit meinem letzten Roman »Hotel California«. Aber nicht indem ich Bitcoins kaufte, sondern indem ich regelmässig Puts auf fallende Kurse setzte.


Trommelwirbel in der Rue Quincampoix. Als die Tambours verstummen, schlägt ein Gardesoldat den Gong, und Tausende von Menschen rennen los, schreien, rempeln, werden von Kutschen gegen Hauswände gedrückt. Über eine halbe Million Glücksritter sind aus dem Ausland nach Paris gereist, um Aktien der Mississippi-Kompanie zu kaufen. Der Kurs explodiert, steigt innert kürzester Zeit von 500 auf 20’000 Livres. Die Hysterie endet wie alle Spekulationsblasen – mit einem kräftigen Knall. Das war 1718.

Von der holländischen Tulpenzwiebeln-Manie über den Hype mit Eisenbahnaktien im 19. Jahrhundert bis hin zur Dotcom-Blase, stets sind die Vorboten die gleichen: Das Thema beherrscht die Frontseiten der Medien, Taxifahrer diskutieren mit dem Fahrgast die Kursentwicklung, Finanzexperten erklären, wieso jetzt alles anders ist. Das ist stets der Augenblick, wenn die Gier in den Sattel steigt und zum wilden Galopp ansetzt. Zuerst verlieren die Leute den Verstand, dann ihren Einsatz.

Bitcoin ist weder mit erwarteten Goldfunden in Louisiana, Währungsreserven noch mit einer Wirtschaftsleistung unterlegt. Gelobt wird die Anonymität. Die schätzen auch Kriminelle, die im Darknet Handgranaten, Crystal Meth, Kinderpornos und Hackersoftware kaufen. Staaten, die Schwarzgeld bekämpfen, werden den Bitcoin verbieten.

Während Kreditkartenfirmen über 50’000 Transaktionen pro Sekunde abwickeln, schafft das Bitcoinnetzwerk gerade mal vier und bräuchte für das gleiche Volumen circa dreieinhalb Stunden. Denn jede Transaktion muss weltweit auf jedem Computer der Bitcoin-Miner registriert und bestätigt werden. Nicht erstaunlich, dass das Bitcoin-Netzwerk jedes Jahr so viel Strom verbraucht wie die gesamte Schweiz in vier Monaten.

Eisenbahn, Computer, Internet, all diese Innovationen haben überlebt, aber auf der Strecke blieben stets Tausende Pioniere, Firmen und bankrotte Aktionäre. Die Blockchain-Technologie der nächsten Generation wird überleben, aber von den zurzeit über 1400 Kryptowährungen werden nur noch wenige dabei sein.

Trotzdem lässt sich mit Bitcoins Geld verdienen: Wenn man mit einem Put auf fallende Kurse setzt. Aber auch dann gilt: Das Timing ist alles, also wie im richtigen Leben.


 

111 Blick »Bellen vor der Haustür

Regungslos sitzt der neugewählte philippinische Präsident »Bongbong« Marcos an einem Tisch umringt von seinen Oligarchenfreunden, die in ausgelassener Stimmung Party feiern. Der Sohn des Diktators Ferdinand Marcos geniesst still seinen historischen Sieg, während seine Kumpels »Umagang Kay Ganda« anstimmen, »die Sonne der Hoffnung ist endlich zurück«.

Ein Grossteil der Bevölkerung lebt in bitterer Armut, die Kindersterblichkeit (bei 1000 Lebendgeburten) liegt bei 26,4 Prozent (Schweiz: 3,68). Das Land hat eine Auslandverschuldung von 12 Trillionen Pesos, das ist eine Zahl mit 18 Nullen. Sparen will man jetzt bei den sozialen Ausgaben. Die Weltbank hat dem heruntergewirtschafteten Inselstaat ein Darlehen von 600 Millionen Dollar gewährt. Doch bereits während der blutigen Diktatur flossen Teile der Entwicklungsgelder direkt in die Taschen des nimmersatten Ehepaars Marcos. Am Ende hatte es dem Land 10 Milliarden Dollar gestohlen. Ihr Sohn »Bongbong« Marcos konnte für seinen Wahlkampf aus dem Vollen schöpfen.

Egal, wieviele Milliarden Hilfsgelder der Westen nach Südoastasien überweist, profitieren werden stets der Marcos-Clan und sein Netzewerk. Auch wenn Joe Biden umgehend gratulierte und die Fortsetzung der Freundschaft beschwor, wird die ehemalige Kolonialmacht den Pufferstaat vielleicht trotzdem verlieren, denn mit Ausnahme der Zweitplazierten Leni Robredo waren alle Präsidentschaftskandidaten antiamerikanisch.

Erstaunlich, denn China besetzt weiterhin die für den maritimen Welthandel wichtigen philippinischen Riffe im südchinesischen Meer, obwohl der Schiedsgerichthof in Den Haag der Klage der Philippinen stattgegeben hat. Davon unbeeindruckt besetzt China das fischreiche Riff Scarborough Shoal mit Armeeeinheiten, schüttet künstliche Inseln auf, baut Hafenanlagen, Flugplätze und stationiert Raketen.

Mit der Wahl von Marcos Junior wird die Kündigung der Pachtverträge für die Nutzung der philippinischen Häfen durch die amerikanische Marine erneut ein Thema sein.  Dann wird auch ein offensichtlich dementer Joe Biden »das Bellen der Hunde« vernehmen. Es wird jedoch eher ein feuerspuckender Drache sein, der an die Kuba-Krise erinnert. Damals, im Oktober 1962, stationierte die UdSSR sowjetische Mittelstreckenraketen auf Kuba. Direkt vor Amerikas Haustür.


Voranzeige: Im August erscheint mein Thriller »Dirty Talking«.


 

Weltwoche: Die Rückkehr des Marcos Clans

Eine von drei auf zwei Magazinseiten gekürzte Version erschien am 5. Mai 2022 in der Weltwoche. Hier lesen Sie die ungekürzte Version.


2016 gewann Rodrigo Duterte, 77, die Präsidentschaftswahlen. Eine Amtszeit dauert sechs Jahre, eine zweite ist gemäss Verfassung nicht erlaubt. Darum nannte Duterte frühzeitig seinen Wunschkandidaten für die kommenden Wahlen am 9. Mai: »Bongbong« Marcos, 64, der Sohn des Diktators Ferdinand Marcos (1917-1989). Der Junior kandidierte damals für das Amt des Vizepräsidenten und unterlag schliesslich der Anwältin Leni Robredo, 56.

Sechs Jahre später kämpfen Marcos und Robredo erneut gegeneinander. Diesmal um die Präsidentschaft. Marcos liegt gemäss der April Umfrage immer noch mit historischen 56 Prozent in Führung, Robredo mit 23 Prozent auf Platz zwei. Sie verspricht, was alle versprechen: Weniger Armut, weniger Kriminalität, weniger Korruption und ein Ende der »Anarchie der Familie«, gemeint ist die in Asien verbreitete Sitte, politische Ämter an den Nachwuchs »weiterzuvererben«.

Duterte wollte ursprünglich als Vizepräsident kandidieren, um nach dem Ausscheiden aus dem Amt der Strafverfolgung zu entgehen. Aber kein Präsidentschaftskandidat wollte ihn als Vize. Der internationale Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag ermittelt gegen ihn wegen 7000 Morden. Duterte kennt die Spielregeln. Nach seinem Wahlsieg 2016 liess er gleich die Justizministerin Leila de Lima, 62, medienwirksam im Parlament verhaften. Sie sitzt immer noch hinter Gittern. Wer rettet nun Duterte? Niemand.

Deal mit Duterte

Jetzt ist »Bongbong« Marcos nicht mehr Dutertes Wunschkandidat, sondern »ein verwöhnter Kokainabhängiger, der zu schwach ist für das Amt des Präsidenten«.  Denn als Vize wählte Marcos ausgerechnet die Rechtsanwältin Sara Duterte-Carpio, 43, die Tochter von Duterte. Die Beziehung zu ihrem Vater ist »kompliziert«. Sie ist die Bürgermeisterin der Millionstadt Davao City. Sie »erbte« das Amt von ihrem Vater, als dieser Präsident wurde. Zuvor war sie sein Vize, jetzt ist ihr Bruder Paolo ihr Vize und auch ihre Mutter und der jüngere Bruder Sebastian bekleiden politische Ämter.

Nebst Marcos und Robredo kämpfen vier weitere Kandidaten um den Einzug in den Malacañang-Palast.

Auf Platz 3 erleidet der siebenfache Boxweltmeister Manny Pacmann Pacquiao, 43, mit 7 Prozent einen Knock-Out. Während er in seiner Heimatprovinz Sarangani als Nationalheld gilt, nimmt ihn in Manila kaum jemand ernst. . Nach seinem letzten Kampf in Las Vegas antwortete der Jahrhundertboxer auf die Frage, ob er Präsident werden wolle, Politik sei schwieriger als boxen. Das ist die bitte Erfahrung, die ihm der Wahlkampf beschert. Er wirkt naiv und sprachlich unbeholfen wie ein Primarschüler, vielleicht kann er nur mit den Fäusten sprechen.

Auch er verspricht, die Korruption zu bekämpfen, hängt aber selber in einem Steuerverfahren fest. Als erste Amtshandlung will er eine »mega prison« für korrupte Beamte in Auftrag geben und Sondergerichte für die Verurteilung der Täter einrichten. Im Kongress glänzt der vielbeschäftigte Sänger, Schauspieler und Markenbotschafter durch Abwesenheit und dass »Schwule schlimmer als Tiere« sind, sei einfach Gottes Gebot. Auf seinen Wahlkampftouren verteilt er Tausendpeso Scheine (ca. 20 Euro). Wie im alten Rom.

Auf Platz 4 liegt mit 4 Prozent der frühere Fernsehstar Isko Moreno, 47, heute Bürgermeister von Manila. Aufgewachsen ist er in den Slums von Tondo vor den Toren Manilas. Er spricht den Slang der Strasse und erklärt seine Politik anhand von Powerpoint-Präsentationen. Er will an den Schulen iPads für alle einführen und mit dem Satellitensystem von Elon Musk ein Frühwarnsystem für Naturkatastrophen einrichten. Mit modernster Hightech-Technologien sollen Drogenbarone und nicht Konsumenten aus dem Verkehr gezogen werden.

Ping Lacson, 73, stagniert bei zwei Prozent. Der ehemalige Generaldirektor der Philippine National Police wurde vor einigen Jahren von Interpol international zur Fahndung ausgeschrieben. Er soll mutmasslich den Journalisten Salvador Bubby Dacer erschossen haben, weil dieser ihn des Insiderhandels bezichtigte. Irgendwie konnte der Untergetauchte seinen Kopf aus der Schlinge ziehen und auf die Philippinen zurückkehren. Man wirft ihm vor, dass er während der Diktatur als Chef der Geheimpolizei für die Folterungen verantwortlich war.

Sozialist Leody De Guzmann, 62, erreicht mit 0,03 Prozent das palliative Stadium. Er will die direkte Demokratie einführen, den Diktator Marcos aus dem Heldenfriedhof verbannen, den Dialog mit den Terroristen im Süden suchen und die 250 reichsten Familienclans mit einer einmaligen Steuer von 20 Prozent zur Kasse bitten. Was ihm jedoch fehlt, sind Sponsoren, denn De Guzmann hat kein Geld und seine Wähler haben auch keins. Sponsoren setzen auf aussichtsreiche Kandidaten und erwarten eine Gegenleistung, »utang na lob«, die gegenseitige Bringschuld. Was im familiären Umfeld die Bande stärkt und das fehlende Sozialsystem ersetzt, fördert in der Politik die Korruption. Es kommt nicht von ungefähr, dass man Kongressabgeordnete »Tongressmen« nennt, bestechliche Männer.

Parteien haben auch in diesem Wahljahr kaum Bedeutung. Die Menschen wählen mit Vorliebe Celebrities aus dem Showbizz. Medienpräsenz, Singen und Tanzen scheinen wichtiger als politische Versprechen, die eh keiner einlöst. Beliebt sind auch die Oligarchenclans, die seit Jahrhunderten in ihren Provinzen Politik und Gesellschaft dominieren und sich mit privatfinanzierten öffentlichen Bauten und Geldgeschenken die Wählergunst erkaufen. Ihre Namen haben einen hohen Widererkennungswert und die Clanmitglieder gelten unabhängig von den Untaten ihrer Vorfahren als Celebrities.

Die meisten Marcos-Wähler hätten lieber erneut Rodrigo Duterte gewählt, das Original. „Bongbong« Marcos ist zweite Wahl. Doch wo Duterte draufsteht, steckt der Marcos-Clan drinn, eine Polit-Dynastie, die seit Generationen die Provinz Ilocos Norte beherrscht. Die beiden Familien waren schon immer eng miteinander befreundet. Dutertes Vater diente bereits unter dem Diktator. Die Marcos finanzierten 2016 einen Teil von «Dirty Harrys» Wahlkampf. Als Gegenleistung vergass Duterte sein Wahlversprechen, die gestohlen Marcosmilliarden aufzuspüren. Und mehr noch: Der Clan durfte den einbalsamierten Leichnam des Diktators auf dem Heldenfriedhof begraben. Seit 1993 war der Patriarch auf dem Familienanwesen in einem Glassarg aufbewahrt und in der Warteschlaufe. Die «National Historical Commission of the Philippines» war entsetzt, Angehörige von Ermordeten protestierten. Vergebens.

Am 4. Februar fand die von der Wahlkommission »Comelec« gewünschte erste grosse Fernsehdebatte statt. Zahlreiche TV- und Radiostationen waren anwesend.  Journalistinnen und Journalisten sollten die sechs Anwärter befragen. Einer fehlte: „Bongbong« Marcos. Er mag keine kritischen Fragen. Das sind Fragen nach den 75’000 dokumentierten Verbrechen die sein »geliebter Dad« begannen hat: 70000 wurden in Militärlagern interniert, 34000 davon gefoltert, 3240 ermordet, einige Tausend sind spurlos verschwunden. Es sind Fragen nach dem Verbleib der geraubten 10 Milliarden Dollar, die der Clan dem Land gestohlen hat. Die Schweiz blockierte damals 685 Millionen Dollar Marcos-Gelder auf Schweizer Bankkonten und gab sie nach Jahren an den philippinischen Staat zurück. Das kleptokratische Regime der Marcosfamilie galt in jener Zeit als das zweitkorrupteste der Welt. Und diese Epoche nennt „Bongbong« Marcos das »Goldene Zeitalter der Philippinen«.

Zur Eröffnung seiner Wahlkampagne hielt er eine 20minütige Rede, in der er einundzwanzigmal das Wort »Einheit« benützte. Das ist sein Programm: Einheit. Und die blutige Vergangenheit soll man »den Geschichtsprofessoren überlassen«. Marcos greift keine Mitbewerber an, das finden seine Wähler sympathisch. Er lässt angreifen, das halten seine Fans für Fakenews. Marcos reagiert nicht auf Beleidigungen. Dass Duterte ihn ein verwöhntes Rich Kid nennt, sieht er ihm nach. Er mimt den Gentleman, der über den Dingen steht. Auch schriftliche Interviews lehnt er ab. Er stellt die Fragen. Wie in der TV-Show »Toni Talks«. Die befreundete Schauspielerin und Moderatorin Toni Gonzaga, 38, führte das Vieraugengespräch. Marcos war einst ihr Trauzeuge. Wir erfuhren, dass sein geliebter »Dad« einmal allen seinen Klassenkameraden ein Eis spendierte. So einer war sein Vater, unglaublich nett. Und einmal lacht Bongos Marcos in die Kamera: »Alle grossen Männer haben viele Feinde. Wenn du deine Gegner wütend machst, hast du einen guten Job gemacht.«

Am liebsten tritt Marcos alleine auf und hat alles unter Kontrolle. In über 200 Videoblogs schwärmt er von seinem grossartigen «Dad», dem »besten Präsidenten, den die Philippinen jemals hatten«. Wir erfahren, dass er die gleiche Kleidergrösse hat wie sein Vater, die gleiche Stimme, und dass er und der Diktator praktisch identisch sind. Bereits als 23-Jährigen ernannte ihn sein Vater zum Vizegouverneur der Heimatprovinz Ilocos Norte, sechs Jahre später zum Gouverneur. Als Strohmann der Telekommunikationsfirma Philcomsat bezog er ein für die damalige Zeit astronomisches Jahresgehalt von rund 1,16 Millionen Dollar. Seine Videoblogs sind Homestories, Reality-Soaps.

Zahlreiche Organisationen und Privatpersonen, darunter etliche Angehörige von Folteropfern, verlangten von der Wahlaufsichtskommission COMELEC die Disqualifikation von Marcos, weil er mittlerweile 23 Milliarden Peso angehäufter Steuerschulden hat. Bereits 1997 hatte ihn das Oberste Gericht zur Zahlung verpflichtet. Gemäss Verfassung kann er deshalb nicht kandidieren. Die COMELEC müsste ihn ablehnen. Sie tut es nicht.

Imelda Marcos, 92, die Witwe des verstorbenen Diktators, hat es nie verwunden, dass ihr Clan 1986 von der EDSA-Revolution aus dem Land vertrieben wurde. Corazon Aquino übernahm darauf die Präsidentschaft und gründete als erste Handlung die Presidential Commission on Good Government (PCGG), die ausschliesslich die Aufgabe hat, die verschwundenen Marcos-Milliarden aufzustöbern. Interne Korruption schmälerte den Erfolg. 1991 wagte der Clan deshalb die Rückkehr auf die Philippinen. Imelda spottete in Interviews, es gebe wesentlich mehr Geld als die PCGG bisher aufgestöbert habe: »Uns gehört praktisch alles auf den Philippinen.«

Sie gehört zum Clan der Romualdez, einem der achtzehn Grossfamilien, die seit Generationen den Inselstaat beherrschen. 1993 wurde sie wegen Diebstahls zu 18 Jahren Gefängnis verurteilt, fünf Jahre später hob das Oberste Gericht das Urteil »wegen technischer Fehler« auf. Sie sass nicht einen Tag hinter Gittern. Seit 2014 arbeitet sie daran, dass ihr Sohn Präsident wird und sie zurück in »ihren« Malacañang-Palast bringt. Sie selbst hatte mittlerweile 901 Klagen am Hals und wurde 2018 zu 42 Jahren Gefängnis verurteilt. Aber die »Königin der Diebe« musste ihre Strafe »aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters« nie antreten. Sie war einst das Glamour-Girl der Philippinen, der Malacañang-Palast ein bisschen Buckingham. Sie brachte die Beatles nach Manila, im Oktober 1975 stiegen in Quenzon City die Legenden Muhammad Ali und Joe Frazier in den Ring. Und Fidel Castro gestand ihr, er habe noch nie eine so schöne Frau gesehen. Sie sagt: »Mag sein, dass ich der grösste Star der Gegenwart bin, aber ich bin vor allem die Sklavin der kleinen Leute.«

2014 schmiedete sie einen Plan. Zuerst sollte der ramponierte Ruf der Familie wiederhergestellt werden, um eine spätere Rückkehr zur Macht zu ermöglichen. Das böte die Möglichkeit, die PCGG aufzulösen und alle Strafverfahren gegen kriminelle Clanmitglieder einzustellen. Die Familie kontaktierte die New Yorker Firma Cambridge Analytica (CA), die in den Sozialen Medien versuchte, mit Mikrotargeting das Wahlverhalten zu beeinflussen. Ex-Angestellte und Whistleblower Brittany Kaiser sagt, die Familie habe um ein Rebranding des Familiennamens »Marcos« gebeten. CA schlitterte 2018 in die Insolvenz. Marcos beauftragte eine philippinische Partnerfirma und startete eine gewaltige Desinformationskampagne. Chinesische und philippinische Trollfarms veranstalten seitdem ein beispielloses Brainwashing und verbreiten täglich auf Facebook, TikTok, Youtube, Twitter und Instagram koordinierte Fakenews und zünden Shitstorms gegen die Zweitplazierte Leni Robredo. Geld hat er genug.

Die Pandemie hat zahlreiche Debatten ins Internet verschoben. Von Anfang an fokussierte „Bongbong« Marcos seine Kampagne auf die Sozialen Medien. Hier findet er seine Zielgruppe, junge Menschen, die nach der Diktatur geboren sind. Antonio La Viña, 62, ein ehemaliger Direktor der Ateneo Schule, einer Kaderschmiede für zukünftige Regierungsbeamte, sagt, die Hälfte der Wähler sei zwischen 18 und 41, sie hätten das blutige Kriegsrecht nie am eigenen Leib erfahren. Informationen beziehen sie aus den Sozialen Medien. Es sei sehr einfach, diese Jugend davon zu überzeugen, dass Folter und Morde nie stattgefunden haben. Selbst in ihren Schulbüchern fehlten Fakten zum blutigen Kriegsrecht.

Noch vor zehn Jahren bestritten in einigen Provinzen katholische Priester den Geschichtsunterricht und lehrten, dass Adam und Eva die ersten Menschen auf Erden waren. Leichtgläubige Teenager mit tiefem Bildungsniveau sind leicht zu begeistern. Sie mögen den Glamour, den der Clan ausstrahlt. Sie halten Marcos für einen richtigen Monsieur, der das Ansehen der Philippinen im Ausland wiederherstellen wird. Gebildet sei er auch noch. Erwähnt man, dass sein angeblicher Abschluss an der Oxford University genauso Fake ist wie es damals die Tapferkeitsmedaillen seines Vaters waren, reagieren seine Anhänger irritiert. Ob man denn nicht wisse, dass das alles Fakes sind? Marcos erhielt damals in Oxford einen Trostpreis in Form eines »Spezialdiploms«. Obwohl Clare Woodcock, der Pressesprecher der Universität, öffentlich bestätigt hat, dass Marcos nie einen Bachelor abgeschlossen hat, vertrauen seine Anhänger TikTok mehr als den Medien.

Es ist aber nicht nur die Jugend, die Marcos wählt. Es sind auch Teile der älteren Generation, die damals dem Diktator applaudierten und sich jetzt einen Marcos II wünschen, einen »strong man«.

Am Sonntag, dem 9. Mai, wird der No-show-Kandidat »Bongbong« Marcos zusammen mit der Dutertetochter Sara die Wahlen gewinnen und im Juni mit Mutter Imelda und Senatorenschwester Imee Marcos, 66, in den Malacañang Palast einziehen. Sie werden das »Goldene Zeitalter« fortsetzen. Das »Goldene Zeitalter« des Marcos Clans.


Claude Cueni ist Schriftsteller und lebt in Basel. Er ist mit einer Filipina verheiratet und Autor des Philippinen-Romans »Pacific Avenue«.

Zuletzt erschienen im Verlag Nagel & Kimche die Romane »Genesis« (2020) und »Hotel California« (2021).

Im August (2022) erscheint in der Edition Königstuhl sein Thriller »Dirty Talking«.


 

Bartholdis Strassburger Denkmal

 

Sie ist da und man sieht sie doch nicht. Man fährt jeden Morgen an ihr vorbei und achtet nur auf das Rotlicht. Schützend hält sie ein Schild über eine verzweifelte Frau und einige verstörte Kinder. Das tut sie schon seit 1895. Seit 119 Jahren trotzt sie nicht mehr den Preussen, sondern Luftverschmutzung und Temperaturschwankungen: die Helvetia im Strassburger Denkmal, das gegenwärtig restauriert wird und von einer Schutzplane umhüllt ist.

Das Denkmal stammt von Frédéric-Auguste Bartholdi (1834–1904). Der Bildhauer besuchte die Schulen in Paris. Zur gleichen Zeit studierte ein anderer Junge im Internat vis-à-vis: Gustave Bönickhausen dit Eiffel, der später seinen Namen in Gustave Eiffel abänderte, um wegen der deutsch-französischen Spannungen die Akzeptanz für seinen geplanten Turm zu erhöhen.

Beide reisten, wie es damals für Künstler üblich war, nicht mehr nach Italien, sondern in den Orient, und liessen sich inspirieren. Beim Anblick der monumentalen Pyramiden und der gewaltigen Sphinx erwachte in ihnen der Ehrgeiz, Gigantisches zu erschaffen und dadurch Unsterblichkeit zu erlangen. Im Gegensatz zu den meisten Künstlern des 19. Jahrhunderts brachten sie nicht die Syphilis (maladie franÇaise) nach Hause, sondern pralle Skizzenblöcke, Zeichnungen und erste Fotografien.

Gegensätzliche Charaktere

Während Gustave Eiffel zum genialen Ingenieur, zum Eisenmagier avancierte, verlor sich Bartholdi in gigantische Projekte: Einen neuen Koloss von Rhodos wollte er de Lesseps für die Eröffnung des Suezkanals verkaufen. Die zahlreichen Entwürfe einer Beduinin, die mit ihrer Fackel die Welt erleuchtet, sind noch heute im Geburtshaus von Bartholdi, dem heutigen Museum Bartholdi in Colmar, zu besichtigen.

Eiffel und Bartholdi wurden Rivalen. Eiffel war der Nachfahre einer Dynastie von sieben Generationen von Tapezierern. Er wollte nicht verkleiden, sondern freilegen, damit die nackte Ingenieurskunst zum Vorschein kam. Bartholdi, der Besessene mit italienischen Wurzeln, wollte Patriotismus in Stein hauen, die Herzen der Menschen berühren, aber vor allem das Herz seiner Mutter. Gegensätzlicher hätten die beiden Charaktere nicht sein können, doch die Freimaurerloge Grand Orient de France zwang sie schliesslich zur Zusammenarbeit an der Freiheitsstatue, denn für das innere Gerüst brauchte Bartholdi den besten Ingenieur der damaligen Zeit.

Der plötzliche Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges 1870 unterbrach ihre Karrieren. Die fehlerhafte und gekürzte Übersetzung einer Depesche hatte den gekränkten Kaiser Napoleon veranlasst, den Preussen den Krieg zu erklären. Bartholdi, der heissblütige Patriot, zog in den Krieg.

Die Preussen setzten den Strassburgern übel zu und erweckten das Mitleid der Schweizer. Abordnungen aus Basel, Bern und Zürich erbarmten sich ihrer und erhielten nach zähen Verhandlungen von der badischen Regierung die Erlaubnis, 1400 Frauen, Kinder und Greise aus der schwer belagerten Stadt, in die Schweiz zu bringen. Der Baron Hervé de Gruyer, ein glühender Strassburger Patriot, wollte der Schweiz später aus Dankbarkeit ein Denkmal schenken.

1895 war es so weit. Bartholdi war mit seiner Freiheitsstatue weltberühmt geworden und sein Konterfei zierte selbst Wein- und Käseetiketten in den New Yorker Spirituosenläden. Gustave Eiffel hatte gegen den Widerstand von tout Paris seinen Eisenturm pünktlich zur Weltausstellung fertiggestellt, obwohl ihn einige für die Phallus-Fantasien eines narzistisch Verhaltensgestörten hielten. Sogar Victor Hugo und Émile Zola unterschrieben die Petition, die in ganzseitigen Inseraten publiziert wurde; der Turm sei die «Kathedrale der Alteisenhändler», Ale­xandre Dumas attestierte diesem Eisenskelett, das sich «wie der Tod über Paris erhob», gar eine «frappierende Hässlichkeit». Eiffel wagte sich an ein noch grösseres Projekt, den Panamakanal, doch die Malariamücken brachten ihn zu Fall, ein gigantischer Finanzskandal vor Gericht, und dann krachte auch noch die von ihm konstruierte Brücke in Münchenstein in die Birs und riss 73 Menschen in den Tod.

Auch das Strassburger Denkmal war keine einfache Geburt. In einem Rapport vom September 1891, an die federführende Fachkommission des Innendepartementes, wird festgehalten, dass «die Figuren Anlass zu gewissen Beobachtungen» geben. Kein Detail ist zu klein, um nicht erörtert zu werden. Bemängelt wird u. a. dass die Körperhaltung des Kindes zu sehr der Körperhaltung des Engels gleicht, die einen wollen ein Knie ändern, die andern eine Fussstellung, Bartholdi war bestimmt nicht zu beneiden. Aber wie üblich hat Bartholdi das Projekt zu Ende gebracht.

Das Strassburger Denkmal steht immer noch auf dem Centralbahnplatz beim Bahnhof SBB. Die Figurengruppe stellt eine Frau mit Kindern dar, die von einem Engel und einer Helvetia beschützt werden. Doch die Frauenstatuen sind bei Bartholdi nie, was sie vorgeben zu sein. Die Helvetia ist ein weiterer Avatar der Göttin Minerva- Athena, eine abgewandelte Kopie der ersten Entwürfe der Freiheitstatue.

Denkmäler sind manchmal beliebt, manchmal nicht, oft sind sie anfangs umstritten oder gar unerwünscht (wie die Freiheitsstatue) oder gar verhasst (wie der Eiffelturm), dann mutieren sie zum Wahrzeichen einer Stadt, eines Landes oder gar zu einem Symbol. Und dann kommen die Woke Ignoranten und glauben, Sie könnten Geschichte umdrehen, wenn sie Monumente zerstören.

Das Strassburger Denkmal steht für die zweite Hälfte des zweiten 19. Jahrhunderts, für die atemberaubende Epoche der Gründerzeit, dem Zeitalter der Beschleunigung, als Eisenbahnen die Pferdekutschen ablösten, als Telegrafieren bis zu den Goldgräbern in Klondike möglich wurde; es ist die Epoche der zahlreichen bekannten Unbekannten: Der Reisekofferhersteller Louis Vuitton lässt sich von Gustave Eiffel Stahlträger für seinen ersten Laden in Paris bauen, Flaubert schreibt «Emile Bovary», US-Präsident Ulysses Grant besucht Bartholdis Pariser Atelier, Detektiv Allan Pinkerton («We never sleep») gründet die weltweit grösste Privatdetektei, Marx und Engels schreiben gegen das Elend in den Fabriken an. Es ist die Epoche des überbordenden Enthusiasmus, der bahnbrechenden Erfindungen wie Grammofon, Dynamit, Telefon, Glühbirne und Repetiergewehr. Die Begeisterung für neue Technologien kennt kaum Grenzen, Europa ist im Aufbruch, es entstehen die ersten grossen Industriedynastien.

Eine gewaltige Epoche

Es ist die Epoche des rücksichtslosen Kolonialismus in einer zunehmend vernetzten Welt, es ist die Tragödie des gnadenlosen 14-Stunden-Tags in stickigen Fabrikhallen, der Aufstieg Amerikas, der Untergang Englands und von Bismarcks Staatsräson. Im Zuge der industriellen Revolution entsteht ein neuer Realismus in der Literatur, Mary Shelley erschafft «Frankenstein», Jules Verne taucht 20 000 Meter tief ins Meer. Wir erleben die letzten grossen Typhus- und Cholera-Epidemien, ein Jahrhundert voller Finanz- und Weltwirtschaftskrisen. Der neue Goldstandard befeuert den Goldrausch in Alaska und mit der Beendigung des Deutsch-Französischen Krieges von 1870, ziehen unheilvolle Wolken am Himmel auf. Es ist die Geburt des Nationalismus, der das nächste Jahrhundert in Flammen ­setzen wird.

Das Strassburger Denkmal ist nicht einfach ein Klotz aus Carrara-Marmor, es ist die Erinnerung an eine gewaltige Epoche, an einen grossen Künstler und an eine hilfsbereite Stadt.

Und wäre Bartholdi noch am Leben, wer weiss, ob er dem Bundesrat nicht vorschlagen würde, auf einem unserer Berge eine monumentale Statue zu errichten, eine sitzende Helvetia. Dass er uns erneut eine seiner Liberty-Modelle unterjubeln würde, für die angeblich seine vergötterte Mutter Modell stand, sollte uns nicht kümmern. Wir sollten uns anhören, wieso das nicht möglich ist und es dann trotzdem versuchen.

110 Blick »Freie Rede und reiche Wichser«

 

«Wieso gehört am Ende alles reichen Wichsern, die machen können, was sie wollen?», kommentierte ZDF-Moderator Jan Böhmermann den Verkauf von Twitter an Elon Musk. Solche Sätze wird er auch in Zukunft twittern dürfen, denn das Ziel von Elon Musk ist «free speech». Freie Rede bedeutet das Recht, Dinge zu sagen, die niemand hören will.

Ist Böhmermann, der mit den Regelungen der US-Aufsichtsbehörde SEC offenbar nicht vertraut ist, auch ein «reicher Wichser», nur weil er gemäss Vermögensseiten geschätzte fünf Millionen besitzt? Es ist komplizierter. Das schnoddrige Etikett hängt nicht wirklich vom Vermögen ab.

Klimaaktivistin Carla Reemtsma (24) erbte im Schlaf ein millionenschweres Aktienpaket. Zusammen mit ihrer Cousine Luisa Neubauer und Millionärin Greta Thunberg sind sie die Opinion Leaders der deutschen Klimabewegung. Sie haben in ihrer Kindheit alles genossen, was die Verbrennung fossiler Stoffe möglich machte, sind privilegiert um die Welt gereist, haben den Altersrassismus salonfähig gemacht und monetarisieren auf Twitter sehr erfolgreich den unmittelbar bevorstehenden Weltuntergang. Werden sie dafür kritisiert? Entbindet die «richtige Gesinnung» von jedem Verdacht? Gab es einen Shitstorm, als Multimilliardär Jeff Bezos die «Washington Post» kaufte?

Elon Musik verdiente sein Vermögen nicht mit Reden, sondern mit Taten. Mit Tesla und Solarcity tut er mehr für das Klima als der gesamte Akademikernachwuchs, der sich mit Märtyrermiene auf Kreuzungen klebt und die Leute davon abhält, rechtzeitig zur Arbeit zu erscheinen. Schmälert sein finanzieller Erfolg mit SpaceX seine Verdienste?

Celebrities drohen wie üblich mit dem Verlassen von Twitter (und werden trotzdem bleiben). Was fürchten sie denn? Hass und Hetze? Die Grenzen der Meinungsfreiheit zieht der Gesetzgeber und nicht die aktuelle Woke-Redaktion des Kurznachrichtendienstes. Gemäss einer Twitter-Umfrage sagen 70 Prozent der Teilnehmer, dass es auf Twitter keine Meinungsfreiheit mehr gibt.

Musk setzt um, was der französische Philosoph Voltaire am Vorabend der Aufklärung forderte und hofft, dass auch «seine schlimmsten Kritiker auf Twitter verbleiben werden». Denn das sei genau das, was mit «free speech» gemeint sei.

Interview. XUND auf Besuch beim Schriftsteller Claude Cueni

XUND auf Besuch beim Schriftsteller Claude Cueni

Interview: Jörg Weber / 21. April 2022

«Selbstmitleid ist Zeitverschwendung»


XUND: Vor 12 Jahren sind Sie an Leukämie erkrankt. Hatten Sie Symptome, die Sie veranlassten, sich untersuchen zu lassen?

Claude Cueni: Ja, nach dem Krebstod meiner ersten Frau brach mein Immunsystem zusammen. Das war 2008. Meine Nebenhöhlen waren über Monate entzündet und ich verlor immer mehr Kraft und Energie. Am Ende kam ich kaum noch die Treppe hoch. Ich führte meine Erschöpfung auf die anspruchsvolle Pflege meiner verstorbenen Frau zurück. Nachdem der Krebs überall Metastasen gestreut hatte, veränderte sich ihr Wesen und sie wurde sehr bösartig und aggressiv und bestand darauf, dass nur ich sie pflege. 24 Stunden am Tag.

Wie wurde die Leukämie bei Ihnen entdeckt?

Nach ihrem Tod untersuchte ein Hals-Nasen-Ohren-Arzt mein Blut. Eine Knochenmarkpunktion ergab: Akute Lymphatische Leukämie (ALL). Ich wollte nach der Punktion nach Hause und kochen, aber der Arzt auf der Hämatologie sagte, ich müsse gleich hierbleiben, man müsse sofort alle Checkups durchführen, damit man in zwei Tagen mit den Chemos beginnen könne. Mein Sohn war alleine zu Hause. Aufgrund seiner Gehbehinderung war er auf mich angewiesen. Um ihn machte ich mir mehr Sorgen.

Wie wurde die Krankheit behandelt?

Ich lag sechs Monate auf der Isolierstation der Hämatologie des Basler Unispitals, erhielt Chemoinfusionen und wurde bestrahlt. Kaum jemand rechnete damit, dass ich überlebe. Aus den Augen aus dem Sinn. Ich verlor praktisch meinen gesamten Bekanntenkreis. Infolge Hirnblutungen fiel ich ins Koma. Man musste mir beidseitig den Schädel aufbohren. Gerade rechtzeitig wurde nach fünfeinhalb Monaten ein geeigneter Spender gefunden.

Sind Sie mit der medizinischen Betreuung und Behandlung in all den Jahren zufrieden?

Aber sicher! Ich hatte das grosse Glück, dass ich in der Schweiz erkrankte und im Basler Universitätsspital behandelt wurde. Ich empfinde enorm viel Sympathie und Dankbarkeit für das Personal in der Hämatologie. Ich bewundere ihre Leistung, ihre Herzlichkeit und ihre mentale Stärke. Es ist nicht einfach, den ganzen Tag mit Schwerstkranken zu verbringen.

In Ihrem jüngsten Buch «Hotel California» bezeichnen Sie sich als «Schreibmaschine». Trotz Ihrer schweren Erkrankung waren Sie unermüdlich schriftstellerisch tätig und haben unter anderem mehrere Bücher, diverse Artikel und Zeitungskolumnen veröffentlicht. War und ist das Schreiben für Sie auch eine Art Therapie?

Ich habe immer viel geschrieben. Aber nie so viel wie ich wollte, da ich stets viele private Aufgaben hatte. Als ich an Leukämie erkrankte, gab mir das Schreiben Struktur und stärkte meinen Durchhaltewillen. Man will ja ein Buch zu Ende schreiben. In meinem autobiographischen Roman «Script Avenue» schrieb ich: «Solange ich schreibe, werde ich nicht sterben». Jedes Mal, wenn ich ein Buch beendet hatte, realisierte ich, dass ich gemäss Statistik längst tot sein müsste und bereits in der Nachspielzeit lebe. Also begann ich gleich mit dem nächsten Roman und kehrte in meine fiktiven Welten zurück.

Welche Auswirkungen hatte und hat die Corona-Pandemie auf Ihr Leben?

Ich bin seit 12 Jahren immunsupprimiert, d.h. ich muss täglich Medikamente einnehmen, die das Immunsystem unterdrücken. Deshalb verbringe ich eh jeden Winter in Quarantäne. Mit Corona wurden es jedoch 24 Monate. Ich wäre auch länger in Quarantäne geblieben, damit Gesunde nicht eingeschränkt werden. Wegen Corona habe ich notwendige Untersuchungen aufgeschoben. Leider rächt sich das jetzt.

Konnten Sie sich trotz Ihrer Krankheit und den Medikamenten, die Sie nehmen müssen, gegen Corona impfen lassen?

Meine jetzige Frau Dina und ich haben zwei Biontech-Pfizer-Impfungen und den Booster erhalten. Ich habe zurzeit noch ausreichend Antikörper.

Claude Cueni: «Der aussergewöhnlichste Autor der Schweiz»

Matthias Ackeret, Chefredaktor Branchenmagazin «persönlich»

Sie gehören nicht zu den «Mainstream-Schriftstellern» und packen auch in den Medien – wie in Ihrer «Blick»-Kolumne – Themen an, die andere lieber ignorieren. Ein Jahr nach dem Anschlag auf die Satire-Zeitschrift «Charlie Hebdo» 2015 in Paris erschien Ihr Bestseller «Godless Sun», der das Thema Islamismus kritisch beleuchtet. Hatten Sie nie Angst, wie die Mohamed-Karikaturisten von Islamisten «bestraft» zu werden?

Ich gehöre nicht zu den Autoren die ihre Bedeutung überschätzen. Da ich in jener Zeit nur mit viel Glück am hellichten Tag einem Raubüberfall entkam, beantragte ich einen Waffenschein und kaufte mir einen Revolver. Naja, er liegt seitdem in einer Schublade. Und wenn mich einer erschossen hätte, wäre es eher aktive Sterbehilfe gewesen.

Während der ersten Covid-Welle in der Schweiz, erschien Ihr Roman «Genesis. Pandemie aus dem Eis». Wie kamen Sie auf die Idee zu diesem Roman, der sozusagen von der Realität eingeholt wurde?  

Ein Bericht über jahrtausendalte Viren, die man im auftauenden Permafrost gefunden hat, brachte mich auf das Thema. Aber ich hatte nie Interesse einen dystopischen Roman zu schreiben. Im Zentrum steht eine indische Köchin, die vor ihrem Clan nach London flüchtet. Es geht um Menschen und nicht um Themen. Zwei Monate nachdem ich den Vertragsvertrag unterzeichnet hatte, begann die Pandemie. Es wird leider weitere geben.

Abgesehen von den Auswirkungen Ihrer Krankheit: Fällt Ihnen das Schreiben heute aufgrund der Routine und Erfahrung leichter als in Ihren Anfängen als Schriftsteller? Zu welcher Tageszeit sind Sie am produktivsten?

Ja, sehr viel leichter. Wenn ich an einem Roman arbeite, träume ich fast jede Nacht Szenen und murmle Dialoge im Schlaf. Meine verstorbene Frau weckte mich jeweils auf, sie war «not amused», meine jetzige Frau ist Asiatin und nimmt es mit Humor, denn sie weiss: ich arbeite. Wenn ich aufstehe, kann ich weiterschreiben, als hätte ich das, was ich gleich schreiben werde, bereits erlebt. Mit jedem neuen Roman lerne ich dazu, die Dialoge sind geschliffener, die Szenen besser geschnitten. Es ist wohl Murphys Law, dass mir das Schreiben zwar leichter fällt, aber der Körper zerfällt. Da ich auch nachts Muskel- und Nervenschmerzen habe, bin ich spätestens um 02.00 Uhr wach. Nach 12.00 Uhr sind die Batterien leer. Frühmorgens ist meine produktivste Zeit.

XUND-Lesern, die noch nichts von Ihnen gelesen haben: welches Ihrer Bücher empfehlen Sie ihnen als erste Lektüre aus Ihrer Feder?

Niemand muss meine Bücher lesen. Aber wenn jemand fragt, nenne ich den historischen Roman «Das Grosse Spiel» über den Papiergelderfinder John Law. Mein Sohn hatte die Idee. Das Buch war auf Platz 1 der Schweizer Bestsellerliste und wurde in 13 Sprachen übersetzt. In China war es auf der Jahresliste der lesenswertesten Bücher.

Vielleicht ist auch der autobiographische Roman «Script Avenue» erwähnenswert. Mein Sohn hat mich dazu ermuntert, als ich im Spital lag. Die Zuschauer von SRF wählten den Roman zur bewegendsten Geschichte des Jahres und verliehen ihm den »Golden Glory«.

Sie haben in jüngeren Jahren viele Drehbücher für erfolgreiche Fernsehfilme und Fernsehserien wie «Peter Strohm», «Eurocops», «Autobahnpolizei Cobra 11» oder «Tatort» geschrieben. Sehen Sie sich heute noch gern Serien an?

Auf Netflix manchmal. Aber keine deutschsprachigen Serien. Die wollen belehren und nicht unterhalten. Ich wollte kürzlich «Barbarian» schauen, aber die Kelten denken und reden so wie im Jahre 2022, die sind alle woke, das ist unfreiwillig komisch. Nachhaltig beeindruckt hat mich auf Netflix «Queen’s Gambit». Der Film ist aus meiner Sicht perfekt, einfach grandios, ein Meisterwerk. Ich habe ihn bereits dreimal angeschaut.

Ihr letztes Buch «Hotel California» haben Sie als Vermächtnis ihrer 3- jährigen Enkeltochter Elodie gewidmet. Was wollten Sie Elodie damit weitergeben?

Meine Lebenserfahrung, obwohl ich mir im Gegensatz zu vielen Kulturschaffenden bewusst bin, dass ich nicht das Mass aller Dinge bin. Doch das Leben unter dem Damoklesschwert schärft den Blick für das Wesentliche.

2019 lag ich wieder auf der Intensivstation. Die Ärzte sagten mir, es könne jetzt jederzeit zu Ende gehen. Meine Frau fuhr mich nach Hause und ich begann einen Abschiedstext für meine damals noch ungeborene Enkelin Elodie zu schreiben. Ich wollte ihr sagen, was im Leben wirklich zählt, weil man das erst am Ende des Lebens realisiert. Wenn es zu spät ist. Wenn es vorbei ist. Doch der Text ist mir total entglitten und es wurde ein surrealistischer Lebensratgeber in Romanform.

Welche Bücher lesen Sie selbst gegenwärtig?

Keine. Ich lese täglich ca. drei Stunden die internationale Presse: Hongkong, Philippinen, Europa und später USA. Mehr geht nicht. Die Spätfolgen der erfolgreichen Knochenmarktransplantation haben nicht nur 60 Prozent meiner Lunge abgestossen, sondern auch die Augen und anderes mehr geschädigt.

Wann darf Ihre Fangemeinde Ihr nächstes Buch erwarten?

Im August erscheint »Dirty Talking«. Ob es dann noch ein nächstes Buch geben wird, weiss ich nicht. Ich bin letztes Jahr an einem weiteren Krebs erkrankt. Das ist nach 12 Jahren Immunsupression nicht ungewöhnlich, aber auch kein Trost. Dann hat die Polyneuropathie, eine weitere Spätfolge der Bestrahlungen, die Nerven in den Händen geschädigt. Ich kann nicht mehr stundenlang schmerzfrei tippen. Diktieren kommt für mich nicht in Frage, denn ich bin ein impulsiver Schnellschreiber, der permanent korrigiert. Da würde jede Schreibkraft den Verstand verlieren.

Wie wird man mit einer solchen Situation fertig?

Selbstmitleid ist Zeitverschwendung. Man muss sich über das freuen, was noch möglich ist und nicht über das ärgern, was nicht mehr möglich ist. Ich habe trotzdem viel Freude am Leben. Ich habe ein sehr inniges Verhältnis zu meinem Sohn und eine ausserordentliche Frau, die mich mit viel Liebe und Humor durch mein Martyrium begleitet. Mit ihrer Lebensfreude hat sie die philippinische Sonne in meinen Alltag gebracht. In ihrer Kultur zählt nur die Gegenwart.


Interview: Jörg Weber

www.cueni.ch


Biografie kompakt

Claude Cueni

Geboren 1956 in Basel. Muttersprache Französisch. Nach dem frühzeitigen Abbruch der Schule reiste Cueni durch Europa, schlug sich mit zwei Dutzend Gelegenheitsjobs durch, die immer auch der Stoffbeschaffung dienten. Nach  zehn erfolglosen Jahren veröffentlichte er Hörspiele, Theaterstücke, Krimis und über 50 Drehbücher für Film- und Fernsehen.


 

 

109 Blick »Fortschritt durch kulturelle Aneignung«

155 nach Christus schwärmte der griechische Autor Aelius Aristides für Globalisierung und kulturelle Aneignung. Entlang der Handelsrouten wurden Produkte getauscht, zu Hause kopiert und weiterentwickelt. «Cultural appropriation» führte meistens zu einer Bereicherung und Beschleunigung des Fortschritts. Ohne diese gegenseitige Inspiration würden heute noch grosse Teile der Menschheit als Nomaden durch die Steppen ziehen, mit Holzspeeren ihr Mittagessen jagen und Emojis an die Höhlenwände malen. Einige würden bereits in der Bronzezeit leben, andere zum Mond fliegen.

 

Um zu realisieren, wie bescheuert die Kritik der «kulturellen Aneignung» ist, muss man das konsequent zu Ende denken: People of Colour dürfen dann weder Handy noch Internet nutzen, keine Autos fahren, keine Lifte betreten, keine Antibiotika einnehmen. Und kein Nichtweisser dürfte «Give peace a chance» singen. Denn all diese Errungenschaften wurden nun mal von Weissen vollbracht, aber kein Bleichgesicht käme auf die Idee, People of Colour die Nutzung ihrer kulturellen Leistungen übel zu nehmen.

 

Im Gegenteil: Es ist uns völlig egal, ob Nichtweisse jodeln, in Appenzeller Trachten herumlaufen oder Fondue essen. Wir sehen das eher als Kompliment. Und haben wir nicht selbst arabische Zahlen, Geometrie, Astronomie, Schiesspulver, Papierherstellung, den Blues und vieles mehr übernommen? 

 

Darf man sich morgen noch exotische Sprachen aneignen? Es ist schon erstaunlich, dass diese Absurditäten Universitäten erobern. Wie wohlstandsverdorben muss man sein, um solche «Probleme» zu erfinden? Erleben wir nicht bereits in der Gastronomie, wie kulturelle Aneignung Speisekarte und Lifestyle bereichern?

 

Wer diese gegenseitige Befruchtung ablehnt, erschwert die Verständigung zwischen den Kulturen, grenzt sich ab und spaltet die Gesellschaft wie Rechtsextreme, die Fremdartiges ablehnen. Auch wenn die Motivation eine andere ist. 

 

Die Welt ist nun mal bunt wie die Natur und hat nichts übrig für diesen totalitären Zeitgeist. Tragen Sie Dreadlocks, tanzen Sie Samba, kochen Sie indonesisch und schicken Sie Ihre Kinder in Indianerkostümen an die Fasnacht. Wenn jemand damit ein Problem hat, ist es sein Problem und nicht Ihr Problem.

Verlängert Nestlé Putins Krieg?

Gastkommentar, Blick vom 21.3.2022

Die Arbeitsgruppe Dritte Welt Bern nannte 1974 ihre Studie «Nestlé tötet Babys» und kritisierte das Marketing, das dazu führe, dass stillfähige Mütter ihren Babys lieber Nestlés Milchpulver verabreichten und dieses mit verunreinigtem Wasser zubereiteten. In späteren Jahren wurde dem weltweit grössten Nahrungsmittelkonzern vieles vorgeworfen: Tierversuche, Kinderarbeit, die Zerstörung des Regenwaldes und die Gewinnung von Flaschenwasser, das je nach Region zu einem Absinken des Grundwasserspiegels führte.

Nestlé wurde zu einem Lieblingsfeind der NGOs. Wer Nestlé bashte, war stets auf der sicheren Seite. Denn alles, was «multinational» ist und erfolgreich Milliarden umsetzt, ist für viele bereits des Teufels. Man vergisst dabei gern, dass es nicht Secondhandshops sind, die Schulen, Spitäler und Sozialsysteme finanzieren. Trotzdem muss Kritik geübt werden, wenn Kritik angebracht ist. Aber 1974 ist nicht 2022.

Der Naturforscher Alexander von Humboldt (1769–1859) sagte einst, die gefährlichste aller Weltanschauungen sei die Weltanschauung derer, die sich die Welt nie angeschaut haben. Hat einer der Anti-Nestlé-Demonstranten jemals einen Geschäftsbericht von Nestlé gelesen?

2017 wurde der deutsche Mark Schneider CEO und begann im Eiltempo einen Konzern umzukrempeln, der in 189 Ländern 328 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beschäftigt. Das zu Recht kritisierte Wassergeschäft in den USA wurde grösstenteils abgestossen, Schneider steckte rund eine Milliarde in fleischlose Ernährung, stufenweise Reduktion von Zucker und Salz, umweltfreundliche Verpackungen und nachhaltiges Wirtschaften. Nicht zur Freude aller Aktionäre. Haben die Nestlé-Hater diesen Wandel nicht mitbekommen? Auch wenn die Motive mehrheitlich geschäftlicher Natur sind, ändert es nichts daran, dass der Konzern grüner wird, als man sich das jemals hätte vorstellen können.

Nach «Nestlé tötet Babys» skandiert man heute, dass Nestlé Putins barbarischen Krieg mitfinanziert. Aus diesem Narrativ lassen sich eindrückliche Fotomontagen kreieren. Doch es geht nicht um Rohstoffe, Elektronik oder militärisch nutzbares Material, das den Krieg verlängern würde. Es geht um Nahrungsmittel, die in Russland für den russischen Markt produziert werden und 7000 Angestellten (und ihren Familien) ein geregeltes Einkommen sichern. Ähnlich wie Nestlé verfahren auch Konkurrenten wie Mondelez, Danone und Unilever.

Man kann das kritisieren, wenn man abends friedlich in einem Wohnzimmer sitzt, das mit russischem Gas geheizt wird, und dabei eine Pizza Buitoni (Nestlé) isst, anschliessend einen Becher Häagen-Dazs (Nestlé) geniesst und sich zum Abschluss einen Nespresso genehmigt.

Ein Kollege von mir lebt in Russland, ist in der Ukraine geboren, dort lebt auch seine gesamte Verwandtschaft. Putins Krieg hat seinen internationalen Onlineshop ruiniert. Bei einem Produktions- und Lieferstopp von Grundnahrungsmitteln würde sich die Wut nicht gegen Putin richten, sondern gegen den Westen. Das würde eine Normalisierung nach Kriegsende doch erheblich erschweren.

Wer wirklich Putin mit Boykotten finanziell austrocknen will, muss aufhören, täglich (!) für 660 Millionen Euro russisches Gas und Öl zu importieren und in Kauf nehmen, dass auch eigene Betriebe lahmgelegt werden und zu Hause ein bisschen gefroren wird. Frieren für den Frieden? Lieber nicht, werden einige sagen, und eine gelbblaue Fahne aus dem Fenster hängen und ein paar bunte Smarties (Nestlé) einwerfen. 

 

108 Blick »Von linken und rechten Faschisten«

«Wenn der Faschismus wiederkehrt, wird er nicht sagen: ‹Ich bin der Faschismus.› Nein, er wird sagen: ‹Ich bin der Antifaschismus.›» Das Zitat stammt vom italienischen Sozialisten Ignazio Silone (1900– 1978), nachzulesen in François Bondys Buch «Pfade der Neugier: Portraits».

Die Antifaschisten nennen sich heute «Antifa» und marschieren meist vermummt mit Slogans wie «Zürich nazifrei» durch die Strassen. Stehen die Nazis etwa kurz vor der Machtübernahme?

Im Jahr 2020 wurden gemäss dem Lagebericht 2021 des Nachrichtendienstes des Bundes 208 Ereignisse im Bereich Links- und 21 Ereignisse im Bereich Rechtsextremismus beobachtet. Bei den Gewalttaten wurden beim Linksextremismus 107 Fälle registriert, beim Rechtsextremismus ein Fall.

Hat etwa die Antifa die Schweiz bereits erfolgreich von den Nazis gesäubert? Oder macht sie aus einer überschaubaren Gruppe militanter Extremisten gleich eine halbe Armee, um ihre Saubannerzüge zu legitimieren und ihre Aktionen noch heldenhafter erscheinen zu lassen?

Rechtsextremisten und Linksextremisten sind Brüder und Schwestern im Geiste. Sie haben mehr Gemeinsamkeiten mit Mussolinis Schlägerbanden und der Prügeltruppe des russischen Innenministeriums (Omon), als ihnen lieb ist.

Der heute 86-jährige Horst Mahler sorgte in Deutschland als linker Terrorist für Furore, heute ist er Neonazi und Holocaustleugner. Er hält seine 180-Grad-Pirouette nicht für einen Seitenwechsel, sondern für eine Weiterentwicklung. Geblieben ist der Extremismus. Wechsel ohne Wandel gibt es auf beiden Seiten.

Der Engländer Matthew Collins gehörte einst zur rechtsextremen Combat-18-Gruppe, heute kämpft er gegen seine einstigen Kumpels.

Qaasim Illi, Vorstandsmitglied des Vereins Islamischer Zentralrat Schweiz (IZRS), wurde 2005 in Schaffhausen wegen des Besitzes von verbotener Pornografie mit menschlichen Ausscheidungen verurteilt. 2020 trägt er Bart und wird wegen Veröffentlichung zweier islamistischer Propagandavideos verurteilt.

Was die meisten linken und rechten Extremisten oft gemeinsam haben: Antisemitismus, Antikapitalismus, Demokratiefeindlichkeit und Missachtung der Meinungsfreiheit. Einem totalitären Staat sind sie selten abgeneigt. Sofern sie alleine am Steuer sitzen.


Claude Cueni schreibt jeden zweiten Freitag im Blick. Zuletzt erschienen im Verlag Nagel & Kimche die Romane «Genesis» (2020) und «Hotel California» (2021).

Im August 2022 erscheint der Thriller »Dirty Talking«.

107 Blick »Tote Pferde kann man nicht reiten«

Der kleine Junge erschrak zu Tode. Ein zotteliger Eisbär von zwei Meter Länge hatte seine riesigen Pranken auf seine Schultern gelegt. Er schrie, doch seine Eltern lachten ihn aus. Sie befahlen ihrem Sohn, endlich stillzuhalten, damit der Fotograf an der Strandpromenade Ostseebad ein unverwackeltes Bild schiessen konnte. 

Heute findet man ab und zu auf Flohmärkten vereinzelt Schwarz-Weiss-Fotos, auf denen Touristen mit einem Eisbären posieren. Die Unbekannten im Eisbärenkostüm sitzen auf Motorrädern, posieren mit US-Soldaten, schieben Kinderwagen, stehen stramm neben Geschäftsleuten in feinem Tuch oder herzen Frauen in Badeanzügen in einer zweideutig frivolen Art, die heute eine hysterische Bärenjagd auslösen würde

Den Hype ausgelöst hatte der Berliner Zoo in den 1920er-Jahren. Um die Attraktivität zu erhöhen, steckte er einen hitzebeständigen Angestellten in ein schneeweisses Eisbärenkostüm und schickte ihn zusammen mit einem Fotografen vor den Eingang. Heute kann man in den Niederlassungen von Madame Tussauds in London, New York oder Shanghai mit Albert Einstein, Queen Elisabeth oder Dwayne Johnson posieren. Damals waren solche Erinnerungsfotos so aussergewöhnlich, dass daraus ein Geschäft wurde. Eingespielte Duos traten an Jahrmärkten auf und sicherten sich damit ein gutes Einkommen. Ein Fotoshooting kostete mehr, als ein Arbeiter in der Stunde verdiente. 

Nie das Ende von allem

Ende der Sechzigerjahre besassen immer mehr Menschen einen eigenen Fotoapparat, Kameras aus Fernost eroberten den Massenmarkt, das Schwitzen im Eisbärenkostüm hatte ein Ende. Die Fotografen suchten sich neue Sujets, denn «auf toten Pferden kann man nicht reiten». Wer die Weisheit der Dakota-Indianer nicht beherzigte, den bestrafte das Leben. Kostümierte Maskottchen wurden im Fussball, in Disneyparks und vor Fast-Food-Ketten gebräuchlich, aber die Zeit der Eisbären war endgültig vorbei. 

Der technische Fortschritt beendet sowohl die kleinen als auch die grossen Hypes, die der Zeitgeist ausscheidet. Er lässt Branchen sterben und neue entstehen. Das Ende von etwas ist nie das Ende von allem.

Die Eisbären sind verschwunden, der Drang nach dem «besonderen Foto» ist geblieben. Im Selfiezeitalter ist jeder sein eigener Eisbär.

106 Blick »Licht aus«

 

Wo der Herr nicht die Stadt behütet, dort wacht der Wächter umsonst», heisst es in Psalm 127. Doch da der Herr keine Securitas-Dienste verrichtet, wurde in den rasch anwachsenden Städten des 18. Jahrhunderts ein neuer Beruf geboren: der Nachtwächter.

Er sorgte für Law and Order und sagte sogar die Stunden an, was Schlafende bestimmt brennend interessiert hat.

Die Zeitanzeige diente vor allem dem Nachweis, dass er seinem Beruf nachkam. Eine frühe Version der Stechuhr. Mit Hellebarde, Schlüsselbund, Laterne und Horn schritt er die Gassen ab, überprüfte die Stadttore und erfüllte auch polizeidienstliche Aufgaben. Trotzdem entsprach sein Ansehen in etwa dem des Henkers. Man war auf ihn angewiesen, aber man mochte ihn nicht.

Mit dem weiteren Anwachsen der Städte wurde der nächtliche Allrounder allmählich durch Feuerwehren und Polizeidienste ersetzt, und nach der Elektrifizierung der Städte war er nur noch Geschichte. Es wurde Licht.

Heute möchten Lichtskeptiker diese Errungenschaft am liebsten rückabwickeln, doch aus gutem Grund gab es bereits in der Antike Strassenbeleuchtungen. Öllampen in Mauernischen boten Lichtpunkte, die Spätheimkehrern die Orientierung erleichterten. Vermögende konnten sich zwar einen Sklaven leisten, der ihnen mit einer Fackel voranging, aber in der Regel blieben die Menschen nach Einbruch der Nacht zu Hause. Auch aus Sicherheitsgründen.

Das leuchtete auch dem Sonnenkönig Louis XIV. (1638–1715) ein. Ab 1667 wurden die Strassen von Paris mit Öllampen beleuchtet. In einer Zeit, in der man den Nachttopf noch aus dem Fenster kippte, war es hilfreich, wenn man sah, wohin man trat. Es ging dem König aber nicht um die Verhinderung von Schenkelhalsbrüchen, sondern um das Verscheuchen von kriminellem Gesindel.

Die Zeit der Aufklärung war in doppeltem Sinn die Zeit der Lichter (siècle des lumières). Nicht alle mochten sie. In Winterthur stritten Anfang des 19. Jahrhunderts Konservative gegen Modernisten, weil künstliches Licht angeblich einen Eingriff in die göttliche Ordnung darstellt. Heute fordern einige ein staatliches Verbot von nächtlicher «Lichtverschmutzung» im Stadtgebiet. Gilt für Mieter in Hochhäusern demnächst Lichterlöschen ab Mitternacht?

105 Blick »Die Toten ruhen, die Hinterbliebenen streiten«

Man könnte viele Beispiele für unsinnige Ausgaben nennen, aber keines ist treffender als die Errichtung einer Friedhofsmauer. Die, die drinnen sind, können sowieso nicht hinaus, und die, die draussen sind, wollen nicht hinein.» Mark Twain

 

Bereits vor rund 120 000 Jahren begruben einige Homo sapiens Verstorbene in ihren Siedlungen. Die Ägypter errichteten den Pharaonen Pyramiden, die Römer ihren Adligen luxuriöse Grabmäler auf öffentlichen Plätzen. Weniger Berühmte verbannte man ausserhalb der Stadtmauern, Arme wurden eingeäschert.

 

Nachdem Kaiser Konstantin die christliche Religion anerkannt hatte, entstanden Kirchen mit angebauten Friedhöfen. Die Pest im 14. Jahrhundert führte dazu, dass man Verstorbene vermehrt ausserhalb der Städte begrub, und 500 Jahre später wurde es zur neuen Normalität, weil die Städte aus allen Nähten platzten.

 

Es war schliesslich Napoleon, der 1804 in den von ihm besetzten Gebieten eine Bestattungs- und Friedhofsordnung verordnete. Am Stadtrand entstanden nun parkähnliche Friedhöfe, die nach dem immer gleichen Muster angelegt waren. Mit diesen Reihengräbern wollte Napoleon deutlich machen, dass der Tod alle Menschen gleich macht.

 

1970 bekannten sich in der Schweiz noch 96 Prozent der Bevölkerung zu einer der beiden Landeskirchen. Dreissig Jahre später sind es noch 56 Prozent und 31 Prozent Religionslose. Die restlichen Prozente teilen sich muslimische, jüdische, buddhistische und hinduistische Gläubige. Einige stören sich nun an den christlichen Symbolen auf Schweizer Friedhöfen.

 

Dass Trauernde sehr empfindlich sind, ist verständlich, haben sie doch einen geliebten Menschen verloren. Und viele unter ihnen begegnen an der Beerdigung auch noch all jenen Verwandten, denen man seit Jahren erfolgreich aus dem Weg gegangen ist.

 

Napoleon würde sich dennoch nicht im Grab umdrehen, wenn er miterleben müsste, wie die Fragmentierung der Gesellschaft weiter voranschreitet und jeder die Erfüllung seiner Partikularinteressen verlangt. Er ruht nämlich im Pariser Hôtel des Invalides.

 

Eine für die Steuerzahler günstige Lösung wäre eine Videowand, die Porträts der Verstorbenen oder Hintergründe mit religiösen Motiven abspielt. Eine Multimedia-Jukebox für die Hinterbliebenen.

104 Blick »Tim & Struppi bei den Nazis«

«Wenn ich eine Tochter hätte, würde ich ohne Zweifel zögern, ihre Heirat mit einem Ausländer gutzuheissen, und zwar, um ihr zukünftige Probleme zu ersparen. Wenn ich so darüber nachdenke, vielleicht bin ich immer noch ein Rassist.» Ein spätes Bekenntnis von Georges Remi (1907–1983) alias Hergé aus dem Jahr 1973 im Magazin «Le Point». Der Mann, der Grossartiges geleistet hat, war als Mensch alles andere als grossartig. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde er wegen Kollaboration mit den Nazis verurteilt.

 

In diesem Monat wird seine Kultfigur Tim 92 Jahre alt. Das umstrittenste Abenteuer fand im Kongo statt. Der Band erschien 1931, während in europäischen Völkerschauen «halbnackte Neger» wie Tiere zur Schau gestellt wurden. Ausserhalb der Menschenzoos waren die Strassen elektrifiziert, Wolkenkratzer ragten in den Himmel, Dampfschiffe, Züge und Autos verkürzten die Reisewege und Uhren gaben den Takt an. Die Zeitgenossen hielten Weisse deshalb für überlegen und Hergé, ein Kind seiner Zeit, zeichnete einen jungen, weissen Reporter, der von vier Kongolesen in einer Sänfte durch die Savanne getragen wird.

 

Erstaunlich, denn damals berichtete bereits die gesamte Weltpresse über die Kongo-Gräuel des nimmersatten belgischen Königs Leopold II. Acht bis zehn Millionen Kongolesen waren zwischen 1888 und 1908 ermordet worden, um die Gewinnung von Kautschuk für die boomende Automobilindustrie zu beschleunigen. Hergé muss das gewusst haben. Kein Verleger würde heute so was drucken.

 

Muss man also dieses Album verbieten?

 

Der Kongolese Bienvenu Mbutu Mondondo meint: ja! Er klagte 2012 vor einem belgischen Gericht, dass der Comic Schwarze als «notorische Faulenzer» darstelle und dass sie «aussehen wie Affen und wie Geistesgestörte reden». Das Gericht entschied, die Klage sei durchaus zulässig, aber unbegründet, weil sie nicht gegen das Rassismus-Gesetz von 1981 verstosse. Vielmehr spiegle Hergés Darstellung der Afrikaner die damalige Zeit wider.

 

Geschichte ist oft abscheulich, skandalös und abstossend. Verbieten bedeutet, den damaligen Zeitgeist zu leugnen und die Vergangenheit zu verfälschen. Wie soll man die Gegenwart verstehen und daraus lernen, wenn Geschichte gelöscht wird?


Claude Cueni ist Schriftsteller und lebt in Basel. In seinem parodistischen Roman «Warten auf Hergé» machen sich Tim & Struppi auf die Suche nach ihrem Schöpfer.


 

Weltwoche: Der grosse Reset muss warten

© Die Weltwoche
13. Januar 2022 / leicht aktualisierte Fassung vom 18. Mai 2022 und 10. Januar 2023
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The Great Reset


Claude Cueni


Ich bin kein Marketingmann in eigener Sache, sondern – wenn Sie so wollen – eine asoziale Figur», kokettierte der Gründer des World Economic Forum (WEF), Klaus Schwab, 83, im Gespräch mit seinem Biografen Jürgen Dunsch. Der deutsche Professor Schwab, der sich gerne in der Pose des Messias inszeniert, sagt Sätze wie: «Ich verbringe nicht gerne Zeit mit Menschen, die mich geistig nicht weiterbringen.» Besonders schätzt er die Gespräche mit der «grossen Führungspersönlichkeit» Prinz Charles, einem seit Geburt steuerfinanzierten Privatier, der das Klima retten will. Innerhalb und ausserhalb der Familie.

1971 veranstaltete Klaus Schwab mit seiner Frau Hilde ein Management-Symposium in Davos. Es kamen 440 Teilnehmer. Fünfzig Jahre später waren es bereits 3000, darunter Staatsoberhäupter, Wissenschaftler, die Schwergewichte aus Finanz und Wirtschaft, und Weltstars aus der Unterhaltungsindustrie. Soziologieprofessor Jean Ziegler, 87, ärgert sich: «Ihm gelingt es, mit seinem WEF-Zirkus, der nichts anderes ist als heisse Luft, ein Millionenvermögen zu machen.»

Der Umsatz von Schwabs steuerbegünstigter Stiftung überstieg vor der Pandemie die 300-Millionen-Grenze, mittlerweile beschäftigt das im Kanton Genf domizilierte World Economic Forum 700 Vollzeitmitarbeiter aus über achtzig Nationen. Industrie- und strategische Partner bezahlen für eine Teilnahme an den Initiativen des Forums zwischen 250 000 und 500 000 Schweizer Franken. Seit 2015 ist das WEF in der Schweiz als gemeinnützige internationale Organisation anerkannt und hat somit die gleichen Privilegien wie das Rote Kreuz.

Was verdient Schwab mit seinem Business, das er unter dem Label «Weltenrettung» betreibt? Als Vorsitzender des Stiftungsrates und Präsident der Stiftungsleitung in Personalunion zahlt er sich ein Jahressalär von rund 800 000 Schweizer Franken aus. Im Vergleich zu seinen illustren Gästen ein eher bescheidenes Einkommen. Doch Schwabs Datingplattform für die Weltelite ist heute eine gutgeölte, Bundessteuer-befreite Geldmaschine.

Die Einnahmen gehen an Schwabs Stiftung, die Ausgaben für die Sicherheitsmassnahmen in Davos werden hingegen dem Schweizer Steuerzahler aufgebürdet: 45 Millionen Franken (2020). Das WEF, das über Reserven von über 300 Millionen Franken verfügt, beteiligte sich bisher lediglich mit rund 2 Millionen. Schwab rechtfertigt die Kostenaufteilung mit der Bedeutung des WEF für die Welt. Er erwähnt Erfolge wie das Davoser Abkommen zwischen der Türkei und Griechenland. Er habe es persönlich eingefädelt und damit einen Krieg verhindert. Manchmal sagt er auch: «Eigentlich ist es [das WEF] ein grosses Familientreffen.» Das Motto bleibt gleich: «Improving the state of the world» – den Zustand der Welt verbessern. Nicht mehr und nicht weniger.

 

«The world is not enough»

In der Öffentlichkeit wirkt Klaus Schwab stets etwas steif und schüchtern. Aber das täuscht. Sein Ego kennt keine Grenzen. Es ist so gross, dass er sich mit fremden Federn schmücken muss. Unverdrossen behauptet er, Urheber der Stakeholder-Theorie zu sein. Diese wurde jedoch bereits 1963 am amerikanischen Stanford Research Institute entwickelt. Angesichts der in der Tat eindrücklichen unternehmerischen Leistung hat er das nicht nötig, aber «The world is not enough».

Ein früherer WEF-Manager schildert, wie Schwab interne Diskussionen abwürgt: «Ich weiss, ich habe recht. Die Frage ist nur, wann.» Folgerichtig ist sein Forum kein Ort für reale Debatten. Wer unfehlbar ist, braucht keine second opinion. Wenn in der römischen Antike ein siegreicher Feldherr im Streitwagen über das Forum zum Capitol fuhr, hatte er stets einen Sklaven dabei, der ihm zuflüsterte: «Bedenke, dass du nur ein Mensch bist.» Auf Klaus Schwabs Triumphwagen hat es nur Platz für Klaus Schwab.

Er beteuert, dass am Weltwirtschaftsforum auch kritische Stimmen Platz haben. Das gilt jedoch nur für Gäste, die untereinander kontroverse Meinungen austauschen. Wer hingegen das WEF kritisiert, erhält keinen Zugang, wer kritisch berichtet, wird nicht akkreditiert. Wiederholt machte die Zürcher Wochenzeitung (Woz) diese Erfahrung. Bemerkenswerter war jedoch die schriftliche Begründung: Das WEF bevorzuge jene Medien, mit denen es auch das Jahr über «zusammenarbeite». Eine WEF-Variante von embedded journalism? Hofberichterstattung wird mit Einladungen ans Weltwirtschaftsforum belohnt.

Seit 1998 residiert das WEF in einem futuristisch anmutenden Gebäudekomplex hoch über dem Genfersee. Wenn Besucher den Firmensitz besuchen, sehen sie als Erstes neben dem Eingang ein Ölgemälde mit dem Konterfei von Klaus Schwab. Das erinnert an den Personenkult vergangener Zeiten.

Doch das WEF hat sein Hauptquartier nicht in Peking, sondern in Cologny, einer der teuersten Gemeinden der Schweiz. Für einen Quadratmeter Bauland bezahlt man bis zu 38 000 Schweizer Franken. Schwab überblickt von seinem lichtdurchfluteten Büro aus die malerische Landschaft der Schweizer Riviera. Je höher die Teppichetage, desto kleiner und unbedeutender erscheinen die Menschen unten auf den Strassen.

Schwab ist ein Kind der Teppichetage, das in einem eigenen Universum aufwuchs. Sein Vater war kaufmännischer Direktor des Zürcher Maschinenbauers Escher Wyss (seit 1969 Sulzer AG). Schwab sagt Sätze wie: «Wenn es uns allen schlechtgeht, kann es dem Einzelnen nicht gutgehen.» Geht es Klaus Schwab schlecht? Er hat den «planetarischen Notfall» diagnostiziert. Wer, ausser Klaus Schwab, könnte das Unheil noch abwenden?

Deshalb haben er und ein Autorenteam ein Buch geschrieben: «Covid-19: The Great Reset» («Covid-19: Der Grosse Umbruch)», ein Plädoyer für eine «Neugestaltung der Welt», wie sie in keiner Demokratie zu verwirklichen ist. Obwohl er im Vorwort sein Buch «einen bescheidenen Beitrag» nennt, lässt er auf rund 330 Seiten keinen Zweifel daran, dass hier ein bedeutendes Manifest «zur Rettung der Welt» vorliegt. Mit dem Buch will er «den richtigen Weg weisen», und es versteht sich von selbst, dass nur Klaus Schwab den richtigen Weg kennt.

Er malt den Zustand der Welt in düsteren Farben, eine Dystopie jagt die andere, er warnt vor sozialen Unruhen, gar vor Revolutionen – und bevor wir vollends in Panik geraten, reicht uns der Erlöser die Hand und präsentiert sein «Komitee zur Rettung der Welt», die absolute Herrschaft der Technokraten, Weltkonzerne und internationalen Organisationen, eine radikale Transformation von oben nach unten. Es ist ein Plädoyer für historisch gescheiterte Theorien, die dem Menschen nur staatliche Misswirtschaft, weniger Wohlstand, Pressezensur und eine tiefere Lebenserwartung beschert haben.

Er schreibt, die Pandemie müsse als «Gelegenheit genutzt werden, um institutionelle Veränderungen in die Wege zu leiten» und einen Reset zu erzwingen. Auch Wolfgang Schäuble, von 2009 bis 2017 deutscher Finanzminister, sagte in einem Interview mit der Hannoverschen Allgemeinen: «Der Widerstand gegen Veränderungen wird in der Krise geringer. Wir können die Wirtschafts- und Finanzunion, die wir politisch bisher nicht zustande gebracht haben, jetzt hinbekommen.»

 

Angst gebiert falsche Propheten

Daraus schliessen Verschwörungstheoretiker, Covid-19 sei von langer Hand geplant worden, und verweisen auf den «Event 201», der am 18. Oktober 2019 in New York stattfand. Das Johns Hopkins Center for Health Security hatte damals mit dem WEF, der Bill & Melinda Gates Foundation und Seuchenexperten eine Pandemie durchgespielt. Es ist nicht unüblich, dass sich Gesundheitsminister mit Seuchenexperten zusammensetzen, um Pläne für den Ernstfall auszuarbeiten, zumal wir auch in Zukunft Pandemien erleben werden, ausgelöst von sogenannten Zoonosen, vom Tier auf den Menschen übertragbaren Infektionskrankheiten. Katastrophenpläne braucht man, bevor man welche braucht, und heute dringender denn je. Täglich starten über 200 000 Flugzeuge und bringen Menschen und Viren von einem Ort zum andern. Was früher in eine Epidemie ausartete, wird heute gleich zur Pandemie. Sollte sich jedoch eines Tages herausstellen, dass das Virus in einem US-Labor entstanden ist, würde das ein neues Licht auf den »Event 201» werfen. 

(Aktualisierung vom 4.12.2022: Auf den Ursprung im Labor deutet ein Element im genetischen Code des Virus – die sogenannte Furin-Spalte – hin, die bei natürlichen Coronaviren nicht vorkommt.)

Covid-19 ist real, doch immer mehr Regierungen, Parteien und Institutionen sehen darin eine einmalige Chance, die Angst der Bevölkerung auszunützen. «Angst hat die Götter erschaffen», sagte der römische Philosoph Lucretius, aber Angst gebiert auch Despoten und falsche Propheten. Man beruhigt die Bevölkerung damit, dass die Massnahmen, sowohl die sinnvollen als auch die weniger sinnvollen, lediglich vorübergehend sind. Vorübergehend bedeutet in der Politik stets: für immer.

1915 erhob der Bund wegen des Ersten Welts eine «direkte Bundessteuer», die er «Kriegssteuer» nannte, ab 1934 «Krisenabgabe», und nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs hiess sie «Wehrsteuer». Der Krieg ist vorbei, die direkte Bundessteuer ist geblieben. Und genau das – die Fortführung der Massnahmen – befürchten viele nach Ausklingen der Pandemie. Weil Politik und Medien kaum noch Vertrauen geniessen.

Wie in jedem populären Katastrophenfilm folgt im letzten Buchkapitel die Erlösung: Ein Technokratenkomitee zur Rettung der Welt beendet die «Tyrannei des BIP-Wachstums». Eine «globale Ordnungsmacht» nach marxistischen Prinzipien bringt eine aus den Fugen geratene Welt wieder in Ordnung, angeführt von einer EU im Weltformat unter dem Kommando von WHO, Uno, dem Internationalen Währungsfonds (IWF) und dem «Grossen Steuermann» Klaus Schwab.

Wäre die Welt ein Computerspiel, «Sim City – The Pandemic», der Spieler würde gleich zu Beginn Schwabs «Great Reset» umsetzen, die Demokratie abschaffen und das chinesische Social-Credit-System einführen. Nur, wir sind keine Pixel, und kontroverse Debatten sind die Tugend der Demokratie.

Selbst wenn man Schwabs Kernaussagen eins zu eins zitiert, wird man von ihm umgehend als Verschwörungstheoretiker diffamiert. Schwab ist dünnhäutig. Vielleicht sollte er sein eigenes Buch nochmals lesen.

Ein wichtiger Punkt in Schwabs «Neugestaltung der Welt» ist die Abschaffung des Bargeldes. Das Argument «Schwarzgeld unterbinden» war nicht wirklich überzeugend, das Argument «Hygiene» schon eher. Bestrebungen gab es bereits vor Ausbruch der Pandemie, denn der Staat braucht die Möglichkeit, bei Bedarf die digitalen Sparguthaben der Bevölkerung per Mausklick zu plündern. Wie 2013 auf Zypern, als übers Wochenende der «grösste Bankraub der Geschichte» (Spiegel) abgewickelt wurde.

Wir wissen alle, dass man die weltweite Staatsverschuldung von aktuell 62,5 Billionen Dollar nicht mehr anständig tilgen kann. Wenn man in Schwabs global überregulierter Welt nur noch mit dem Handy bezahlt, kann sich das «Komitee» per Mausklick direkt bedienen. Wer das Bargeld kapert, kapert den Menschen.

 

»China ist ein Vorbild für viele Länder.«

Ergänzt man Schwabs «Gesundheitszertifikat am Handgelenk» mit Tracing- und Traffic-Funktionen, sind wir schon ziemlich nah beim chinesischen Social-Credit-System, das jedes Fehlverhalten mit Bewegungseinschränkungen oder Geldbussen (die in Echtzeit abgebucht werden) bestraft. Wäre es nicht auch für das Klima hilfreich, wenn der CO2-Fussabdruck jedes Individuums sichtbar wäre? Ein grünes Social-Credit-System zur Rettung der Erde?

Schwab macht keinen Hehl daraus, dass er das chinesische System mag. Er ist Ehrenbürger der Hafenstadt Dalian in der Provinz Liaoning, 2018 erhielt er die Freundschaftspreismedaille Chinas für seinen Einsatz in der Reform- und Öffnungspolitik. Es kommt nicht von ungefähr, dass das WEF auch in Peking ein Büro betreibt. Es wurde jahrelang von Schwabs Sohn Olivier geleitet, der mit einer Chinesin verheiratet ist. Er hat dort bereits rund 300 Firmen für eine WEF-Mitgliedschaft gewinnen können. In einem Interview mit dem chinesischen TV Sender CGTN am Rande des Apec-CEO-Gipfels im November 2022, sagte Klaus Schwab:

»Ich denke, China ist ein Vorbild für viele Länder« und

»dass das chinesische Modell sicherlich ein sehr attraktives Modell

für eine ganze Reihe von Ländern ist.«

Was Klaus Schwab wirklich denkt, aber nicht sagt, lässt sich auf der Website des World Economic Forums nachlesen. Er lässt die Dänin Ida Auken, ein Mitglied der Young Global Leaders des WEF, für seine «schöne neue Welt» schwärmen. Sie beschreibt das Jahr 2030 so: «Ich besitze nichts, habe keine Privatsphäre, und das Leben war nie besser.» Gilt das auch für den Messias? Nicht erstaunlich, dass die Mehrheit der Schweizer Bevölkerung das WEF als steuerfinanzierte Privatparty einer abgehobenen Elite ablehnt.

Hier der vollständige Text von Ida Auken in deutscher Uebersetzung.

Schwab droht ab und zu damit, seine Manege ins Ausland zu verlagern. Reisende soll man nicht aufhalten. Mit Ausnahme der Davoser Hotellerie, der Tourismusvereine und der eingeladenen VIPs würde niemand die Zirkusgäste vermissen, die zu Hunderten in die Schweiz jetten, um den Leuten einzutrichtern, dass sie dem Klima zuliebe auf Flugreisen (und einiges mehr) verzichten sollten. Bei den anschliessenden Partys mit Apéro très riche bedauert die «Grossfamilie», dass sich so viele Menschen ausgeschlossen fühlen.

Wie viele Technokraten, die privilegiert aufgewachsen sind, versteht auch Schwab die Natur des Menschen nicht wirklich. Er glaubt, dass die Gesellschaft während und nach der Pandemie mehr Empathie und Solidarität zeigen wird.

Die Geschichte belegt das Gegenteil. Epidemien und Pandemien haben die Gesellschaft stets gespalten und zu egoistischem und asozialem Verhalten geführt, weil jeder Nachbar eine potenzielle Gefahr darstellte. Nur gerade nach örtlich und zeitlich begrenzten Naturkatastrophen beweisen die Menschen Solidarität. Schwab unterschätzt die Natur des Menschen, den Drang nach Selbstbestimmung und Freiheit.

Während in China (mit Ausnahme von Hongkong) kaum jemand vermissen wird, was er nie genossen hat, zeigen die gesellschaftlichen Verwerfungen in der westlichen Welt, dass wir uns nicht zu einem kleinen Pixel degradieren lassen werden, das von einem Software-Algorithmus gesteuert wird und uns von der Wiege bis zum Tod begleitet, bevormundet, belohnt und bestraft. Schwabs Utopie nützt nur den Technokraten, die sie entworfen haben.


 

103 Blick »Ich esse meine Freunde nicht«

 In der Antike assen die Menschen selten Fleisch. Zu teuer. Fleisch war den Reichen vorbehalten. Das ist heute nicht anders. Während in armen Ländern wie Bangladesch oder Mosambik weniger als sieben Kilo Fleisch pro Kopf und Jahr verspiesen werden, sind es in den USA und Australien über 100 Kilo.

Zu den frühen Vegetariern gehörten um 500 v. Chr. die Anhänger des Universalgelehrten Pythagoras: Sie hielten fleischlose Ernährung für gesünder und hilfreicher für die Askese. Doch erst 1801 wurde in London ein Vegetarier-Verein gegründet. Der irische Literaturnobelpreisträger (1925) George Bernard Shaw (1856–1950) schrieb: «Tiere sind meine Freunde, und ich esse meine Freunde nicht.»

Heute gehört fleischlose Ernährung in Industrieländern mehrheitlich zum Lifestyle einer jungen, gut ausgebildeten urbanen Gruppe, aber es ist noch zu früh, um auf einen weltweiten Trend zu schliessen. Der Westen ist nicht die Welt. Nicht alle auf diesem Planeten können sich den Luxus leisten, woke zu leben.

In den vergangenen Jahrzehnten konnten noch nie so viele Menschen einer extremen Armut entkommen. Aber die wollen endlich Fleisch essen. Auch wenn Corona vorübergehend Millionen wieder verarmen liess, wird der weltweite Fleischkonsum nach der Pandemie weiter steigen. Allein in den letzten 20 Jahren hat die Weltbevölkerung um rund 1,6 Milliarden zugenommen.

Es gibt viele nachvollziehbare Gründe, wieso jemand auf Fleisch verzichtet. Manchmal sind es ethische, religiöse, gesundheitliche, ökologische Bedenken oder das Tierwohl.

Da wir immer tiefer in unberührtes Tierreich vordringen, werden Zoonosen, also Übertragungen von Viren von Tier zu Mensch, häufiger auftreten und den Appetit auf Fleisch nicht gerade fördern.

Den Durchbruch für das «fleischlose Fleisch» werden nicht jene erzielen, die Eingänge von Fleischproduzenten blockieren, sondern die von Aktivisten wenig geschätzten Nahrungsmittelkonzerne, die in ihren Labors Fleisch aus Muskelzellen züchten. Stark im Kommen sind auch kreative Start-ups, die Planted Meat produzieren, also pflanzenbasierten Fleischersatz.

Am Ende entscheiden Geschmack, Preis, Marketing und Distributionskanäle über die Akzeptanz. Bis dann gilt: Essen und essen lassen.

Das indiskrete Interview

© Die Weltwoche – 06. Januar 2022



Weltwoche: Wer ist ein Mensch, der zu wenig Anerkennung bekommt?

Cueni: Dr. med. Erika Preisig, die sich international für eine liberale Freitodpraxis einsetzt.

Weltwoche: Wo werden Sie am liebsten gestreichelt?

Cueni: Ich bin da nicht so wählerisch. Gesicht ist gut, Penis ist auch nicht schlecht.

Weltwoche: Verdienen Sie genug?

Cueni: An der Börse: Ja. Als Autor: Nein. Weil mein Verlag seit einem Jahr ankündigt, die Autorenhonorare umgehend zu überweisen.

Weltwoche: Wovor fürchten Sie sich?

Cueni: Vor einem endlos langen Sterben auf einer Intensivstation. Ich mag nicht Schlange stehen.

Weltwoche: Wer ist Ihr Vorbild?

Cueni: Als Teenager Henry Miller. Als Erwachsener vielleicht John Law of Lauriston, der Mann, der nie aufgab und Geld aus Papier erfand.

Weltwoche: Welche Eigenschaften schätzen Sie bei einer Frau am meisten?

Cueni: Humor, Selbstironie, Authentizität, Empathie, ein grosses Herz; die Körbchengrösse ist mir hingegen egal.

Weltwoche: Welcher Bundesrat ist überflüssig?

Cueni: Lügenbaron Alain Berset mitsamt seinem Hut.

Weltwoche: Wer sollte unbedingt in den Bundesrat gewählt werden?

Cueni: Eine Person mit Unternehmerblut, die nicht von der Uni direkt in die Politik ging.

Weltwoche: Wessen Tagebuch würden Sie sofort lesen wollen?

Cueni: Keins. Mein Vater notierte fünfzig Jahre lang, was er zu Mittag ass. Als John F. Kennedy starb, schrieb er: «Hackbraten mit Kartoffelstock. Kennedy erschossen.»

Weltwoche: Welche Ihrer wahrhaftigsten Überzeugungen würden nur die wenigsten Menschen mit Ihnen teilen?

Cueni: Dass Schenken mehr Freude macht als Beschenktwerden.

Weltwoche: Wie oft lügen Sie pro Tag?

Cueni: Lügen ist mir zu kompliziert. Man verstrickt sich früher oder später in Widersprüche.

Weltwoche: Glauben Sie an Gott?

Cueni: Ich glaube nicht an blaue Elefanten, die in meinem Kühlschrank Saxofon spielen. Somit glaube ich auch nicht an Gott.

Weltwoche: Wann hatten Sie das erste Mal Sex?

Cueni: Als Schüler fuhr ich per Autostopp nach Paris, um mit einer Prostituierten Sex zu haben. Datum ist mir entfallen, alles andere ist mir geblieben.

Weltwoche: Welche Waffe haben Sie zu Hause?

Cueni: Die komplette Ausrüstung eines römischen Legionärs mit gladius, pilum und pugio. Seit Herbst 2015 habe ich auch einen Revolver.

Weltwoche: Wären Sie gerne eine Frau?

Cueni: Nein, es wäre zu schwierig, einen einfachen Mann wie mich zu finden, der kaum Ansprüche stellt, seine Frau verwöhnt und sie jeden Tag zum Lachen bringt.

Weltwoche: Was stört Sie an Ihrem Körper?

Cueni: Dass er in Slow Motion zerfällt und ich das bei vollem Bewusstsein mitansehen muss.

Weltwoche: Mit welcher bekannten Frau möchten Sie einen schönen Winterabend verbringen?

Cueni: Bekanntsein ist mir echt zu wenig, das ist nicht abendfüllend. Weniger bekannte haben oft den besseren Charakter, das gilt auch für weniger schöne.

Weltwoche: Nehmen Sie Drogen?

Cueni: Nein, sicher nicht. Meine Fantasie sprudelt von Kindesbeinen an wie eine Fontäne.

Weltwoche: Was ist der beste Ratschlag, den Sie je bekommen haben?

Cueni: Gib auf, du wirst es eh nicht schaffen.

Weltwoche: Würden Sie Ihrem Partner oder Ihrer Partnerin einen Seitensprung verzeihen?

Cueni: Kommt drauf an, ob ich den Kerl mag. Aber eher nicht.

Weltwoche: Warum sind Sie noch nicht Veganer?

Cueni: Ich bin kein dressierter Pudel, der jede Marotte des Zeitgeistes mitmacht. Unter der Woche esse ich Gemüse, Früchte, Eier, Käse. Am Wochenende asiatisch mit chicken oder Fisch, aber stets mit viel Chili.

Weltwoche: Sie dürfen ein neues Gesetz machen. Was gilt ab sofort?

Cueni: Ausländische Sexualstraftäter werden nach Verbüssung ihrer Strafe umgehend ausgewiesen. Der Schutz der Frauen in unserem Land hat Priorität.

Weltwoche: Haben Sie schon getötet?

Cueni: Ich weiss gar nicht, wo ich anfangen soll . . . Eine Menge Trauerfliegen, eine Armee Stechmücken und die eine oder andere Wespe. Bei meinem Vater hat es nicht geklappt.

Weltwoche: Wer hat Sie am meisten geprägt?

Cueni: Das tägliche, stundenlange Training meines spastischen Sohnes über viele Jahre hinweg, der langsame Krebstod meiner ersten Frau, meine anschliessende Leukämieerkrankung, die asiatische Lebensfreude meiner jetzigen Frau.

Weltwoche: Hätten Sie lieber eine andere Nationalität, und wenn ja, welche?

Cueni: Ich möchte weder eine andere Nationalität noch ein anderes Geschlecht. Es ist, wie es ist, und ich mache das Beste daraus.


Claude Cueni: «Genesis» (2020). 304 S., Fr. 36.90; «Hotel California» (2021). 160 S., Fr. 27.90. Beide Romane erschienen bei Nagel & Kimche.


 

Wie mich Ben Hur vom Rauchen befreite

 

Kaum hatte ich als Teenager mit Rauchen angefangen, wollte ich wieder damit aufhören. Aber es war kompliziert. Das Mädchen, das ich gerade kennengelernt hatte, rauchte. Sie bot mir eine Zigarette an. Ich wollte die Frau, aber nicht die Zigarette, und dachte, damit ich die Frau bekomme, muss ich wohl die Zigarette nehmen. Die erste Mary Long schmeckte scheusslich, aber es war der Beginn einer grossen Jugendliebe.

Jahre später wollten wir beide mit dem Rauchen aufhören. Wir warfen unsere Zigaretten in den Müll und schauten uns den Dokumentarfilm von Mario Cortesi an: «Der Duft der grossen weiten Welt» (1980). Er zeigte Cowboys, die durch die Prärie reiten, Marlboro-Männer. Doch als sie aus dem Sattel stiegen und zu reden begannen, verrutschte uns das Gesicht: Die harten Kerle hatten einen Luftröhrenschnitt, und ihre Stimmen waren kaum verständlich. Der Schock sass tief. Jetzt brauchten wir wirklich eine Zigarette.

Dann hörten wir wieder auf. Bis zum Geburtstag meiner mittlerweile verstorbenen Frau. Weder die Blumen noch die Uhr noch meine Kochkünste machten sie glücklich: «Könntest du uns wenigstens Zigaretten holen?» So ging das ewig weiter. Wenn wir gemeinsam mit Rauchen aufhörten, entwickelte meine Frau Hyperaktivitäten, sie mutierte zu einer weiblichen Ausgabe von Meister Proper. Ich hingegen wurde zum schweigsamen Couchpotato, der sich Western und historische Monumentalfilme anschaute. Es blieb kompliziert.

Einmal bestellten wir uns vom Bundesamt für Gesundheit Hochglanzbroschüren mit Abbildungen von Raucherbeinen und kaputten Lungen. Wir klebten die Blätter an die Küchenschränke. Und rauchten eine Mary Long. Wir waren noch keine 30 und dachten, dass alte Menschen zu einer anderen Rasse gehören und alte Kranke sowieso. Und Churchill war immerhin 91 geworden. Wir dachten, wir würden ewig jung und gesund bleiben. Irgendwie.

In den Medien erschienen vermehrt Artikel, die auf die Gefährlichkeit des Rauchens hinwiesen, doch die Sitzungszimmer bei Fernsehanstalten waren immer noch so verqualmt wie Pennsylvania nach der Schlacht von Gettysburg. Mir erging es wie Clint Eastwood. Jedes Mal wenn er seinen Zigarillo wegspickte und einen Bad Guy vom Pferd schoss, zündete er sich den nächsten Glimmstängel an. Kein wirklich gutes Vorbild.

Als Lucky Luke nach 30 Millionen verkaufter Alben dem blauen Dunst abschwor, wurde der Wilde Westen zur Non-Smoking Area. Dieter Scholz hätte ein Vorbild sein können. Er trampte meilenweit für eine Camel durch die Serengeti und gab nach sechs Jahren das Laster auf. Doch Jahre später gestand er, er sei ein Fake-Raucher gewesen, er habe nie geraucht. Anders als der Marlboro-Mann Wayne McLaren. Er starb 1992 an Lungenkrebs.

Meinen 474. Versuch startete ich in der Nacht auf den 1. Januar 2000. Ich zündete mir einmal mehr «die letzte Zigarette» an und schaute mir einen Film auf DVD an: «Ben Hur» mit Charlton Heston. Ich dachte: Was waren das doch für arme Schweine auf diesen römischen Galeeren, und nach einem weiteren Glas Rotwein fühlte ich mit Charlton Heston und dachte: #MeToo, ich sei eigentlich auch ein armes Schwein, das in den Galeeren der Zigarettenindustrie angekettet sei ohne Aussicht auf Befreiung.

Verzichtet man aufs Rauchen, fängt man früher oder später wieder an. Manchmal aus Frust, manchmal aus Freude, man ist da nicht so wählerisch, eine Ausrede findet sich immer. Niemand verzichtet gerne. Ich wollte dieses Mal nicht verzichten, sondern mich befreien. Wie Ben Hur. Das war neu. Obwohl in der römischen Kriegsmarine keine angeketteten Sklaven auf den Ruderbänken sassen, sondern durchtrainierte Legionäre, wurde Ben Hur Teil meiner Autosuggestion. Ich überlebte die Tortur der ersten Tage, und wie fast alles im Leben wird Neues nach einiger Zeit zur Gewohnheit. Das gilt für das Gute wie auch für das weniger Gute. Sparen Sie sich also all die teuren Ratgeber. Der Sieg beginnt im Kopf, das ist nicht nur im Fussball so. Beim Rauchen lautet das Schlüsselwort: Befreien, nicht verzichten.

Und ja, ich bin immer noch Nichtraucher.

102 Blick »Ein Tesla im Jahre 1914«

Ein Tesla im Jahre 1914

«Jeder Arbeiter muss möglichst wenige und möglichst einfache Handgriffe immer wiederholen – und das möglichst schnell.» So begründete der US-amerikanische Ingenieur Frederick W. Taylor (1856– 1915) seine Forderung, wonach in Zukunft nicht mehr der Mensch, sondern das System Priorität hat.

 

Der Wunsch nach Automatisierung, Beschleunigung und Gewinnoptimierung führte Mitte des 19. Jahrhunderts zu den Demontagebändern in den Schlachthöfen von Detroit. Eine Gruppe schlitzte im Akkord Rinder auf, die nächste Gruppe entfernte die Eingeweide, und das Fliessband gab den Takt an. Brauchte ein Schlachter bisher zehn Stunden, um mit seinen Gehilfen eine ganze Kuh zu zerlegen, reduzierten ab 1865 die Fliessbänder die Arbeit auf fünfzehn Minuten. Was früher noch drei Dollar die Stunde kostete, schlug gerade noch mit einem halben Dollar zu Buche, denn jetzt konnten auch Ungelernte eingesetzt werden.

 

Das hat den Farmersohn Henry Ford (1863–1947) nachhaltig beeindruckt. Er war seit frühester Jugend ein Technikfreak und träumte davon, ein Auto zu entwickeln, das sich günstig produzieren liess. Bereits 1914 führte Ford in seinen Werkhallen fliessende Montagebänder ein und ermöglichte mit seinem «Fordismus» auch anderen Branchen billige Massenfertigung.

 

Was heute vor den Toren Berlins entsteht, halten Analysten für ähnlich revolutionär wie Fords Fliessbänder vor rund hundert Jahren. Hier findet die Revolution des Karosseriebaus statt. Benötigte der Unterboden des Models 3 bisher 70 verschiedene Metallteile, pressen nun gigantische Gussmaschinen alles in ein einziges Teil, so einfach und schnell, als handle es sich um ein Spielzeugauto. Während bei der Konkurrenz ein Auto die Fertigungshalle verlässt, werden es bei Elon Musk gleich drei sein.

 

Weniger revolutionär gebärdet sich der Berliner Stadtrat, der zwar Elektrofahrzeuge fördern will, aber immer noch keine definitive Baugenehmigung für die «Gigafactory» ausgestellt hat. An Weihnachten sollte der erste von jährlich 500 000 Teslas die Fabrik verlassen, aber Elon Musk macht gerade die Erfahrung, dass es wohl einfacher ist, den Mars zu kolonisieren, als die ideologisch gelähmte Berliner Bürokratie zu bewegen.

 

 

*Kolumne »Champagner und clevere Witwen«

Die erste Champagner-Flasche explodierte wie eine Bombe. Das dünne Glas hielt dem Druck, der beim zweiten Gärungsprozess stattfindet, nicht stand. Im 17. Jahrhundert schützten sich Kellermeister deshalb vorsorglich mit einer schweren Eisenmaske. Es war ausgerechnet einer jener Männer, die am liebsten Wasser predigen, der auf die Idee kam, dickeres Glas herzustellen. Pierre Pérignon, ein französischer Mönch, hatte das Verfahren der Flaschengärung weiterentwickelt und dickwandige Glasflaschen mit verschnürbaren Korken in Auftrag gegeben. Als er 1715 starb, hinterliess er ein umfangreiches Schriftwerk, aber sein prickelnder Schaumwein blieb ziemlich trüb.

Es war schliesslich die 27-jährige Witwe Barbe-Nicole Clicquot-Ponsardin, die ein Verfahren erfand, um die Heferückstände zu beseitigen. Nach dem plötzlichen Tod ihres Ehegatten musste sie eine Weinhandlung übernehmen, die jährlich hunderttausend Flaschen Champagner produzierte.

Doch die Witwe Clicquot gab dem edlen Tropfen nicht nur ihren Namen, «Veuve (Witwe) Clicquot», sie prägte als erste Frau an der Spitze eines Champagnerhauses auch den Mythos des Savoir-vivre und präsentierte ihren Champagner selbstbewusst an allen Höfen Europas. Die resolute Unternehmerin setzte sich in der Männerwelt durch, kaufte Weinberge hinzu und gründete eine Bank. Und das in einer Zeit, in der Frauen nicht einmal ein eigenes Bankkonto eröffnen durften. Als sie 1866 starb, produzierte ihre Firma bereits 750 000 Flaschen im Jahr.

Nur gerade acht Jahre später sorgte eine weitere Französin mit dem prickelnden Traubensaft für Furore. Louise Pommery war 41, als auch sie ihren Ehemann verlor. Sie überwand die Trauer und produzierte den ersten Champagner «Brut».

Heute werden jährlich etwa 390 Millionen Flaschen Champagner produziert, aber den Namen «Champagner» dürfen nur jene tragen, die ihre Rebwurzeln auch tatsächlich in der französischen Champagne haben. Jede zweite Flasche trinken die Franzosen gleich selbst, ein Grossteil geht nach England und in die USA und fast eine Million an ein Land, das Alkohol verbietet und verurteilte Frauen hinrichtet: die Vereinigten Arabischen Emirate.


*erschien erstmals im Januar 2019 und wird aus Aktualitätsgründen nochmals gepostet


 

101 Blick »Grittibänz, Sexist im Hefeteig

 


Kolumne 101


Eigentlich ist der Grittibänz ein Männlein aus Mehl, Zucker, Salz, Butter und Hefe (Stuten), weshalb man ihn auch Stutenkerl nennt. Im Mittelalter gehörte er zu den Gebildebroten, die man Kranken nach Hause brachte, wenn sie nicht mehr in der Lage waren, die Eucharistie zu empfangen. Der vom Priester gesegnete Grittibänz trug die stilisierte Mitra des Bischofs und einen gekrümmten Bischofsstab in der Rechten. Der Kranke biss nun dem süssen Gottesmann den Kopf ab, verspeiste die gezuckerten Beine und Arme, und wenn er allmählich gesundete, hatte der Grittibänz Wunder bewirkt.

Dass man Gesegnetes verspeist, ist in vielen Religionen business as usual. Katholiken mögen Weizenbiskuits aus ungesäuertem Brotteig, aber im Ernstfall ziehen sie dann doch Pillen und Infusionen vor. Nicht gesegnet, aber ärztlich verordnet.

Im Laufe der Jahrhunderte setzte der Zeitgeist dem Grittibänz zu. Sein Bischofsstab wurde durch eine Tonpfeife ersetzt. Doch im 20. Jahrhundert schlug der Zeitgeist erneut zu, und der Grittibänz wurde Nichtraucher.

Überlebt hat der «Gritti». So bezeichnete man früher einen alten Mann, der mit gespreizten Beinen frei herumläuft. Eigentlich ein Fall von toxischer Männlichkeit, ein Sexist im Hefeteig. Man könnte ihn jetzt mit dunkler Schokolade übergiessen, denn ein schwarzer Schoko-Grittibänz mit gespreizten Beinen würde eher toleriert. Man dürfte ihn einfach nicht Grittimohr nennen.

Als Kompromiss könnte man zusätzlich eine weibliche Figur backen. Zur eindeutigen Identifikation müsste man sich auf biologische Merkmale beschränken. Der Mann hätte einen Penis, die Frau zwei Brüste, doch beides könnte nach Ablauf der Backzeit ungeahnte sexistische Formen angenommen haben. Also lieber nicht. Ich habe mit Teigmodellieren so meine Erfahrungen gemacht.

Doch selbst wenn eine Bäckerei in Zukunft Grittifrau und Grittimann in die Auslage stellt, ist sie nicht gefeit vor Schmierereien oder gar Todesdrohungen. Denn es fehlt die Inklusion non-binärer Grittis.

Vielleicht sollten wir den Hefeklumpen gescheiter zu einer geschlechtsneutralen Kugel formen und mit Mandelsplittern bestücken, bis sie aussieht wie das Spike-Protein der Virusvariante B.1.1.529.


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Highnoon im Wilden Westen Asiens

 


Besser lesbarer Text escheint nach dem Zeitungsausschnitt.


 



Am 9. Mai 2021 wählen die Philippinen einen neuen Präsidenten. Rodrigo Duterte kann kein zweites Mal antreten. Die »election period« beginnt am 9. Januar 2022 und endet am 8. Juni 2022. In dieser Zeit ist das Tragen von Feuerwaffen verboten. Aus einem guten Grund. Im Wilden Westen Asiens wurden in den bisherigen Wahljahren jeweils zwischen 120 und 310 Menschen erschossen.


Blick – 06. Dezember 2021

CLAUDE CUENI

Alle grossen Männer haben viele Feinde», lacht Ferdinand Marcos Jr. (64) in die Kamera, als ihn die Schauspielerin Toni Gonzaga in ihrer TV-Show «Toni Talks» fragt, wie er das Kriegsrecht unter seinem Vater, dem Diktator Ferdinand Marcos (1917– 1989), erlebt hat.

«Viele Feinde» – das sind wie viele? Spätere Regierungen haben 75 000 Verbrechen dokumentiert, 70 000 Menschen wurden in Militärlagern interniert, davon 34 000 gefoltert, 3240 ermordet und einige Tausend sind spurlos verschwunden.

Marcos Jr. ist in den sozialen Medien omnipräsent. In bisher 188 Videoblogs schwärmt er gut gelaunt von seinem grossartigen «Dad». Wir erfahren, dass er die gleiche Kleidergrösse hat wie sein Vater, die gleiche Stimme, und dass er und sein «Dad» praktisch identisch seien. Bereits als 23-Jährigen ernennt ihn sein Vater zum Vizegouverneur der Heimatprovinz Ilocos Norte, sechs Jahre später zum Gouverneur. Als Strohmann der Telekommunikationsfirma Philcomsat bezieht er ein für die damalige Zeit astronomisches Jahresgehalt von rund 1,16 Millionen Dollar.

Dass er nun für das Amt des philippinischen Staatspräsidenten kandidiert, hat praktische Gründe. Es ist für den Marcos-Clan die letzte Möglichkeit, den Malacañang-Palast zurückzuerobern.

2016 kandidierte Marcos Jr. für das Amt des Vizepräsidenten. Er unterlag knapp. Rodrigo Duterte (76) wurde Präsident und bezeichnete Marcos als seinen fähigsten Nachfolger für die Wahlen 2022. Auf den Philippinen ist nur eine einzige Amtsdauer möglich, sie dauert sechs Jahre.

Wo Duterte draufsteht, steckt der Marcos-Clan drin, eine Oligarchen-Dynastie, die seit Generationen die Provinz Ilocos Norte beherrscht. Bereits Duter-tes Vater Vicente diente unter dem Diktator. Die Marcos finanzierten 2016 einen Teil des Wahlkamps von «Dirty Harry», wie die «Financial Times» Duterte nennt. Als Gegenleistung durften sie nach dessen Wahlsieg den einbalsamierten Leichnam des Diktators auf dem Heldenfriedhof begraben. Seit 1993 war der Patriarch auf dem Familienanwesen in einem Glassarg aufbewahrt. Die «National Historical Commission of the Philippines» und zahlreiche Opfer protestierten vehement gegen die Verlegung. Vergebens.

Auf den Philippinen gilt «utang na loob», die gegenseitige Bringschuld. Was im familiären Umfeld die Bande stärkt und das fehlende Sozialsystem ersetzt, fördert in der Politik die Korruption. Diktator Marcos hatte bereits 1965 nach seinem Einzug in den Malacañang-Palast mit der gezielten Plünderung des Landes begonnen und bei ausländischen Banken Konten eröffnet. Auch bei der damaligen Schweizerischen Kreditanstalt (heute Credit Suisse), die nach dem Sturz des Diktators 700 000 Franken an die neue Regierung zurücküberwies.

Bei seinem Amtsantritt hatte Marcos noch ein Vermögen von 30 000 Dollar deklariert, als Präsident verdiente er jährlich 63 000. Als er 1986 aus dem Land verjagt wurde, hatte er bereits zehn Milliarden Dollar geraubt, nach heutigem Wert etwa 50 Milliarden Dollar. Egal, ob Japan Kriegsreparationen leistete, die Weltbank ein Darlehen überwies oder jemand eine Baubewilligung beantragte, «Mister 15 Prozent» zweigte jedes Mal eine Provision ab. Als er 1972 das Kriegsrecht erklärte, galten die Philippinen als das zweitkorrupteste Land der Welt.

Der Junior verspricht keinen Neuanfang. Er will das Werk seines Vaters fortsetzen. Als Vizepräsidenten hat er jedoch nicht Duterte gewählt, sondern ausgerechnet dessen Tochter Sara (43). Seitdem nennt ihn Duterte einen verwöhnten Kokainkonsumenten, der zu schwach sei für das Amt des Präsidenten.

Nun hat Duterte ein Problem. Ihn erwarten nach Ablauf seiner Amtszeit zahlreiche Anklagen. Der internationale Strafgerichtshof in Den Haag ermittelt wegen 7000 Morden, je nach Quelle fielen über 20 000 Menschen Dutertes «War on Drugs» zum Opfer. Duterte kennt die Spielregeln. Als er 2016 Präsident wurde, liess er gleich die Justizministerin Leila de Lima (62) medienwirksam im Parlament verhaften. Sie sitzt seitdem in Untersuchungshaft.

Auch Marcos Jr. hat ein Problem. Er wurde wegen Steuerhinterziehung zweimal rechtskräftig verurteilt, sein Bachelor der Universität Oxford ist genauso erfunden wie die Kriegsauszeichnungen seines Vaters. Mutter Imelda (92) hatte bereits 901 Klagen am Hals. In letzter Instanz wurde sie jeweils freigesprochen. «Die Königin der Diebe», wie sie im Volksmund heisst, wohnt mit vier Dienern in einer der teuersten Wohnungen der Philippinen, ausgestattet mit Gemälden von Michelangelo, Gauguin und Picasso. In Interviews klagt sie tränenreich, dass sie verarmt sei und von einer kläglichen Kriegswitwenrente lebe.

Die Marcos kämpfen an allen Fronten um die Rückkehr in den Malacañang-Palast. Mit Estelito Mendoza (91) führt der Superstar der philippinischen Anwälte die juristischen Schlachten: Er war Justizminister unter Diktator Marcos und rechtfertigte das blutige Kriegsrecht. Jetzt will er dem Junior zur Macht verhelfen. Er intervenierte bei der Wahlaufsichtskommission, um zu verhindern, dass Marcos wegen Steuerbetrugs disqualifiziert wird.

Am 9. Mai 2022 wird gewählt. Nach heutigem Stand liegt das Tandem Marcos/Duterte deutlich in Führung. Für westliche Medien schwer verständlich.

Mit einem Durchschnittsalter von 23 (Schweiz: 42,7) haben die Philippinen eine sehr junge Wählerschaft. Sie hat die Diktatur nicht am eigenen Leib erfahren und bezieht ihre Informationen aus den sozialen Medien. Eine junge Filipina sagt mir, sie wähle Marcos, weil er jeder Studentin pro Semester 6000 Pesos (120 Franken) schenke. Ein Schullehrer erklärt mir, alle Gräueltaten, die man den Marcos nachsage, seien Fake News. Ein Taxifahrer in Manila fragt, wozu Geschichte eigentlich gut sei, das sei doch alles vorbei. Wenn er sich bloss nicht täuscht.


Claude Cueni (65) ist Schriftsteller, Blick-Kolumnist und lebt in Basel. Er schrieb den Philippinen-Roman «Pacific Avenue». Zuletzt erschienen bei Nagel & Kimche «Genesis – Pandemie aus dem Eis» (2020) und «Hotel California» (2021).


 

 

*Kolumne »Der Wein der Papst wurde«

1299 kaufte der französische Mönch Bertrand de Goth eines der ältesten Weingüter in Bordeaux und kelterte Wein. Bereits sechs Jahre später machte ihn sein Freund, der skrupellose König Philipp IV., zum Papst. Ihre Majestät hatte zuvor ihren Dauerrivalen, den italienischen Papst Bonifaz VIII., zum Allmächtigen geschickt.

Bruder Bertrand, der nun Papst Clemens V. geworden war, galt als intelligent, aber auch als hypochondrisch veranlagt, weil er dem Schutz des lieben Gottes eben doch nicht so richtig traute. Er vermachte die Rebberge seinen Mönchsbrüdern, die den Wein gleich umtauften.

In den Armen der Comtesse

Der neue Papst hatte bereits ein besseres Geschäft gewittert, er verkaufte Kardinalshüte dem Meistbietenden und verlegte seinen Sitz nach Avignon. Im Zuge des «klementinischen Jahrmarktes» beschenkte er seine adligen Verwandten mit allerlei Privilegien und genoss ein ausschweifendes Leben in den Armen der bildschönen Comtesse de Foix Talleyrand de Périgord. Sie soll kostspieliger gewesen sein als «das ganze Heilige Land».

Während Weintrinker den Namen Pape Clément eher mit einem Bordeaux assoziieren, erinnern sich Verschwörungstheoretiker an die Auflösung des Templerordens, die der König mit Hilfe des willensschwachen Papstes durchsetzte. Man warf den reichen Tempelrittern, die immer wieder den König vor dem Bankrott gerettet hatten, Homosexualität und Blasphemie vor, um sie enteignen zu können.

«Never give up»

Jacques de Molay, der letzte Grossmeister des Templerordens, gestand unter der Folter und wurde öffentlich verbrannt. Auf dem Scheiterhaufen widerrief er und verfluchte den Papst. Der trinkfreudige Diener Gottes folgte ihm ein paar Tage später ins Himmelreich.

Überlebt hat hingegen die Reblaus, die Mitte des 19. Jahrhunderts grosse Teile der französischen Weinanbaugebiete zerstörte. Während des Zweiten Weltkriegs beherzte der Agraringenieur Paul Montagne Winston Churchills Devise «never give up», kaufte das marode Weingut und produzierte nach etlichen Rückschlägen den heutigen Pape-Clément.

100 Prozent Papst

Robert Parker, der Papst der Weingläubigen, bewertete ihn in seiner Weinbibel auch schon mit dem Punktemaximum. Die Bestandteile: 60% Cabernet Sauvignon, 40% Merlot, 100% Papst.


*erschien 2018

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100 Blick »Mein Jahresrückblick«

Kim Jong Un rüstet ab, leider nur gewichtsmässig.

Brexit & Exodus. Das britische Königshaus sorgt sich ums Klima. Innerhalb und ausserhalb der Familie.

Angela Merkel geht, ihre Fachkräfte bleiben.

Taiwan fürchtet chinesische Aggression, Amerika Joe Bidens fortschreitende Demenz. Darmspiegelung beweist: Biden ist nicht dement.

Nicht überraschend: Antike Genome belegen Sex zwischen Neandertalern und ersten Europäern.

Neurowissenschaftler beweisen: Mit Darmbakterien junger Mäuse lassen sich Gehirne alter Mäuse deutlich verjüngern. Müssen wir Scheisse essen?

Smalltalk mit Apéro riche an der Uno-Klimakonferenz in Glasgow. Gefragt sind Flugzeugtaxis, Fünf-Sterne-Küche und Escort-Dienste.

Chinas CO2-Emissionen übertreffen die aller OECD-Länder zusammen. Demonstrationen erlaubt. Aber nur in der Zelle.

Greta wird pragmatisch. Sie modelt für «Vogue Scandinavia», tanzt und singt wie Mutter Malena, macht Fotoshootings mit Hund und ohne Hund.

Die Weltbevölkerung wächst weiter, der Planet hingegen nicht. Wo Kinderreichtum ein Statussymbol ist, bleiben Europas Sozialsysteme die Traumdestination.

In der Kultur zählt nur noch die richtige Gesinnung. Preisträger müssen weiblich sein, farbig oder mindestens einen non-binären Gärtner mit Migrationshintergrund haben.

Taliban erobern Afghanistan und versprechen: Jetzt wird alles anders. Sie erschiessen in Nangarhar 13 Hochzeitsgäste. Sie haben Musik gehört. Früher hätten sie gleich alle massakriert.

China entwickelt Hyperschallraketen, der Westen beanstandet Ananas auf der Pizza Hawaii.

Fallschirmjäger Denny Vinzing warnt nach seiner Rückkehr aus Afghanistan: «Die meisten halte ich nicht für integrierbar. Sie leben nach ganz anderen Werten. Die Stellung der Frau ist radikal anders. Die kommen hier nicht zurecht.»

Auf Herbst 2015 folgt Herbst 2021. Hersteller von «Red Pepper»-Ladysprays verzeichnen steigende Umsätze.

Pandemie: Kann man verlorenes Vertrauen mit einer Tüte Haribo wiederherstellen?

Weltuntergänge im Konjunktiv. Japan entwickelt genmanipulierte Tomaten, die beruhigend wirken. Experten empfehlen Tomatenkonsumpflicht und Tomatenzertifikate.


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*Kolumne »Die einen haben Uhren, die andern Zeit.«

 

Zeit ist Geld», schrieb Benjamin Franklin 1748 in seinem «Leitfaden für junge Kaufleute». Der Graf von Rumford kritisierte die «unglaubliche Bummelei» in Verwaltung und Produktion und forderte Arbeitszeitkontrollen, denn nur mit einer exakten Zeitmessung könne man planen und Ziele festlegen.

Während man sich in der Landwirtschaft noch nach Sonnenaufgang und Sonnenuntergang richtete, gerieten die Fabrikarbeiter im Zuge der Industrialisierung im 19. Jahrhundert unter das Diktat der Zeitmessung. Maschinen sollten 60 bis 80 Stunden die Woche «arbeiten». Die Kontrolluhr wurde zum «Herzschlag des Kapitalismus» (Karl Marx), sie gab an den Fliessbändern den Takt an. Die neue Pünktlichkeit wurde zur neuen Tugend. Sie bedeutete mehr Effizienz, höhere Gewinne und schaffte einen entscheidenden Vorteil gegenüber Ländern ohne Zeitdisziplin.

Das ist bis heute so. In einem Vergleich mit 31 Ländern belegt die Schweiz Platz eins. Nirgends laufen die öffentlichen Uhren genauer, nirgends sind die Wartezeiten kürzer. Am Ende der Skala finden sich weniger industrialisierte Länder in Afrika, Asien, dem Nahen Osten und Lateinamerika. Das Schlusslicht ist Mexiko. Dort durchdringt die Langsamkeit das tägliche Leben bis ins Mark. Pünktlichkeit gilt bei privaten Einladungen als unhöflich, weil man damit rechnet, dass der Gast ein bis zwei Stunden «zu spät» kommt.

Ein lockeres Zeitgefühl und die kulturelle Eigenart, alles auf morgen zu verschieben, sind enge Geschwister. In diesen Ländern besteht der Alltag zu einem beträchtlichen (unproduktiven) Teil aus Warten. Warten auf verspätete Busse, Züge, Amtspapiere, warten auf andere Leute. Es versteht sich von selbst, dass langsame Kulturen im Laufe der letzten 200 Jahre abgehängt wurden und scheiterten.

Ein junger nordafrikanischer Migrant beklagte in einer Doku, dass Europa ihn stresse, weil hier alles organisiert sei, nie gehe eine Maschine kaputt, nie könne man Pause machen. Ironischerweise suchen Wirtschaftsmigranten in Europa ein besseres Leben und bringen ausgerechnet jene Kultur der Langsamkeit mit, die (nebst anderen Faktoren) mitverantwortlich ist für das Scheitern ihrer Heimatländer. Die einen haben Uhren, die andern haben Zeit.


*erschien 2018

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099 Blick »Der Mann, der niemals schlief«

Sein Logo war ein wachendes Auge, sein Wahlspruch: «We never sleep» (Wir schlafen nie). Der Schotte Allan Pinkerton (1819–1884) war der Sohn eines Polizisten und gehörte in jungen Jahren zu den Arbeiterführern, die sich für die Zulassung von Gewerkschaften, die Einführung von Frauenrechten und die Reduktion der Arbeitszeit auf zehn Stunden einsetzte. Um einer bevorstehenden Verhaftung zu entkommen, floh er nach Chicago.

 

Dort gründete er eine Fassbinderei und hatte bald einmal zehn Angestellte, die allerdings nicht die Arbeitsbedingungen hatten, für die er einst gekämpft hatte. Seine Beobachtungsgabe war legendär. Als er dem Sheriff eine versteckte Fälscherei meldete, machte ihn dieser zum Polizeidetektiv. Die rückständigen Fahndungsmethoden brachten den Selfmademan zur Weissglut. Er gründete die erste private Detektei der USA, die Pinkerton Agency. Sie wurde zum Vorbild für die spätere US-Bundespolizei FBI. Von Anfang an nutzte er die aufkommende Fotografie und legte Verbrecherkarteien an.

 

Eisenbahngesellschaften wurden seine besten Kunden. Da die Zugverbindungen von Ost nach West durch unbewohntes Gebiet führten, hatten Outlaws ein einfaches Spiel. Bald jagten Pinkertons Männer die Legenden des Wilden Westens: die Dalton-Brüder, Jesse James, Butch Cassidy und Sundance Kid. Seine Erfolge hallten bis nach Washington.

 

Er erhielt einen neuen Job. Während des Amerikanischen Bürgerkriegs (1861–1865) spionierte er als «Secret Agent» die Truppen der Südstaatler aus. Als der James Bond des Wilden Westens einen Mordanschlag auf US-Präsident Abraham Lincoln aufdeckte, ernannte ihn dieser zu seinem persönlichen Leibwächter.

Nach dem Krieg baute der einstige Sozialist sein Agenturnetz aus und liess im Auftrag von Fabrikbesitzern Streikende verprügeln. An einem einzigen Tag kamen dabei neun Arbeiter und sieben Detektive ums Leben.

 

Pinkerton starb mit 65, nicht etwa an einer Schussverletzung, sondern an einem bakteriellen Infekt. Er hatte sich bei einem Sturz auf die Zunge gebissen und sich geweigert, einen Arzt aufzusuchen. So kam der Arzt zu ihm und stellte den Tod fest.

 

Überlebt hat jedoch die Pinkerton-Detektei. Sie wurde 1999 vom schwedischen Sicherheitskonzern Securitas AB übernommen.

098 Blick »Zum fressen gern«

Es gibt fast so viele Formen von Kannibalismus wie Sportarten. In einigen Kulturen verspeiste man die Feinde, um sicherzugehen, dass sie kein Comeback versuchen, in anderen Regionen ass man geliebte Verwandte, damit sie in einem weiterleben. Azteken opferten ihren Göttern menschliche Herzen, um sie milde zu stimmen. Katholiken nehmen noch heute symbolisch den «Leib Christi» zu sich.

 

Mythologien, Sagen und Literatur sind voll von Geschichten über Menschen und Wesen, die sich gegenseitig auffressen. Robinson rettet Freitag vor dem Suppentopf der Kannibalen, in Slawomir Mrozeks Theaterstück «Auf hoher See» stimmen drei Schiffbrüchige darüber ab, wer von ihnen zuerst gefressen wird.

 

Einige Geschichten basieren auf wahren Gegebenheiten. Als die uruguayische Rugby-Mannschaft 1972 in den Anden abstürzte und die Männer 72 Tage lang von der Zivilisation abgeschnitten waren, begannen sie sich gegenseitig aufzuessen. Ähnliches wird aus dem abgeriegelten Leningrad während des Zweiten Weltkrieges berichtet. Kannibalismus war fast immer die Folge von ausserordentlichen Notsituationen oder Ausdruck von religiösem Aberglauben.

 

Kannibalismus ist heute eher selten. 2017 berichtete das Beratungsgremium Emrip der Uno, dass im Kongobecken immer noch Menschenfleisch verspeist wird. Bei uns machen Psychopathen gelegentlich von sich reden wie zuletzt der Rotenburger Armin Meiwes (2001) oder «Der Kannibale von Pankow» (2021).

 

Im Reich der Tiere gibt es die «Selbstversorger», die den eigenen Nachwuchs fressen, «narzisstische» Schlangen», die sich gleich selbst verschlingen, und Bären und viele andere, die ihre Artgenossen verspeisen.

 

Überlebt hat der Kannibalismus in der Sprache. In der Wirtschaft spricht man von Kannibalisierung, wenn ein Unternehmen gleichartige Produkte zu verschiedenen Preisen anbietet. Privat kokettieren wir damit, dass wir unseren Partner «zum Fressen gern» haben, seinen Po knackig finden, seine Ohrläppchen süss, und nicht selten verwechseln wir beim Sex den Partner mit einem Big Mac, wenn wir ihm in Draculamanier in den Hals beissen.

 

Wer davon nicht satt wird, kann sich im Supermarkt Mönchsköpfe (Tête de Moine) kaufen und, auf eigene Gefahr, Frauenschenkel oder Mohrenköpfe.

097 Blick »Long Covid im Mittelalter«

Viele, die noch zu Mittag fröhlich gewesen, sah man des Abends nicht mehr unter den Lebenden.» So beschrieb im Jahre 1834 der Arzt Justus F. C. Hecker in seinem Buch «Der englische Schweiss» eine der merkwürdigsten Seuchen des Mittelalters.

Merkwürdig deshalb, weil sie 1485 zum ersten Mal aus dem Nichts auftauchte, innert Stunden tötete und ebenso plötzlich wieder verschwand. Merkwürdig auch deshalb, weil sie nicht Kranke und Alte dahinraffte, sondern vor allem Gesunde im besten Alter. Zur allgemeinen Verwirrung waren auch sehr viele Adlige und vermögende Kaufleute betroffen. Deshalb, und wohl nur deshalb, ist diese Seuche besonders gut dokumentiert. Den Namen verdankt sie einem von vielen Symptomen: kolossales Schwitzen.

Henry Tudor, der spätere König Heinrich VII., soll die Seuche eingeschleppt haben, als er mit fünftausend Mann in England einfiel und in der Schlacht von Bosworth Richard III. besiegte. Kaum war er ins massiv überbevölkerte London einmarschiert, erkrankten die Einwohner an einem grippeähnlichen Virus und sonderten übel riechenden Schweiss ab.

Mediziner standen vor einem Rätsel. Einige vermuteten eine besonders aggressive Erkältung, andere glaubten an ein unglückliches Zusammen treffen mit den damaligen Pocken- und Pest-Epidemien, Religiöse hielten es für eine Strafe Gottes. Es folgten vier weitere Wellen, jeweils im Abstand von circa zehn Jahren. Und jedes Mal berichteten Chronisten über Langzeitfolgen. Long Covid im Spätmittelalter.

Allen fünf Wellen ging Starkregen voraus, der gewöhnlich Ratten aus ihren Löchern treibt. Es folgten sehr heisse Sommer. Wer im Freien arbeitete, atmete zwangsläufig den Staub von getrocknetem Rattenkot ein und erkrankte nach kurzer Inkubationszeit an einem Hantavirus, das die Lunge angreift. Eine von vielen Theorien. Eine gängige Behandlung bestand darin, die Kranken warm einzupacken. Es bewirkte das Gegenteil.

Im Unterschied zu früher starten heute täglich über zweihunderttausend Flugzeuge und bringen Menschen und Viren von einem Ort zum andern. Was früher in eine Epidemie ausartete, wird heute gleich zur Pandemie. Doch heute haben wir Impfstoffe. Deshalb sollten wir «impfen statt schimpfen».

Claude Cueni (65) ist Schriftsteller und lebt in Basel. Er schreibt jeden zweiten Freitag im Blick. Zuletzt erschienen bei Nagel & Kimche «Genesis – Pandemie aus dem Eis» (2020) und «Hotel California» (2021).

©weltwoche »Faust Gottes will Präsident werden«

Manny Pacquiao, philippinischer Boxweltmeister in acht Gewichtsklassen, zieht es in die Politik. Es ist der Fight seines Lebens. Die erste Runde lief schlecht.


Claude Cueni ist Schriftsteller und lebt in Basel. Er ist mit einer Filipina verheiratet und Autor des Philippinen-Romans «Pacific Avenue». Zuletzt erschienen von ihm bei Nagel & Kimche «Genesis» (2020) und «Hotel California» (2021).


Ich habe mein Bestes gegeben, aber mein Bestes war nicht gut genug», gestand der 1,66 Meter kleine philippinische Boxer Manny Pacquiao, 42, nach seiner klaren Niederlage gegen das kubanische Kraftpaket Yordenis Ugás, 35. In jener Augustnacht in Las Vegas stand der Weltmeister in acht Gewichtsklassen wohl zum letzten Mal im Ring. Nach dem Kampf wurde er gefragt, ob er nun für das Amt des Staatspräsidenten kandidiere. Seine Antwort: «Ich weiss es nicht. Es ist sehr viel komplizierter als Boxen.»

Einen ersten Vorgeschmack hatte er bereits 2010 erhalten, nachdem er in den Kongress gewählt worden war. Abgeordnete kritisierten, er habe null Ahnung, interessiere sich nicht für die Dossiers, sondern nur für seine Karrieren als Boxer, Sänger, Model, Schauspieler, Prediger und Markenbotschafter. Als Pacquiao 2016 gar in den Senat gewählt wurde, spotteten einige, das sei weiter nicht schlimm, als Abgeordneter sei er lediglich an vier von 179 Sitzungen erschienen.

Tausend Häuser für die Ärmsten

2016 war auch das Jahr, in dem der bekennende Sozialist Rodrigo Duterte zum Staatspräsidenten gewählt wurde. «Dirty Harry» (Financial Times) überredete Pacquiao zu einem Parteiwechsel und machte ihn später zum Vorsitzenden seiner PDP-Laban-Partei. Die beiden wurden Freunde. Bis zu jenem 5. September, als Pacquiao in einem Live-Interview mit dem Nachrichtenportal Rappler seine Kandidatur für das Amt des Staatspräsidenten ankündigte und seinem einstigen Mentor vorwarf, er schütze die korrupten Politiker, die Milliarden von Pesos aus dem Corona-Fonds verschwinden liessen. Für viele Zuschauer war der Auftritt ihres Nationalhelden, der erneut die Partei gewechselt hatte, irritierend. Pacquiao konnte sich weder differenziert noch pointiert ausdrücken. Man hatte den Eindruck, er verstünde nur mit den Fäusten zu sprechen.

Wer ist dieser Jahrhundertboxer, der dem Staat 2,2 Milliarden Pesos (rund 40 Millionen Schweizer Franken) Nachsteuern schuldet und den Ärmsten in seiner Heimatstadt tausend Häuser schenkte? Die Doku «Manny» von 2014 zeichnet seinen Aufstieg aus den Slums von General Santos City nach und schildert, wie er als Teenager in den Ring stieg, um seine Familie zu ernähren. Für seinen ersten Fight erhielt er zwei Dollar. Mittlerweile hat er im Ring eine halbe Milliarde verdient.

Seinen kometenhaften Aufstieg feierte das Energiebündel früher mit Sex, Drugs and Rock ’n’ Roll. Bis ihm eines Nachts zwei Engel erschienen, «weiss, mit grossen Flügeln». Pacquiao wurde ein strammer Evangelikaler, ein Fundamentalist, der die Bibel wörtlich nimmt. Als er in einem Interview behauptete, Homosexuelle seien «schlimmer als Tiere», verlor er in Umfragen (vorübergehend) nicht nur 12 Prozentpunkte, sondern auch seinen Hauptsponsor Nike. Pacquiao entschuldigte sich und legte gleich nach: Homosexuelle verdienten gemäss der Bibel den Tod. Punkt. Und ja, er ist auch für die Wiedereinführung der Todesstrafe. Kann er dennoch Präsident werden in einem Land, in dem selbst ein Rambo wie Duterte sich für die gleichgeschlechtliche Ehe und den Schutz der LGTB-Community aussprach?

Über ein Dutzend Celebrities, Senatoren und Bürgermeister haben ihre Kandidatur angemeldet. Darunter auch Ferdinand Marcos, 64, der Sohn des gleichnamigen Diktators (1917–1989), der rund 30 000 Kritiker in Militärlagern internieren liess. Die Frist für die Registrierung läuft am 8. Oktober aus. Bei der letzten Umfrage lag Dutertes Tochter, die Rechtsanwältin Sara Duterte-Carpio, 43, in Führung, doch vor ein paar Tagen hat sie sich überraschend um eine dritte Amtszeit als Bürgermeisterin von Davao City beworben. Taktik?

Duterte verzichtet

Last-Minute-Pirouetten sind im Inselstaat nicht ungewöhnlich. Wer für das Amt des Staatspräsidenten kandidiert, ernennt jeweils seinen Vize, obwohl beide nicht als Duo, sondern separat gewählt werden. So kann es sein, dass ein gewählter Präsident den Vize des Gegners kriegt.

Ein amtierender Präsident darf nicht zu einer zweiten Amtszeit antreten. Deshalb bewarb sich Duterte als Vize, doch Pacquiao wollte ihn auch nicht und ernannte Lito Atienza, den achtzigjährigen Sprecher des Abgeordnetenhauses, zu seinem Vize. Dieser war von 1998 bis 2007 Bürgermeister von Manila und ist wie Pacquiao ein radikaler Gegner von Familienplanung und Sexualaufklärung. Letzte Woche hat Duterte überraschend seinen Verzicht erklärt. Taktik?

Bis zum Wahltag am 9. Mai 2022 wird sich das Bewerberfeld nochmals lichten: Schmutzkampagnen, gefakte Lebensläufe und Bestechungsskandale werden einige ausknocken. Manny Pacquiao wird wie üblich sein Bestes geben, aber sein Bestes könnte ausserhalb des Rings nicht genug sein.


 

096 »Die Lust am Weltuntergang«

Hintergrund: Ab Montag, den 4. Oktober 2021 will Extinction Rebellion Zürich lahmlegen, um die Regierung zum Handeln zu zwingen.


«Wir werden die Regierung zum Handeln zwingen. Und falls sie nicht handeln, werden wir sie in die Knie zwingen und eine Demokratie kreieren, die fit ist für unser Ziel. Und ja, einige könnten sterben bei diesem Prozess.» Das sind die Worte von Antidemokrat Roger Hallam, Mitbegründer von Extinction Rebellion (XR), nachzusehen in einem Video vom 4. Februar 2019. Noch deutlicher äussert sich der andere Co-Gründer, Stuart Basden, der am 10. Januar 2019 einen Essay in den sozialen Medien veröffentlichte, wonach es bei XR gar «nicht um das Klima geht», sondern um einen «Great Reset».

Offiziell spendet die Organisation Climate Emergency Fund bis zu 500’000 Pfund für die öffentlichen Inszenierungen der «esoterischen Weltuntergangssekte» (Jutta Ditfurth), die bis vor kurzem ihre Homepage noch mit Totenköpfen schmückte. CEO ist Trevor Neilson, der zusammen mit einem Enkel von Warren Buffett die Investmentholding I(x) Investments gründete.

Aktienfonds, die auf einen «Great Reset» spekulieren, liegen im Trend. Der schwedische PR-Manager und Finanzunternehmer Ingmar Rentzhog gründete das Unternehmen «We don’t have time», bestehend aus einer Aktiengesellschaft und einer Stiftung. Rentzhog ist Mitglied des Climate Reality Project des früheren US-Vizepräsidenten Al Gore. Er gilt als Entdecker von Greta Thunberg. Sie sass vorübergehend im Vorstand seiner Stiftung. Dank Greta, die mittlerweile mit ihrer Familie in Antifa-Shirts posiert, konnte Rentzhogs Aktiengesellschaft Millionen an Frischgeldern generieren.

Financiers bezahlen Aktivisten, die Regierungen erpressen

Wenn jemand in grüne Technologien investiert, ist das eine sehr gute Sache. Problematisch wird es, wenn Financiers zur Förderung ihrer Investments kostümierte Aktivisten bezahlen, die demokratisch gewählte Regierungen mit der Androhung strafbarer Handlungen erpressen.

Heiligt der Zweck die Mittel? XR meint Ja. Ähnlich wie die Finanzsekte Scientology ködert XR Jugendliche, die aufgrund des altersbedingten Mangels an Lebenserfahrung anfällig sind für groteske Angstkampagnen. Dringend notwendige Innovationen zum Schutz der Umwelt werden jedoch von aktiven Forschern in den Labors entwickelt und nicht von passiven Street-Potatoes, die andere daran hindern, zur Arbeit zu gehen.

Claude Cueni (65) ist Schriftsteller und lebt in Basel. Er schreibt jeden zweiten Freitag im Blick. Zuletzt erschienen bei Nagel & Kimche «Genesis – Pandemie aus dem Eis» und «Hotel California».

095 »Geld arbeitet nicht? Na sowas«

 

«Es gibt tausend Möglichkeiten, sein Geld auszugeben, aber nur zwei, Geld zu verdienen. Entweder wir arbeiten für Geld, oder Geld arbeitet für uns.»

Wer hat das behauptet? Bernard Baruch (1870–1965). Der US-amerikanische Financier begann seine berufliche Laufbahn als Börsenbroker. Noch vor Erreichen des 30. Lebensjahrs war er ein vermögender Mann, mit 40 der ungekrönte «König der Wall Street», mit 50 ein bedeutender Philanthrop (dank dem Kapital, das er arbeiten liess).

Solche Geschichten erwecken den Eindruck, der Aktienmarkt sei Gambling für Reiche, und man verdiene das Geld im Schlaf. Es gibt zwar den computergesteuerten Hochfrequenzhandel, aber in der Regel braucht es interdisziplinäres Wissen, um an den Finanzmärkten erfolgreich zu sein. Das Aneignen von Wissen ist zeitintensiv und setzt Arbeit voraus. Dagobert Duck gibt es nur im Comic.

Heute fressen Negativzinsen (und morgen die zu erwartende Inflation) unser Erspartes auf. Zur Sicherung der Altersvorsorge muss man zwingend sein bereits als Einkommen und Vermögen versteuertes Geld arbeiten lassen. Der eine braucht viel, der andere wenig. Wer in den 1980er-Jahren für 3500 Dollar Apple-Aktien kaufte, ist heute Millionär, auch wenn er ein Leben lang als Briefträger unterwegs war.

Die Welt wird durch Umverteilung nicht dauerhaft besser oder gerechter. Wir kennen alle die Geschichten von Geschwistern, die zu gleichen Teilen geerbt haben. Die einen verprassten ihren Anteil, die anderen vermehrten ihn. Superreiche haben stets die Möglichkeit, umgehend ihre Koffer zu packen. Hat man sie einmal verscheucht, bezahlt der Mittelstand den Steuerausfall mit höheren Abgaben, und der Standort Schweiz bleibt auf Jahre hinaus ramponiert. Man nimmt die Superreichen ins Visier, trifft aber KMU und Normalverdiener, die um 6 Uhr morgens aufstehen.

Neid ist ein schlechter Ratgeber, gefragt ist Pragmatismus. Auch wer astronomisch anmutende Einkommen und Vermögen stossend findet, sollte nicht vergessen, dass die 1 Prozent Superreichen 43 Prozent der Bundessteuer bezahlen.

Geld arbeitet nicht, wir schon? Ein klar ausformulierter Initiativtext hätte tatsächlich Arbeit bedeutet. Die 99-Prozent-Initiative ist ein Überraschungsei, Populismus aus Entenhausen.

094 Blick »Lasst uns gendern«

Das neue Gender-Lexikon ist da. Würde ich die gendergerechten Wortalternativen übernehmen, sähe mein Text so aus: Als «autorierende Person» (bisher Autor) habe ich mich gefragt, wie man eine gendergerechte Version von «Der Spion, der aus der Kälte kam» betiteln könnte – «Die auskundschaftende Person, die aus der Kälte kam». In Erwägung zog ich auch einen Krimi um eine «Bank ausraubende Person» (Bankräuber) und entschied mich dann für einen «Mensch-in-Rüstung-Roman» (Ritterroman), eine Fortsetzungsgeschichte für «medienbeziehende Personen» (Abonnenten).

Ich borgte das «Fahrrad mit tiefem Einstieg» (Damenvelo) meiner «Eheherzperson» (Ehefrau). Leider rammte mich eine «qualifizierte, fahrzeugführende Person» (Berufskraftfahrer). Eine «approbierte pharmazeutische Fachkraft» (Apotheker) aus dem Geschäft gegenüber eilte mir zu Hilfe. «Beobachtende Personen» (Augenzeugen) filmten, wie ich über den Strassenpassierstreifen (Fussgängerstreifen) humpelte und bei einer «Lebensmittel verarbeitenden Person» (Koch), die einen Foodtruck betrieb, Cola mit Shrimps bestellte.

Der Betreiber war ein «Mensch mit internationaler Geschichte» (Einwanderer), spielte als «torhütende Fachkraft» beim FC Venceremos und war nebenbei eine «Produkt erzeugende Person» (Erzeuger), die bereits viermal erfolgreich produziert hatte. Wir unterhielten uns gerade darüber, ob es für das Wort «Bergführer» eine genderkorrekte Alternative gab, als sein Tesla-Reiskocher Feuer fing und wenig später eine «feuerbekämpfende Person» (Feuerwehrmann) seine Crevetten unter Wasser setzte.

Auch das deutsche Gleichstellungsbüro des Auswärtigen Amtes empfiehlt die Gendersprache zur Umerziehung der Männer. Denn diese penisbehangenen Säugetiere sind sexistisch, Unterdrücker, schlechte Väter und noch schlechtere Ehemänner, kurzum: Männer sind Schweine. Und obwohl die Gender-Onanisten angeblich alle Menschen gleich behandeln wollen, führen sie eine Apartheid der Geschlechter ein und erkoren den Rassismus gegen weisse Männer zum Lifestyle.

Wie reagieren «Autorierende» (Autoren)? Sie verhunzen ihre Texte bis zur Unlesbarkeit, denn jetzt zählt auch bei «Werkschaffenden der Sprache» nur noch die richtige Gesinnung.


Claude Cueni ist Schriftsteller und lebt in Basel. Er schreibt jeden zweiten Freitag im BLICK. Zuletzt erschienen bei Nagel & Kimche »Genesis – Pandemie aus dem Eis« und »Hotel California«.


 

Happy Birthday, Robert Crump (78)!

Happy Birthday Robert Crump (78)!

Zwischen 1965 und 1972 erschien sein Comicstrip FRITZ THE CAT, der 1972 als Animationsfilm in die Kinos kam. Er erzählt die Geschichte des sex- und drogensüchtigen Katers Fritz. Der Kultfilm war damals erst ab 18 zugelassen, heute würde er wohl gar nicht mehr zugelassen. Auch daran erkennt man, wie prüde, intolerant und humorlos die westliche Öffentlichkeit geworden ist.


Die Woke-Bewegung ist der/die/das wieder aufgewachte Bünzli aus grauer Vorzeit.


COMIC, das Magazin für Comic-Kultur schrieb:

 

Ein versoffener, rüdiger Kater

Er säuft, er ist ein Mann ohne Moral und Ethik, er nimmt Drogen, er behandelt Frauen wie Dreck, er ist die Person gewordene Antithese zur Hippie-Bewegung der 1960er Jahre: Robert Crumbs Fritz the Cat ist all das und noch mehr, denn mit dem Establishment kann er auch nicht. Ein wütender junger Mann spricht hier, verklausuliert in den Underground-Comics einer Zeit, in der alles im Aufbruch war – auch das Medium selbst.

Aus heutiger Sicht sind die Eskapaden von Fritz mindestens kurios, manchmal auch abstoßend, durchaus aber immer noch faszinierend. (…)

Crumbs berühmteste Schöpfung war dabei so etwas wie die Speerspitze, was weniger an den Comics selbst, sondern an dem Umstand lag, dass Ralph Bakshi einen Zeichentrickfilm inszenierte, der 1972 weltweit für Furore sorgte und mehr als 100 Millionen Dollar einspielte. Das machte Fritz und seinen Schöpfer bekannter, als es noch so viele Comic-Geschichten jemals hätten tun können.

Damit wurde aber auch der Anfang vom Ende eingeläutet. 1964 ersonnen und 1965 erstmals publiziert, ließ Crumb seinen Antihelden 1972 mit der Geschichte „Fritz the Cat Superstar“ sterben, weil er das Gefühl hatte, dass der Film seiner Schöpfung nicht gerecht geworden war. Darum erlaubt er dem Kater eine letzte Sexkapade, bevor er zulässt, dass dessen Geliebte ihm einen Eispickel in den Hinterkopf rammt.

(…)


 

093 Blick »Es war doch nur eine Frau«

© Blick 20. August 2021


Claude Cueni ist Schriftsteller und lebt in Basel. Zuletzt erschienen bei Nagel & Kimche «Genesis – Pandemie aus dem Eis» (2020) und «Hotel California» (2021).


«Es war doch nur eine Frau», sagte der junge Afghane Hussein K. bei der Vernehmung. Der bereits in Griechenland verurteilte Sexualtäter hatte 2016 die 19-jährige Studentin Maria L. vergewaltigt und brutal ermordet. August 2021: Zwei Afghanen ermorden ihre 34-jährige Schwester, weil sie die westliche Lebensweise annahm. Dazwischen: immer wieder Vergewaltigungen und Ehrenmorde.

Ex-Bundeskanzler Helmut Schmidt (1918–2015) hatte einst gefordert, dass man eine weitere Zuwanderung aus völlig fremden Kulturen unterbindet, das schaffe nur «ein zusätzliches dickes Problem».

Eine Minderheit, die dem Ruf ihrer Landsleute schadet

Es ist gut, wenn man ein grosses Herz hat, aber es sollte noch eine Spalte frei sein für den Verstand. Man kann afghanische Kinder, Frauen und Familien aufnehmen, aber wir sollten nicht leugnen, was seit Herbst 2015 in Europa geschieht, und keine weiteren allein reisende und gewaltgewohnte Jungs aus dem Hindukusch aufnehmen, die Frauen als nuttiges Freiwild, unsere Gesellschaft als Beutegesellschaft und unsere Toleranz als Schwäche betrachten. Sie sind nicht integrierbar und strapazieren mit ihrer niedrigen Frustrationstoleranz und eingebildeten Ehrverletzungen unsere Gastfreundschaft.

Sie sind eine Minderheit, das sei hier ausdrücklich betont, aber sie schaden dem Ruf ihrer integrierten Landsleute, denen teilweise bewundernswerte Karrieren gelingen. 

Privat würde man jeden Gast vor die Tür stellen, der sich an einem Familienmitglied sexuell vergreift. Sind nicht auch Frauen im eigenen Land schützenswert? Fehlt es an Empathie für unbekannte Opfer?

Man sollte aus den Fehlern lernen

Ex-Parteichef Helmut Hubacher (1926–2020) erklärte es so: «Für viele Sozialdemokraten war jeder Ausländer ein armer Siech, den man wie einen Kranken hegen und pflegen musste. Dass auch Ausländer kriminell sein und nicht anständig arbeiten können, wurde ausgeblendet.»

Nach 40 Jahren Mitgliedschaft trat Ursula Sarrazin (Ehefrau von Thilo Sarrazin) aus der Partei aus: «Die SPD ist zu einer Partei geworden, in der man die Wirklichkeit nicht mehr beschreiben darf.»

Die Realität ist nun mal so, wie sie ist. Ob es uns gefällt oder nicht. Man sollte aus den Fehlern lernen. Tun wir das nicht, «retten wir nicht Afghanistan, sondern werden selbst zu Afghanistan» (frei nach Peter-Scholl Latour).

Claude Cueni (65) ist Schriftsteller und lebt in Basel. Er schreibt jeden zweiten Freitag im Blick. Zuletzt erschienen bei Nagel & Kimche «Genesis – Pandemie aus dem Eis» und «Hotel California».

Weltwoche: Tagebuch

© Die Weltwoche – 12. August 2021


Claude Cueni ist Schriftsteller und lebt in Basel. Zuletzt erschienen bei Nagel & Kimche «Genesis – Pandemie aus dem Eis» (2020) und «Hotel California» (2021).

Im Mai erhielt ich meine zweite Pfizer/Biontech-Impfung. Jeder hat sein eigenes Risikoprofil und wägt ab. Da ich seit einer leukämiebedingten Knochenmarktransplantation immunsupprimiert bin und sechs der neun gelisteten Vorerkrankungen habe, hielt ich in meinem Fall das Risiko einer Impfung für das kleinere Übel. Hatte ich Nebenwirkungen? Vor dreissig Jahren hätte ich gesagt: O ja, es war schrecklich. Heute sage ich: Nicht der Rede wert. Die chronische Fatigue von Krebskranken nach einer Transplantation ist Long Covid hoch zehn. In einer Studie klagten 40 Prozent der Placebogruppe über Nebenwirkungen . . . «Generation beleidigt» ist auch «Generation wehleidig». Man fragt sich manchmal, wie unsere Vorfahren den Zweiten Weltkrieg durchgestanden haben.

In meinem Bekanntenkreis werden viele gegensätzliche Standpunkte vertreten. Ich habe damit kein Problem. Die einen misstrauen einem Impfstoff, der im «beschleunigten Verfahren» zugelassen wurde, andere vertrauen dem Wohlwollen der Götter, Geschichtslose wähnen sich in einer Nazi-Diktatur und wieder andere lehnen die Eingriffe in unsere Grundrechte ab. Der Ton wird gehässiger. Ich halte es für eine zeitgeistbedingte Unreife, dass manche glauben, sie könnten nur mit Leuten befreundet sein, die zu 100 Prozent ihre Meinung teilen. Niemand ist das Mass aller Dinge. Selbst auf einem Dating-Portal wird man kaum jemanden mit hundert Matching-Punkten finden.

Es gibt jedoch eine Gemeinsamkeit: den enormen Vertrauensverlust in Politik, Medien und Wissenschaft. Alain Berset und seine Task-Force haben zu oft die Unwahrheit gesagt. Wissenschaftler widersprechen sich im Stundentakt. Einige deutsche Kliniken melden falsche Zahlen, weil sie für jedes belegte Intensivbett staatliche Zuschüsse erhalten. Medien richten sich nach der Dramaturgie erfolgreicher TV-Serien: Eine Staffel folgt der nächsten, eine Angstkampagne löst die nächste ab, Horrorvisionen im Konjunktiv, das nächste Virus könnte das Schlimmste sein.

Es ist auch für mich mittlerweile irrelevant, was Alain Berset und seine Task-Force verkünden. Ich halte mich an meine Vertrauensärzte. In meinem Bekanntenkreis arbeiten viele im Gesundheitswesen. Mit einer Ausnahme sind alle geimpft. Zwei Monate nach der zweiten Impfung hatte ich die maximale Anzahl Antikörper. Wie lange noch? Sechs Monate, zwölf Monate, lebenslänglich? Die Angaben wechseln wie die wöchentlichen Lottozahlen. Mittlerweile sind alle Risikogruppen und jene, die sich impfen lassen wollten, geimpft. Was nun?

Ich bin mir durchaus bewusst, dass die Pandemie dreist missbraucht wird, um, wie es Wolfgang Schäuble in einem Interview formulierte, Dinge durchzusetzen, die ohne Pandemie nicht möglich gewesen wären (Hannoversche Allgemeine, 21. 8. 2020). Die Pandemie kann langfristig einen Vorwand liefern, um den von Klaus Schwab geforderten «Great Reset» durchzusetzen, eine grüne Variante des chinesischen Social-Credit-Systems ohne Bargeld. Ist das denkbar? Obwohl ich gegen die Abschaffung des Bargeldes bin (weil sie den gläsernen Bürger schafft), bezahle ich aus hygienischen Gründen nur noch mit der Karte . . .

Fazit: Slow down. Jeder hat sein eigenes Risikoprofil. Abhängig von Alter und Gesundheitszustand. Wer eine andere Meinung hat, ist kein Feind. Die Pandemie wird vorbeigehen. Kein Grund für Gehässigkeiten gegenüber Andersdenkenden. In einem demokratischen Rechtsstaat kann man an der Urne jene abstrafen, die sich an der plötzlichen Machtfülle berauscht haben.

Dienstag, 3. August:

Jetzt, wo ich geimpft bin und nach beinahe zwei Jahren freiwilliger Quarantäne wieder mit Dina im Freien spazieren kann, kaufen wir uns bei Orell Füssli einen Schweizer Hotelführer. Inmitten von Büchern stapeln sich die wunderbaren amerikanischen Peanut Butter Cups von Reese. Steht es so schlecht um den Buchhandel, dass man diversifizieren muss? Demnächst Zahnbürsten und Kartoffelschäler?

Montag, 9. August:

Auch Greta Thunberg, 18, muss diversifizieren. Ihr Eventmanager Svante Thunberg weiss Rat. Greta posiert als Cover-Girl der skandinavischen Vogue -Ausgabe. Der «alte, weisse Mann» Alexandrov Klum hat sie als esoterische Hohepriesterin im Märchenwald in Szene gesetzt. Das Porträt verfasste Tom Pattinson, ein Mann von «toxischer Männlichkeit». Greta trägt laut eigenen Angaben dem Klima zuliebe nur Secondhand-Klamotten, die irgendwelche «Klimasäue» einst neu gekauft haben. War auch die Hochsee-Rennjacht «Malizia II» vom Trödlermarkt? Pattinson zitiert Greta: «In der einen Sekunde werde ich von meinen Eltern kontrolliert, ich kann nicht selbständig denken; in der nächsten Sekunde bin ich ein böses, manipulatives kleines Kind.»


 

Meine Woche 30/2021

Das traditionelle Balikbayan-Shopping ist für mich heute genauso befriedigend wie früher eine Woche Sardinien. Wie jedes Jahr senden wir im August Balikbayan Boxen auf die Philippinen. Das Containerschiff erreicht im November Manila. Von dort geht es weiter auf die Insel Negros. Die Boxen erreichen den Zielort nach ca. 3 Monaten, also wenige Wochen vor Weihnachten.

Ca. zehn Prozent der philippinischen Gesamtbevölkerung (101’000 Mio.) leben im Ausland. Über 80 Prozent sind Frauen. Sie sind sehr familienorientiert, wobei der Begriff »Familie« wesentlich breiter gefasst ist.

Monatlich senden die Overseas-Filipinas eine halbe Million Balikbayan Boxen und jährlich rund 32 Milliarden Dollar auf die Insel, das sind über 10 Prozent des Bruttosozialproduktes.

In der Schweiz leben ca. 10.000 Filipinas, die meisten arbeiten im Gesundheitswesen und werden sehr geschätzt. 1975 lebten erst 188 Filipinas in der Schweiz.


© Transportbilder http://www.philswissexchange.ch die auch unsere Boxen verschifft.


 

 

092 Blick »Lollipops für Unentschlossene«

© Blick Kolumne 092 vom 6.8.2021


Wie kann man Süsses geniessen, ohne dass die Finger dabei klebrig werden? Schimpansen waren die Lehrmeister unserer Vorfahren. Mit einem dünnen Ast kratzten sie Honig aus den Bienenstöcken, behielten den Ast und leckten ihn sauber. Der erste Lollipop. In der Antike pflegte man Früchte, Mandeln und Sesam in Honig einzulegen und die gehärtete Masse aufzuspiessen.

Das taten auch George Smith und sein Kumpel Andrew Bradley in den 1880er-Jahren. Sie steckten alles Mögliche auf einen Stängel. Bei einem Pferderennen beeindruckte sie ein Pferd namens Lolly Pop. So nannten sie dann auch ihren ersten kommerziellen Lutschstängel, der die Welt der Kinder erobern sollte.

Heute nutzen Eltern gerne einen Lollipop, um ihre Kinder zu belohnen. Oder gefügig zu machen. Esswaren eignen sich vorzüglich für die Dressur. Ratten dressiert man mit Bananenscheiben, Hunde mit Knochen, Katzen mit Fisch.

Könnte man einige Unentschlossene mit Lollipops in die Impfzentren locken? Kommt drauf an. Auf der philippinischen Insel Negros erhält man nach dem Impfen fünf Kilo Reis. In einem Land, in dem ein durchschnittlicher Jahreslohn in etwa einem durchschnittlichen Schweizer Monatslohn entspricht, ist das durchaus ein Anreiz.

Dass solche Lockangebote auch in Deutschland funktionieren, deutet auf einen sinkenden Lebensstandard hin. In Niederbayern gibts ein kleines Geschenk, so eine Art Überraschungs-Ei, in Regensburg gibts Freigetränke, in Kelheim eine Bratwurst mit Semmel, in anderen Städten Kinotickets oder ein Bier. Wäre in der Schweiz eine Zuger Kirschtorte Anreiz genug?

Auf der schweizerischen Hochpreisinsel ist kein Lollipop gross genug, um alle Gruppierungen umzustimmen. Die einen misstrauen einem Impfstoff, der im beschleunigten Verfahren zugelassen wurde, andere vertrauen dem Wohlwollen der Götter, Geschichtslose wähnen sich in einer Nazi-Diktatur. Die Beweggründe sind so vielfältig wie unsere Parteienlandschaft. Vielleicht wäre ein Steuerrabatt für einige Anreiz genug. Unsere tiefe Impfquote verlängert die Pandemie und kostet den Bund wesentlich mehr.

Disclaimer: Ich bin zweifach geimpft und pflege weder wirtschaftliche noch sexuelle Beziehungen zu Impfstoff-Herstellern.


 

Meine Woche 29/2021

Dienstag, 08.00 Augenspital (chronische GvHD), 15.00 Lac Léman. Ich wollte endlich das Château de Chillon besuchen, das ich einst als Inspiration für einen Kinofilm »Sigurd« vorgesehen hatte. Als Kind mochte ich Tintin, als Primarschüler war »Sigurd, der ritterliche Held« von Hansruedi Wäscher, mein beliebtester Comic. Ein etwa gleichaltriger Basler war ebenfalls ein begeisterter Sigurd Fan. Ich traf ihn per Zufall 1982 in einer Basler Videothek, die er als 25-jähriger gegründet hatte. Wir wussten nichts von unserer gemeinschaften Leidenschaft aus Kindstagen, wir kannten uns nicht.

34 Jahre später begegneten wir uns wieder: Er war mittlerweile als Besitzer der Highlight Communication (Constantin Film) ein international erfolgreicher Filmproduzent und Sportvermarkter: Bernhard Burgener (Ex-FCB-Präsident). Er hatte wie ich noch alle Sigurd Abenteuer im Kopf und zu meinem sehr grossen Erstaunen hatte er die Filmrechte erworben und schlug mir vor, einen Entwurf für einen Kinofilm zu schreiben. Ich war sehr euphorisch, begann sofort mit den Recherchen*, doch dann kam das Leben dazwischen und ich musste Sigurd in Labans Kerker zurücklassen.

Obwohl das alles Schnee von gestern ist, war ich nach vielen Jahren immer noch neugierig, das Schloss mit eigenen Augen zu sehen. Bereits im Innenhof endete meine Visite. Ich hatte schlicht vergessen, dass ich aufgrund der fortschreitenden Polyneuropathie keine Schlosstreppen mehr hochkomme. Comedy. Dina und ich haben herzhaft gelacht. Sehr schöne Gegend diese Schweizer Riviera.


*Ich gab Sigurd einen historischen Rahmen: Die Zeit von Friedrich I., genannt Barbarossa, von 1155 bis 1190 Kaiser des römisch-deutschen Reiches.


 

Blick fragt: Wieso sollte man Ihr Buch lesen?

»Blick« hat 8 Autorinnen und Autoren gefragt, wieso man ihre Bücher lesen sollte. Hier also meine schamlose Eigenwerbung:


Darum geht es:

Der Song »Hotel California« ist der Soundtrack dieses surrealistischen Romans. Ein Mann wacht in der kalifornischen Wüste auf. In der Ferne sieht er ein Hotel ohne Nachbarschaft. Man kann es jederzeit betreten, aber nie mehr verlassen. Der Mann ist auf der Suche nach seiner noch ungeborenen Tochter Elodie. Absurd? Ja, ziemlich absurd.


Darum könnte es für Sie interessant sein:

Marc Stucki schrieb auf Facebook: »Wenn ich meiner Tochter nur ein Buch auf ihren Lebensweg mitgeben dürfte – das wäre es.« Den Text schrieb ich ursprünglich für meine ungeborene Enkelin Elodie, da ich sie nicht mehr als Teenager erleben werde. Das Ganze ist mir entglitten, es wurde ein Lebensratgeber in Romanform. Ich sage Elodie, was im Leben wirklich zählt, weil man das erst am Ende des Lebens erfährt. Wenn es vorbei ist. Wenn es zu spät ist. Das ist die Ironie unseres Daseins. Radiolegende Francois Mürner kommentierte auf Amazon »Muss man gelesen haben«. Gehört dieses Buch in Ihren Reisekoffer? Das geringe Gewicht spricht auf jeden Fall nicht dagegen.


Hotel California, Nagel & Kimche


 

091 Blick »Muss Schneewittchen sterben?«

Seit 1955 schläft Schneewittchen in einem der meistbesuchten Freizeitparks der Welt, im Disneyland Resort in Kalifornien. Die Pandemie zwang die Betreiber vorübergehend zur Schliessung. Nach 400 Tagen endlich die Wiedereröffnung. Die Tageszeitung «San Francisco Chronicle» sandte zwei Woke-Journalistinnen zur Inspektion.

Die beiden Expertinnen blieben wie versteinert vor dem schlafenden Schneewittchen stehen, die von einem Prinzen wachgeküsst wird, und stellten die Frage, die zum Politikum wurde: Hätte der Prinz Schneewittchen, die 1812 in einen komatösen Schlaf verfiel, nicht zuerst um Erlaubnis fragen sollen, bevor er sie wachküsst?

Da sie schlief, wäre das selbst für erfahrene Märchenerzähler eine Herausforderung. Hätte der Prinz sanft ihre Hand streicheln sollen? Ein No-Go in Zeiten von #MeToo!

Schwarze küsst Ladyboy wach

Die beiden Journalistinnen verlangten, dass man das über zweihundert Jahre alte Märchen der Gebrüder Grimm umschreibt. Wieso schrieben sie nicht gleich selber ein gendergerechtes Märchen mit woken Figuren?

Denkbar wäre eine schwarze Frau (nicht zu dick, nicht zu dünn, nicht zu hübsch, nicht zu sexy), die einen thailändischen Ladyboy wachküsst. Und was wird aus den sieben Zwergen? Sie sind entweder homosexuell, bisexuell, heterosexuell, fluidsexuell, sexuelle Flexitarier oder noch Forschende. Und wo bleibt die Inklusion? Wir brauchen die Zwerge in allen Hautfarben, Geschlechtern, Alters- und Einkommensklassen. Dann gibts mehr Zwerg*innen als Bäum:innen im Wald:in.

Woke-People erreichen heute nicht selten Kabarett-Niveau. Expertin Deanne Carson meint zum Beispiel, man müsse auch Babys vor dem Wickeln um Erlaubnis fragen. Leslie Kern fordert ein Verbot von Hochhäusern, weil sie diese als sexistische Symbole erkannt hat, die in den Himmel ejakulieren.

Anmassende Wohlstandsverblödung

Traut man den Online-Umfragen, halten jeweils etwa 90 Prozent der Leserschaft diese Diskussionen für ziemlich bescheuert. Es ist somit vor allem ein Medienthema, eine peinliche Anbiederung an den Zeitgeist, der von einer anmassenden Minderheit im elitären Milieu ausgebrütet wird.

Wenn man bedenkt, wie Menschen in Armutsländern täglich um das nackte Überleben kämpfen, empfindet man diese Wohlstandsverblödung zum Fremdschämen.


Claude Cueni (65) ist Schriftsteller und lebt in Basel. Er schreibt jeden zweiten Freitag im Blick. Kürzlich erschien im Verlag Nagel & Kimche sein Roman «Hotel California – Botschaft an Elodie».


 

090 Blick »Gringokiller«

© Blick 9.7.2021

Für die Schärfe von Chili gibt es sogar eine eigene Messskala. Die Sorte, die obenausschwingt, ist nichts für schwache Geschmacksnerven. Kein Wunder, wird Chili auch als Waffe eingesetzt. Und manchmal als Potenzmittel.


Claude Cueni

Die Zunge brannte, die Speiseröhre stand in Flammen, das Herz raste, und bevor Christoph Kolumbus zusammenbrach, schossen entzündungshemmende Endorphine in sein Gehirn und linderten den Schmerz.

Nachdem Kolumbus 1492 nicht Indien, sondern Amerika entdeckte hatte, irrte er auch bei dieser scharfen Chilischote. Er hielt sie für eine unbekannte Pfeffersorte und nannte sie ganz unbescheiden «spanischer Pfeffer». Chili war jedoch in Mittel- und Südamerika seit rund 9000 Jahren bekannt, verbreiteter als Mais, und diente als Schmerz- und Heilmittel. Die Göttin Tlatlauhqui-cihuatl-ichilzintli wachte über die rote Schote, die fast jeder Mahlzeit beigemischt wurde.

In Europa schmeckte das Essen damals unglaublich fad. Nur Könige, Adlige und Geistliche konnten sich Gewürze leisten. Die Diener Gottes verspottete man als Pfeffersäcke, weil sie in Saus und Braus lebten. Pfeffer wurde zeitweise sogar in Gold aufgewogen. Unter den Seefahrernationen war deshalb ein Wettlauf zu den sagenumwobenen Gewürzinseln ausgebrochen.

Würzen, wärmen, Angreifer vertreiben

Es gibt heute über 200 verschiedene Chilisorten mit unterschiedlichen Namen, die bekanntesten sind Jalapeño und Cayenne. Ja, der Cayenne-Pfeffer hat nichts mit Pfeffer zu tun, er besteht ausschliesslich aus Chili. Die Schoten unterscheiden sich in Geschmack, Grösse, Farbe und Schärfe recht stark voneinander. Die Schärfe ist dem brennenden Capsaicin geschuldet und wird in Scoville-Einheiten gemessen. Mexikanische Jalapeños haben weniger als 5000 Scoville, es gibt jedoch einige südamerikanische Sorten mit Spitzen von bis zu 300’000 Scoville. Die krasseste Schärfe weist der Manzano-Chili auf, nicht umsonst wird er «Gringokiller» genannt.

Während Azteken ihre Feinde zur Abwechslung dem beissenden Rauch gerösteter Chili aussetzten, würzen wir heute unsere Pfeffersprays mit Chili. Auch in der Medizin hat die Schote überlebt. Wir finden sie in Wärmepflastern, die man bei Hexenschuss auf den Rücken klebt.

Chili statt Viagra

Da Capsaicin auch die Durchblutung fördert, benützen es Experimentierfreudige als günstigen Viagra-Ersatz. Sofern man sich für Tabasco entscheidet, sollte man die Chilisauce nur über das Essen tröpfeln und nicht an der hilfsbedürftigen Körperstelle einreiben.


Claude Cueni (65) ist Schriftsteller und lebt in Basel. Im März erschien im Verlag Nagel & Kimche «Hotel California», ein Lebensratgeber in Romanform für seine Enkelin. Cueni schreibt jeden zweiten Freitag im Blick.


 

089 Blick »Greenpeace: Einst gemeinnützig, heute oft gemeingefährlich«

25. Juni 2021

©Blick-Kolumne von Claude Cueni über die Radikalisierung von Greenpeace.


Statt die Umwelt zu schützen fungiert Greenpeace heute als Selbstverwirklichungsplattform für Risikosportler, die sich ihre Abenteuer mit Spendengeldern finanzieren lassen. Rechtsbruch gehört zum System.


Claude Cueni


1978 hörte erstmals eine breite Öffentlichkeit von der 1971 gegründeten Umweltschutzorganisation Greenpeace (grüner Frieden). Mit einem Fisch-Trawler protestierten sie gegen den isländischen Walfang, gegen die Robbenjagd auf den Orkney-Inseln und gegen die Entsorgung von radioaktivem Müll in den Ozeanen. Ich fand das toll und spendete Geld, obwohl ich damals kaum welches hatte. 

Paul Watson, der Co-Gründer von Greenpeace, nannte sein Baby rückblickend die «grösste Wohlfühlorganisation der Welt», ihr Geschäft bestünde darin, den Menschen ein gutes Gewissen zu verkaufen. Ja, ich fühlte mich gut und hielt es für üble Nachrede, wenn Aussteiger wie Watson behaupteten, Greenpeace sei mehr am Spendensammeln interessiert als an der Rettung der Natur.

Mit dem Abgang der Realos kam die Radikalisierung

Auch Co-Gründer Patrick Moore warf nach 15 Jahren das Handtuch: «Greenpeace hat sich von Logik und Wissenschaft verabschiedet», Ideologen würden dominieren, jeder, der auch nur geringfügig von der Linie abweiche, würde als Öko-Judas diffamiert. Sind alle Realos weg, bleibt ein radikaler Kern übrig, der jede Verhältnismässigkeit verliert, weil ihm das Korrektiv fehlt. 

Einst gemeinnützig, heute oft gemeingefährlich. Straftaten häufen sich: Hausfriedensbruch, Sachbeschädigung, versuchte Nötigung, besonders schwere Fälle von Diebstahl, gefährliche Eingriffe in den Strassenverkehr, gefährliche Körperverletzung. Mit solchen Aktionen erwirtschafteten die «Gewaltfreien» 2019 einen Umsatz von 368 Millionen Dollar (das meiste davon Spenden) und zahlten ihrer Angestellten Jennifer Morgan 168’000 Euro Lohn. 2014 verzockte die grüne Geldmaschine mit hochspekulativen Termingeschäften 3,8 Millionen Dollar an der Börse.

Der Kämpfer gegen VW fährt selber einen VW

Greenpeace ist heute attraktiv für selfiehungrige Risikosportler, die sich ihre Abenteuer mit Spendengeldern finanzieren lassen und «dem Klima zuliebe» um die Welt jetten.

Der 38-jährige Chirurg, der kürzlich mit seinem motorisierten Gleitschirm über das mit 14’000 Zuschauern besetzte Münchner Stadion crashte, nahm für eine altbekannte Message Tote in Kauf. War das gemeinnützig? Diente die Aktion der Umwelt oder eher der Spendenakquisition? Der uneinsichtige Wiederholungstäter protestierte gegen VW. Und fährt selbst einen VW Golf.


Claude Cueni (65) ist Schriftsteller und lebt in Basel. Im März erschien im Verlag Nagel & Kimche «Hotel California», ein Lebensratgeber in Romanform für seine Enkelin. Cueni schreibt jeden zweiten Freitag im Blick.


 

»Wir haben Monopoly gespielt«

© Die Weltwoche – 24. Juni 2021


Der Untergang der Moorhuhn-Schmiede Phenomedia (2001) wäre Stoff für eine Komödie, der Finanzskandal von Wirecard (2021) der Plot für einen internationalen Thriller. Beide Gründer waren Schulabbrecher aus einfachen Verhältnissen. Vieles verlief ähnlich, aber eine Sache war anders.


von Claude Cueni


Was da passiert ist, hatte mit normalen Welten nichts zu tun. Es war völlig verrückt», gestand Markus Scheer, der Gründer der «Moorhuhn»-Schmiede Phenomedia, «wir haben ‹Monopoly› gespielt. Aber mit richtigem Geld.» Fünf Jahre nach dem Börsengang stand er 2004 vor den Richtern der 6. Strafkammer des Bochumer Landgerichts. Sie warfen dem damals 35-Jährigen Bilanzschwindel, Insiderhandel, Steuerhinterziehung und Erpressung vor. Er soll mit fünf Kumpels den Umsatz mit einem «raffinierten System aus Luftbuchungen» frisiert haben, um den Aktienkurs in die Höhe zu treiben. Beim Börsengang im Herbst 1999 war seine Phenomedia-Aktie mit 22,90 Euro am Neuen Markt gestartet. Zwischenzeitlich hatte sie 90 Euro erreicht und war schliesslich auf 86 Cent gecrasht. Erst nach vier Jahren Prozessdauer gestand Scheer, er habe «Fehler gemacht, schlimme Fehler». Nach 120 Prozesstagen landeten er und sein Finanzvorstand für drei Jahre hinter Gittern.

Markus Scheer war wie viele erfolgreiche Firmengründer ein Schulabbrecher, der den Schulstoff für weitgehend unnütz hielt, weil er von Anfang an genau wusste, was er wollte: Scheer wollte Spiele programmieren. Das Handwerk hatte er sich als Kind am legendären Spielecomputer C64 beigebracht.

Durchbruch mit Fake News

Bereits als Teenager wurde er Chefentwickler bei der 1988 gegründeten Firma Starbyte, die mit ihren Wirtschaftssimulationen den entstehenden Computerspielemarkt aufmischte und Kultstatus erreichte. 1992 teilte Starbyte das Schicksal vieler Pioniere, denn nicht selten bestraft das Leben auch jene, die zu früh kommen. Starbyte schlitterte in die Insolvenz. Scheer gründete eine neue Firma und fokussierte auf kleine Werbespiele, die im Auftrag von Firmen produziert wurden. Eines dieser advertising games war ein Shooter für Johnnie Walker. Attraktive Hostessen forderten abends Barbesucher zum Spielen auf dem Notebook auf. Wer genügend virtuelle Moorhühner abschoss, erhielt einen Drink spendiert. Der Erfolg war überschaubar.

Wesentlich interessanter schien Scheer, was sich an der Deutschen Börse abspielte. 1997 wurde nach dem Vorbild der amerikanischen Technologiebörse Nasdaq ein Aktienindex für neue Technologien ins Leben gerufen: der Nemax. Viele junge Firmen nutzten den Neuen Markt zur Beschaffung von frischem Kapital für eine schnellere Expansion. Nur brauchte es für einen erfolgreichen Börsengang Fleisch am Knochen, Content, ein prall gefülltes Portfolio. Scheer vereinigte kleinere Spieleproduzenten unter dem Namen Phenomedia und wagte 1999 mit einem bescheidenen Jahresumsatz von 4,8 Millionen Euro den Gang an den Neuen Markt. Im Börsenprospekt hatte er interaktives Fernsehen, Handy-Games und all das versprochen, was die Fantasie von Analysten und Anlegern beflügelte. Über Nacht spülte das IPO (Initial Public Offering) 22 Millionen Euro in die Firmenkasse. Scheer löste seine Versprechen ein und kaufte weitere kleine, aber innovative Firmen zusammen, er kaufte Wachstum. Der redegewandte Scheer und seine Jungs gehörten bald zu den Lieblingen der Finanzpresse. Der allgemeine Hype am Neuen Markt befeuerte den Aufstieg enorm. Plötzlich hatte jede Metzgerei eine Internetadresse, und das berühmte Hausmädchen begann erstmals in seinem Leben Aktien zu kaufen. Only the sky is the limit. Es war schliesslich das reanimierte Moorhuhn des Digital Artist Ingo Mesche, das den Aktienkurs durch die Decke brechen liess. Der Pressesprecher der Phenomedia hatte diversen TV-Journalisten gesteckt, dass in einigen Firmen kaum noch gearbeitet würde, weil angeblich auf den Firmencomputern nur noch Moorhühner gejagt würden. Die Fake News verbreiteten sich wie ein Lauffeuer. Wie gut musste ein Spiel sein, wenn moorhuhnsüchtige Angestellte sogar ihre Kündigung in Kauf nahmen?

Vorlage für eine Komödie

Bereits im März 2001 wurde in einer Ad-hoc-Mitteilung bekanntgegeben, dass für das Jahr 2000 ein Rekordergebnis verzeichnet worden sei, eine Umsatzsteigerung von erstaunlichen 236 Prozent auf 31,9 Millionen Euro. Die Aktie stieg um 6,5 Prozent. Noch wussten die begeisterten Anleger nicht, dass Phenomedia in Wirklichkeit einen Verlust von 8,3 Millionen eingefahren hatte. Scheer ahnte, dass auch Moorhühner nicht ewig lebten und dass bei weiteren Verlusten die Aktie das Schicksal der Moorhühner teilen würde.

Auf Scheers Schreibtisch standen stets zwei Computer. Auf dem zweiten lief eine seiner geliebten Wirtschaftssimulationen. Gründete man als virtueller Firmenboss dreissig Tochterfirmen und schickte eine Million im Kreis herum, konnte jede Firma jeweils einen Umsatzzuwachs von einer Million verbuchen, und jeder Rundgang brachte dem virtuellen Mutterhaus zwar nicht mehr Gewinn, aber dreissig Millionen mehr Umsatz. Am Neuen Markt waren tiefrote Zahlen okay. Solange der Umsatz stieg. Amazon war der beste Beweis. Konnte das, was in einem Computerspiel zum Erfolg führte, auch in der Realität funktionieren? Scheer konnte nicht widerstehen. Mit Scheinfirmen, Luftbuchungen und Bilanzschwindel blähte er den Umsatz auf. Die Banken, so Scheer, brachten ihm «schubkarrenweise frisches Geld» und rieten ihm angeblich davon ab, einen erfahrenen Senior Manager beizuziehen. Dass Phenomedia als Anbieter von Handy-Games die Firmenzentrale ausgerechnet in einem Bochumer Funkloch gebaut hatte, sah man den Newcomern nach. Ihr smarter Kundenakquisiteur erklärte den Erfolg wie folgt: »Wir ziehen unsere geilen Anzüge an und quatschen ein bisschen über Phenomedia.» Das Einzige, worüber alle genau Bescheid wussten, war der aktuelle Aktienkurs. Insiderhandel war später ein weiterer Anklagepunkt. «Geile Anzüge», das war einem externen Wirtschaftsprüfer zu wenig. Er deckte auf, was man bei Computerspielen cheat nennt, in der Realität aber Betrug ist. Scheer reagierte umgehend und stellte den Unbequemen als Finanzchef ein. Der Absturz war nur aufgeschoben. Im nächsten Jahr schlug ein neuer Wirtschaftsprüfer Alarm, die Staatsanwaltschaft liess sechs Führungskräfte verhaften, die Aktie verkam zum Pennystock und hinterliess Tausende von geprellten Kleinanlegern, Investoren, Kreditgebern und jungen Arbeitslosen.

Während die Phänomedialen die Bilanzen «lediglich» um fünfzehn Millionen aufgebläht hatten, betrug der mutmassliche Finanzschwindel beim deutschen Zahlungsabwickler und Finanzdienstleister Wirecard 1,9 Milliarden Euro. Auch das untergetauchte Wirecard-Vorstandsmitglied Jan Marsalek wuchs in einfachen Verhältnissen auf und brach frühzeitig die Schule ab. Markus Scheer sagte vor Gericht, er habe mächtig sein wollen, das hatte auch Jan Marsalek gewollt. Er gilt als Hauptverdächtiger im Finanzskandal der Wirecard.

Während der Niedergang der Phenomedia lediglich eine Fussnote in der Geschichte der New Economy bleiben wird, ist Wirecard der «grösste Börsen- und Finanzskandal der deutschen Nachkriegszeit». Phenomedia könnte die Vorlage für eine Komödie sein, Wirecard ist hingegen der Plot für einen internationalen Thriller im Umfeld von Marsaleks dubiosen Aktivitäten in Libyen, geheimdienstlichen Kontakten und gefakten Firmensitzen, die mit Schauspielern besetzt wurden. Doch in einem Punkt unterscheiden sich die beiden Skandale ganz erheblich: Wirecard genoss einen besonderen Schutz. Die Münchner Staatsanwaltschaft, die Finanzaufsicht Bafin, die Wirtschaftsprüfer: Sie alle wollten jahrzehntelang nicht wahrhaben, was immer offensichtlicher wurde. Bereits 2003 stellte der Blogger Jigajig die Ungereimtheiten in der Wirecard-Bilanz online. Seine Beiträge wurden gelöscht. Vergebens. Die Betrugsvorwürfe häuften sich in den folgenden Jahren. 2016 startete Matthew Earl, Managing Partner bei Shadow Fall Capital, seine Serie vernichtender Blog-Beiträge. Er wurde verfolgt und bedroht. Anfang 2019 verbreitete die Financial Times in einer Artikelserie die Vorwürfe des Wirecard-Juristen Pav Gill, der als Senior Legal Counsel für Wirecard Asia Pacific zuständig war. Die Dokumente wurden weltweit verbreitet. Die Münchner Staatsanwaltschaft eröffnete ein Strafverfahren, aber nicht gegen die Chefetage von Wirecard, sondern gegen den Whistleblower Pav Gill. Zuerst wurde ihm Geld angeboten. Pav Gill lehnte ab. Dann folgte ein Psychoterror der üblen Sorte. Gills Mutter erlitt einen Schlaganfall.

Unterstützung von Merkel

Erstaunlich, dass sich Angela Merkel noch im September 2019 in China für Wirecard ins Zeug legte. Auch wenn sie im April vor dem Untersuchungsausschuss wie üblich jedes Fehlverhalten von sich wies, entstand doch der Eindruck, als hätten Deutschland und seine Finanzinstitutionen aus falsch verstandenem Patriotismus ein Unternehmen geschützt, das die Bundesrepublik zum europäischen Silicon Valley hätte upgraden sollen. Wieso auch erfahrene Wirtschaftsprüfer zehn Jahre lang geschwiegen haben, wird wohl Gegenstand der Ermittlungen sein.

Markus Scheer hat seine Strafe abgesessen und wieder als Unternehmer Fuss gefasst, Jan Marsalek und einige seiner Komplizen sind untergetaucht. In Sicherheit sind sie nicht. Gefahr droht ihnen nicht nur von der Justiz, sondern auch von all den geschädigten «Geschäftspartnern», die nun zur Jagd blasen. Es gibt für Kriminelle nichts Verlockenderes, als geraubtes Geld zu stehlen. Jan Marsalek wird gejagt, er ist das neue Moorhuhn. Auf den Philippinen kostet ein Auftragskiller in Polizeiuniform gemäss Cebu Daily News fünfzig Dollar.


 Claude Cueni ist Schriftsteller und lebt in Basel. Im März erschien von ihm im Verlag Nagel & Kimche «Hotel California», ein Lebensratgeber in Romanform für seine Enkelin.

 

Rezension: Hotel California

Literatur & Kunst / Weltwoche vom 10. Juni 2021

Vermächtnis für die Enkelin

Von Rolf Hürzeler

Claude Cueni: Hotel California. Nagel&Kimche. 160 S., Fr. 27.90

Wer im Hotel «California» eincheckt, kommt nie mehr heraus. Denn das Haus steht für das Ende des menschlichen Daseins. Der Schriftsteller Claude Cueni hat die Metapher gewählt, weil er vor mehr als zehn Jahren an den Folgen einer Leukämie schwer erkrankt ist und ohne Aussicht auf Genesung lebt. Mit seinem neuen Buch «Hotel California» hat er nun einen feinfühligen Text für seine ungeborene Grosstochter geschrieben. Das Buch trägt den erklärenden Untertitel «One more thing: Meine Botschaft an Elodie». Die Enkelin begegnet der Leserschaft als wachsender Fötus, den Cueni auf das Leben vorbereitet. Eine eigentliche Handlung hat die Novelle nicht, aber die Irrungen und Wirrungen rund um das Hotel zieht der Autor als roten Faden durch eine widersprüchliche, zum Teil schwerverständliche Welt.

Kraft und Kreativität

Denn zu dieser gehört Cuenis Unterbewusstsein. Immer wieder erlebt der Erzähler albtraumartige Begegnungen, etwa mit einer Pythonschlange: «Ich sass plötzlich auf einem schuppenartigen Ding …» Was witzig beginnt, endet apokalyptisch: «Es wurde dunkel um mich herum, als sie meinen Kopf verschlang und mühsam durch ihren engen Körper nach hinten presste …» Neben diesen absurden Halluzinationen gibt Cueni seiner Enkelin Elodie praktische Ratschläge für das Leben, die nur jemand mit viel eigener Lebenserfahrung erteilen kann; so, wenn er vom Wert des Geldes berichtet. Er relativiert die Bedeutung des Besitztums und rät dagegen, menschlichen Beziehungen umso mehr Sorge zu tragen. Am wichtigsten ist ihm jedoch die Bereitschaft, den Überlebenskampf nicht zu scheuen: «Als ich Hals über Kopf aus meinem Elternhaus floh und keine Schulen mehr besuchte, trug ich Flip-Flops und fünf Franken im Sack.» Später verdiente Cueni ein Vermögen mit Computergames und seinen Romanen. Immer wieder arbeitet der Autor mit Versatzstücken aus seinen früheren, weitgehend autobiografischen Büchern. Cueni wählte den Titel des Buches «Hotel California» nach dem Ohrwurm der Band Eagles aus dem Jahr 1976, deren Musik ihm in der Jugend offenbar wichtig war. Noch heute findet er in Erinnerungen wie diesen Halt und Zuversicht. Was dieses Buch auszeichnet, sind die Kraft und die Kreativität, die Cueni aus seinem Schicksal schöpft; damit macht er seiner Leserschaft Mut.

088 Blick »Trickst Panini?«

Es begann mit einem Flop. Die Gebrüder Panini druckten Sammelalben mit Blumenbildern zum Einkleben. Damit umdribbelten sie wohl alle möglichen Zielgruppen: Erwachsene kaufen keine Alben, und Kinder mögen Superman mehr als Orchideen.

 

1961 brachte Panini deshalb ein Sammelalbum mit 90 Aufklebebildern italienischer Fussballmannschaften heraus. Mit Erfolg. Bereits an der WM 1970 in Mexiko kam die Verpackungsmaschine Fifimatic zum Einsatz, um zu verhindern, dass in einem 5er-Päckchen zweimal das gleiche Bild vorkam. Je mehr Päckchen man kaufte, desto höher war die Wahrscheinlichkeit, dass man zweimal den gleichen Spieler hatte.

 

Für viele Kids war es wohl ein Schock, dass sie ausserhalb von Hotel Mama der harten Realität ausgesetzt waren und aus fünfzig Tüten viermal Víctor Espárrago von Nacional Montevideo zogen und kein einziges Mal Pélé. Der Frust gebar die Verschwörungstheorie, wonach Panini trickste und ein Ersatzspieler öfter vorkam als ein Weltstar.

 

Zwei Mathematiker der Uni Genf gingen der Sache nach und kauften zwölf Boxen à hundert Päckchen mit jeweils fünf Bildern, also insgesamt 6000 Sticker. Das Ergebnis: Jeder Spieler kam exakt neun Mal vor.

 

Bis zur WM 2006 kaufte ich jedes Jahr ein Sammelalbum. Ohne Bilder. Die Kioskverkäuferinnen reagierten oft irritiert: «Sie brauchen wirklich keine Bilder?»

 

Es war ein Italiener aus Mailand, der schliesslich hinter mein Geheimnis kam. «Ist es Zufall», mailte er, «dass in Ihrem Vatikanthriller ‹Andate e uccidete› (Gehet hin und tötet) fast alle Kardinäle und Mafiosi die Spielernamen der italienischen Nationalmannschaft von 1990 haben?»

 

Ich gestand, dass ich die Namen für meine Film- und Romanfiguren jeweils den Panini-Alben entnehme. Damit gehe ich sicher, dass russische oder argentinische Namen authentisch sind. Von Salvatore Schillaci (Juventus) lieh ich zum Beispiel den Vornamen, von Franco Baresi (AC Milan) den Nachnamen. Panini-Fussballalben waren integraler Bestandteil meiner Autorenbibliothek.

 

Mittlerweile kann man die Namen googeln, und die Panini-Gruppe erwirtschaftet in über 120 Ländern mit rund tausend Mitarbeitern einen Umsatz von über einer Milliarde Euro. Egal, wer die EM gewinnt, Panini bleibt Weltmeister.

087 »Braucht eine Regierung Fußfeßeln?«

© Blickkolumne vom 28. Mai 2021

Fussketten aus Bronze kennt man seit über 4000 Jahren, also seit Menschen fähig sind, Metalllegierungen aus Kupfer und Zinn herzustellen. Aus der römischen Antike sind derart viele Exponate erhältlich, dass man sie bereits für 900 Franken erwerben kann. 

Während der Pandemie wurde eine neue Variante notwendig: die unsichtbare Fussfessel, die unbescholtenen Bürgern nicht viel mehr Freiheiten einräumt als Straftätern mit elektronischen Fussfesseln.

Am 13. Juni stimmt das Volk über das Covid-19-Gesetz ab, da auch das Notrecht ein Verfalldatum hat: sechs Monate. Wie üblich versteckt man eine Kröte in einem Bündel guter Massnahmen. Die Kröte räumt dem Bundesrat auch in Zukunft weitreichende Befugnisse ein und schwächt somit Parlament und Demokratie. Man kann das Gesetz trotzdem annehmen. Sofern man der Regierung traut.

Aber Vertrauen muss man sich verdienen. Während der Pandemie wurde es teilweise verloren. Aufgrund der widersprüchlichen und teils völlig unlogischen Massnahmen kamen Zweifel an der Kompetenz der stets zaudernden Akteure auf. Nach vorsätzlichen Falschinformationen (Maskenlüge etc.) ist der Schaden irreparabel. Auch ein Borsalino-Hut kann keine Pinocchio-Nase verdecken. Massnahmen zur Kompensierung von Erwerbsausfällen können auch auf parlamentarischem Weg aufgegleist werden, und Medienförderung gehört nicht in ein Pandemiegesetz. 

Gesundheitsminister Alain Berset droht wie üblich und warnt davor, dem Bundesrat mit einem Nein einen Denkzettel verpassen zu wollen. Seine Befürchtung ist berechtigt. Ein Teil der Bevölkerung ist nachhaltig verärgert über ihren Angestellten, den sie jährlich mit rund 460’000 Franken entlöhnt. 

Die Regierung braucht nicht mehr Machtbefugnisse, sondern krisenerprobte Macher mit Unternehmerblut, die mehr am Schutz der eigenen Bevölkerung interessiert sind als an der Selbstdarstellung. Es braucht Aktiv-Bundesräte, die sich nicht der Geschwindigkeit eines hochverschuldeten Bürokratiemonsters anpassen, das im Schlafwagen zwischen Brüssel und Strassburg hin- und herpendelt und selten durch die Kraft des Handelns überzeugt.

Am 13. Juni geht es um Vertrauen. Auch Volksvertreter brauchen Fussfesseln, sonst wird messerscharf wieder butterweich. 

Claude Cueni (65) ist Schriftsteller und lebt in Basel. Soeben erschien im Verlag Nagel & Kimche «Hotel California», ein Lebensratgeber in Romanform für seine Enkelin. Cueni schreibt jeden zweiten Freitag im Blick.

086 Blick »Zerstört eure Armbanduhren!«

© Blick– 14. Mai 2021 – Kolumne Geschichte von Claude Cueni


Zerstört eure Armbanduhren!

Falls Sie an Ihrem Handgelenk eine Armbanduhr mit römischem Zifferblatt haben, sollten Sie diese Kolumne zu Ende lesen. Es geht um Ihre Reputation, denn an einer Uhr kann man nicht nur die Zeit ablesen (und die Vergänglichkeit des Daseins), sondern auch Ihre Haltung. Sind Sie tatsächlich «woke» (aufgewacht) oder frönen Sie noch dem selbstgerechten Schlaf der «White Supremacy», der weissen Überlegenheit?

Wir müssen über römische Ziffern reden. Sie sind das Erbe älterer italischer Völker und wurden von den Etruskern und Römern übernommen. Heute verwendet man diese Zahlschriften für die Zählung von Päpsten, Königen und oft auch für Kapitelüberschriften in Büchern.

Nachdem wir gelernt haben, dass auch Schach, Jasskarten, Mathematik, klassische Musik und Fotografie rassistisch sind, haben die «Aufgeweckten» ihre Realsatire mit einer weiteren Episode fortgesetzt und den römischen Zahlen den Krieg erklärt.

Pariser Museen, die eigentlich Kulturgut konservieren sollten, haben begonnen, die römischen Ziffern auf den Museumstäfelchen durch die bei uns gebräuchlichen indischarabischen Zahlen zu ersetzen. Der Sonnenkönig Louis XIV. ist nun Louis 14. Begründung: Man wolle niemanden ausgrenzen.

Werden jetzt auch Pariser Museumstafeln in alle rund 6900 Sprachen übersetzt? Damit niemand ausgegrenzt wird? Fühlen Sie sich eigentlich ausgegrenzt, wenn Sie indische Gurmukhi-Schriftzahlen, ägyptische Hieroglyphen oder eine chinesische Speisekarte nicht entziffern können?

Egal, ob Sie diese Entwicklung als Zeichen intellektueller Verblödung halten oder gar als Hinweis auf einen kulturellen Niedergang: Durchsuchen Sie Ihre Wohnung nach römischen Zifferblättern, zerschmettern Sie Opas Kettenuhr, reissen Sie Ihrer antiken Standuhr mit einer Beisszange die römischen Ziffern aus und vergessen Sie nicht, die Trümmer auf Facebook zu posten!

Was nützt Ihr Woke-Sein, wenn es andere nicht erfahren? Sollten die Medien auf Ihre Zivilcourage aufmerksam werden, erleben Sie fünfzehn Minuten Berühmtsein und animieren einige unterbeschäftigte Mitmenschen, Kirchtürme zu stürmen, um in Talibanmanier die Zifferblätter zu säubern. Fortsetzung folgt? Aber sicher.


Claude Cueni (65) ist Schriftsteller und lebt in Basel. Soeben erschien im Verlag Nagel & Kimche «Hotel California», ein Lebensratgeber in Romanform für seine Enkelin.

Weltwoche: Cancel Culture bei Playmobil

Cancel Culture bei Playmobil

 

Spielzeug ist ein Spiegel der Kultur. Veränderten sich die Figuren früher jahrzehntelang nicht, müssen die Hersteller heute ihr Sortiment oft innert Stunden dem Zeitgeist anpassen.

 

Claude Cueni

Spiel- und Actionfiguren spiegeln den Zeitgeist. Bereits in der Steinzeit gab es figürliche Darstellungen aus Holz, Lehm, Knochen, Ton oder Stein, wobei man sich bei einzelnen Objekten nicht einig ist, ob es sich um kultische Objekte oder Spielzeug handelt.

Im Mittelalter wurden Spielfiguren geschlechtsspezifischer und dienten auch dazu, die Kinder der Adligen auf ihre spätere Rolle vorzubereiten: Buben erhielten Ritterfiguren, Mädchen Puppen. Die meisten Kinder mussten jedoch mit dem spielen, was die Natur hergab. In weiten Teilen der Welt ist das immer noch so.

Nach dem Siebenjährigen Krieg (1756–1763) wurden Zinnsoldaten aus Weissmetall populär, und mit dem Aufkommen des Bürgertums entstanden die ersten Werkstätten, die für den Nachwuchs des neuen Mittelstandes produzierten.

Winnetou statt Hitler

Um 1900 bastelten Otto und Max Hausser Spielzeugsoldaten aus Sägemehl und Leim und verstärkten sie innen mit einem Draht. Was im Kinderzimmer Spiel war, wurde für Max Realität. Er fiel 1915 als deutscher Soldat an der Westfront. Sein Bruder Otto machte alleine weiter und produzierte in den 1930er Jahren drei Millionen Elastolin-Figuren jährlich.

Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges besetzten Hitler und Co. die Vitrinen in den Spielzeugläden, sie hatten fein modellierbare Köpfe aus Porzellan, um den Erkennungswert zu steigern. Nach Kriegsende wurden die kleinen Goebbels und Mussolinis aus den Regalen verbannt, mancher SS-Scherge fiel zu Hause diskret Mamas Staubsauger zum Opfer.

Nazis, das waren die andern gewesen. Otto Hausser zog der Wehrmacht die Porzellanköpfe wie der Zahnarzt die Weisheitszähne. Er ersetzte sie durch neutrale Häupter. Die Kleider wurden mit den Farben von Schweizer Armeeuniformen übermalt, und Hausser widmete sich unverfänglichen Themen: Winnetou statt Hitler.

In den 1970er Jahren produzierten Hersteller wie Hausser Elastolin-, Britains-, Starlux-, Timpo-, Marx- und Airfix-Plastikfiguren aus allen Epochen, vom keltischen Druiden bis zum Zulu-Krieger. Doch als die US-Armee die ersten Napalmbomben über Vietnam abwarf und Millionen gegen den Krieg protestierten, kam erneut Mutters Staubsauger zum Einsatz. Nur Farmtiere überlebten.

Erst viel später gelang den kleinen Buffalo Bills und Ivanhoes eine digitale Auferstehung. Der Wilde Westen wurde ins Weltall gebeamt, und Roboter waren die neuen Ritter.

Zuvor hatte 1973 die Ölkrise die Weltwirtschaft erschüttert. Die Preise für Kunststoffe explodierten, und Horst Brandstätter (1933–2015), der Urenkel von Playmobil-Gründer Andreas Brandstätter, stand am finanziellen Abgrund. Bisher hatte er Kindermöbel aus Kunststoff hergestellt. Was nun?

Wenn der Markt die Karten neu mischt, erkennt man den wahren Unternehmer. Brandstätter zauderte nicht, wie wir das von schöngeistigen Politikern gewohnt sind, er überzeugte durch die Kraft des Handelns und akzeptierte die veränderte Situation als neue Normalität. Die Krise zwang ihn zu mehr Kreativität.

Hatte er bis anhin auf grossflächige Kunststoffartikel gesetzt, entschied er sich nun für kleine Spielfiguren, die kaum Kunststoff benötigten. Er gab seinem Entwicklungsleiter, Hans Beck (1929–2009), einem gelernten Tischler, der als Neunzehnjähriger aus der sowjetischen Besatzungszone in den Westen geflüchtet war, den Auftrag, ein Spielkonzept zu entwickeln, das man laufend ausbauen konnte. Beck winkte die Chance seines Lebens.

Mit dem Erfolg kam der Ärger

Bereits als Jugendlicher hatte er für seine Geschwister Modellbauten und kleine Spielzeuge hergestellt, nun konnte er seine Leidenschaft zum Beruf machen. Er entwickelte einen kleinen Bauarbeiter mit Babyface. 1974 präsentierten Brandstätter und Beck anlässlich der Nürnberger Spielwarenmesse Figurengruppen von Bauarbeitern, Rittern und niedlichen Indianern. Der enorme Erfolg rettete Brandstätter vor dem Konkurs.

1976 folgten weibliche Figuren, ab 1981 Kinder und Babys, später Tiere, Bauten, Autos und Eisenbahnen. Der Vollblutunternehmer Brandstätter und der wortkarge Beck waren ein perfektes Duo, der eine ein begnadeter Verkäufer und Macher, der andere der verspielte Kreative.

Die beiden legten den Grundstein für die Neuausrichtung einer Firma, die heute mit einer Jahresproduktion von über hundert Millionen Playmobil-Figuren mehr als eine halbe Milliarde Umsatz generiert und weltweit knapp 5000 Menschen beschäftigt: Mittlerweile tummeln sich über 2,8 Milliarden dieser abstrakten Figuren in Kinderzimmern, Sandkästen und Staubsaugersäcken.

Mit dem Erfolg kam der Ärger. Gleich mit der ersten Figur, einem Bauarbeiter. Beck hatte ihm eine Bierkiste in den Schubkarren gelegt, weil Bauarbeiter im Sommer gerne ihren Durst mit einem Bier löschen. So viel Realität wollten einige Freizeitpädagogen den Kinderaugen ersparen. Brandstätter gab nach. Die Playmobil-Welt wurde zur alkoholfreien Zone.

Bald darauf erregte das Playmobil-Set mit der Flughafen-Sicherheitskontrolle den Unmut amerikanischer Eltern. Die Szene mit bewaffneten Flughafenpolizisten, Metalldetektor und Röntgenmaschine verhindere angeblich, dass Kinder den staatlichen Sicherheitsapparat hinterfragen. Was Kinder bei jedem Ferienflug erleben, sollte ihnen zu Hause erspart bleiben.

Die New York Times bot den Entrüsteten eine Plattform, um den deutschen Spielzeughersteller in die Knie zu zwingen. Obwohl den US-Kids die Figuren viel zu brav sind und die USA deshalb nie ein starker Absatzmarkt waren, nahm Playmobil das Set aus dem Handel.

Jedes Nachgeben ermuntert Nachahmer zum nächsten Shitstorm. So auch eine Mutter aus Kalifornien. Sie stellte mit Entsetzen fest, dass im Piraten-Set ihrer Kinder nebst Papageien, Säbel und Augenklappe auch ein winzig kleiner silbergrauer Ring beigelegt war, den man gemäss Booklet an den Hals eines dunkelhäutigen Seeräubers stecken konnte.

Die schockierte Mutter hätte das Teil in den Müll werfen oder sich mit der karibischen Sklavenrepublik des 17. Jahrhunderts befassen können. Damals kaperten Piraten zahlreiche Sklavenschiffe, nahmen den Unglücklichen die Halsringe ab und boten ihnen die Chance, sich ihnen als gleichberechtigte Piraten anzuschliessen. Somit konnten Kinder mit dem Set Sklavenbefreiung spielen.

Hätten sie können. Denn die geschichtslose Mutter fand eine neue Lebensaufgabe und schwang die beliebte Rassismuskeule. Das Unternehmen erklärte, auf der Verpackung zeige man unmissverständlich, dass der Sklave kein Gefangener sei, sondern ein normales Mitglied der Crew. Niemand wollte es hören, der «Sklavenkragen» verschwand aus dem Sortiment.

Hans Becks Grundsatz war stets: «Kein Horror, keine vordergründige Gewalt, keine kurzfristigen Trends». Nach fünfzig Jahren waren diese Vorgaben kaum noch durchsetzbar. Der Markt verlangte nach neuen, trendigen Themen. Dinosaurier, Drachen und Geisterschlösser säumten nun die Verkaufsregale; Polizisten wurden hochgerüstet, Piraten feuerten aus Kanonen, römische Legionäre formierten sich zur Schlacht. Der Zeitgeist gebar kurzfristige Trends, und das Aufspüren von politisch unkorrekten Spielfiguren erreichte die Attraktivität von Gesellschaftsspielen.

Als Nächstes brachten sich Tierschützer ins Rampenlicht und verlangten die Befreiung des Tanzbären aus dem Mittelalter-Set. Tierdarbietungen gehörten früher zu jedem Mittelaltermarkt wie heute Riesenräder zu Jahrmärkten. Erneut wollte eine geschichtslose Minderheit einem Spielzeughersteller vorschreiben, wie realistisch seine Themenwelten sein dürfen. Playmobil, bereits erprobt im Kniefall, dislozierte die Tanzbären in das Zoo-Set.

Die nächste Kritik betraf die Gleichstellung von Mann und Frau in der Playmobil-Welt. Vielleicht wollte das Unternehmen mit der weiblichen Räuberin im Bankräuber-Set dem Stereotyp des sanften weiblichen Wesens entgegenwirken.

Jeder Shitstorm hat ein Verfalldatum

Was gut gemeint war, wurde als «positiver Sexismus» angeprangert. Dabei hatte Playmobil die Bankräuberin als Identifikationsfigur für Kinder entwickelt, die nicht immer brav sein wollten, Pippi Langstrumpf auf der schiefen Bahn. Das Experten-Magazin Der Spiegel belehrte Playmobil, dass nur fünf Prozent aller Banküberfälle von Frauen verübt würden.

Jetzt wurde mehr Realität gefordert. Hätte sich Playmobil nach realen Statistiken gerichtet und einen bärtigen Mann aus dem Nahen oder Mittleren Osten mit Kalaschnikow produziert, hätten die Spiegel-Inquisitoren wahrscheinlich weniger Realität gefordert.

Ob eine Figur genehm ist oder nicht, entscheidet nicht eine bornierte Minderheit, die sich Firmenbashing zum Hobby gemacht hat, sondern die Käufer beziehungsweise ihre Kinder. Am beliebtesten sind die verschiedenen Polizei-Sets, kaum gefragt sind hingegen Wintersportarten.

Mittlerweile setzt Playmobil auf Multikulti. In allen Themenwelten sehen wir schwarze, braune und weisse Menschen. Das macht durchaus Sinn, werden die Figuren doch in über hundert Ländern verkauft. Um der inflatorisch missbrauchten Rassismuskeule zu entfliehen, ersetzte man nachträglich auch den weissen Zahnarzt (Artikel 6662) durch einen schwarzen Zahnarzt (Artikel 70 198).

Dauerte es früher Jahre, bis gesellschaftliche Veränderungen ihren Niederschlag in der Spielzeugproduktion fanden, werden Spielzeughersteller heute innert Stunden gezwungen, ihr Sortiment dem flüchtigen Zeitgeist anzupassen. Sie sollten widerstehen. Jeder Shitstorm hat ein Verfalldatum. Nicht selten fördert er sogar den Absatz der beanstandeten Produkte. Es geht schliesslich nicht um giftige Farbstoffe, sondern um das Gift der Political Correctness. Wer es im Leben allen recht machen will, sollte am Morgen im Bett bleiben.

 

Claude Cueni (65) ist Schriftsteller und lebt in Basel. Soeben erschien im Verlag Nagel & Kimche »Hotel California«, ein Lebensratgeber in Romanform für seine Enkelin. Nagel & Kimche. 160 S., Euro 18.–.

 

085 Blick »Hungerlöhne im sechsstelligen Bereich«

In der römischen Antike wurden Frauen aus dem normalen Volk schief angesehen, wenn sie versuchten, mit ihrer Schönheit Geld zu verdienen. In fast allen Kulturen haben die Männer strenge Regeln für die Berufstätigkeit der Frauen festgelegt. Trotzdem war es für Modehersteller notwendig, ihre neuen Kreationen mit Models präsentieren zu können. Deshalb wurden in den Villen der Adeligen oft Sklaven für den privaten Catwalk eingesetzt.

Nach dem Ersten Weltkrieg krempelte die Modeschöpferin Coco Chanel die Branche um, ihre Mannequins verliessen die privaten Salons und betraten die öffentliche Bühne unter dem Applaus von Presse, Promis und vermögenden Gästen. Die jungen Frauen, die bisher eher mobile Kleiderständer waren, wurden Models mit eigener Medienpräsenz. Sie waren keine stummen Darstellerinnen mehr, sondern entwickelten sich zu Supermodels, die für Paparazzi genauso lukrativ wurden wie Stars aus der Film- und Musikindustrie. Den erfolgreichsten Frauen gelang die Vermarktung der eigenen Berühmtheit ausserhalb der Modeltätigkeit, sie wurden Markenbotschafterinnen oder erfolgreiche Businessfrauen.

084 Blick »Hört auf, euch ständig zu entschuldigen!«

 
Kolumnist Claude Cueni über den Knigge-Ratgeber und Zeitgeist-Moralisten

Adolph Knigge wurde mit seinem Benimmratgeber weltberühmt. Dabei hielt er selber wenig von Political Correctness. Die Knigges der Gegenwart hingegen sind bornierte Zeitgeist-Moralisten, immer auf der Jagd nach dem nächsten Fauxpas.


«Man soll nie vergessen, dass die Gesellschaft lieber unterhalten als unterrichtet sein will», schrieb ausgerechnet Adolph Knigge (1752–1796), der Sohn einer verarmten Adelsfamilie. Die Mutter starb, als er elf Jahre alt war, der Vater, als er 14 war. Immerhin erbte er. Leider nur Schulden in der Höhe von 130’000 Reichstalern. Wer heute klagt, das Leben spiele nicht fair, findet Trost in historischen Biografien.

Berühmt wurde Knigge mit seinem Benimmratgeber, der seit 1788 unzählige Male dem Zeitgeist angepasst wurde. Ironischerweise hatte er selbst nicht viel übrig für die Political Correctness seiner Zeit, verspottete die «erbärmlichen Hofschranzen» und das ganze «Hofgeschmeisse» in adligen Kreisen. Mit schöner Regelmässigkeit wurde er aus Organisationen und herrschaftlichen Prinzen- und Fürstenhöfen geschmissen.

Die Knigges der Gegenwart sind bornierte Zeitgeist-Moralisten im Umfeld amerikanischer Universitäten. Zeichneten sich bisher kontroverse Debatten durch die intellektuelle Schärfe der Beteiligten aus, triumphiert heute die Lautstärke über das Argument. Die Jagd auf politisch Unkorrekte hat mittlerweile die Attraktivität von Gesellschaftsspielen.

Die Welt ist ein einziges Fettnäpfchen

Wer findet den nächsten Fauxpas? Hat jemand vor 30 Jahren sein Gesicht schwarz bemalt, als er in einem Schultheater den Othello spielte? Blackfacing! Oh, sorry. Darf ich einen Sombrero tragen? Kulturelle Aneignung! Oh, sorry. Darf man Filipinas loben, weil sie die Lebensfreude in den Genen haben? Positiver Rassismus! Oh, sorry. Darf ein Bleichgesicht die Gedichte einer Afroamerikanerin übersetzen? Darf ein Nichtitaliener eine Pizza in den Ofen schieben?

Die Empörungslust kennt keine Grenzen, die Welt, ein einziges Fettnäpfchen. Während auf dem Planeten Milliarden Menschen ohne sauberes Wasser, sanitäre Anlagen und ausreichend Nahrung ihr Dasein fristen, trampelt der Mob der Erleuchteten wie eine wild gewordene Bisonherde durch die Weiten der Internets.

Nachdem sich Knigge überall unbeliebt gemacht hatte, entwickelte er sich zum Satiriker: «Man vergesse nicht, dass das, was wir Aufklärung nennen, anderen vielleicht als Verfinsterung scheint.» Er würde uns heute zurufen: «Hört auf, euch ständig zu entschuldigen!»

Claude Cueni (65) ist Schriftsteller und lebt in Basel. Er schreibt jeden zweiten Freitag im Blick. Soeben erschien bei Nagel & Kimche sein neuer Roman «Hotel California – Meine Botschaft an Elodie».

083 Blick »Macht Geld weniger glücklich?«

 

Varius Marcellus erhielt als Prokurator des kaiserlichen Privatvermögens ein Jahresgehalt von 300’000 Sesterzen, der Augenarzt Decimius Eros Merula hinterliess seinen Erben 500’000 Sesterzen. Woher wir das wissen? Sie liessen ihren Kontostand auf ihren Grabstein meisseln.

Was damals Anerkennung über den Tod hinaus bedeutete, würde heute als Protzerei verspottet. Höchstens Boxer Floyd Mayweather oder Donald Trump könnte so was einfallen. Der Neid auf Menschen, die mehr besitzen, ist je nach Kultur verschieden. Während man in Asien Reiche als Vorbilder sieht, hat im Westen der Rasenmäher Hochkonjunktur. Nur gerade Weltstars wie Kanye West oder Ronaldo gönnt man die Millionen. Und Lottomillionären: Man könnte ja der nächste sein.

Als der reichste Mann Dänemarks bei einem Terroranschlag auf Sri Lanka drei Kinder verlor, stand in jeder Schlagzeile, dass er Milliardär ist. Als wolle man der Leserschaft sagen: Seht, Geld macht auch nicht glücklich. Als hätte ihn ein durchschnittliches Vermögen vor einer derartigen Tragödie bewahrt. Bestraft das Schicksal Glück mit Unglück? Dieser Aberglauben versetzt gemäss Swisslos immer wieder Lottomillionäre in Panik.

Ironischerweise streben die meisten Menschen nach mehr Geld, obwohl sie jenen, die ein paar Tausender mehr haben, pauschal Moral, Empathie und Glücksfähigkeit absprechen.

In der Schweiz besitzen die 300 Reichsten zusammen 707 Milliarden. Einige haben geerbt (letztes Jahr 95 Milliarden). Einige investieren in Firmen (und Arbeitsplätze) oder engagieren sich karitativ, andere sitzen zum Zeitvertreib in Parlamenten oder jetten von Vernissage zu Vernissage

Bringt mehr Geld mehr Glück? In Ländern, wo der Tagesverdienst bei zwei Dollar liegt, ganz bestimmt. In Wohlstandsgesellschaften mit staatlicher Rundumversorgung kokettiert man gerne damit, dass Geld nicht so wichtig ist, weil man genug davon hat, um Dinge zu kaufen, die man nicht braucht, aber trotzdem will, um Leute zu beeindrucken, die man gar nicht mag.

Weltweit belegen Studien, dass das persönliche Glück proportional zum Einkommen steigt. Aber nicht unbeschränkt. Bei uns liegt die Grenze bei einem Monatslohn von ca. 7500 Franken. Ab dann zählen Dinge, die man mit Geld nicht kaufen kann.


© Blick 2021


 

082 Blick »Waren Hänsel & Gretel Raubmörder?«

«Kommt mit», sagte der Hahn, «etwas Besseres als den Tod können wir überall finden.» Die Gebrüder Grimm hinterliessen uns über 200 Märchen. Einige ihrer Geschichten haben einen historischen Hintergrund.

Die grausamen Hungersnöte während des Dreissigjährigen Krieges (1618–1648) waren noch nicht vergessen. Millionen Menschen starben auf den Schlachtfeldern, und noch mehr erlagen Hunger und Seuchen. Marodierende Soldaten zogen mordend und plündernd durch Europa, die Nahrung wurde knapp, die Preise stiegen, die Wirtschaftskrise ruinierte die Überlebenden. Fälle von Kannibalismus sind überliefert. Nicht selten boten Eltern aus Verzweiflung ihre Kinder auf öffentlichen Märkten als Tagelöhner oder Dienstmädchen an. Einige setzten ihre Kinder im Wald aus wie die Eltern von Hänsel und Gretel. Der Vater war Holzhacker und gehörte zu den Ärmsten der Armen.

Weltwoche: Habemus episcopum

© Weltwoche – 25. Februar 2021 / Ausgaben-Nr. 8, Seite: 33

 

Wie es kam, dass der neue Churer Bischof, Joseph Bonnemain, eines Morgens in meinem Wohnzimmer sass.

von Claude Cueni

Ein Superman wird Bischof», kommentierte Raphael Rauch, Redaktionsleiter des Schweizer Religionsportals Kath.ch, die Wahl von Joseph Bonnemain, 73, zum neuen Bischof von Chur. Seinen guten Ruf hat sich der Sohn eines Jurassiers und einer Katalanin in den letzten vierzig Jahren als Priester und Spitalseelsorger erworben. Seit 2002 war Bonnemain, Dr. med. und Dr. iur. can., auch Sekretär des Fachgremiums «Sexuelle Übergriffe im kirchlichen Umfeld» und oberster kirchlicher Richter im Bistum Chur. Wie kam es, dass er eines Morgens im Jahre 2014 in meinem Wohnzimmer sass?

Einige Monate zuvor war mein autobiografischer Roman «Script Avenue» erschienen. Ich hatte meinen Kurzaufenthalt im damaligen Knabeninternat in Schwyz beschrieben und dabei über die sexuellen Belästigungen eines Präfekten gespottet. Als die Medien über diese biografische Fussnote aus dem Jahre 1973 berichteten, kündigte der damalige Schwyzer Regierungsrat Walter Stählin (SVP) umgehend eine Task-Force an, um dieser uralten Geschichte nachzugehen. Doch niemand kontaktierte meine damaligen Mitschüler. Aus gutem Grund. Einige wären bereit gewesen, als «Zeitzeugen» den Sachverhalt zu bestätigen.

Schon bald verkündete Stählin wahrheitsgemäss, er habe keine Fakten. Manchmal lügen Politiker selbst dann, wenn sie die Wahrheit sagen. Hatte ich mich anfangs noch über die Publicity gefreut, ärgerte ich mich nun darüber. Denn in «Script Avenue» erzählte ich auf 640 Seiten das Leben eines Schweizer Forrest Gump von 1956 bis 2010, also rund fünfzig Jahre Zeitgeschichte. Die Ereignisse im Internat Schwyz füllten lediglich ein paar Seiten, aber plötzlich waren sie das einzige Thema. Jede mediale Empörung hat ein Verfalldatum. Irgendwann war das Interesse erloschen.

Er hatte noch ein paar Fragen

Aber nicht ganz. Ich erhielt überraschend eine E-Mail von Joseph Bonnemain aus Chur. Der damalige Bischofsvikar fragte, ob er mich besuchen könne, er hätte da noch ein paar Fragen. Selbstverständlich. Ich war über sein Interesse erstaunt, da das einstige katholische Internat Kollegium Maria Hilf 1973 vom Kanton übernommen worden war und nicht mehr im Verantwortungsbereich des Bistums lag. Wieso war Bonnemain noch interessiert? Der Kanton Schwyz hatte sich hartnäckig geweigert, ihm die Liste meiner damaligen Mitschüler auszuhändigen. Das hatte den Ermittler in ihm geweckt. Ich war neugierig, einen «Kirchendetektiv» kennenzulernen, zumal ich in meinem Thriller «Der Bankier Gottes» den Nunzio Apostolico Con Incarichi Speciali, den Spezialagenten des Papstes, zur Hauptfigur gemacht hatte.

An jenem Morgen im Jahre 2014 trat ein charismatischer und bescheidener Mann aus dem Fahrstuhl, der aufrichtiges Interesse an der Aufklärung der damaligen Vorfälle hatte. Aber wir sprachen über andere Dinge, über das Sterben, über den Tod, denn meine erste Frau war an Krebs gestorben, und er hatte als Spitalseelsorger vielen Sterbenden beigestanden. Er sprach nicht über Gott, sondern über die Demut und Bescheidenheit, die einen das Leben lehrt, wenn man Menschen sterben sieht. Der eigentliche Grund seines Besuchs war beinahe nebensächlich geworden. Erst am Ende sprachen wir über die Vorfälle in Schwyz, die nach beinahe fünfzig Jahren nur noch den Charakter einer Anekdote über die missglückten sexuellen Avancen eines Priesters hatten. Ich übergab Bonnemain die Namen und Adressen jener, die bereit waren, meine im Roman «Script Avenue» erwähnten Vorfälle zu bestätigen. Ich nannte ihm den Namen des fehlbaren Priesters und zeigte ihm auch meine damaligen Tagebucheinträge.

Die beste Religion

Obwohl ich den Glauben an Götter für eine Form des Aberglaubens halte, blieb mir die Begegnung nachhaltig in Erinnerung. Ich traf an jenem Tag eine beeindruckende Persönlichkeit, die wohltuend authentisch, unaufgeregt und mit Empathie über Menschen sprach. Es versteht sich von selbst, dass er im seit Jahrzehnten zerstrittenen Bistum etliche Gegner hatte und weiterhin hat.

Auch im christlichen Umfeld wird mit unchristlichen Methoden um Einfluss gerungen. Aber auch wenn die katholische Kirche mittlerweile weltweit jedem Missbrauchsopfer durchschnittlich fünftausend Euro bezahlt, ist der Exodus der Mitglieder nicht mehr aufzuhalten. In Deutschland brachen letzte Woche die Server zusammen, weil fünftausend Gläubige gleichzeitig ihren Kirchenaustritt meldeten. Sie waren erzürnt, dass der Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki ein Gutachten zurückhielt, das den sexuellen Missbrauch der katholischen Priester im grössten Bistum Deutschlands aufarbeitete.

Ist das Vertrauen einmal verloren, wird es schwierig. Der Wunsch nach Spiritualität bleibt, esoterisch angehauchte Patchwork-Religionen gewinnen an Attraktivität. Auf den neuen Bischof von Chur wartet eine Herkulesaufgabe, die selbst Superman nicht bewältigen könnte. Die beste Religion ist immer noch, ein gutes Herz zu haben (Dalai Lama).


Claude Cueni ist Schriftsteller und lebt in Basel. Am 15. März erscheint bei Nagel & Kimche sein neuer Roman «Hotel California».


 

081 Blick »Entscheidet Twitter ob Gott existiert?«

Wenn Freiheit überhaupt etwas bedeutet, dann bedeutet sie das Recht darauf, den Leuten das zu sagen, was sie nicht hören wollen.» Das Zitat von George Orwell (1903–1950) wird gerne bemüht, aber im Alltag kaum noch gelebt.

Mark Zuckerberg (35) ist stolz, dass seine Algorithmen mittlerweile über 90 Prozent der Hass- und Hetzkommentare seiner 2,2 Milliarden Nutzer identifizieren. Hass und Hetze, das ist stets das, was der politische Gegner verbreitet. Für Fake News sind externe Faktenchecker zuständig. Entscheidet morgen ein 18-jähriger Student aus Santa Rosa, ob der Asteroid Oumuamua ein ausserirdisches Taxi und ob Christi Himmelfahrt «falsch», «teilweise falsch», «Satire» oder «Meinung» ist?

In der Praxis gilt die Weltanschauung von Zuckerberg und Twitter-Chef Jack Dorsey (43), der gemäss BBC innerhalb weniger Tage über 70 000 Accounts von Verschwörungstheoretikern gelöscht hat. Wer Einfluss nimmt auf den Inhalt und selektiv löscht oder die Reichweite minimiert, handelt nicht mehr als Gastgeber einer Plattform, sondern als Verleger, der die politische Ausrichtung definiert. Würde Twitter als Verlag klassifiziert, wäre er für jeden einzelnen der 6 Millionen Tweets verantwortlich, die pro Sekunde gepostet werden.

Je mehr gelöscht und gesperrt wird, desto mehr Leute wechseln auf neue Plattformen, bis dann der Werbeslogan von Procter & Gamble gilt: «Meister Proper putzt so sauber, dass man sich drin spiegeln kann.» Dorsey und Zuckerberg sehen dann nur noch Dorsey und Zuckerberg. Keine Plattform kommuniziert mehr mit der andern. Kein Wettbewerb der Ideen mehr. Niemand weiss, was ihm vorenthalten wurde.

Der ausbleibende Widerspruch fördert zwar den gegenseitigen Applaus, aber man sollte sich nicht zu früh freuen, denn irgendwann frisst der Wahn seine Schöpfer.

Robespierre war ein linker Anwalt aus der französischen Provinz, der sich für die Abschaffung der Todesstrafe einsetzte. Kaum an der Macht, wurde er ihr eifrigster Benutzer. Nach über 16 000 Hingerichteten war er selbst an der Reihe. Er versuchte, sich durch Suizid der Guillotine zu entziehen, und schoss sich dabei den Kiefer weg. Intellektuelle sind manchmal auch in praktischen Dingen furchtbar ungeschickt.


Claude Cueni (65) ist Schriftsteller und lebt in Basel. Er schreibt jeden zweiten Freitag im BLICK. Am 15. März erscheint bei Nagel & Kimche sein neuer Roman Hotel California.


 

080 Blick »Rassismusdebatte im Reagenzglas«

 


©Blick 5.2.2021

Rassismusdebatte im Reagenzglas

»Bitte, Allah, gib mir die Kraft, damit ich heute nicht all diese Männer und weissen Leute da draussen töte.« Das war ein Tweet der Kanadierin Yusra Khogali, Co-Gründerin von Black Lives Matter, der in Torontos »City News« abgedruckt wurde. #Aufschrei blieb aus. Als die schwarze Talkmasterin Oprah Winfrey klagte, sie habe in der Schweiz Rassismus erfahren, war die Solidarität gross. Wäre sie weiss gewesen, hätte man gesagt: Was für eine eingebildete Zicke.

Die Senegalesin Alima Diouf, Geschäftsführerin des Schweizer Vereins »Migranten helfen Migranten«, sagt: »Jeder Mensch ist ein Rassist. Es gibt auch Rassismus unter Schwarzen: Wenn ein Senegalese nicht will, dass seine Tochter einen Nigerianer heiratet.«

Wer wirklich wissen will, wie Rassismus gelebt wird, sollte sich in Afrika, dem Nahen Osten oder Asien umsehen. In Ermangelung empörungswürdiger Verhältnisse leisten sich einige den Luxus, im beschaulichen Westen Rassismusdebatten im Reagenzglas zu führen. Sie spielen sich in Kolonialherrenmanie als Schutzmacht dunkelhäutiger Menschen auf und betrachten jeden Nicht-Weissen als »arme Siech« (Rassismus?) dem man unter die Arme greifen muss. Aber niemand hat sie darum gebeten.

Würden diese »Antirassisten« über den goldenen Tellerrand hinausschauen, würden sie feststellen, dass die meisten Menschen ausserhalb des Westens weder Fragen nach der Herkunft (Rassismus!) noch (stereotypische) Komplimente als »positiven Rassismus« sehen.

Als ich in Hongkong arbeitete, wurde ich mehrmals täglich nach meiner Herkunft gefragt, und rasch fielen Stereotypen wie: Schweizer sind reich, essen Käse und haben Uhren, aber wenig Zeit. Wurde ich etwa Opfer von »positivem Rassimus«? Ich freute mich über die unverkrampfte Kontaktaufnahme.

Muss ein Metzgermeister, der für Lionel Messi schwärmt, zuerst einige Semester »kolonialrassistische Stereotype« studieren, bevor er einem argentinischen Kunden sagen darf, dass seine Landsleute das Dribbeln im Blut haben?

Übereifrige »Antirassisten« sollten in Erwägung ziehen, dass sich kaum jemand für ihre abgehobene Wahrnehmung interessiert und dass sie mit ihrem Feindbild vom »alten weissen Mann«, möglichweise rassistischer sind als ihnen lieb ist.


Claude Cueni (65) ist Schriftsteller und lebt in Basel. Er schreibt jeden zweiten Freitag im BLICK. Am 15. März erscheint bei Nagel & Kimche sein neuer Roman »Hotel California«.


 

Wieso das Volk ihren »Dirty Harry« liebt.

BLICK-Kolumnist und Schriftsteller Claude Cueni ist mit einer Filippina verheiratet und beschäftigt sich seit Jahren intensiv mit dem Land. Er nennt die Heimat seiner Frau den «Wilden Westen Asiens».


Seit elf Jahren unterhalte ich mich fast täglich mit der Grossfamilie und dem Bekanntenkreis meiner philippinischen Ehefrau über Videochat. Während wir bei uns Leute bemitleiden, die während der Quarantäne ihren Geburtstag alleine mit Netflix verbringen müssen, herrscht in einigen philippinischen Provinzen tatsächlich Hunger, etwas, das wir nur vom Hörensagen kennen.

Viele sind arbeitslos und haben weder Versicherungen noch Sozialhilfe. Eine Gruppe von Schullehrern sagte mir, Duterte schicke zwar den Gemeindevorstehern 6000 Pesos (zirka 120 Schweizer Franken) für jeden Bewohner, der besonders von Armut betroffen sei. Aber die Gelder würden zuerst an Verwandte und Bekannte verteilt, und somit würden die besonders Bedürftigen oft leer ausgehen.

Corona-Polizisten feierten Silvester-Partys mit

Auf den Philippinen gilt «Utang na loob», die gegenseitige Bringschuld, ein anderes Wort für Vetternwirtschaft. Wer also keine grosszügigen Verwandten im Ausland hat, ist existenziell bedroht: Er hat kein Erspartes, er hat buchstäblich nichts. Was man zu Geld machen konnte, liegt bereits bei einem der 18’500 Pfandleihern.

Vor den Feiertagen drohte Duterte in einer Fernsehansprache, dass «seine Soldaten» jeden töten würden, der die Corona-Massnahmen nicht einhält. Die Leute feierten trotzdem ausgelassene Silvesterpartys, ohne Mundschutz, ohne Abstand. Ich fragte mehrere Partygänger, ob sie nicht Angst hätten, erschossen zu werden. Schallendes Gelächter. Was aus dem tausend Kilometer entfernten Malacañang-Palast käme, sei eh nur «Bulabula» (Blabla), und im Übrigen würden auch Corona-Polizisten und Gemeindevorsteher ohne Masken das Neue Jahr feiern.

Wenig Mitleid mit den Opfern von Dutertes Säuberungen 

Wein trinken und Wasser predigen. Wenn das Vertrauen in die Behörden sinkt, leidet die Disziplin. Wie auch bei uns. Viele haben damit gerechnet, dass sich die Menschen eines Tages von ihrem «Rody» abwenden, doch das Gegenteil ist der Fall. 91 Prozent stimmen seiner Politik zu und begründen es damit, dass Dutertes Krieg gegen Drogen ihre persönliche Sicherheit verbessert habe.

Sie erwähnen, dass die öffentlichen Schulen nun kostenlos und viele neue Spitäler, Schulen und Verkehrsverbindungen gebaut worden seien. Mit den Opfern von Dutertes Säuberungen hat man wenig Mitleid in einem Land, das ständig von Naturkatastrophen heimgesucht wird. Wer weiss, hätten wir in Europa eine Strassenkriminalität wie im «Wilden Westen Asiens», wir würden vielleicht auch einen «Dirty Harry» wählen.


 

Interview mit Francisco Sionil José (96)

2016 interviewte ich Francisco Sionil José für die Weltwoche. In deutsch ist lediglich sein lesenswertes BuchFrancisco Sionil José wurde 1924 in der philippinischen Provinz Pangasinan geboren, war editor der Manila Times und Korrespondent des Economist. Seine  auf Englisch verfassten Romane wurden in 28 Sprachen übersetzt. Seit Jahren wird er als Kandidat für den Literaturnobelpreis gehandelt.


«Vereinfacht gesagt, ist seine Ideologie die Liebe zum Land und zu den Menschen.»


 

 


Herr José, Sie gehören zu den wenigen philippinischen Schriftstellern, die international erfolgreich sind. Ihre Bücher wurden in 28 Sprachen übersetzt, Sie sind 91 und haben bereits fünfzehn Staatspräsidenten erlebt. Was unterscheidet Rodrigo Duterte von allen andern?

 

Wenn Sie unsere Politik und Geschichte studieren, sehen Sie, dass die jeweiligen Regierungen all die Jahre von wohlhabenden Philippinern manipuliert wurden. Präsident Duterte ist der erste Politiker, der nicht die offene Unterstützung der Oligarchie geniesst. Bei seiner Rede zur Lage der Nation zeigte er auf die Mitglieder des Senats und des Kongresses und sagte: «Ich schulde euch nichts.» Ich glaube, wir stehen am Anfang einer philippinischen Revolution. Schaut man sich unsere Geschichte an, dann sieht man, dass viele Probleme der Philippinen auf die Kolonialisierungen zurückzuführen sind – die erste durch die Spanier, dann jene durch die Amerikaner und am Ende diejenige durch die Japaner. Schliesslich wurden wir durch unsere eigene Elite kolonialisiert. Alle Anzeichen dafür waren bereits 1896 sichtbar, als die philippinische Revolution gegen die spanischen Kolonialbehörden einsetzte.

 

Wann wird diese «Revolution» zu Ende sein?

 

Das lässt sich nicht in zwei, drei Jahren erledigen. Wie lange hat die vietnamesische Revolution gedauert? Die chinesische Revolution fing in den zwanziger Jahren an. Die Französische Revolution dauerte weniger lang, aber fast alle Revolutionen währen über Jahre, vielleicht eine Generation lang, und sie verändern Länder und Gesellschaften für immer, während die Macht von den Unterdrückern zu den Unterdrückten übergeht.

 

Seit Dutertes Amtsantritt am 1. Juli sind gemäss Polizeidirektor Dela Rosa 26 861 mutmassliche Drogenhändler und Süchtige verhaftet und 4742 aussergerichtlich erschossen worden. Rechtfertigt das Ziel die Mittel?

 

Der Krieg gegen Drogen sollte nicht unterbrochen werden. Aber es sollte darauf geachtet werden, dass der sogenannte Kollateralschaden reduziert wird.

 

Wie ist es möglich, dass die Mehrheit eines christlichen Landes diesen blutigen Rachefeldzug gegen Kriminelle gutheisst?

 

Sie misst der Religion einen zu hohen Stellenwert bei. Nazideutschland war auch christlich.

 

Nach hundert Tagen im Amt erreicht Duterte in allen Umfragen immer noch Rekordwerte von 86 Prozent Zuspruch. In den westlichen Medien wird er hingegen als «Donald Trump des Ostens», «Hitler» oder «serial killer» bezeichnet. Wie erklären Sie sich diese Diskrepanz?

 

Trotz aller Kritik, besonders im Ausland, zeigen die jüngsten Umfragen, dass Duterte eine riesige Popularität geniesst. Der Grund dafür liegt in der allgemeinen Wahrnehmung von mehr Frieden und Sicherheit im ganzen Land, verglichen mit der Vergangenheit. Seine Wahl wurde durch Millionen von Philippinern entschieden, die genug von der Korruption auf allen Ebenen unserer Gesellschaft hatten. Sie sind frustriert, dass sich die Erträge der vorherigen Aquino-Administration nicht im Sinne einer verbesserten Wohlfahrt und grösseren Sicherheit ausgewirkt haben.

 

Laut Dela Rosa sollen sich bereits über 800 000 Drogensüchtige gemeldet haben, um einen Entzug zu machen – aus Angst, erschossen zu werden. Es gibt aber viel zu wenig Therapieplätze. Was geschieht mit den Drogenabhängigen in der Zwischenzeit?

 

Das Problem des Drogenentzugs ist seit je ein zentrales Anliegen der Regierung. Entzugskliniken werden in Armee-Camps eingerichtet, aber mit der steigenden Zahl von Süchtigen, die aufhören wollen, werden diese Zentren bald so überfüllt sein wie unsere Gefängnisse.

 

Duterte will die 2006 abgeschaffte Todesstrafe wieder einführen und auch Steuerhinterziehern, illegalen Wettanbietern und Umweltsündern den Krieg erklären. Wird die philippinische Revolution ihre Kinder fressen?

 

Das ist eine schreckliche Möglichkeit. Das Hauptproblem revolutionärer Gewalt besteht darin, dass sie nicht kontrolliert werden kann. Die Philippiner selbst müssen ihre Freiheit vor den Exzessen revolutionärer Gewalt schützen. Es ist die erste Pflicht der Justiz und der Armee, die bürgerlichen Freiheiten zu sichern.

 

Was hat Duterte seit seinem Amtsantritt am 1. Juli erreicht?

 

Die wichtigste Errungenschaft in den ersten hundert Tagen sind tiefgreifende Veränderungen im politischen System, um die Korruption in den höchsten Machtzentren aufzuspüren. Ausserdem hat er begonnen, das Vertrauen in die Armee wiederherzustellen und eine Aussenpolitik zu entwickeln, die sich nicht auf die traditionelle Bindung an die USA beschränkt.

 

Es sieht so aus, als ob er den Krieg gegen Drogen priorisiert hat, aber schauen Sie genau, was gerade geschieht. Zunächst wollte er Bedingungen des Friedens schaffen. Die kommunistische Revolution wurde bedeutungslos. Das Problem im Süden ist weitaus gefährlicher. Daher hat er gleich nach seiner Amtsübernahme Friedensverhandlungen mit allen Gruppen begonnen. Ohne Frieden können sich die Philippinen nicht entwickeln – ein Frieden, der durch Kriminalität, immer wieder in Zusammenhang mit Drogen, so sehr erschüttert worden ist. Vereinfacht gesagt, ist seine Ideologie die Liebe zum Land und zu den Menschen und die Bereitschaft, dafür Opfer zu bringen.

 

Kürzlich begann Duterte eine Pressekonferenz im Stil eines Stand-up-Comedians und plauderte über sein Lieblingsthema «Duterte und die Frauen», es gab Szenenapplaus, es wurde viel gelacht. Plötzlich wechselte er das Thema und liess eine zornige Tirade vom Stapel. Die Schauspielerin und Sängerin Agot Isidro nannte ihn einen Psychopathen. Leidet er an einer bipolaren Störung, wie er selbst einmal behauptet hat?

 

Duterte ist ein äusserst ehrlicher Mann, der seine Gedanken ausdrückt und sehr viel von sich selbst preisgibt. Das ist bewundernswert, aber diese Ehrlichkeit macht ihn auch verletzlich. Seine Schmähreden gegen Präsident Obama, Uno-Generalsekretär Ban Ki Moon und die Europäische Union sind nicht akzeptabel. Bei seiner ersten Rede zur Lage der Nation sagte er, die Philippiner seien selbst deren schlimmster Feind geworden. Nun müssen sie den Willen und den Mut zur Veränderung haben.

 

Das gilt jetzt auch für ihn selbst. Er hat eine Revolution begonnen, die er zu einem erfolgreichen Abschluss führen muss. Der Zweck dieser Revolution liegt in der Gerechtigkeit für die Unterdrückten. Diese Gerechtigkeit ist sehr simpel und bedeutet: drei Mahlzeiten pro Tag, ein Dach über dem Kopf, Bildung für unsere Kinder und medizinische Versorgung für die Kranken. Mit anderen Worten, die Priorität liegt in der wirtschaftlichen Entwicklung. Er muss so viele Arbeitsplätze schaffen, wie er nur kann, und das in kurzer Zeit. Er braucht zudem die Unterstützung von allen, die dazu bereit sind.

 

Duterte nannte den Diktator Ferdinand Marcos den besten philippinischen Präsidenten aller Zeiten. Duterte droht oft mit der Ausrufung des Kriegsrechts. Wird er in Marcos Fussstapfen treten?

 

Er hat völlig unrecht damit, Marcos als den besten Präsidenten zu bezeichnen, den die Philippinen je hatten. Der beste Präsident war Ramon Magsaysay. Zuerst dachte ich, Duterte sei ein wahrer Vorbote der Veränderung wie einst Magsaysay, aber jetzt sehe ich einen Unterschied zwischen den beiden. Magsaysay umgab sich mit den besten Leuten des Landes. Wenn er einen Fehler beging, machte er rechtsumkehrt. In gewisser Weise war Magsaysay selbstlos und demütig. Wenn Duterte Erfolg hat wie Magsaysay, braucht er kein Kriegsrecht. Die Menschen werden ihm folgen.

 

Kürzlich sagte Duterte, Imee Marcos, die Tochter des Diktators Ferdinand Marcos, habe – entgegen früheren Aussagen – seinen Wahlkampf mitfinanziert. Duterte hat erlaubt, dass der 1989 verstorbene Diktator nachträglich auf dem Heldenfriedhof bestattet wird. Dutertes Vater war Mitglied der Regierung Marcos. Duterte unternimmt keine Anstrengungen, das vom Marcos-Clan geraubte Milliardenvermögen zurückzufordern. Welche Beziehung hat Duterte zum Marcos-Clan?

 

Philippinische Politiker würden Geld vom Teufel nehmen, wenn sie könnten. Dutertes Loyalität sollte nicht den Geldgebern seiner Kampagne gelten, sondern den Millionen von Philippinern, die ihm vertrauen und auf ihn zählen. Sehr vieles an der Kritik gegenüber Duterte ist nicht gerechtfertigt, denn sie kommt von Leuten in komfortablen Positionen, die den Kontakt zu den Massen verloren haben.

 

Duterte beschimpft dauernd die katholische Kirche. Es hat ihm bisher nicht geschadet. Verlieren Kirche und Religion auf den Philippinen an Bedeutung?

 

Keine der Kirchen auf den Philippinen hat wirklich politische Macht. Philippiner wählen nicht aufgrund einer Ideologie oder politischen Zugehörigkeit. Sie wählen Persönlichkeiten.

 

Nach dem grossen Erdbeben von Lissabon 1755 verloren viele Menschen den Glauben an einen barmherzigen und allmächtigen Gott. Die Philippinen gehören zu den Ländern, die regelmässig am härtesten von Naturkatastrophen heimgesucht werden. Hat dies keinen Einfluss auf den Glauben?

 

Besuchen Sie an einem Sonntag die Kirchen in unserem Land. Sie sind überfüllt, ganz im Gegensatz zu den Kirchen in Europa, die leer sind.

 

In der Vergangenheit hat man Ihnen vorgeworfen, dass Sie Ihre Bücher auf Englisch schreiben. Sie nannten Ihre Kritiker «Tagalog-Machos». Duterte hat nun den Musiker Freddie Aguilar als Berater beigezogen, um westliche Kultureinflüsse zu unterbinden. Welche Auswirkungen wird das haben?

 

Ich denke nicht, dass ein einzelner Künstler oder zehn Künstler eine Richtung für die Weiterentwicklung der philippinischen Kultur vorgeben können. Die philippinischen Künstler sind mit der Heimaterde verbunden, und diese Verwurzelung wird ihre Kreativität beeinflussen.

 

Duterte hat den Journalisten und Fernsehmoderator Teodore «Teddy Boy» Locsin zum neuen Uno-Botschafter ernannt. Locsin twitterte kürzlich: «Ich glaube, dass das Drogenproblem so gross ist, dass es eine Endlösung braucht, wie sie die Nazis angewendet haben. Daran glaube ich. Kein Entzug!»

 

In den philippinischen Medien wird unglaublich übertrieben, und am besten legt man nicht alles auf die Goldwaage.

 

Das ist keine Übertreibung der Medien. Ich habe den Original-Tweet von «Teddy Boy» Locsin gelesen, und alle seine älteren Tweets bestätigen seine Haltung.

 

Es gibt sehr wenig Antisemitismus auf den Philippinen. Dutertes erste Frau ist eine amerikanische Jüdin. Ich wage, zu behaupten, dass wir hier keinen Antisemitismus haben. Aber es gibt in ganz Südostasien eine latent antichinesische Haltung.

 

Die Philippinen sind für die USA von geostrategischer Bedeutung. Werden die USA tatenlos zusehen, wie sich Duterte nach China, Japan und Russland orientiert? Oder werden sie die zahlreichen Duterte-Feinde zu einem Putsch animieren?

 

Als Bürgermeister von Davao war Duterte ein Pragmatiker, der die objektiven Realitäten des Regierens erkannte. Er hat immer noch 2000 Tage vor sich – genug Zeit, um in einen höheren Gang zu schalten. Duterte wird der Tatsache ins Auge sehen, dass Japan, Südkorea, Taiwan und sogar China ihren Wohlstand den USA verdanken. Duterte muss begreifen, dass China bereits die Insel Panatag übernommen hat. Gleichzeitig können wir uns keine Konfrontation mit China leisten, wir müssen mit dem mächtigen Nachbarn leben. Was Duterte tun sollte: die mächtige chinesische Minderheit auf den Philippinen davon überzeugen, unser Land mitzugestalten, anstatt ihr Geld nach China zu schicken.

 

In der letzten Umfrage sagte eine Mehrheit, sie würde den USA mehr vertrauen als China. Warum will Duterte die Bindungen an die USA lösen und sich China und Russland zuwenden?

 

Sie müssen nicht alles glauben, was Duterte sagt; wir sind genötigt, mehr Beziehungen zu mehr Staaten zu haben. Nicht nur zu den USA.

 

Begrüsst das Militär den Richtungswechsel in der Aussenpolitik?

 

Die Offizierskorps unserer Armee sind Absolventen von West Point und Annapolis. Duterte weiss das.

 

Duterte hat sehr viele Feinde. Angenommen, er würde einem Attentat zum Opfer fallen, wie würden die 16,6 Millionen reagieren, die ihn gewählt haben?

 

Es wäre eine Tragödie, wenn Duterte ermordet würde oder wenn er es dem eigenen Ego gestatten würde, die revolutionäre Bestimmung entgleisen zu lassen. Dann würden wir wieder der Gnade unserer Kolonisatoren anheimfallen und nicht nur unter ihrer Unterdrückung leiden, sondern auch unter der Anarchie ihrer zügellosen Machtausübung.

 

Francisco Sionil José wurde 1924 in der philippinischen Provinz Pangasinan geboren, war editor der Manila Times und Korrespondent des Economist. Seine  auf Englisch verfassten Romane wurden in 28 Sprachen übersetzt. Seit Jahren wird er als Kandidat für den Literaturnobelpreis gehandelt.


 

Mama Weer All Crazee Now (Slade 1972)

Rassismusdebatte im Reagenzglas. Made in Switzerland.


SP-Nationalrätin Yvonne Feri (54) wird Rassismus vorgeworfen, weil sie in der SRF-»Arenea« vom Freitag gesagt hat, US-Vize Kamala Harris könne »sowieso tanzen« weil sie als »dunkelhäutige Person den Rhythmus habe«.


Was soll an diesem Kompliment rassistisch sein?


1.

Wenn ich die philippinische (dunkelhäutige) Grossfamilie meiner Ehefrau Dina anschaue, muss ich sagen: Ja, die haben den Rhythmus im Blut, bereits Zweijährige zeigen mehr Rhythms  als manche weisse Profitänzerin. Dina tanzt aus purer Lebensfreude den halben Tag durch die Wohnung. Auch ihre Freudinnen aus Jamaika und Venezuela haben den Rhythmus im Blut. Auch Afrikaner haben den Rhythmus im Blut. Und erst die Brasilianerinnen… Je wärmer die Temperaturen, desto mehr kocht das Blut in den Adern.


Yvonne Feris Aussage entspricht der Realität. Sie hat ein Kompliment gemacht und muss sich dafür nicht entschuldigen: Nicht einschüchtern lassen, Kapuze hoch und ignorieren.


2.

Wer wirklich wissen will, wie Rassismus gelebt wird, der sollte sich mal in Afrika, Asien, Osteuropa oder in einigen US-Bundesstaaten umsehen. Was wir hier in der Schweiz erleben, sind die alltäglichen Unfreundlichkeiten, die jeder von uns erlebt. Sie werden als Rassimus bezeichnet, wenn die betroffene Person schwarz ist. Was wir hier erleben, ist die rituelle Empörung einer Handvoll privilegiert aufgewachsener Intellektueller, deren Weltbild von theoretischen Abhandlungen und touristischen Ausflügen geprägt ist. Sie deuten die Realität um – bis sie ihrer Ideologie entspricht.


3.

Das »Feministische Streikkollektiv Zürich« hat der SP-Linken Yvonne Feri mit der Selbstherrlichkeit religiöser Fundamentalisten  »rassistische Aussagen und Zuschreibungen« vorgeworfen und die Medien bringen das auf die Titelseite, als sei die ganze Schweiz entsetzt und ausser sich vor Empörung. Diese Debatten im Reagenzglas sind spiessiger als es unsere Eltern in den 1970er-Jahren jemals waren. Muss man einen Studienlehrgang in Rassismus- und Sexismusforschung absolviert haben, um die Vorwürfe zu verstehen? Kann ein zu langes Verweilen im universitären Milieu dem gesunden Menschenverstand schaden?


Es wäre Aufgabe der Medien, mitzuhelfen, die Grenze zwischen Verharmlosung und Übetreibung zu ziehen. Wenn jetzt selbst in den eigenen Reihen vermeintlicher Rassismus diagnostiziert wird, dann fühlt man sich unwillkürlich an Robespierre erinnert: Die Revolution frisst ihre eigenen Kinder. 


Zum Glück ist das alles Zeitgeist. Morgen lachen wir uns darüber krumm.


 

 

 

 

 

 

 

 

079 Blick »Sprechende Uniformen«

Früher rekrutierte man Männer nur im Kriegsfall. Da diese in ihrer traditionellen Kleidung auf dem Schlachtfeld erschienen, war die Unterscheidung zwischen Freund und Feind nicht einfach. Mit der Einführung stehender Heere wurde das Erscheinungsbild der Soldaten vereinheitlicht, ein römischer Legionär war klar von einem karthagischen Krieger unterscheidbar.

Auch Schuluniformen und Berufskleider demonstrieren die Zugehörigkeit zu einer Gruppe. Würde heute ein Ku-Klux-Klan-Anhänger im Kapuzenmantel durch Zürich flanieren, die Empörung wäre gross. Denn dieses «Kleid» ist die «sprechende Uniform» von Rassisten.

Auch das Tragen von Nikab und Burka ist ein politisches Statement, ein radikales Bekenntnis zur Intoleranz. Gemäss etlichen islamischen Rechtsgelehrten ist die Verschleierung mitnichten ein religiöses Gebot, sondern die eigenwillige Religionsauslegung von Fundamentalisten.

Fast ein Drittel der EU-Staaten (und selbst einige muslimische Länder) haben in irgendeiner Form Gesetze gegen Vollverschleierung oder religiöse Kleidung. Sind die alle islamophob? Wenn wir die Herkunftsländer der Muslimas besuchen, halten wir uns an die kulturellen Gepflogenheiten. Das sollte umgekehrt genauso sein. In unserer offenen Gesellschaft zeigt man sein Gesicht.

Es ist nicht relevant, wie viele Verschleierte sich zurzeit im öffentlichen Raum aufhalten, es geht darum, zukünftigen Gästen unsere Regeln des Zusammenlebens verständlich zu machen. Religion ist bei uns Privatsache wie Kuchenbacken. Wer die Vorteile einer säkularisierten Welt in Anspruch nehmen will, muss auch die Regeln akzeptieren.

So wie weisse Kapuzenmäntel für Rassismus stehen, steht der Nikab für die Scharia, für die Borniertheit des Patriarchats, die Verachtung der liberalen Gesellschaft und den Hass auf Gottlose und die gesamte LGBTQ-Community.

Es grenzt an Realsatire, wenn Gruppierungen, die regelmässig für Frauenrechte demonstrieren, sich nun für die «Freiheit» verschleierter Frauen einsetzen, damit diese weiterhin in einem Gefängnis aus Stoff jegliche Identität verlieren.

Die Burka-Abstimmung (Verhüllungsverbot) ist keine Frage von links oder rechts. Es geht um die Wahrung der Prinzipien der Aufklärung auf Schweizer Boden.


 

078 Blick »Blond«

© Blick 8. Januar 2021 / Cuenis Geschichtskolumne 078


»Nur weil ich blond bin, glaub nicht, dass ich blöd bin.» Das ist eine Zeile aus dem Song «Dumb Blond» (1967) der damals 21-jährigen US-amerikanischen Country-Sängerin Dolly Parton. Mit zunehmendem Erfolg (über 100 Millionen verkaufte Alben) wuchsen auch ihre blonde Perücke und ihre Brustimplantate. Rasch hatte sie den Ruf der dummen Blondine, aber die temperamentvolle Senkrechtstarterin reagierte stets selbstbewusst und mit viel Selbstironie.

Seit Marilyn Monroe («Blondinen bevorzugt», 1953) assoziierte man blondes Haar mit Sex, Naivität und Blödheit. Mit den Komödien der kichernden Goldie Hawn erreichte der Blondinenwitz in den 1980er-Jahren den Höhepunkt. Oft schrieb man alte Witze um und ersetzte die «dummen Ostfriesen» oder den «dummen Mantafahrer» durch die «dumme Blondine».

Dolly Parton, die Paten-Tante von Miley Cyrus, feiert am 19. Januar ihren 75. Geburtstag: «Die Leute fragen mich immer, ob es meine eigenen Brüste sind. Ja, sie gehören mir – ich habe sie gekauft und gut dafür bezahlt.» Bisher hat sie für ihre Inszenierung als blondes Kunstobjekt über 600 000 Dollar ausgegeben: «Nichts an mir ist echt, aber alles kommt von Herzen.»

Und ja, sie hat ein grosses Herz: Der Firma Moderna spendete sie eine Million Dollar für die Impfstoff-Forschung. Ihre gemeinnützige Organisation «Imagination Library» verschenkt monatlich Bücher an Kinder im Vorschulalter, bisher über 150 Millionen Mal. Sie setzte sich bereits für die Gay-Community und gleichgeschlechtliche Ehe ein, als die Mütter heutiger Feministinnen noch in der Küche standen. Der Preis waren Morddrohungen und eine Ehrendoktorwürde. Als Songwriterin schrieb sie die Welthits «Jolene» ( 44 Cover-Versionen) und «I Will Always Love You», das achtzehn Jahre später von Whitney Houston gecovert wurde. Egal ob sie als Autorin Bücher schrieb oder als Unternehmerin ihren Freizeitpark «Dollywood» zum Erfolg führte: Die Powerfrau setzte sich durch.

In ihrem Ratgeber «Dream More» rät sie der Leserschaft, mehr zu träumen, mehr zu lernen und mehr zu sein. Die meisten Menschen bereuen am Ende des Lebens, dass sie nie den Mut hatten, das zu sein, was sie sein wollten. Dolly Parton hatte diesen Mut. Happy Birthday, Dolly!

Weltwoche: Pechvögel & Glückspilze 2020

© Die Weltwoche vom 23. Dezember 2020


Den einen hat das Leben einen Tritt verpasst, den andern Flügel verliehen: Gewinner und Verlierer 2020. Von Michael Bahnerth: Die Gewinner:


Claude Cueni Die Welt verdankt ihm ein paar verdammt gute Sätze, einer der besten ist: «Selbstmitleid ist Zeitverschwendung.» Claude Cueni ist 64 Jahre alt und der erfolgreichste Überlebenskünstler dieses Planeten in den Wüsten und Dschungeln seiner selbst.

Seit elf Jahren lebt er nach einer Blutkrebserkrankung mit einem Immunsystem, das kaum der Rede wert ist. Das sind elf Jahre Isolation, sind ein paar Dutzend Spaziergänge im Jahr, wenn wirklich alles zusammenpasst: seine Gesundheit, die Abwesenheit von Grippewellen, von Pollen. Ein Buch zu schreiben, ist für ihn einfacher, als in die Ferien zu gehen. Meist sitzt er zu Hause vor seinen Bildschirmen, tagsüber, nachts, und tippt und schreibt sich in die Welten des Lebens, kommentiert den Irrsinn des Weltenlaufs, die Irrläufe der Vernunft, schafft diese ganze und wundervolle #cuenification der grossen Dinge und des kleinen Zeugs. Sitzt da unter einem kleinen grossen Licht neben einem Hometrainer, umgeben von seinen Schaufensterpuppen, die Figuren aus seinen Romanen abbilden, und seiner Frau, die die Figur seines Lebens ist.

Im Januar sah es so aus, als ob er, der wie einer lebt, der den Koffer schon gepackt hat, es nicht packen und entschwinden würde dorthin, wo die Originale seiner Figuren schon längst sind. Alles war organisiert für das Entschweben; Ort, Datum, Zeitpunkt. Und dann packte er es doch noch, kam zurück nach diesem kleinen Sterben, fast so unzerstörbar wie eine seiner Figuren.


 

Gretas Milliardäre

Gretas Milliardäre – Millionen für den Klimaaufstand


Das Magazin Tichys Einblick wurde von Roland Tichy (*1955) gegründet. Tychi ist ein deutscher Journalist und Publizist. Er war Chefredakteur der Magazine Impulse, Euro und der Wirtschaftswoche. 


 

Am Anfang war Greta, am Anfang einer internationalen Klimahysterie-Kampagne, die seit letztem Jahr ununterbrochen auf die Bürger einwirkt und immer größere Ausmaße annimmt. In kurzer Zeit haben sich zahlreiche Bewegungen / Organisationen gebildet wie zum Beispiel Fridays for future oder Extinction Rebellion, die apokalyptischen Wahnvorstellungen von einer kurz vor dem Kollaps stehenden Welt huldigen und im Namen des Kampfes gegen den Klimawandel gegen die bestehende Ordnung zu Felde ziehen. Als Graswurzelbewegungen werden sie oftmals verklärt, doch es gibt Hintermänner, Profiteure und Finanziers.

Ein neuer Finanzier ist vor circa vier Wochen in den USA entstanden. Es ist eine Organisation namens Climate Emergency Fund (Klima-Notstand-Fonds). Sie sieht die Menschheit in existenzieller Klima-Gefahr und fordert eine dringende Reaktion ein. Wörtlich heißt es: „We believe that only a peaceful planet-wide mobilization on the scale of World War II will give us a chance to avoid the worst-case scenarios and restore a safe climate.“ Angestrebt wird also eine weltweite Mobilisierung im Ausmaß des 2. Weltkriegs (!!!), um den Klimawandel zu bekämpfen. Ziel ist die Sensibilisierung der Öffentlichkeit für die angeblichen Bedrohungen durch den Klimawandel durch eine umfassende Störung des Alltags („large scale disruption of everyday live“). Sprich: das Land soll lahmgelegt werden. Inspiriert von Gruppierungen wie Extinction Rebellion will die neue Organisation sehr viel Geld – vornehmlich bei Milliardären – einsammeln, um Aktivisten und Organisationen bei ihrem Feldzug gegen den Klimawandel zu unterstützen.

Laut der internationalen „Westpresse“ Guardian, Washington Post, Independent oderForbes verteilte der neue Fonds bereits 500.000 Pfund bzw. 600.000 US-Dollar insbesondere an die Organisation Extinction Rebellion sowie zu einem kleineren Teil an Climate Mobilization, die das 2.Weltkrieg-Gerede schon länger praktiziert (siehe hier). Nur innerhalb der nächsten Wochen und Monate wolle der neue Fonds das Hundertfache bei der globalen Finanzelite einsammeln (laut Guardian sagte der Gründer Trevor Neilson, dass die Fonds-Gründer „were using their contacts among the global mega-rich to get a hundred times more in the weeks and months ahead“). Das wären dann also um die 60 Millionen Dollar.

Wer aber nun sind der Climate Emergency Fund und Extinction Rebellion?

Extinction Rebellion – Aufstand statt Protest

Die von den Milliardären großzügig bedachte Organisation Extinction Rebellion wurde erst Ende Oktober 2018 gegründet und sieht sich im Kampf gegen die ökologische Katastrophe. Sie ist bisher vor allem in England aktiv, aber auch in Deutschland gibt es laut eigenen Angaben angeblich mittlerweile schon 75 Ortsgruppen (Stand 16.08.2019). In Deutschland steht die Organisation etwas im Schatten von Fridays for future, denen die mediale Aufmerksamkeit vornehmlich gehört.

Während Fridays for future bisher auf friedliche Demonstrationen und Kongresse setzt, setzt Extinction Rebellion auf Blockaden und droht auch Sabatogeaktionen an (zum Beispiel gegen den Flughafen Heathrow, siehe hier). Sie will Rebellion und Aufstand statt nur Protest (siehe hier). Sie läßt sich als der radikale, gewaltaffine, große Bruder von Fridays for future bezeichnen. Zwischen Extinction Rebellion und Fridays for future gibt es zahlreiche Verbindungen. Man unterstützt sich, wirbt füreinander, und viele von Extinction Rebellion sind auch bei Fridays for future dabei, wie die deutsche Sprecherin von Extinction Rebellion bestätigte (siehe hier). Vom 20.09. bis 27.09.2019 [oder nur an beiden Tagen, die diversen Ankündigungen sind unklar] sind weltweite Generalstreiks von Fridays for future und Extinction Rebellion geplant (siehe hier).

Climate Emergency Fund – neue Geldsammelstelle für Fridays for future & Co

Hinter der neu gegründeten Geldsammelstelle für Fridays for future & Co steht der amerikanische „Geldadel“. Zum Beispiel Rory Kennedy, Tochter von Robert Kennedy, oder Aileen Getty, Enkel des Öl-Tycoons Joan Paul Getty, der einmal als reichster Mann Amerikas galt.

Mitbegründer und Leiter des Climate Emergency Fund ist Trevor Neilson. Er ist auch Geschäftsführer und zusammen mit Howard Buffett, dem Enkel des Multi-Milliardärs Warren Buffett, Mitbegründer von i(x) investments, einer Investmentholding mit Schwerpunkt unter anderem auf erneuerbare Energien und carbon to value-Wirtschaft (= Wiederverwendung von Kohlenstoff in werthaltigen Produkte).

Der Fonds-Gründer Neilson war zudem Direktor der Global Business Coalition, einer Vereinigung von über 200 multinationalen Unternehmen, die mit Geldern von Bill Gates, George Soros und Ted Turner gegründet worden ist. Neilson war auch Mitglied des Teams, das die Bill & Melinda Gates Foundation gründete, und deren Direktor. Er diente außerdem im Weißen Haus unter Präsident Clinton und ist er für die Lobby- und Kampagnenorganisation „One“ tätig. Deren „Jugendbotschafterin“ ist Luisa Neubauer, Mitglied der Grünen und mediales Aushängeschild von Fridays for future.

Großkapital meets Ideologie

Großkapital meets Ideologie – könnte man also kurz sagen. Die einen schaffen das Geld heran, die anderen sollen das Land lahmlegen. Und mittendrin bzw. Ausgangspunkt der Entwicklung seit letztem Jahr: Greta. Beziehungsweise ihre Berater, die nicht nur die Figur Greta aufgebaut haben, sondern auch wichtige Aktivisten bei Extinction Rebellion und Fridays for future sind.

Zu nennen sind beispielsweise Bo Thoren und Janine O´Keeffee. Der schwedische Umweltaktivist Thoren ist einer der Initiatoren von Extinction Rebellion (siehe hier). Er war es, der Greta angeworben und ihr die Idee der Schulstreiks nahegebracht hatte, er ist weiterhin deren Berater und wichtige Bezugsperson (siehe hier und hier). O´Keeffee ist Mitglied der schwedischen Grünen und sowohl für Fridays for future als auch Extinction Rebellion aktiv. Sie unterstützt Greta, „wo sie nur kann“, wie der DLF schreibt (siehe hier).

In dem Zusammenhang sei folgendes erwähnt: Greta erhielt den Zugang zur UN-Klimakonferenz in Kattowitz Anfang Dezember 2018, die ihr die große mediale Bekanntheit brachte, durch die ghanaische Organisation Abibiman Foundation. Diese Foundation organisierte eine Pressekonferenzen mit Greta und Vertretern von Extinction Rebellion (siehe hier).

Eine andere Pressekonferenz der Foundation fand mit Greta und dem Marketingdirektor Marten Thorslund vom Unternehmen „We don’t have time“ statt (siehe hier). Dieses Unternehmen, bestehend aus einer Aktiengesellschaft und Stiftung, will das größte soziale Klima-Netzwerk der Welt aufbauen. Gegründet hat es der schwedische PR-Manager und Finanzunternehmer Ingmar Rentzhog. Rentzhog ist Mitglied des Climate Reality Project des früheren US-Vizepräsidenten Al Gore. Er hat Greta bekannt gemacht und mit ihr geworben, um für sein neues Unternehmen die benötigten Investoren-Gelder hereinzuholen. Greta war zwischenzeitlich für einige Zeit auch Ratgeber im Vorstand der Stiftung (siehe hier).

Fridays for future – das nächste Spendenkonto und wieder Geheimniskrämerei

Rentzhog unterhält gute Kontakte zum Club of Rome, der seit Anfang der 70er Jahre vor der Apokalypse warnt. Im November 2018 moderierte er die weltweite Live-Präsentation des Climate Emergency Plan des Club of Rome (siehe hier). [Die Wortgleichheit mit dem neuen Climate Emergency Fund ist sicher kein Zufall.]

Der Vizepräsident der deutschen Sektion des Club of Rome ist bekanntlich Frithjof Finkbeiner. Dessen Stiftung „Plant-for-the-Planet Foundation“ steuert – wie berichtet – Fridays for future finanziell und organisatorisch. Wer genau die verantwortlichen Personen sind, die für Fridays for future handeln, von wem sie dazu bevollmächtigt wurden und aufgrund welcher Rechtsmacht sie das tun, ist bis heute nicht offengelegt. Bekannt ist, daß es mittlerweile noch mehr Vereine im Umfeld von Fridays for future gibt (organize future! e.V. und Donate for future e.V.), die Spenden für Fridays for future sammeln. Für nähere Informationen über die Hintergründe und finanziellen Ungereimtheiten bei Fridays for future und Verbindungen zur Ökofinanz siehe die TE-Berichterstattung hier, hier oder hier).

Auch die GLS Bank sammelt übrigens Geld für Fridays for future ein – unter dem Label „Companies for future“. Interessant ist, was die Bank darüber schreibt, wer über die Verwendung der Mittel zu bestimmen hat: „Über die Verwendung des Guthabens entscheiden drei Organisatoren von Fridays for Future gemeinsam.“ Eine namentliche Nennung dieser drei erfolgt natürlich nicht. Und wer den drei diese Aufgabe übertragen hat, bleibt unklar. Die Geheimniskrämerei bei Fridays for future geht also weiter. Bezeichnend auch, dass man von „Organisatoren“ schreibt. Damit können genauso die Aktiven wie die Hintermänner gemeint sein. Einer dieser Organisatoren ist möglicherweise der Berufsaktivist Louis Motaal. Er ist – wie berichtet – die rechte Hand Finkbeiners bei der Plant-for-the-Planet Foundation, bewegt sich ständig im Umfeld von Greta und hat auf sich auch die Markenrechte an „Fridays for future“ beim Deutschen Patent- und Markenamt angemeldet. Laut einem Welt-Artikel ist er für das (welches?) Spendenkonto bei Fridays for future zuständig (siehe hier).

Große Transformation – gemeinsames Ziel von Finanzeliten und Linksideologen

Ob Extinction Rebellion, Fridays for future oder andere ähnlich positionierte Gruppen und Organisationen – sie alle wollen die radikale Umgestaltung der Gesellschaft, den Systemwechsel, die „Große Transformation“ zu einer post-industriellen Gesellschaft, wie es schon 2011 in einem Gutachten des wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung heißt. Vorsitzender dieses Beirats war damals Hans-Joachim Schellnhuber, der auch Mitglied beim Club of Rome ist (siehe hier). In ähnlicher Diktion spricht die Heinrich-Böll-Stiftung der Grünen von „Radikalem Realismus“ zum Zwecke einer sozial-ökologischen Transformation.

Die Klima-Politik dient als Vehikel für diese Transformation. Es mehren sich die Stimmen, die diktatorische Mittel zu deren Umsetzung nicht ausschließen, wenn es demokratisch nicht schnell genug machbar ist – schließlich geht es angeblich um das weltweite Sein oder Nicht-sein (siehe hier, hier oder hier). Als Mittel dienen vor allem auch CO2-Steuern und Klima-Zertifikatehandel. Das dadurch mögliche Volumen einer Umverteilung von unten nach oben ist immens. 7.600 Milliarden Euro könnten es allein in Deutschland sein laut Berechnungen von Prof. Fritz Varenholt (siehe hier). Hans-Joachim Schellnhuber schätzte 2016 die erforderlichen Investitionen für eine kohlenstoffarme Infrastruktur weltweit auf 93 Billionen Dollar in den nächsten 15 Jahren (siehehier).

Neue Machtstrukturen, erweiterte Verdienstmöglichkeiten – das läßt die Allianz von Teilen der globalen Finanzelite und linksradikalen Ideologen verständlich erscheinen. Die Anschubfinanzierung für den Klima-Aufstand, die der neue Climate Emergency Fund an Extinction Rebellion und andere Organisationen zur Verfügung stellen will, dürfte sich insofern als lohnendes Investment erweisen. Leidtragende dieser unheilvollen Allianz werden die sogenannten kleinen Leute und der Mittelstand sein. Doch von denen begreifen es viele nicht und klatschen sogar noch Beifall zu ihrer Ausplünderung und Bevormundung.

077 Blick »Mein Jahresrückblick 2020«

©Blick / 11.12.2020

 

Covid-19 hat den Menschen die Zündschnur gekürzt und die sozialen Medien in ein Schlachtfeld der Rechthaberei verwandelt. Der Pizzabäcker fordert ein Ende des Lockdowns, seine Gäste essen die Pizza im Homeoffice. Selbstdarsteller Alain Berset inszeniert sich als Kapitän, doch auf seiner Titanic brilliert der Trödel-Bundesrat mit alternativen Fakten.

 

Der Klimawandel wurde verdrängt, überlebt hat der Altersrassismus, den Greta Thunberg salonfähig gemacht hat. Jetzt können auch Menschen ohne Argumente Diskussionen, die sie überfordern, mit «Ok, Boomer» beenden.

 

Der afroamerikanische Ökonom Thomas Sowell kommentierte die Rassismusdebatte: «Haben wir das Endstadium der Absurdität erreicht, in dem Leute für Dinge verantwortlich gemacht werden, die vor ihrer Geburt stattgefunden haben, und andere Leute nicht einmal für das, was sie heute machen?»

 

Seit Angela Merkels unkontrollierter Grenzöffnung (2015) skandieren in unseren Strassen Barbaren «Allahu Akbar». Sie kamen als Flüchtlinge getarnt, weitere leben bereits unter uns, andere sind noch unterwegs. Der rot-grüne Teppich, den man religiösen Faschisten ausrollte, war ein Akt der Selbstaufgabe. Merkel wird als diejenige in die Geschichte eingehen, die Europa den grössten Schaden seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges zugefügt hat.

 

Über die Festtage hätte Europas Sonnenkönigin gerne die Kavallerie nach Zermatt geschickt, doch Ross und Reiter waren nicht wintertauglich.

 

Der Zeitgeist erlaubt neuerdings, dass man seine Partikularinteressen über den Rechtsstaat stellt. Man darf demnächst die Scheiben des Nachbarn einschlagen und dessen Auto abfackeln, falls man es moralisch begründen kann.

 

Donald Trump werden die Karikaturisten bitter vermissen, obwohl Joe Biden («Wie war die Frage?») nicht nur mit dem Teleprompter Probleme hat.

 

Auf den Philippinen geniesst der bekennende Sozialist Rodrigo Duterte eine Zustimmung von 91 Prozent. Er hat nicht das Chaos ins Land gebracht, sondern das Chaos hat «Dirty Harry» geboren.

 

Das Wetter soll nächstes Jahr wechselhaft werden, die Aktienkurse könnten steigen, aber auch fallen.

 

Für 2021 wünsche ich uns allen: Gesundheit, Humor und Gelassenheit: Wer eine andere Meinung hat, ist kein Feind.

Weltwoche: Komitee zur Rettung der Welt

© Weltwoche 10.12.2020

Ungekürzte Version

 

Komitee zur Rettung der Welt

 

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges waren die Menschen finanziell und psychisch zerrüttet und mit der Bewältigung des Neubeginns beschäftigt. Das war eine historische Gelegenheit für einen radikalen Reset: Der Wohlfahrtsstaat wurde ausgebaut, die Charta der UNO in Kraft gesetzt, in Bretton Woods einigten sich 44 Länder auf feste Wechselkurse.

 

Klaus Schwab (*1938), Gründer des Weltwirtschaftsforums (WEF), schrieb zusammen mit seinem Team den Bestseller »Covid-19: Der Große Umbruch (Covid-19: The Great Reset)«. Er glaubt, daß nun auch Covid-19 als »Gelegenheit genutzt werden sollte, um institutionelle Veränderungen in die Wege zu leiten« und einen Reset zu erzwingen: zurück auf Start, Geschichte ausblenden und nochmals alle historisch gescheiterten Rezepte wiederholen.

 

Er beginnt mit Analysen, denen viele zustimmen können. Er beschreibt differenziert die Verkettung historischer, wirtschaftlicher, geopolitischer, gesellschaftlicher, ökologischer und technologischer Fakten, doch in seinem komplexen Räderwerk klammert er ein Zahnrad aus: Die Überbevölkerung mit all ihren gravierenden Auswirkungen auf Resourcen, Klima und Migration. Er glaubt offenbar, im Gegensatz zu Wirtschaftsnobelpreisträger Milton Friedman, daß man sowohl offene Grenzen als auch ein Sozialsystem haben kann.

 

Irritierend ist auch seine Behauptung, es habe während des Lockdowns »keine Luftverschmutzung« gegeben, weltfremd sein Glaube, wonach die Menschen während und nach der Pandemie mehr Empathie und Solidarität zeigen werden. Die Geschichte zeigt, daß in Pandemien Angst und Panik stets zu egoistischem und asozialem Verhalten geführt haben. Nur gerade bei örtlich und zeitlich begrenzten Naturkatastrophen bewiesen die Menschen Solidarität. Doch bei einer Pandemie macht das unsichtbare Virus jeden Nachbarn zum potentiellen Totengräber. Klaus Schwab weiß das, aber er glaubt, daß diesmal alles anders wird.

 

Die Realität widerspricht ihm. Seit Greta Thunberg Altersraßismus salonfähig gemacht hat, ist von Solidarität zwischen den Generationen nicht mehr viel übrig. In einer stark fragmentierten Ich-Gesellschaft, die Partikularintereßen über das Gemeinwohl setzt, bleibt Egoismus die treibende Kraft. Auch die sozialen Medien widersprechen: Sie sind zum Schlachttfeld von Rechthaberei und Intoleranz geworden, draußen demonstrieren zornige Menschen gegen Corona-Maßnahmen. Der Pizzabäcker, der seinen Laden schließen muß, hat nicht die gleichen Intereßen wie der Bankangestellte, der seine Pizza im Homeoffice ißt. Das Einzige, was die beiden gemeinsam haben, ist die Wut. Covid-19 hat allen die Zündschnur gekürzt.

 

In der ersten Hälfte des Buches versucht Schwab mit einer Sowohl-als-auch-Rhetorik Neutralität vorzutäuschen. Er gewährt kontroversen Ansichten Raum und man weiß nie, was eigentlich seine Meinung ist. Hat er eine? Ja, aber die erfährt man erst am Ende des Buches.

 

Schwab zitiert Laotse: »Auch eine Reise von tausend Meilen beginnt mit einem Schritt.« Der erste Schritt in Schwabs »Schöner Neuer Welt« ist wohl die Abschaffung des Bargeldes, denn »sein Staat« braucht die Möglichkeit, bei Bedarf die digitalen Sparguthaben der Bevölkerung per Mausklick zu plündern. Wie 2013 auf Zypern, als übers Wochenende der »größte Bankraub der Geschichte (Spiegel)« abgewickelt wurde. Fast alle Notenbanken planen heute die Einführung von digitalem Zentralbankgeld. Wir wißen alle, daß man die aktuelle Staatsverschuldung von 53 Billionen Dollar nicht mehr auf anständige Art und Weise tilgen kann.

 

Die Pandemie bietet nun die Chance, aus hygienischen Gründen die Abschaffung des Bargeldes zu beschleunigen. Dank Covid-19 zahlen viele Leute nur noch digital und akzeptieren, daß sie dadurch zum gläsernen Bürger geworden sind. Schwab blendet die negativen Seiten nicht aus, er beschreibt die Vorteile jedoch so, daß die Leserschaft zur Einsicht gelangen muß, daß ein »Gesundheitsarmband« mit Tracing- und Traffic-Funktion einen besonderen Schutz bieten könnte. Das chinesische Social-Credit-System kann bereits jedes Fehlverhalten mit Bewegungseinschränkungen oder mit Geldbußen (die in Echtzeit abgebucht werden) bestrafen. Die Akzeptanz in der freien Welt ist eine Frage des Marketings. Wäre es nicht auch für das Klima hilfreich, wenn der CO2-Fußabdruck jedes Individuums sichtbar wäre? Ein grünes Social-Credit-System zur Rettung der Erde?

 

Allmählich wird deutlich, was der Sinn und Zweck dieses Buches ist: der »richtige Weg«. Nachdem uns Schwab mit einer Dystopie im Konjunktiv erschreckt hat, bietet er im letzten Kapitel seine Lösung an: Er wünscht sich ein »Komitee zur Rettung der Welt«, das die »Tyrannei des BIP Wachstums« beendet, er träumt von einer »globalen Ordnungsmacht« nach marxistischen Prinzipien, von einer EU im Weltformat unter dem Kommando von WHO, UNO, IWF und dem »Großen Steuermann« Klaus Schwab. Er bestreitet nicht, daß die Umsetzung seiner Ideen viele Menschen in die Arbeitslosigkeit stürzen würde, und empfiehlt deshalb einen maßiven Ausbau des Sozialstaates.  Man hat den Eindruck, er würde am liebsten alle Menschen enteignen und ihnen monatlich Sozialhilfe überweisen.

 

In seiner »Schönen Neuen Welt« wird der Mensch zur Datenquelle degradiert, zu einem kleinen Pixel, der von einem Software-Algorythmus von der Wiege bis zum Tod begleitet, bevormundet, belohnt und bestraft wird. Schwabs Utopie ignoriert die Natur des Menschen und unterschätzt den Drang nach Freiheit und Selbstbestimmung. Seine Welt nützt nur denen, die sie entworfen haben.


Zahlen zum WEF

Das 1971 von Professor Klaus Schwab gegründete Weltwirtschaftsforum zählt die tausend größten Weltkonzerne zu ihren Mitgliedern. Jeder Konzern bezahlt eine Basis-Jahresmitgliedsgebühr von 42’500 Schweizer Franken und eine Gebühr von 18’000 für die Teilnahme am Jahrestreffen. Industrie- und strategische Partner bezahlen zwischen 250’000 und 500’000, um an den Initiativen des Forums mitzuwirken.

Gemäss Klaus Schwab (Meldung vom 9.12.2020) soll den Teilnehmern in Singapur ausnahmsweise die Gebühr erlassen werden.


 

Heilige Unmoral

© Tages-Anzeiger
– 05. Dezember 2020
 

Heilige Unmoral – wie die Kirche die Spenden für die Armen verprasst

Skandal im Vatikan Hunderte Millionen an Hilfsgeldern für Bedürftige wurden in Hollywoodfilme, Bierbrauereien oder Luxusimmobilien für die Reichsten investiert: Die Römische Kurie wird von der grössten Finanzaffäre der letzten 30 Jahre erschüttert. Dass sie aufgedeckt wurde, ist auch das Verdienst des italienischen Enthüllungsjournalisten Emiliano Fittipaldi.

Oliver Meiler, Rom

«Cupolone», «grosse Kuppel», so nennen die Römer das Dach von Sankt Peter, sie sagen es mit liebevollem Unterton. Die Kuppel spannt sich wie ein Gewölbe über ihre Stadt. Kein weltlicher Bau in Rom darf höher und erhabener sein als Michelangelos Werk, so wollten es die Päpste. Das vermeintlich Heilige sollte über dem Profanen thronen, die Kirche über dem Staat. Moralisch überlegen. Das war natürlich immer schon ein Scherz, die Geschichte ist Zeugin. Aber die architektonische Entrückung ist geblieben.

Ganz besonders eindrucksvoll wirkt das Panorama der Vatikanstadt, dieses kleinen Staates im Staat, ein paar Hundert Einwohner, von Mauern umgeben, wenn man von der Tiberbrücke Umberto I. hinüberschaut. Ist nicht Pandemie, stehen jeden Abend Fotografen auf der Brücke und warten auf das Dämmerrot, den Feuerhimmel über San Pietro. Wenn noch schwarze Wolken den Cupolone umspielen, ist das Drama perfekt, dann entstehen Fotos für Zeiten wie diese.

«Im Vatikan wird gerade der grösste Finanzskandal der letzten 30 Jahre verhandelt», sagt der Investigativjournalist Emiliano Fittipaldi, ein berühmter Enthüller vatikanischer Unheiligkeiten, 46 Jahre alt, Neapolitaner. Wenn nur die Hälfte von dem stimmt, was an Verdachtsmomenten und Ermittlungsthesen schon zirkuliert, ist diese Affäre grösser als Vatileaks 1 (2011) und Vatileaks 2 (2015), die Skandale um die gefrässige Kurie und die Wirrungen bei der Bank des Vatikans. Von Vatileaks 1 heisst es, es habe dazu beigetragen, dass Papst Benedikt XVI. zurücktrat. Bei Vatileaks 2 war Fittipaldi unfreiwillig Hauptfigur, in der Rolle des Aufdeckers. Jetzt aber schreiben die Medien von der «grossen Plünderung des Vatikans», vom «Überfall in der Kurie».

«Komisch, nicht?»

Vor einigen Wochen warf Franziskus einen Kurienkardinal raus, der so mächtig war, dass er Hunderte Millionen Euro aus dem Spendentopf der katholischen Kirche verschieben konnte, fast nach Belieben, mit dem Plazet der Päpste natürlich.

«Dieser Topf war extra bilancio», sagt Fittipaldi, ohne Bucheintrag. Das hat er vor einem Jahr aufgedeckt. Der Peterspfennig für die Armen? In den vergangenen zehn Jahren flossen Millionen in Luxusimmobilien in London, in Fonds auf Malta und Luxemburg, auch in Filmproduktionen, die nichts mit dem Vatikan zu tun hatten. 3,3 Millionen Euro für «Men in Black». 1 Million Euro für «Rocketman», den Film über das Leben des Sängers Elton John. Elton John?

«Komisch, nicht?», sagt Fittipaldi, er hat alle Zahlen im Kopf, jeden Namen, jede Affäre, sie brechen wie ein Strom aus ihm heraus. «Die Diskrepanz zwischen dem, was man gemeinhin vom Vatikan erwartet, und dem, was wirklich ist, ist immens.»

Er hat das schon in allen Facetten erlebt. Zu seinem Fachgebiet kam er eher zufällig. Fittipaldi hat Literatur studiert und dann einen Masterkurs in Journalismus absolviert. Als er 2007 von Neapel nach Rom zog, wies ihm sein neuer Arbeitgeber, das Nachrichtenmagazin «L’Espresso», die Schnittstelle zwischen Politik und organisiertem Verbrechen zu. Macht und Mafia, das ganz grosse Feld, es wurde bald noch grösser. «Wenn du in Rom der Spur des Geldes folgst, landest du immer schnell auf der Via della Conciliazione.» So heisst die Allee, die zum Petersplatz führt. «Unweigerlich.»

Fittipaldi ist ein schmaler, grosser Mann, detailverhaftet, beim Zuhören reisst er seine Augen weit auf. Er sitzt jetzt wieder oft in Fernsehstudios und erzählt unfassbare Geschichten von finanziellen Machenschaften, wie aus billigen Thrillern. Geschichten von Gier und Geiz, von Bruderkriegen unter Kurienkardinälen, von schillernden Figuren aus der Halbwelt, von Spionen und Mätressen. «Die Kirche ist eben eine sehr irdische Institution, eine Männerwelt. Geld, Macht, Sex. Das beschäftigt die Herrschaften schon ungemein.» Er sagt das ganz nüchtern, fast emotionslos. «Ich gehe mit technischer Methodik an die Arbeit, als wäre die Kirche eine Institution wie jede andere.» Fittipaldi ist katholisch aufgewachsen, aber zur Messe geht er schon lange nicht mehr. Manchmal spielt man ihm vertrauliches Material zu, dann prüft er die Quellen, schaut sich die Fakten an, die Beweise dazu und schreibt sie auf, neuerdings für die Zeitung «Domani», deren Vizedirektor er ist.

Die italienischen Medien nennen den aktuellen Fall «Caso Becciu». Angelo Becciu ist ein sardischer Kardinal aus Pattada, einem Ort in der Provinz Sassari, arme Verhältnisse, 72 Jahre alt. Ende September fiel er in Ungnade wegen des Verdachts auf Veruntreuung. Abrupt, wie er fand, völlig unfair. «Der Papst begeht einen Fehler», sagte Becciu, als ihm Franziskus nach einer kurzen und angeblich lauten Unterredung alle Rechte und Privilegien des Kardinalsstands entzogen hat. Nur das Purpurrot darf er behalten, die Farbe des Amtes. «Dabei würde ich doch für den Papst sterben.» Das erste Interview nach dem Rauswurf gab Becciu Emiliano Fittipaldi, und das war nicht selbstverständlich: Die zwei verbindet eine lange, durchwachsene Geschichte.

Becciu war von 2011 bis 2018 Substitut des Staatssekretariats, der zentralen Regierungsbehörde des Vatikans, Herz der römischen Kurie. Substitut hört sich nach zweiter Reihe an. Doch Becciu, der davor lange Jahre als Apostolischer Nuntius den Heiligen Stuhl an vielen Orten der Erde vertreten hatte, war ein sehr mächtiger Mann. Die Nummer drei im Vatikan, wenn man so will, nur der Papst und der Staatssekretär standen über ihm. «Er kennt alle Geheimnisse und Winkel des Vatikans», sagt Fittipaldi, «er ist ein Machtmensch, ein versierter Stratege.» Noch haben die Ermittler des Vatikans keine Anklage gegen Becciu erhoben. Fürchtet man ihn? Oder sind die Beweise zu dünn?

Im Staatssekretariat gab es damals eine Kasse, über deren Inhalt niemand Bescheid wissen sollte. Das Geld darin kam vom «Obolus von Sankt Peter», dem Peterspfennig. Jeden 29. Juni bittet der Papst um Spenden für die Bedürftigsten. Der Deal mit den Gläubigen ist: Ihr gebt mir das Geld, und ich verteile es an die Armen. So war das aber nie. Die Spende floss jeweils in die «cassa» im Staatssekretariat. Als Angelo Becciu übernahm, lagen 750 Millionen Euro in der Kasse, etwa 7 Prozent des gesamten vatikanischen Vermögens, das auf 11 Milliarden Euro geschätzt wird. Das ist eine vage Schätzung. Niemand weiss, wie hoch zum Beispiel der Wert der vielen Immobilien im Besitz der Kirche ist. Allein in Rom sind es Hunderte, ganze Palazzi.

Die 750 Millionen in der Kasse des Staatssekretariats aber waren bar, sofort einsetzbar. Das Geld sollte noch etwas mehr werden. Das wäre an sich nicht verwerflich gewesen, hätte sich die Kirche bei ihren Anlagen von den moralischen Standards leiten lassen, die sie von allen einfordert. Doch Becciu war offenbar der Gordon Gekko der Kurie, wie die Hauptfigur im Film «Wall Street» heisst. 2012 hatte er die Idee, 200 Millionen in eine Ölplattform im Meer vor Angola zu pumpen, ein befreundeter angolanischer Erdölindustrieller wollte sie bauen.

Angelo Becciu war als Nuntius lange Zeit in Luanda stationiert gewesen, so hatte man sich kennen gelernt. Die Idee der Plattform wurde verworfen. Die Investition sei nicht sicher genug gewesen, sagte Becciu.

Abgeraten hatte ihm Enrico Crasso, italienischer Financier, wohnhaft in der Schweiz, früher Angestellter der Credit Suisse, der Hausbank des vatikanischen Staatssekretariats. «Das ist kein Zufall», sagt Fittipaldi, «die Verbindung zur Schweiz hat Tradition.» Als sich in Italien 1929 Kirche und Staat trennten, sahen die Lateranverträge eine beträchtliche Entschädigungssumme für den Vatikan vor. 100 Jahre später erfuhr man, dass die Kirche das Geld sofort in die Schweiz brachte, auf Nummernkonten. «Das ist tief drinnen in ihrer Kultur.»

Anstelle der Ölplattform in Angola rückte eine Immobilie in London ins Interesse des Vatikans: Sloane Avenue 60, ein mächtiges kubisches Gebäude mit viel Glas und rotem Backstein, das früher dem Warenhaus Harrods gehörte. Mitten in Chelsea, beste Lage. Der Makler Raffaele Mincione, der das Luxusobjekt anbot, schwärmte Becciu vor, dass sich darin tolle Wohnungen bauen lassen würden, die man dann an vermögende Kunden verkaufen werde. Er kenne da einen grossartigen Innendekorateur.

Und so investierte der Substitut 200 Millionen Euro aus der «cassa» mit dem Geld für die Ärmsten in eine Luxusimmobilie für die Reichsten. Dafür gab es aber nur einen Teil des Gebäudes, es war ein hoch spekulatives und riskantes Geschäft.

Wahrscheinlich wäre die Geschichte nie aufgeflogen, hätte der Brexit nicht das Britische Pfund in die Tiefe gezerrt – und den Londoner Immobilienmarkt gleich mit. Der Vatikan verlor viel Geld, auch weil er viel zu hohe Kommissionen an die Makler und Mittler entrichtete. Ermittler des Papstes suchen jetzt nach Beweisen für ihre Vermutung, dass auch Kirchenfunktionäre im grossen Stil Geld unterschlagen haben. Bei einem Ex-Angestellten des Staatssekretariats fand die Guardia di Finanza Münzen und Medaillen im Wert von 2 Millionen Euro, dazu 200’000 Euro bar in einer Schuhschachtel.

Becciu war ein Mann der alten Nomenklatura, noch berufen von Benedikt XVI., und er war ein treuer Wegbegleiter von Kardinal Tarcisio Bertone, dem langjährigen Staatssekretär, der Symbolfigur des verschwenderischen Umgangs der Kurie mit dem Geld der Gläubigen. Auch die Geschichte Bertones deckte Fittipaldi auf. 2015 wurden ihm Dokumente zugespielt, die zeigten, dass der hohe Prälat mit Geld aus dem katholischen Kinderkrankenhaus Bambino Gesù in Rom das Penthouse aufhübschte, in dem er bis heute lebt.

Eine halbe Million für den Umbau, vor allem die Dachterrasse soll sehr schön geworden sein. Fittipaldi machte aus der Enthüllung sein Buch «Avarizia», Geiz. Ein Bestseller: 200’000 verkaufte Exemplare, übersetzt in 20 Sprachen. Zusammen mit dem Buch «Via Crucis» des Journalisten Gianluigi Nuzzi, der ebenfalls auf geleaktes Material zurückgreifen konnte, bildete «Avarizia» die Grundlage für Vatileaks 2.

Pressefreiheit? Nicht hier

Dem Vatikan gefiel das gar nicht. Becciu war besorgt, dass sein Kartenhaus ins Wanken gerät. Und Franziskus, der in den Jahren davor versucht hatte, die Missstände in der Kurie aufzuräumen, und dafür ein Sekretariat für Wirtschaft einrichtete, ermahnte jene, die die schmutzigen Geheimnisse ans Licht brachten: die Mitarbeiter der vatikanischen Aufsichtsbehörde, die das Material weitergereicht hatten, und die Journalisten, die es für ihre Bücher nutzten. Auch Fittipaldi und Nuzzi sollte der Prozess gemacht werden hinter dem dicken Gemäuer. Der Vorwurf: Veröffentlichung geheimer Akten. Darauf stehen im Vatikan vier bis acht Jahre Haft. Pressefreiheit? Etwas für die anderen.

Nuzzi wies die Vorladung zurück. Fittipaldi aber ging hin, setzte sich vier Stunden lang auf die harte Holzbank im vatikanischen Tribunal. «Das war stressig», sagt er. «Ich kämpfte um meinen Ruf, sie wollten ihn besudeln, das war ein politischer Prozess.»

Aber es war auch aufregend. Die Welt schaute zu, alle grossen internationalen Sender schickten Kamerateams. Das Buch lief danach hervorragend. Sechs Monate später wurden die italienischen Reporter freigesprochen, weil der Vatikan kein Recht hatte, über sie zu richten. Das war absehbar gewesen, doch der Kirchenstaat ist in solchen Dingen oft erstaunlich dilettantisch, fast schon weltfremd.

Es vergingen zwei Jahre, die Wellen legten sich. Dann ernannte Franziskus Angelo Becciu zum Kardinal und Präfekten der Heiligenkongregation. Eine Promotion, hätte man meinen können. Doch bald wurde klar, dass der Papst ihn befördert hatte, um ihn loszuwerden. Weg vom Staatssekretariat und den Geschäften, rüber ins unverfänglichere Dikasterium der Seligen und Heiligen. Eine erste Entmachtung.

Der Job von Becciu im Staatssekretariat ging an Edgar Peña Parra, einen venezolanischen Erzbischof und engen Vertrauten des Papstes. Der erbte den Investitionsflop an der Sloane Avenue. Doch statt die Anteile zu verkaufen, kaufte Peña Parra noch den Rest dazu, das gesamte Investment des Vatikans betrug nun etwa 350 Millionen Euro. Nie zuvor hatte die Kirche so viel Geld investiert. Und nie so abenteuerlich.

Makler Mincione wurde mit 40 Millionen Euro abgefunden, aus der Schatulle mit dem Peterspfennig. Neu verkehrte der Vatikan nun mit einem schillernden Geschäftsmann, einem gewissen Gianluigi Torzi, der in seiner Karriere oft schon Probleme mit der italienischen Justiz gehabt hatte: etwa wegen betrügerischen Konkurses. Doch im Vatikan kam es niemandem in den Sinn, mal kurz nachzuschauen, mit wem man es zu tun hatte. «Es hätte gereicht, wenn sie Torzis Namen gegoogelt hätten», sagt Emiliano Fittipaldi. Und so sass die Kirche mit ihren 350 Millionen Euro plötzlich im Boot mit diesem Torzi. Im Vertrag inbegriffen: ein Handgeld von 15 Millionen für den Broker. Als sie es merkten, war es schon zu spät.

Der «Fall Becciu» ist also auch ein «Fall Peña Parra» geworden. «Die Geschichte hat zwei Halbzeiten, wie ein Fussballspiel», sagt Fittipaldi. In der ersten spielte der Sarde, die zweite läuft noch, es spielt der Venezolaner. Noch ist nicht klar, in welcher Halbzeit der Vatikan am Ende höher verliert – in der ersten oder in der zweiten.

Der Papst hat dem Staatssekretariat mittlerweile die «cassa» weggenommen. Die Finanzen kommen jetzt alle unter ein Dach, Transparenz und Kontrolle sind das Ziel. «Zum ersten Mal handelt der Vatikan aus eigener Initiative», sagt Fittipaldi. Er spricht von «Vatikanopoli», der Begriff ist angelehnt an «Tangentopoli», wie man in den Neunzigern den Korruptionsskandal in Mailand nannte, den die italienische Justiz mit einer Grossoperation trockenlegte. «Das ist schon mal ein gutes Signal, aber noch keine Garantie für Erfolg.» Erst wenn auch «fedelissimi» des Papstes, engste Vertraute, hart geprüft würden, könne das gelingen.

Gegen Becciu ploppen immer neue Vorwürfe auf. Er soll seine drei Brüder begünstigt haben, heisst es. Einer von ihnen ist Schreiner, er durfte Kirchen renovieren in Ländern, in denen Angelo Botschafter war. Die Rechnungen gingen nach Rom. Ein anderer soll 700’000 Euro für seine karitative Organisation auf Sardinien erhalten haben, die mit der örtlichen Diözese arbeitete. Der dritte Bruder, ein Psychologieprofessor, der nebenbei Bier braut, bekam Geld vom angolanischen Ölindustriellen, dem Freund des Kardinals: 1,5 Millionen Euro. Die Firma nannte er Angel’s S.r.l., Engel GmBH – eine Verneigung vor Bruder Angelo?

Ein unsäglicher Verdacht

Und dann gibt es noch die Geschichte von Cecilia Marogna, einer Managerin aus Cagliari, Sardin, wie Becciu, 39. Eine hübsche Frau, sehr aktiv in den sozialen Medien, was nicht so recht zu ihrem Berufsprofil passen will. Marogna erhielt mehrere Hunderttausend Euro aus dem Staatssekretariat für angeblich geheime Missionen. Etwa für die Verhandlungen zur Befreiung einer kolumbianischen Ordensschwester, die in Mali von Jihadisten verschleppt worden war. Marogna soll nämlich auch eine Paralleldiplomatin sein, perfekt vernetzt mit in- und ausländischen Geheimdiensten. Einen schönen Teil des Geldes aus Rom gab sie für Schmuck, Parfüm und teure Möbel aus, für Kleider, Schuhe und Taschen von Prada, Tod’s und Chanel. Das sei ihr gutes Recht, sagte Marogna, als sie verhaftet wurde, sie habe schliesslich dafür gearbeitet.

Aber hat sie das tatsächlich? Oder war sie am Ende Beccius «dama», wie manche glauben, seine Geliebte? Fittipaldi mahnt zur Vorsicht, oft seien vatikanische Geschichten in Wahrheit ganz anders, als man denke. «Ich habe mal zwei Monate lang an einem Scoop gearbeitet, bis ich merkte, dass ein Kardinal die Geschichte von A bis Z erfunden hatte, um einem Rivalen zu schaden.» Alle Akten waren gefälscht, für den Abfalleimer.

Äusserst unwahrscheinlich kommt ihm jetzt auch eine These vor, die in den vergangenen Wochen Schlagzeilen gemacht hat, es ist eine unerhörte Vermutung. Becciu soll Zeugen dafür bezahlt haben, dass sie sich als Missbrauchsopfer ausgaben im Prozess gegen seinen grossen Rivalen, den australischen Kardinal und früheren Präfekten im Wirtschaftssekretariat, George Pell. Um ihn auszuschalten. Man muss sich das mal vorstellen, es wäre der grösste Skandal von allen, Sloane Avenue hoch zehn. «Bisher gibt es aber keine Beweise dafür», sagt Fittipaldi. «Nichts, gar nichts.» Im Vatikan gibt es Stimmen, die behaupten, die Entourage von Pell habe die These in die Welt gesetzt, um sich zu rächen. Er mache bei diesen Spekulationen nicht mit, sagt Fittipaldi. Und tut es damit doch.

Ihm sind schon viele Scoops gelungen, belegt mit Fakten und Dokumenten. «Aber Journalistenpreise holt man damit keine in Italien», sagt er und lacht. Wer nicht ständig herunterbete, wie wunderbar dieser Papst sei und Amen, der gelte als Gotteslästerer, als Nestbeschmutzer. Das Charisma von Franziskus nehme viele Kollegen gefangen, sagt Fittipaldi. Und macht sie befangen. «Auf mich wirkt es ja auch.» Es blendet ihn aber nicht bei der Arbeit.

Stadtstaat mitten in Rom

350-Millionen-Euro-Deals mit schillernden Geschäftsmännern: Über der Basilika im Vatikan braut sich etwas zusammen. Foto: Christian Hartmann (Reuters)

Wollte die Händler aus dem Tempel jagen: Papst Franziskus. Foto: Keystone

Im Zentrum des Skandals: Kardinal Becciu. Foto: Reuters

Im Fokus der Kollegen: Journalist Emiliano Fittipaldi. Foto: Imago

«Die Kirche brachte das Geld sofort in die Schweiz.»

Emiliano Fittipaldi

«Wenn du in Rom der Spur des Geldes folgst, landest du immer schnell im Vatikan.»

Emiliano Fittipaldi

Textauszug »Pacific Avenue«

 

In der Kiste waren 81 schwarze Büchlein gestapelt, es waren die Tagebücher meines Vaters. Sollte ich sie lesen? Ich dachte, vielleicht wäre das eine Möglichkeit, mehr über diesen seltsamen hageren Blonden im hellblauen Hemd zu erfahren.

Ich griff wahllos in die Kiste und nahm das erste Büchlein heraus, schlug es auf und las: 14. April 1958. Rösti mit Blutwurst. 20.00 Pfarrei. Also wollte ich meinem Vater noch eine Chance geben, damit er mir möglicherweise aufzeigen konnte, dass auch sein Leben in einem gewissen historischen Kontext gestanden hatte.

Nächster Griff in die Kiste: Tagebuch 1963. Hm, haben Sie da irgendeine Erinnerung? Die Vögel von Hitchcock und die erste Lebertransplantation. Dass der Patient nicht überlebte, gehört ins nächste Jahr. Ich schlug eine der letzten Seiten des Jahres 1963 auf: Weihnachten in Vilaincourt. Durchfall. Jurassische Küche. Alte Hexe. Ich vermute, er sprach über die Kochkünste meiner über alles geliebten Großmutter Germaine. Ich muss sie hier in Schutz nehmen, denn die Magen-Darm-Probleme hatte mein Vater, weil er ständig ins Goldene Fass flüchtete und dort eiskaltes Bier trank und die Serviertöchter anhimmelte. Ich kann das bezeugen, denn ich musste ihn jeweils begleiten. Ein Bier, ein Sirup. Erinnern Sie sich?

Ich muss an dieser Stelle erwähnen, dass nicht jeder Tag im Leben eines Menschen der absolute Hammer ist. Mozart schrieb zum Beispiel am 17. Juli 1770 in sein Tagebuch: »Gar nichts erlebt. Auch schön.« Aber immerhin tiefgründiger als: Bohnensuppe.

Sind wir jetzt fertig?, hat meine Lektorin am Rand notiert. Noch nicht ganz.

Ich wollte damit nur zum Ausdruck bringen, dass jedes Leben repetitiv wird, weil das erste Mal nur einmal das erste Mal ist, also einmalig, und was nachher folgt, ist vielleicht eine Variante, aber immer auch eine Wiederholung. Oder können Sie sich an Ihren 475. Orgasmus erinnern? Aber der erste Kuss ist Ihnen bestimmt noch allgegenwärtig. Es gibt Leute, die in ihren Tagebüchern sehr intime Gedanken niederschreiben. Kafka notierte zum Beispiel: »Ein erstes Zeichen beginnender Erkenntnis ist der Wunsch, zu sterben.« Flaubert schrieb in sein Reisetagebuch Dinge wie: »Donnerstag, den 17. Januar, Nil, Sonne, Bäder, Lustknaben. Spital Kasr-el’-Aini. Hübsche Fälle von Syphilis. Negerinnen poussieren.« Das gibt doch was her, oder?

Aber ich will dennoch versuchen, meinem Vater einigermaßen gerecht zu werden, denn Mozart hat uns allen bewiesen, dass nicht an jedem Tag etwas Außerordentliches passieren kann. Um in Erfahrung zu bringen, ob jemand siebzig Jahre lang nur Trash in seine Tagebücher notiert hat, muss man ein Datum wählen, das historisch bedeutsam ist.

Also versuchte ich es mit dem 22. November 1963. Ich weiß nicht, ob Sie sich erinnern, was damals geschah. Wirklich nicht? Ich erinnere mich, dass ich damals die Basler Nachrichten und die National Zeitung im Kleinhüninger Quartier verteilte. Beide Blätter haben das historische Ereignis mit einer seitenfüllenden Fotografie auf die Frontseite gesetzt. Ich hatte Gänsehaut! Es gibt Ereignisse, wie später 9/11, bei welchen jeder noch ganz genau weiß, was er in dieser Stunde getan hat. Also musste doch auch mein Vater diesen historischen Augenblick in seinem Tagebuch erwähnt haben. Ich schlug es auf und las: Kennedy erschossen. Nüdeli mit Hackbraten. 20.00 Pfarrei.

 

Cueni, Claude. Pacific Avenue (German Edition) Wörterseh Verlag. Kindle-Version.

 

 

076 Blick »Lizenz zum Sterben«

© 27.11.2020 

Krieg führen lasse die anderen, heirate!» Das war die Erkenntnis eines Mannes, der fünfzehn Jahre lang Krieg geführt und durch eine Heirat vorübergehend auch seinen persönlichen Frieden gefunden hatte. Kaiser Maximilian I. (1459–1519) war nicht nur «der letzte Ritter», sondern auch der «erste Kanonier», weil er die Kriegsführung modernisierte und der Militärmedizin mit der «strukturierten Triage» sein Siegel aufdrückte. In Kriegszeiten sollten verwundete Soldaten je nach militärischem Rang Vorrang und Zivilisten letzte Priorität haben.

Die Triage wurde bereits im alten Ägypten praktiziert, in Europa regelte 1787 ein königlich-preussisches Reglement die Vorgehensweise verbindlich. Dominique Jean Larrey, Sohn eines Schuhmachers, setzte im Laufe der napoleonischen Kriege als Militärarzt und Feldchirurg eine neue Triage durch. Er nahm keine Rücksicht auf den militärischen Rang der Verwundeten. Er galt deshalb als «Freund der Soldaten». Mit seinen fliegenden Lazaretten führte er Notamputationen auf dem Schlachtfeld durch, und es war ihm egal, ob der Verwundete Freund oder Feind war.

Mit der Pandemie ist das Thema Triage wieder in den Schlagzeilen. Wer kriegt das letzte Beatmungsgerät? Die Schweizerische Gesellschaft für Intensivmedizin (SGI) hat nun gemeinsam mit den Akademien der Wissenschaften Schweiz (SAMW) neue Richtlinien erlassen. Eine neunstufige Skala soll Intensivmedizinern bei Bedarf helfen, Patienten nach medizinethischen Grundsätzen zu klassifizieren und dafür zu sorgen, dass Entscheide im Nachhinein transparent und nachvollziehbar sind.

Wer aber in den kommenden Wintermonaten durch die Triage fällt, sollte wenigstens die Wahl haben, sein absehbares Ende durch eine externe Freitodbegleitung innerhalb des Spitals abzukürzen. Falls er dies ausdrücklich wünscht. Zurzeit sind Freitodbegleitungen in Universitätsspitälern juristisch nicht zulässig, obwohl Sterbehilfe keine Tötung wäre, sondern eher Schmerzbefreiung mit Todesfolge.

Leider leisten sich viele Gesunde eine Gutmenschenethik, die weder auf Schmerzerfahrung noch auf Empathie beruht. Die Erlösung, die man dem geliebten Haustier gewährt, sollte man auch dem Menschen gewähren. Sofern er dies wünscht.

075 »Verbrechen mit 4 Buchstaben«

 

An Weihnachten 1913 erschien in der Beilage der 1860 gegründeten Zeitung «New York World» das erste Kreuzworträtsel. Es enthielt 31 Suchbegriffe, war rautenförmig und noch ohne schwarze Felder aufgebaut. Der britische Journalist Arthur Wynne soll es erfunden haben, die Idee stammte von seinem Grossvater. Im Laufe der Jahre führte Wynne symmetrische Gitter ein und begrenzte die Worte mit schwarzen Quadraten.

 

Das kniffligste Kreuzworträtsel fand man jedoch nicht in den später erscheinenden Rätselbüchern, sondern 1981 in einem braunen Koffer in der ehemaligen DDR. Ein Bahnarbeiter hatte das Gepäckstück neben den Geleisen in der Nähe von Leipzig entdeckt. Im Koffer lag die Leiche eines siebenjährigen Jungen. Er war sexuell missbraucht und grausam ermordet worden. Die Ermittlungsbehörden erhofften sich Hinweise vom Zeitungspapier, mit dem der Koffer ausgestopft worden war. Sie entdeckten ein von Hand ausgefülltes Kreuzworträtsel.

 

In den folgenden neun Monaten sammelte die Volkspolizei sechzig Tonnen Altpapier in der näheren Umgebung des Tatorts und veranlasste eine halbe Million Schriftvergleiche. Die Ausdauer wurde schliesslich belohnt. In Block 398 wohnte eine Frau, deren Handschrift identisch war mit den ausgefüllten Feldern im sichergestellten Kreuzworträtsel. Sie war jedoch nicht die Täterin. Die gesuchte Person musste also in ihrem Haus verkehren oder verkehrt haben. Sie stiessen auf den Freund ihrer Tochter. Er war der bestialische Mörder.

 

Das Lösen von Kreuzworträtseln gilt heute als geeignetes Gehirnjogging, denn ab dem 50. Lebensjahr prügelt das Alter auf den Stirnlappen des Gehirns, ausgerechnet auf die Stelle, wo die Nervenzellen sitzen, die für die Verarbeitung von Wörtern und Zahlen zuständig sind. Auch unsere Festplatte, der Hippocampus, gerät unter Beschuss. Deshalb werden wir im Alter vergesslicher. Meistens verliert man, was man nicht mehr benutzt. Wer hingegen jeden Tag ein Kreuzworträtsel löst, verjüngt angeblich sein Gehirn um bis zu zehn Jahre. Aber es müssen nicht unbedingt Kreuzworträtsel sein. Hilfreich ist alles, was das Gehirn stimuliert. Förderlich sind auch Memory, soziale Kontakte, grünes Gemüse und Sex.

 

 

074 Blick »Schnitzel ohne festen Wohnsitz«

In den 1970er-Jahren wollten viele von uns Zigeuner sein, denn Zigeuner waren unkonventionelle Lebenskünstler ohne festen Wohnsitz. Das war das Lebensgefühl der Flower-Power-Generation. Wir wollten frei sein. Der Zigeunerlook war populär, er stand für Sex & Drugs & Rock ’n’ Roll. Das Zigeunerleben wurde in Liedern besungen und in Filmen romantisch überhöht. Als Teenager war ich verdammt stolz, als ich als Vagabund per Autostopp durch Europa reiste, denn irgendwie war ich ein bisschen Zigeuner.

Intellektuelle massen sich an, die Bedürfnisse von Randgruppen zu definieren

Soeben ist Göläs Autobiografie «Zigeunerherz» erschienen. Der Religionspädagoge Stefan Heinichen (57) nennt den Buchtitel «eine Verharmlosung und eine Negierung der Bedürfnisse der Sinti- und Roma-Gemeinschaften in der Schweiz». Definiert er neuerdings schulmeisterlich, welche Bedürfnisse Sinti und Roma haben sollten?

Selbst Fahrende nennen sich stolz Zigeuner. Der Schweizer Verein Zigeunerkultur organisiert jeweils die «Zigeunerkulturtage» und schreibt auf seiner Homepage: «Wir benützen dieses Wort aber bewusst und mit positivem Selbstverständnis.»

So stellt sich die Frage, wer eigentlich den Sinti und Roma und der Gesellschaft im Allgemeinen einreden will, dass Zigeuner zum Wortschatz von Rassisten gehört. Der überhebliche Belehrungszwang entsteht stets im universitären Umfeld privilegierter Intellektueller, die den Alltag normaler Leute nur vom Hörensagen kennen und die meiste Zeit mit Genderfragen und künstlichen Debatten über Ampelmännchen und rassistischen Produktebezeichnungen verbringen.

Journalisten versuchen, sich in politischer Korrektheit zu übertreffen

Was diese Sprachpolizei lautstark proklamiert, interessiert praktisch niemanden. Umso grösser ist das Interesse bei jenen Journalisten, die sich gegenseitig in Political Correctness übertreffen wollen.

Wenn also Göläs Biografie den Titel «Zigeunerherz» trägt, wünscht man sich etwas mehr Gelassenheit. Die Meinungsfreiheit endet nicht dort, wo selbst ernannte Kulturkrieger die Grenzen ziehen. Gölä ist einer jener Zigeuner aus der Nach-Woodstock-Ära, so wie auch ich einer war. Wir mochten Zigeuner.

Wahrscheinlich überarbeiten jetzt die meisten Restaurants vorsichtshalber ihre Speisekarten und ersetzen das «Zigeunerschnitzel» durch «Schnitzel ohne festen Wohnsitz».

Claude Cueni (64) ist Schriftsteller und lebt in Basel. Er schreibt jeden zweiten Freitag im BLICK. Sein neuer Thriller «Genesis – Pandemie aus dem Eis» ist im Verlag Nagel & Kimche erschienen.

073 Blick »Wenn Bücher brennen«

«Und nicht wenige, die Zauberei getrieben hatten, brachten ihre Zauberbücher herbei und verbrannten sie vor aller Augen.» Auf diesen Bibeltext beriefen sich religiöse Fanatiker, wenn sie in den folgenden 2000 Jahren unliebsame Schriften den Flammen übergaben. Seit der Antike werden missliebige Schriften öffentlich verbrannt, manchmal zusammen mit ihren Verfassern.

Um 1193 fackelte der islamisch-türkische Eroberer Bakhtiyar Khilji die buddhistische Nalanda-Universität ab, ab dem 4. Jahrhundert loderte die religiöse Pyromanie der römisch-katholischen Kirche, die Inquisition war der vorläufige Höhepunkt.

Der Wahn infizierte alle Kontinente. Der Bischof Diego de Landa liess in Yucatan fast alles vernichten, was in Maya-Schrift verfasst war. Nach den Bücherverbrennungen der Nazis verbrannten die Roten Khmer 1975 in Kambodscha Bibliotheken, im Bosnienkrieg fackelten serbische Nationalisten über eine Million Bücher ab, im März 2001 wurden während eines Gottesdiensts im US-Bundesstaat New Mexico «Harry Potter»-Romane wegen angeblicher Hexerei verbrannt.

Jungsozialist Timo Räbsamen sitzt im Stadtparlament von Wil SG. Im Februar 2019 schrieb er in einem mittlerweile gelöschten Instagram-Post: «Heute brennt die Weltwoche, morgen dann Roger Köppel» – und illustrierte die Zeilen mit einem Foto, das einige Geschichtslose beim Abfackeln einer «Weltwoche» zeigt.

Hätten junge SVPler getextet: «Heute brennt die Wochenzeitung, morgen dann die Chefredaktoren» – es hätte Nazikeulen geregnet. Leider gibt es in den Redaktionen immer mehr «Influencer», die sich als publizistischen Arm eines totalitären Mobs verstehen und zweierlei Mass anwenden.

ARD-Journalist Hanns Joachim Friedrichs (1927–1995) sagte einst: «Einen guten Journalisten erkennt man daran, dass er sich nicht gemein macht mit einer Sache. Auch nicht mit einer guten.»

Alle zu den Wahlen zugelassenen Parteien haben ihre Berechtigung, sie repräsentieren einen Teil der Bevölkerung. Kontroverse Meinungen und zivilisierte Debatten sind die Vitamine einer gesunden Demokratie.

Doch heute gilt: Was von rechts kommt, ist Faschismus, was von links kommt, war bloss Satire. Heinrich Heine (1797–1856) prophezeite: «Dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man am Ende Menschen.»

 

072 Blick »Heute Rebell, morgen Despot«

©Fotolizenzen: Christina Guggeri

In den 1970er-Jahren war es für einen Teenager chic, mit einem PLO-Schal wie jenem des Chef-Terroristen Yassir Arafat herumzulaufen, die Bibel des Massenmörders Mao zu promoten, auf dem Klo ein Poster des Stalin-Verehrers Che Guevara aufzuhängen und den Unrechtsstaat DDR als Paradies zu verklären. Das war links und das war cool und man musste nichts mehr beweisen. Wir stellten unsere Moral über das Gesetz. Illegal war scheissegal.

Sozialistische Parteien mutierten zu Verbotsparteien. Linientreue ersetzte die Debattenkultur, die DDR wurde zum Vorbild. Planwirtschaft statt Marktwirtschaft. Das zugemauerte «Arbeiterparadies» wurde einer der weltweit grössten Umweltsünder. Demonstrieren konnte man nur in der Zelle.

Textauszug Clemens Traub »Future for Friday“

Clemens Traub ist Politik-Student an der Johannes-Gutenberg-Universität zu Mainz und SPD-Mitglied. Momentan ist er Werkstudent beim ZDF in der „heute“-Redaktion.

Clemens Traub ist als ehemaliger „Fridays for Future“-Demonstrant weit davon entfernt, den Klimawandel zu leugnen, distanziert sich aber mittlerweile von der Bewegung. Ein Auszug seiner Streitschrift erschien im Magazin CICERO. Daraus habe ich mit Erlaubnis des Autors einzelne Textstellen in diesen Blog kopiert.

© 2020 Clemens Traub

 

 

Das typische Milieu der meisten „Fridays for Future“- Demonstranten kenne ich gut. Es ist in gewisser Weise mein eigenes und das meines jetzigen Freundeskreises: großstädtisch, linksliberal, hip. Arzttöchter treffen darin auf Juristensöhne.

(…)

Akademikerkinder bleiben unter sich. Ein Querschnitt der Gesellschaft also, den die Klimaproteste abbilden? Weit gefehlt! „Fridays for Future“ ist die Rebellion der Privilegierten, und die Bewegung bietet ihnen die perfekte Möglichkeit, ihren eigenen kosmopolitischen Lebensstil und das eigene Talent zur Schau zu stellen.

(…)

Klimaschutz auf Kosten der sozial Schwächeren

Die Bewegung in ihrem Elfenbeinturm merkt dabei gar nicht, dass ihre Kritik den Lebensstil vieler sozial Schwächerer betrifft, die aus finanziellen Gründen nicht immer die freie Wahl haben. Sie werden als Klimasünder gebrandmarkt, weil sie nicht im Bioladen einkaufen, sondern beim Discounter. Dass es Menschen gibt, bei denen die Sorgen angesichts immer höherer Strom- und Mietpreise die Diskussion über den Verzicht auf Flugreisen von vornherein obsolet machen, das kommt den Demonstranten gar nicht in den Sinn.

Wie auch? In ihrer wohlbehüteten Lebenswelt ist das alles ganz weit weg. Gerade das macht die Bewegung aber zu einem Risiko, denn sie setzt den sowieso schon fragilen Zusammenhalt unserer Gesellschaft aufs Spiel. Für einen großen Teil der Bevölkerung überwiegen jedoch andere, dringlichere Alltagssorgen. Wer angesichts der Ankündigungen der Industrie Angst hat, von Jobabbau betroffen zu sein, für den ist im Moment die Brandrodung im tropischen Regenwald zweitrangig.

(…)

Die oftmals alltagsfern geführten Diskussionen grenzen weniger privilegierte Menschen in der öffentlichen Debatte aus.

(…)

Andauernd hoben sie mahnend den Zeigefinger. Blickten aus dem Elfenbeinturm auf alle Menschen, die anderer Meinung waren, herab.

(…)

Bewegung des sozial privilegierten Nachwuchses

Dieser Zeigefinger wurde langsam, aber sicher das Wiedererkennungsmerkmal der Bewegung. Ihre Feindbilder waren glasklar. Ihr Weltbild gefährlich eindimensional. Meine Großstadtfreunde bekämpften plötzlich alle, die in ihren Augen eine Mitschuld am elend der Welt trugen: die Fleischesser, die Plastiktütenträger, die Dieselfahrer, die Kurzstreckenflieger, die Langstreckenflieger, die Kreuzfahrttouristen, die Landwirte und natürlich die bösen SUV-Besitzer. Aber ganz ehrlich: Gehören wir nicht alle immer mal wieder zu einer dieser Gruppen?

Elitäre Selbstüberschätzung, wohin ich blickte. In ihrer moralischen Überheblichkeit war (und ist) ihnen gar nicht bewusst, wie viele „normale“ Menschen sie damit vor den Kopf stießen.

Meine Einschätzung, bei „Fridays for Future“ handle es sich vor allem um eine Bewegung des sozial privilegierten Nachwuchses, ist inzwischen mit entsprechenden Zahlen belegt.

Finanziert wurde die Studie von der Bündnis 90/Die Grünen-nahen „Heinrich Böll Stiftung“.

Die Studie spricht Bände: Demnach gaben über 90 Prozent der Befragten an, mindestens das Abitur (beziehungsweise die Fachhochschulreife) gemacht zu haben oder dies gerade anzustreben. Eine überwältigende Mehrheit von 90 Prozent!

„Fridays for Future“ verkörpert damit nicht einmal ansatzweise den Querschnitt der Gesellschaft, wie so oft behauptet wurde.

Mich wunderte, wie wenig das ernüchternde Ergebnis der Studie dann jedoch diskutiert wurde. Dabei musste die Gesellschaft doch aufgeklärt werden über den privilegierten Background und die daraus folgende Abgehobenheit der jungen Protestler. Verändert dies nicht den gesamten Blickwinkel auf die bestimmende gesellschaftliche Debatte der letzten Monate?

Gerade die Aushängeschilder der Bewegung kommen allesamt aus „bürgerlichsten“ Verhältnissen.

Da haben wir zum Beispiel Luisa Neubauer, die bekannteste deutsche „Fridays for Future“-Aktivistin. Aufgewachsen ist sie im recht gut betuchten Elbvorort Iserbrook in Hamburg. Alle Hamburger wissen: Nicht gerade eine Wohngegend, die bekannt ist für ihren sozialen Wohnungsbau. Ihr Abitur machte sie in Hamburg-Blankenese.

Es ist das Hamburger Villenviertel schlechthin. Sightseeing-Busse bieten inzwischen Rundfahrten durch das Viertel an, um den neugierigen Touristen die Prachtvillen zu präsentieren. Sie ist Stipendiatin der parteinahen Stiftung von Bündnis 90/Die Grünen und auch Mitglied der Partei. Einer Politikerkarriere steht also nichts im Wege, das sagt sie auch selbst. „Eine Karriere als Politikerin möchte ich nicht ausschließen“, erzählte sie beispielsweise „Zeit Campus“.

Perfekte Selbstvermarktung

Rebellion von unten sieht anders aus. Perfekte Selbstvermarktung trifft es wohl eher. Die Inszenierung als Underdog bekommt jedenfalls Risse. Heute erreicht man Luisa Neubauer nur noch über ihr Management! Demonstranten als Popstars! Und die kann man natürlich auch nicht mehr einfach auf der Straße ansprechen, wenn man zusammen demonstriert. Jedenfalls nicht bei „Fridays for Future“. Also bitte, was für eine naive Vorstellung! Zwar gibt es auch innerhalb der „Fridays for Future“-Bewegung Kritiker der ausufernden Personeninszenierungen, doch eine wirkliche Veränderung ist nicht in Sicht.

Aus der Klimabewegung ist zwischenzeitlich vor allem eines geworden: ein Karrieresprungbrett für den ehrgeizigen Elitennachwuchs. „Fridays for Future“ ist die perfekte Bühne, um von sich Reden zu machen. Vielen der gebildeten Akademikersprösslinge ist das natürlich bewusst. Je mehr mediale Aufmerksamkeit, desto attraktiver ist es, in der ersten Reihe zu stehen. Vermeintlich idealistischer Aktivismus lässt sich inzwischen sehr gut vermarkten.

Einmal einen Auftritt in einer Talkshow ergattern oder zumindest einmal den eigenen Namen in der Zeitung lesen können – all das kann zur Chance des Lebens werden. In vorderster Reihe dabei zu sein fühlt sich nicht nur wahnsinnig gut an, es ist auch eine Art Freifahrtschein für das spätere Berufsleben. Und als wenn das nicht schon ausreichen würde: Eine Flut neuer Instagram-Follower ist natürlich auch noch eine traumhafte Begleiterscheinung. In diesem sinne: Volle fahrt voraus!

Rebell zum eigenen Vorteil

Die Elite von morgen

Die allermeisten „Fridays for Future“-Aktivisten wissen: Ihnen gehört die Zukunft. Viele haben die klassische Biografie eines Kosmopoliten. Ihnen wurde durch ihre soziale Herkunft alles in die Wiege gelegt, um zum Profiteur unseres Systems zu werden. Einfach alles stimmt: das Auftreten, das soziale Umfeld und natürlich die Bildung.

Obwohl sie den Weltuntergang als permanente Drohung vor sich hertragen, bereitet ihnen ihre Zukunft keine Angst. Warum denn auch? Für sie stehen die Türen sehr weit offen. sie beherrschen die komplizierten Regeln unserer individualisierten Wissensgesellschaft ganz genau. Sie werden ihr Praktikum in Brüssel und nicht in Bottrop machen. Lieber EU-Kommission als Einzelhandel. Der wird zukünftig eh keine Chance mehr haben. Und außerdem: Connections regeln! Ihr englischer Wortschatz ist meist größer als der deutsche. Perfekt vorbereitet also auf die Zukunft, komme was wolle. Denn sie sind die Elite von morgen. Das Gefährliche daran: All das ist den Demonstranten meist gar nicht bewusst.

Außenseiter sein, erst das macht das Rebellentum sexy. Was muss ein sozial Abgehängter denken, wenn sich auf einmal wohlhabende Kosmopoliten in der rolle des Außenseiters gefallen! Und sie gefallen sich nicht nur in ihr. Nein, sie inszenieren sie regelrecht.

Statt Gerechtigkeitsfragen bei „Fridays for Future“ mit zu bedenken, reduzierte sich die Bewegung von Anfang an rein auf Fragen des Lebensstils. Auch in meinem Freundeskreis ist Artensterben einfach cooler als Altersarmut. Ist das Thema Gender hipper als Grundrente.

Der neue grün-bürgerliche Habitus regelt das Freund-Feind-Schema der Klimadebatte.

© 2020 Clemens Traub

071 Blick »Ein Denkmal für Polizeibeamte«

   

Seit 1821 stirbt der Luzerner Löwe in seiner Grotte vor sich hin. Mit jährlich rund 1,4 Millionen Besuchern gilt er heute als eines der meistbesuchten Touristenziele Luzerns. Für die meisten ist dieses in Sandstein gehauene Denkmal «das traurigste und bewegendste Stück Stein der Welt (Mark Twain)». Nicht alle wissen, dass der Löwe an den Untergang der Schweizergarde erinnert, die am 10. August 1792 erfolglos die Tuilerien in Paris gegen den Ansturm der aufgebrachten französischen Revolutionäre verteidigte.

Vor elf Jahren warf «eine unbekannte Körperschaft» rote Farbbeutel auf den Löwen, um gegen das Denkmal zu protestieren, aber auch um sich mit Straftätern zu solidarisieren, die im Verdacht standen, in Frankreich Terroranschläge gegen TGV-Züge verübt zu haben. Einige Medien druckten das anonyme Bekennerschreiben als sei es eine offizielle Regierungserklärung.

Einmal mehr wollte ein anonymes Grüppchen der Allgemeinheit vorschreiben, was sie sehen darf und was nicht. Schaden für den Steuerzahler: 75’000 Franken.

Man ändert die Geschichte nicht, indem man die Krankenakte der Zivilisation umschreibt. Der Löwe entsprang Ende des 18. Jahrhunderts dem damaligen Zeitgeist. Vor lauter Empörung vergessen die Vandalen, dass die Liebhaber des Denkmals nicht die Monarchie verherrlichen, sondern die Kunst der beteiligten Bildhauer bewundern.

Vor zwei Jahren gelang dem Luzerner Löwen der Sprung über den Atlantik. Nun stirbt er auch im «Memorial Park» in der US-amerikanischen Stadt Colorado Springs. Er erinnert nicht an die gefallenen Schweizer, sondern gedenkt der dreissig Polizeibeamten, die seit 1895 bei der Verhaftung von Straftätern am östlichen Rand der Rocky Mountains ums Leben gekommen sind. In Stein gemeisselt sind die Worte:

Ich war dort, wo du fürchtest zu sein.

Ich habe gesehen, was du fürchtest zu sehen.

Ich habe getan, was du fürchtest zu tun.

All diese Dinge habe ich für dich getan.

Kürzlich wurde nun auch dieses Denkmal beschädigt. Wenn jeder zerstört, was ihm missfällt, enthüllen wir eines Tages das Denkmal eines Diktators, der einen Bürgerkrieg beendet hat, und von der Biografie der Menschheit bleibt nur noch ein prähistorischer Faustkeil übrig.


© Blick 2020


 

070 Blick »Sind Wahlplakate Littering?«

 

 

Wer Wahlen gewinnen will, sollte sich in der Öffentlichkeit mit berühmten Unterstützern umgeben und es vermeiden, den Leuten mit der Wahrheit die gute Laune zu verderben. Diese Empfehlung stammt nicht etwa aus einem heutigen Strategiepapier, sondern von Quintus Cicero (102–43 v. Chr.), dem Wahlkampfmanager und Bruder des berühmten Marcus Tullius Cicero.

 

Wählbar waren nur Personen, die das 30. Altersjahr überschritten hatten, denn Jüngere hielt man aufgrund der fehlenden Lebenserfahrung und der altersbedingten Leichtsinnigkeit für nicht ganz zurechnungsfähig.

 

Der Eintrag in die amtlichen Bewerbungslisten kostete nach heutiger Kaufkraft ca. 15’000 Franken. Nur Reiche konnten ein Amt anstreben. Fortan mussten sie aber auch bei Hungersnöten mit ihrem Privatvermögen einspringen. Heute haftet keiner mehr persönlich, weder für fehlende Masken, zu späte Grenzschliessungen, zu frühe Lockerung des Lockdowns noch für vorsätzliche Falschinformationen.

 

In der römischen Republik gab es kein politisches Parteiensystem, wie wir es heute kennen, es gab auch keine Wahlprogramme. Somit waren allein Charisma, Volksnähe und die Reputation der Unterstützer ausschlaggebend. Diese liessen den Namen des Kandidaten in roter oder schwarzer Tusche auf Wandverputze malen. Diese sogenannten Wahl-Dipinti säumten Einkaufsstrassen wie heute die Wahlplakate, die in der freien Natur später den Tatbestand des Litterings erfüllen.

 

Gekaufte Stimmen waren genauso üblich wie heute auf den Philippinen, wo der Major einer Barangay (Gemeindepräsident) auf seinem Moped von Haus zu Haus fährt und für umgerechnet ca. vier Franken Stimmen einkauft.

 

Populär waren auch Brot und Spiele, wobei diese dem Kandidaten meistens rote Zahlen bescherten, was seine Wahl erschwerte, da man zu Recht annahm, dass er sich nach einem Wahlsieg auf Staatskosten sanieren würde. Heute, wo die meisten Parteikassen leer sind, begnügt man sich mit bunten Werbegeschenken und anderen Wegwerfartikeln.

 

Wahlplakate haben die antiken Dipinti ersetzt. Oft werden sie beschädigt. Ironischerweise mobilisieren jene Vandalen, die kein Verständnis für Demokratie haben, die Nichtwähler der geschädigten Partei. Und auf die kommt es an.

Interview mit Matthyas Zehnder

 

Claude Cueni: «Ich halte halbe Wahrheiten für die schlimmsten Fakes»

 

PUBLIZIERT AM 26. AUGUST 2020 VON MATTHIAS ZEHNDER / © 2020 matthyaszehnder.ch

 

 

Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?

 

Mein iPad. Seit zehn Jahren lese ich Zeitungen nur noch auf dem iPad. Ich beginne zwischen zwei und drei Uhr morgens mit der «South China Morning Post» und «Rappler», dem philippinischen News-Portal. Dann überfliege ich die Headlines der US-Medien und lese später europäische Zeitungen. Wenn ich gerade an einem Roman bin, kopiere ich die interessanten Artikel in ein Worddokument und lese die News vor dem Mittagessen.

 

Wie hältst Du es mit Facebook, Twitter und Instagram?

 

Twitter und Google+ habe ich schon vor Jahren verlassen. Bei Facebook bin ich vorläufig noch dabei. Ich benützte es mittlerweile vor allem als Werbemedium für neue Bücher und um in Kontakt zu bleiben mit Freunden und Kollegen, die über den ganzen Erdball verstreut sind.

 

Wie hat das Corona-Virus Deinen medialen Alltag verändert?

 

Überhaupt nicht.

 

Wenn Du an die Medien in der Schweiz denkst – war früher alles besser oder schlechter?

 

Weder noch. Ich trauere keinen vergangenen Zeiten nach. Wenn ich den Kulturteil betrachte, stelle ich fest, dass es immer weniger Buchrezensionen gibt, da die Onlinemedien mittlerweile Klickzahlen sehr genau messen können. Und die Leserschaft orientiert sich eher an den Meinungen von Leuten, die gerne lesen. Wenn heute eine Buchrezension in der «Sonntagszeitung» erscheint, wird sie auch in der «Basler Zeitung», im «Bernerobeländer», in der «Berner Zeitung», im «Bund», im «Landboten», im «Langenthaler Tagblatt», im «Tages-Anzeiger», im «Thuner Tagblatt» und in -zig anderen Onlinemedien publiziert. Die Meinungsdominanz der Medienhäuser und der einzelnen Redakteure hat zugenommen. Man muss deswegen nicht jammern, sondern nach neuen Wegen suchen.

 

Haben geschriebene Worte noch Zukunft?

 

Auch digitale Inhalte müssen geschrieben werden und es wird immer Menschen geben, die sich gerne mit einem dicken Buch zurückziehen, um in eine andere Welt abzutauchen. Aber es werden weniger sein. Es gibt immer mehr Leute, die gar keine Bücher lesen, das Unterhaltungsangebot ist einfach enorm und die Zapping-Kultur hat mittlerweile alle Bereiche erfasst. Siebenhundertseitige historische Wälzer sind Liebhaberobjekte. Mit Ausnahme von Krimis (insbesondere Regional-Krimis) und Sachbüchern nehmen die Buchumsätze kontinuierlich ab. Die Belletristik-Verlage verdienen nur noch die Hälfe, die Autoren verdienen nur noch die Hälfte, aber auch hier besteht kein Anlass zum Jammern, sondern Anlass, seine Kreativität im Buchmarkt unter Beweis zu stellen.

 

Was muss man unbedingt gelesen haben?

 

Nichts. Ich unterhalte mich gerne mit meinem Sohn und ein paar Freunden über Bücher, die wir gelesen haben, jeder teilt seinen Eindruck mit, aber keiner käme auf die Idee zu sagen, «das musst du unbedingt lesen». Ich lese gerne Bücher zur Universalgeschichte oder Spezialthemen, aber auch das sind keine Bücher, die andere unbedingt gelesen haben sollten. Ich bin nicht das Mass aller Dinge.

 

Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?

 

Ich entscheide mich nach ca. 20 Seiten, manchmal schon früher. Wieso soll ich ein Buch zu Ende lesen, wenn ich die Figuren plakativ oder die Dialoge hölzern finde? Das wird auf den nächsten 300 Seiten nicht besser.

 

Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?

 

Mein Sohn, ein paar enge Freunde, Online-Medien und soziale Netzwerke wecken mein Interesse für Unbekanntes.

 

Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?

 

Printmedien sind ein Auslaufmodell. Die älteren Abonnenten sterben aus und die jüngere Leserschaft wächst mit Handy und iPad auf. Meine Frau ist 39, sie hat noch nie eine Printzeitung gelesen und ist trotzdem sehr gut informiert. Ich hatte vor etwa zwölf Jahren die letzte Printzeitung in der Hand. Online ist stets aktueller und bietet der Leserschaft verlinkte Zusatzseiten und Videos. Auch für den Verleger gibt es Vorteile: Er spart Papier-, Druck- und Distributionskosten, das Inkasso ist sehr simpel. Das Mahnwesen fällt weg, weil der Kunde im voraus sein Abo bezahlen muss.

Wahrscheinlich werden einige Special-Interest- und Hochglanzmagazine überleben. Aber der Trend geht Richtung Online-Kiosk: ein einziges Abo erlaubt den Zugriff auf mehrere Dutzend Presseerzeugnisse. Musik- und Filmindustrie weisen den Weg.

 

Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?

 

Wenn man täglich ein breites Spektrum an Medien liest, sind Fakenews einfach zu entdecken. Ich halte halbe Wahrheiten für die schlimmeren Fakes. Man lässt einfach weg, was der eigenen Weltanschauung widerspricht, aber die Leserschaft kann nie wissen, was weggelassen wurde.

 

Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen?

 

Seit 20 Jahren kein Thema mehr. Mit Youtube, Netflix und anderen Streamingdiensten bin ich ausreichend bedient.

 

Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?

 

Nein.

 

Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 56 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehört?

 

Seit dem Herbst 2015 ist das Vertrauen in Medien, Politik und Wissenschaft kontinuierlich gesunken. Bei jedem Thema gibt es fast so viele Meinungen wie Experten. Corona bestätigt dies erneut. Dass insbesondere die 16- bis 29-Jährigen das Interesse an News verlieren, hat sicher auch mit der narzisstischen Selfie-Gesellschaft zu tun. Nichts ist interessanter als das eigene Ich. Sobald der Wohlstand abnimmt und der eigene Lebensstandard gefährdet ist, wird sich das wieder ändern.

 

Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?

 

Teilweise ja. Aber ein News-Roboter greift natürlich stets auf einen Basis-Text zurück, den ein Mensch geschrieben hat. In den 1980er-Jahren gab es eine Software, die selbständig Gedichte schreiben konnte, aber auch hier musste man ein paar Keywords eingeben. Aber absurde Gedichte schreiben ist für einen Roboter einfacher als einen faktenbasierten Bericht über den Nahen Osten zu verfassen.

 

Führt die Digitalisierung zum Tod der Medien oder im Gegenteil zur Befreiung des Journalismus?

 

Sicher nicht zum Tod. Die Musik- und Filmindustrie haben die Digitalisierung überlebt, auch die Medien werden sie überleben. Und die Kundschaft wird ihre Gewohnheiten anpassen. Für ehrgeizige Journalisten ist es die Chance, ein eigenes Onlinemedium zu lancieren. Im Raum Basel hat zum Beispiel Peter Knechtli vor über 20 Jahren mit «onlinereports» ein national beachtetes Medium erschaffen, das sich durch viele Primeurs auszeichnet. Mit «Prime News» und «Bajour» sind zwei weitere Online-Player an den Start gegangen. In Deutschland werden Journalisten, die sich von grossen Verlagshäusern «befreien» und ihre eigenen Online-Medien gründen, immer zahlreicher.

 

Siehst Du für professionellen Journalismus noch eine Zukunft?

 

Bestimmt, aber zurzeit ist eher Meinungsjournalismus populär und fast alle Leitmedien sind zur ironiefreien Zone verkommen. Aber das ist Zeitgeist und flüchtig. Die Leute werden wieder den Wunsch nach ungeschönten Fakten haben: Lesen was ist und nicht das, was ein Journalist gerne verbreiten möchte. Professionellen Journalismus wird es immer geben, aber in einer fragmentierteren Gesellschaft werden die Zielgruppen dünner. Entscheidend wird sein, ob die Leserschaft bereit ist, dafür mehr zu bezahlen.

 

Schreibst Du manchmal noch von Hand?

 

Nur Randnotizen und Einkaufszettel. Ich schreibe am PC und korrigiere meine Texte laufend. Von Hand schreiben oder diktieren ist bei meinem impulsiven Arbeitsstil gar nicht möglich.

 

Ist Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?

 

Er liefert täglich ein paar Schlagzeilen. Somit ist er gut für die Medien, egal ob sie ihn mögen oder nicht. Alles was Klickzahlen generiert, ist gut für die Medien. Egal ob DonaldTrump,  Irina Beller oder welcher Penis zu welchem Sternzeichen passt.

 

Wem glaubst Du?

 

Auch ich habe mein Vertrauen in Medien, Politik und Wissenschaft weitgehend verloren. Ich vertraue meinem gesunden Menschenverstand, wobei das wohl jeder von sich behauptet. Bedingungsloses Vertrauen habe ich in meine Frau und meinen Sohn.

 

Dein letztes Wort?

 

Dafür ist es wohl noch zu früh. Aber wenn du darauf bestehst: Es gibt keinen Gott, tut Gutes und geniesst euer Leben.

069 Blick »Ist Schach rassistisch?«

Die ersten schachähnlichen Figuren waren klobige Blöcke und stammen aus Mesopotamien. Sie sind über 5000 Jahre alt. Mit der Verbreitung des Spiels entwickelten sich in den verschiedenen Kulturen zahlreiche Varianten. Als im 7. Jahrhundert muslimische Eroberer das Schach nach Europa brachten, wurde die Figur des Läufers noch als Alfil (Elefant) dargestellt, im 12. Jahrhundert haben ihn die Norweger durch einen Bischof ersetzt. Das Schachbrett hatte damals noch weisse und rote Felder, oft waren auch die Figuren entsprechend bemalt.

1849 gestaltete Nathaniel Cook das Set, wie wir es heute kennen. Die Figuren waren meistens aus hellbraunem und dunkelbraunem Holz. Später gelangten Sets mit Kreuzrittern, Nordstaatlern oder Comicfiguren in den Handel. Unabhängig von der Darstellung nennt man die beiden Parteien heute «Weiss» und «Schwarz», wobei «Weiss» jeweils den ersten Zug ausführt. Ist das rassistisch?

Der öffentlich-rechtliche Radiosender ABC Sidney setzte den Vorwurf in die Welt. Somit hätten Millionen von Eltern, die ihren Kindern die Schachregeln beibrachten, ihrem Nachwuchs Rassismus anerzogen, so wie andere Eltern ihrem Nachwuchs den Opferstatus anerziehen.

Es ist heute üblich, dass Aktivisten in den Redaktionen einen kaum beachteten Tweet herauspicken, um mit Pauken und Trompeten einen Shitstorm loszutreten. Man fragt sich, ob ein mehrjähriges Studium in Dekolonialität, kritischer Weiss-Sein-Reflexion und postkolonialem Erinnern notwendig ist, um nun sogar beim Schach Rassismus zu wittern.

Die Debatte ist mittlerweile entgleist und schlittert zwischen Überempfindlichkeit und Verharmlosung. Es ist heute chic, selbst bei banalsten Kränkungen, die jedem Menschen, unabhängig von der Hautfarbe, widerfahren, rassistische Mikroagressionen zu vermuten.

Würde man das Schach wieder mit weissen und roten Feldern und Figuren bestücken, könnten sich die nordamerikanischen Ureinwohner verletzt fühlen. Soll man also weltweit die Schachregeln dahingehend ändern, dass in Zukunft Schwarz beginnt? Oder wäre das Rassismus mit vertauschten Rollen? Ein Stoff für Kabarettisten. Kann es sein, dass derart bizarre Nebenschauplätze gerade das fördern, was man zu Recht bekämpft?

Hämatologe Prof. Jakob Passweg im Interview

Herr Passweg, was haben Sie aufgrund Ihrer Arbeit über das Menschsein gelernt? –

«Alles»

Der Basler Chefarzt Jakob Passweg erzählt, welche Fragen die Patienten ihm stellen und warum an seiner Pinnwand ganz viele Todesanzeigen hängen.

Von Lucia Hunziker

 

NZZ am Sonntag: Herr Passweg, was fragen Patientinnen oder Patienten unmittelbar nach der Diagnose «Krebs»?

Jakob Passweg: Vielen zieht die Diagnose den Boden unter den Füssen weg. Die meisten sagen deshalb zuerst einmal nichts. Dieses Schweigen muss man als Arzt aushalten. Das meiste, was der Doktor unmittelbar nach einer schwierigen Diagnose sagt, ist sowieso zu viel und verschwindet bei der Patientin oder beim Patienten im Nebel der emotionalen Betroffenheit. 

Wie überbringen Sie die schlechte Nachricht?

Leider kaum je in einer ruhigen Atmosphäre. Ich begegne dem Patienten zumeist zuerst in der Notfallstation. Dort liegt er mit hohem Fieber, ist schummrig im Kopf und hat seltsame Blutwerte. Ich sage ihm, dass er vielleicht an Leukämie erkrankt sein könne und dass das ein grosses Unglück wäre. Dass aber weitere Abklärungen nötig seien, um herauszufinden, was sich hinter den Symptomen verbirgt. 

In Filmen fragen die Menschen als Erstes: «Wie viel Zeit bleibt mir noch?» Was sagen sie tatsächlich?

In der Realität stellen Erkrankte die Frage selten und kaum je so früh. Ausser, der Patient sei an einem Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankt, einer aggressiven Krebsart, bei der die mittlere Lebenserwartung bei drei Monaten liegt. Die Frage nach der verbleibenden Lebenszeit wird meistens erst aufgeworfen, wenn eine Krankheit nach erfolgreichen Behandlungen erneut auftaucht. Also dann, wenn ein sogenanntes Rezidiv ein zweites Mal auftritt und wir keine Medikamente mehr kennen, um die Krankheit unter Kontrolle zu bringen, und wir das Ableben höchstens hinauszögern können.

Für Ihre Patienten sind Sie der potenzielle Lebensretter. Wie wirkt sich das auf Ihre Patientenbeziehung aus?

Es gibt Patienten, die zum Doktor aufschauen. Anerkennung zu erhalten, ist nicht das Unangenehmste, was einem als Arzt passieren kann. Problematisch wird es, wenn Sachen von mir erwartet werden, die ich nicht erfüllen kann.

Zum Beispiel?

Geheilt werden von einer unheilbaren Krankheit.

Wie gehen Sie mit dieser Forderung um?

Das ist schwierig. Ich kann ja nicht sagen: «Herr Müller, Sie erwarten von mir, dass ich Sie heile. Sie wissen aber, dass ich das nicht kann.» Ich versuche, das feiner zu machen.

Was machen Sie konkret?

Es ist glücklicherweise ja nicht so, dass man gar nichts mehr machen kann, wenn eine Heilung nicht möglich ist. Ich versuche dann die Krankheitsprogression hinauszuzögern. Und wenn auch das nicht mehr geht, lassen sich die Schmerzen lindern. Wichtig ist, bei der Behandlung auf realistische Ziele zu fokussieren.

Gibt es etwas, das allen Krebspatienten während der Behandlungen besonders gut tut?

Ja. Das allerwichtigste sind die sozialen Beziehungen. 

Welche Rolle spielt Gott?

Er ist im medizinischen Alltag heutzutage praktisch nicht mehr im Spiel.

Haben Sie genug Zeit für Ihre Patienten?

Schwierige Gespräche benötigen Zeit – die ich selten im gewünschten Masse habe. Heute beispielsweise hatte ich eine Patientin, die so viele Fragen stellte, dass die nachfolgende Person mit viel drängenderen Fragen warten musste. Und das alles zwischen der Verabschiedung einer Sekretärin in die Pensionierung und einem Mitarbeitergespräch. Natürlich ist das meine spezielle Situation als Chefarzt. Es gibt andere Chefärzte, die ihre Rolle in der Hierarchie einnehmen und weniger Patienten selber betreuen. Ich will das anders: Ich habe relativ viele Patienten und Visiten, weil ich Doktor geworden bin, um Menschen zu behandeln. 

Wer spricht mehr: der Patient oder Sie?

Ich. Das ist die Berufskrankheit der Ärzte. 

Wie ist es, jemanden zu behandeln, den Sie persönlich kennen?

Schwierig. Ich bin mit meinen Patienten nicht per Du. Aber es gibt Menschen, mit denen ich per Du bin und die dann zu Patienten werden. Das versuche ich auf einem Minimum zu halten.

Worin liegt die Schwierigkeit?

Es gibt eine optimale Distanz zwischen einem Arzt und seinem Patienten. Ist diese zu weit oder zu nah, können Schwierigkeiten auftreten. Bei Bekannten oder Freunden ist die Beziehung zu nah. Die optimale Beziehung ist eine professionelle.

Weshalb wählten Sie als junger Mensch die Fachrichtung Hämatologie? 

Zunächst zog es mich in die Onkologie, ich wurde aber von der Chefsekretärin umgeteilt. Sie spielte bei der Einteilung der jungen Ärzte Schicksal: Der Passweg geht in eine Leukämie-Abteilung. Dort war es anstrengend, aber auch spannend. Die Bilder der genetisch veränderten Zellen faszinierten mich. Und schon bald erlebte ich als halbfertiger Internist, wie es ist, wenn man in einem Gebiet ein bisschen mehr weiss: Man kann dazulernen, sattelfest werden und gut in dem, was man tut. Da wusste ich: Ich will in die Hämatologie.

Erinnern Sie sich an Ihre erste Patientin oder Ihren ersten Patienten?

Ja. Die Frau kam mit einer Leukämie, die schwierig zuzuordnen war. Ich verschrieb ihr eine Chemotherapie, die in den damals verwendeten Dosen eine Schädigung des Kleinhirns verursachte und schwere Bewegungs- und Koordinationsstörungen auslöste. Das zu begleiten, war schwierig: Die alltäglichsten Bewegungen wie das Heben eines Arms gingen nicht mehr. Die Patientin hat ihre Blutkrebserkrankung glücklicherweise überlebt, und später hat sie sich von den Nebenwirkungen der Medikamente erholt. Aber etwas von den Schädigungen ist geblieben.

Löst Ihre Arbeit oft Schuldgefühle aus?

Ja, die ganze Zeit. Das gehört zu meiner Arbeit wie der weisse Kittel. Als Arzt treffe ich zusammen mit dem Patienten eine Entscheidung. Aber wenn die Behandlung lätz herauskommt, hat der Doktor das Falsche empfohlen.

Wie werden Sie mit den Risiken von Fehlentscheiden und Schuldgefühlen fertig?

Die Möglichkeiten von vielen erfolgreichen Behandlungen müssen alles Schwierige aufwiegen. Was nichts an der Tatsache ändert, dass es in Situationen, in denen es mehrere Behandlungsmöglichkeiten gibt, immer bessere und schlechtere Entscheidungen gibt. 

Belastet Sie während der Arbeit die Ungewissheit, ob eine Behandlung tatsächlich erfolgreich verlaufen wird? 

Ich bin mir meiner Verantwortung bewusst. Vernünftig ist, dass heutzutage viele Entscheidungen in Tumorkonferenzen getroffen werden, bei denen mehrere Ärzte zusammensitzen und gute Argumente für oder gegen eine Behandlung einwerfen. 

Die Verantwortung verteilt sich trotzdem nicht auf mehrere Schultern. 

Richtig. Und die sensibleren Patienten merken, wenn der Doktor nicht von der Richtigkeit einer Behandlung überzeugt ist. Sie fragen dann beispielsweise: «Würden Sie mich so behandeln, wenn ich Ihre Grossmutter wäre?»

Ihre Antwort?

Sie sind nicht meine Grossmutter.

Wer ist der bessere Arzt: der Sichere oder der Zweifler?

Das einzuschätzen, ist schwierig. Möglicherweise ist für viele Patienten der Besserwisser mit der klaren Ansage der gute Doktor. Schliesslich will man bei einem schwierigen Entscheid die Sicherheit, dass richtig entschieden wird. 

Und wen haben Sie als Chefarzt lieber in Ihrem Team?

Den Zweifler. Besserwisser sind unerträglich. 

Als Hämatologe kommen Sie Sterbenden besonders nah. Akzeptieren Ihre Patienten grundsätzlich, dass sie sterben müssen?

In Situationen, in denen es dem Ende zugeht, erlebe ich alles: herzliche Situationen, in denen die Erkrankten sich von ihren Familien verabschieden. Aber es gibt auch Menschen, die sich bis zum Schluss gegen das Sterben wehren. Oder es verdrängen.

Wie machen sie das?

Diese Menschen finden Methoden, um den Gesprächen über ihren nahenden Tod auszuweichen. Sie überhören beispielsweise einfach, dass ich sage, dass es nicht mehr viele therapeutische Optionen gebe und dass man fast nichts mehr machen könne und dass selbst das nichts mehr nütze. Stattdessen fragen sie mich, ob ich ihnen raten würde, noch diese und jene Reise anzutreten. Häufig erwähnen sie Projekte in der Zukunft und erwarten von mir, dass sie diese auch umsetzen können. Beispielsweise an ein Konzert zu gehen. Oder auf eine Kreuzfahrt. 

Kränken Sie solche Ansprüche?

Nein. Aber man muss viele Jahre Doktor gewesen sein, um zu lernen, dass das eigene Wissen und man selber als Person nicht wichtig sind und man nur für den Patienten da ist. Aber ich muss auch aufrichtig sein, wenn der Patient fragt, ob er es auf die Kreuzfahrt schaffe, und ihm sagen, dass ich das nicht glaube.

Halten Sie Patienten davon ab, ihr Sterben zu verdrängen?

Wenn jemand nicht über sein Sterben sprechen möchte, habe ich das zu respektieren. Es liegt nicht an mir, jemandem zu sagen, dass sein Leben endlich sei. Und dass er jetzt im Sterbemodell von Elisabeth Kübler-Ross gefälligst von der dritten Phase in die vierte zu wechseln habe. Der Respekt vor dem Menschen verlangt, dass ich ihn berate und für ihn da bin, nicht aber, dass ich ihn zu etwas zwinge, was er nicht will.

Was ist schwierig in der Behandlung von Patienten, die sterben wollen?

Wenn ein Patient auf der Station stirbt, hat er in der Regel noch ganz viele Behandlungen. Er wird beispielsweise noch künstlich ernährt und erhält über eine Infusion Antibiotika. Da kann man nicht jeden Tag in sein Krankenzimmer treten und etwas anderes abstellen oder abräumen. Statt der Salamitaktik ist ein klarer Schnitt gefragt.

Wie machen Sie diesen?

Man steht hin und sagt: «Wir sind jetzt so weit, dass wir sagen, wir hören auf zu kämpfen. Sind Sie auch bereit dazu?» Im besten Fall sind der Patient und seine Angehörigen auch so weit.

Sie betonen die Rolle der Angehörigen.

Ja. Sie müssen den Patienten durch die Krankheit mittragen – aber auch freigeben. Denn heute sterben immer mehr Menschen im Spital nach einer bewussten Entscheidung, die therapeutischen Bemühungen einzustellen. Es gibt dabei grosse Unterschiede. Die West- und Nordeuropäer akzeptieren recht gut, dass die Sterbephase häufig durch einen gezogenen Stecker eingeläutet wird. In anderen Kulturen wie den afrikanischen, in denen lebensverlängernde Therapien nicht vorhanden sind, ist der Tod noch stärker ein natürliches Ereignis. Da ist manchmal schwierig zu vermitteln, wenn wir im Spital Therapien unterlassen. 

Wirken Angehörige grundsätzlich lebensverlängernd?

Ja. Aber es gibt alle Spielformen. Also auch die Situation, in der eine Ehefrau mir im Vorzimmer sagt, sie möchte, dass ihr Mann nicht mehr leiden muss, dass seine Krankheit eine wahnsinnige Belastung für alle sei und sie einwillige, dass er gehen dürfe. Dass das für alle das Beste sei. Und dann spreche ich im Zimmer mit dem Patienten, und er sagt: «Ich mag nicht mehr und würde gerne sterben. Aber wissen Sie: Ich kann meine Frau nicht im Stich lassen. Ich muss weiterkämpfen.» 

Wie schaffen Sie Klarheit?

Ich mache die Türe auf und sage der Frau: «Bitte kommen Sie doch herein, und sagen Sie doch bitte vor Ihrem Mann, was Sie vorhin gesagt haben.»

Klärt sich die Situation dadurch tatsächlich?

Nein. Denn ich rufe die Frau natürlich nicht rein. Solche Situationen benötigen mehr Fingerspitzengefühl.

Wie begegnen Sie suizidalen Wünschen?

Meine Aufgabe als Arzt besteht darin, Krankheiten zu lindern und das Leben zu verlängern, aber auch darin, das Sterben zu begleiten. Wenn ein Patient den Tod noch ein paar Monate hinausschieben könnte, liegt es nicht an mir, zu entscheiden, dass er noch nicht lange genug gekämpft hat.

Leisten Sie Sterbehilfe?

Bei diesen Patienten ist die passive Sterbehilfe nicht so häufig ein Thema. Weil die Krankheiten in der Hämatologie schnell zum Tod führen, wenn man sie nicht behandelt. 

Wie tröstet man einen Krebsbetroffenen?

Man kann ihm weder sein Schicksal noch sein Leiden nehmen. Aber Erkrankte spüren zwischenmenschliche Wärme sehr gut. Deshalb ist Trost enorm wichtig. Zeigen Sie einem Krebserkrankten, dass Sie verstehen, dass er in einer schwierigen Situation ist. Dass Sie für ihn da sind, die Krankheit mit ihm durchzustehen. Dabei können Sie durchaus einmal grobe Wörter in den Mund nehmen und sagen: «Du bist ein armer Cheib mit dieser Scheisskrankheit.» Und sagen Sie ihm, dass er «es gut macht». Um ihm seine Selbstzweifel zu nehmen. Schuldfragen sind bei vielen Krebspatienten ein Riesenthema.

Ist die Schuldfrage kulturell bedingt?

Nein. Das Suchen nach Gründen, weshalb man einer lebensbedrohenden Krankheit ausgesetzt ist, ist universell. Aber es gibt eine typisch schweizerische Frage: Schweizer wollen wissen, inwiefern sie mit ihrem Verhalten zur Erkrankung beigetragen haben. Sie sind dabei sehr detailbesessen: «Habe ich zu wenig Äpfel gegessen? Oder zu viel? Oder zu wenig Birnen? Oder zu viel?»

Was sagt man Angehörigen, wenn sie einen Liebsten verlieren?

Es gehört zum guten Ton, dass man über einen Verstorbenen etwas Gutes sagt. Niemand will hören: Der Krebsbetroffene ist mit grossen Leiden gestorben – zumal das oft nicht stimmt. Die meisten Angehörigen wollen hören, dass der Krebsbetroffene für sein Leben und seine Familie gekämpft hat wie ein Löwe und dass das leider trotzdem nicht gereicht hat. Das gilt sogar dann, wenn der Patient am Schluss palliativ gepflegt wurde. Die Leute sagen dann: «Er hat einsehen müssen, dass es das Richtige ist, nicht mehr weiterzukämpfen, weil der Preis so hoch war und der Gewinn so klein. Aber er hat das gut gemacht.»

Was vereinfacht oder erschwert Ihnen das Abschiednehmen von Patienten?

Abschied nehmen ist Adieu sagen. Das geht – irgendwie. Schwierig ist es, wenn ein Patient an Komplikationen gestorben ist, die ich nicht kommen sah. Und ganz hart sind Obduktionen. Die Leichenschau verschafft eine brutale Klarheit über die Krankheit und was die Behandlung bewirkt hat. Sie bringt uns im Wissen um eine Krankheit weiter. Deshalb sind Obduktionen so wichtig.

An der Pinnwand Ihres Büros hängen ganz viele Todesanzeigen.

Sie stammen von Patienten. Ich sammle auch die E-Mails mit den Todesmeldungen. Ich habe für sie eigens einen Ordner eingerichtet. Die beiden Sammlungen helfen mir, mich an die Menschen zu erinnern. Sie lassen sich nicht einfach wegschieben.

An wie vielen Beerdigungen ehemaliger Patienten nahmen Sie teil?

In den vergangenen Jahren nahm ich nur einmal teil. Bei einem Verstorbenen, der mir nahestand. 

Was haben Sie aufgrund Ihrer Arbeit über das Menschsein gelernt?

Alles. Ich kann mir keine andere Tätigkeit als die meine vorstellen, in der man so viel erfährt über den Umgang des Menschen mit Schicksalsschlägen, Beziehungen, Scheitern und Hoffen.

068 Blick »Halb Mensch, halb Tier«

Der Löwenmensch aus dem deutschen Lonetal war 31,1 cm gross und ca. 40’000 Jahre alt. Er war aus Mammut-Elfenbein geschnitzt und stellte einen Menschen mit dem Kopf und den Gliedmassen eines Löwen dar.

Mischwesen, sogenannte Chimären, gehören zum festen Personal der Mythologien und religiösen Fabeln. Aus dem Christentum kennen wir die geflügelten Postboten und den gehörnten Teufel mit den Bocksfüssen, aus Ägypten stammt die wohl berühmteste Chimäre: die Grosse Sphinx von Gizeh. Solche Statuen waren in zahlreichen Kulturen der Antike verbreitet. Die griechische Variante erwürgte angeblich vorbeiziehende Reisende, wenn sie das von ihr gestellte Rätsel nicht lösen konnten. Heutige Quiz-Shows sind da wesentlich humaner.

Auch andere Mischwesen erfreuten sich grosser Beliebtheit. Kentauren hatten menschliche Oberkörper mit Pferdeleib, Meerjungfrauen Oberkörper mit Fischunterleib. In zahlreichen Höhlenmalereien war es genau umgekehrt, da hatten die Mischwesen Tierköpfe und die Körper von Menschen.

Leider haben nicht alle die Wirren der Jahrhunderte heil überstanden. Viele wurden später von Fanatikern zerstört. Die Grosse Sphinx von Gizeh hatte im 13. Jahrhundert noch eine Nase, doch 1378 fiel sie islamistischen Bilderstürmern zum Opfer. Dass angeblich Napoleons Artillerie die Nase abgeschossen hat, ist ebenso Fake wie René Goscinnys Geschichte, wonach die Nase abgebrochen sei, als Obelix die Sphinx bestieg.

Was früher der Fantasie der Menschen entsprang, entsteht heute in den Gen-Labors. Mit der Einpflanzung menschlicher Zellkerne in tierische Eizellen entstehen sogenannte Cybride. Als erster Staat der Welt hat Japan dem Forscher Hiromitsu Nakauchi die Genehmigung erteilt, solche Mischwesen heranreifen zu lassen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis solche Chimären auch tatsächlich ausgetragen werden. Die Technik ist bekannt, und «alles, was sich ein Mensch ausdenkt, wird eines Tages ein anderer realisieren» (Jules Verne). 

China liegt im Wettrüsten mit den USA im militärischen Bereich noch zurück, im IT-Sektor herrscht Gleichstand, und im Design neuer Mischwesen wird China führend sein, denn dort tragen Wissenschaftler kaum Fesseln. Nur Dissidenten.

Basler Zeitung: Alima Diouf

Basler Zeitung
– 01. Juli 2020
 
«Polizisten helfen uns mehr als radikale Linke»

Eine Betroffene über Rassismus Alima Diouf aus Senegal setzt sich seit Jahren gegen Rassismus in Basel ein. Weisse würden die Schwarzen dabei oft bevormunden, sagt sie.

Katrin Hauser

Frau Diouf, Sie haben am vergangenen Samstag eine Veranstaltung durchgeführt, bei der Polizisten mit Dunkelhäutigen zusammensassen. Kommt das nach dem Tod von George Floyd und den Demonstrationen der «Black Lives Matter»-Bewegung nicht fast einer Verbrüderung mit dem Feind nahe?

Was nach dem Tod von George Floyd geschah, war heftig. Meine Chats quollen über von Anekdoten aus der Kolonialzeit und wie wir Schwarze damals gelitten hatten. Die Leute reissen alte Wunden auf. Ich wollte das irgendwann nicht mehr lesen. Wir müssen doch einen Weg finden, wie wir jetzt und heute in Basel gemeinsam leben können.

Viele Dunkelhäutige sehen das anders. 5000 Menschen gingen am 6. Juni in Basel auf die Strasse, um gegen Polizeigewalt und für die Rechte von Schwarzen zu kämpfen.

Ich war zwar nicht dort, aber ich bin mir sicher, die Mehrheit dieser Leute war weiss. So ist es immer. Vor allem die Radikalen unter ihnen haben eine innere Wut, die sie in solchen Momenten ausleben wollen. Sie schüren den Hass gegen die Polizei – auch in unseren Kreisen. Meinen Leuten habe ich gesagt, sie sollen nicht zu dieser Demonstration gehen. Einige von ihnen haben einen illegalen Aufenthaltsstatus. «Während die weissen Aktivisten abends nach der Demonstration zu Hause gemütlich ihren Tee trinken, seid ihr in Ausschaffungshaft», habe ich ihnen gesagt.

Sie organisieren Anlässe mit der Polizei und schützen gleichzeitig Migranten mit illegalem Aufenthaltsstatus. Das ist eine heikle Gratwanderung.

Ich mache nichts Illegales. Ich gehe nicht zu Demonstrationen, bei denen randaliert wird, und verstecke niemanden vor der Polizei. Ausserdem sind wir immer im Gespräch miteinander: Ich habe sogar mit der Basler Polizei vereinbart, dass keine Personen kontrolliert werden in der Gegend, in der wir gerade eine Veranstaltung durchführen.

Wieso diese Einstellung gegenüber Polizisten, wo doch Schwarze tatsächlich häufiger kontrolliert werden als der Durchschnitt? Immerhin war das der Grund für das Treffen.

Was bei dieser Diskussion einfach nie gesagt wird, ist: Die Polizei in unseren Ländern, in Senegal zum Beispiel, geht viel härter vor. Hier gibt es einen Aufstand, wenn Frauen auf der Johanniterbrücke kontrolliert werden. Bei uns in Senegal wurden kürzlich demonstrierende Mütter mit Schlagstöcken in Busse getrieben. In Basel sitzen die Polizisten mit uns zusammen, um über Rassismus zu sprechen. Sie helfen uns damit mehr als radikaleLinksaktivisten. Diese wollen uns sogar davon abhalten, das Gespräch mit der Polizei zu suchen. Einer von ihnen hat mir im Vorfeld der Veranstaltung vom Samstag eine lange Mail geschrieben, dass das nichts nütze. Daraufhin habe ich ihn ausgeladen. Es ist wieder eine Bevormundung: Weisse wollen uns Schwarzen vorschreiben, wie wir unseren Kampf zu führen haben. Dasselbe Problem habe ich auch mit Beauftragten vom Kanton.

Wie meinen Sie das?

Früher habe ich bei der Rassismuswoche des Kantons mitgewirkt. 2018 hiess es, wir müssten uns einer anderen Organisation anhängen. Die Idee war plötzlich, dass weisse, studierte Leute vorne auf einem Podium sitzen und wir Schwarzen im Publikum. Da mache ich nicht mit. Diese Menschen sind mir schlicht zu weiss, um bei einem Rassismuspodium oben zu sitzen.

Diese Aussage ist rassistisch.

Ja, natürlich. Jeder Mensch ist ein Rassist. Sie sind einer, genauso wie ich einer bin. Wir wachsen damit auf, wird uns anerzogen. Es gibt auch Rassismus unter Schwarzen: Wenn ein Senegalese nicht will, dass seine Tochter einen Nigerianer heiratet, etwa.

Sie setzen sich seit Jahren gegen Rassismus ein. Wie stark ist dieser in Basel verbreitet?

In den 26 Jahren, die ich schon in Basel lebe, kann ich mich nicht an einen Monat ohne abwertende Äusserungen erinnern. Sei es im leeren Tram, in dem ich aufgefordert werde, aufzustehen, oder seien es ältere Schweizer, die mir ins Gesicht sagen: «Geh mal nach Hause, du hast hier nichts verloren. Ihr kostet uns nur Geld.» Solche Erlebnisse rauben mir die Energie, manchmal gehen sie mir noch lange nahe.

Womit wäre den Schwarzen aus Ihrer Sicht am besten geholfen?

Die Leute sollen uns unterstützen, etwa indem sie an unseren Veranstaltungen teilnehmen und ihre Meinung sagen. Auch Basler Politiker sind sehr willkommen. Je mehr Menschen dabei sind, desto besser. Die Leitung sollte aber bei denen bleiben, die auch wirklich betroffen sind.

«Weisse wollen uns Schwarzen vorschreiben, wie wir unseren Kampf zu führen haben»: Alima Diouf. Foto: Dominik Pluess

Was die Basler Polizei dazu sagt

Toprak Yerguz bestätigt, dass die Einsatzzentrale über den Anlass im Klybeck vom Samstag informiert war – wie dies immer der Fall sei, wenn Mitarbeiter der Kantonspolizei teilnehmen. In diesem speziellen Fall achte man tatsächlich darauf, dass nicht während der Veranstaltung oder gleich danach auf dem entsprechenden Gelände Personenkontrollen durchgeführt werden. «Das wäre völlig kontraproduktiv. Schliesslich geht es darum, ein Vertrauensverhältnis aufzubauen.»

Der Verein «Migranten helfen Migranten»

Alima Diouf hat 2015 den Verein «Migranten helfen Migranten» gegründet. Seitdem organisiert sie Anlässe und wirkt an verschiedenen Projekten gegen Rassismus mit. Ihre Arbeit wird vom Kanton Basel-Stadt, von Stiftungen und der Bürgergemeinde finanziert. Die 47-Jährige wurde in Senegal geboren, lebt nun schon 26 Jahre in Basel-Stadt und hat die Niederlassungsbewilligung B.

67 Blick »Gold kann man nicht drucken«

© Blick 24.7.2020 / 


Ende des 17. Jahrhunderts war Frankreich bankrott. Der Sonnenkönig Louis XIV. hatte für seine Kriege fast alle Rohstoffe aufgebraucht, es gab kaum noch Metalle, um Münzen zu prägen. Die Wirtschaft brach zusammen und die Bevölkerung hungerte.

Nach seinem Tod übernahm der lasterhafte Duc d’Orléans im Namen des noch unmündigen Ludwig XV. vorübergehend die Regentschaft und begeisterte sich für die Finanztheorien des schottischen Mathematikgenies und Womanizers John Law. Dieser war nach einem tödlich verlaufenen Duell nach Paris geflüchtet und erläuterte nun an den Spieltischen der High Society seine Theorie, wonach nur Geld aus Papier Frankreich retten könne. Das klang irre, denn damals entsprach der Wert einer Münze genau dem Wert des Metalls, das in dieser Münze steckt. Und nun sollte bedrucktes Papier einen Wert haben?

Der Duc erlaubte John Law, seine Theorie in der Praxis zu testen. Das Experiment gelang. Die Wirtschaft wurde mit Unmengen Papiergeld angekurbelt, der Handel florierte, die Börse boomte, aus ganz Europa kamen Menschen, um am Wirtschaftswunder teilzunehmen. Doch als der Duc heimlich die Druckerpresse anwarf, galoppierte die Inflation davon, und wer es sich leisten konnte, rettete sich in Gold. Bis es verboten wurde.

In den USA durften bis 1971 nur Dollarnoten gedruckt werden, deren Gegenwert in Staatsgold hinterlegt war. Um den Vietnamkrieg zu finanzieren, hob Richard Nixon den Goldstandard auf und warf die Druckerpresse an. Der private Goldbesitz blieb bis 1974 verboten.

Ungenügend gedecktes Papiergeld ist mittlerweile Standard. Wenn Politiker vor der Wahl Versprechungen machen, die gar nicht finanzierbar sind, und nach der Wahl die einfache Regel missachten, wonach man weniger ausgeben als einnehmen soll, flüchten die Menschen in Gold. Denn «Gold beschützt Eigentumsrechte». Das schrieb Alan Greenspan 1987. Nachdem er zum Vorsitzenden der US-Notenbank FED gewählt worden war, galt Gold plötzlich als «barbarisches Relikt».

Auch heute drucken Notenbanken Papiergeld wie Konfetti. Viele Menschen fürchten eine Weginflationierung der Schuldenberge und flüchten in Gold. Denn Gold kann man nicht drucken.


 

Sonntagszeitung: Furioser Thriller

Tages-Anzeiger / Sonntagszeitung / Berner Zeitung

– 19. Juli 2020 10:37

Literatur

Neuer Roman von Claude Cueni

Wie die nächste Pandemie aussehen könnte

Claude Cueni hat noch vor Corona ein Szenario für eine globale Viruserkrankung gezeichnet. Und darüber einen furiosen Thriller geschrieben.

Rico Bandle

«Die grösste Gefahr, die der Menschheit droht, sind nicht Kriege, Meteoriteneinschläge, Klimawandel oder Negativzinsen, sondern eine Pandemie.» Wer das sagt, ist Luis C. Mendelez, ein umtriebiger Professor im neuen Roman von Claude Cueni, der in diesen Tagen herauskommt. Das Erstaunliche daran: der Schweizer Schriftsteller hatte das Buch schon vor der aktuellen Corona-Krise fertig geschrieben.

Mendelez will nichts weniger als die Menschheit vor dem Untergang retten. Und zwar, indem er den Leuten das Immunsystem von Ratten einpflanzt, dem resistentesten Säugetier auf unserem Planeten. Die Nager verbreiten zwar das Virus, erkranken aber selber nicht daran. Cueni macht aus diesem Stoff einen filmreifen, apokalyptischen Thriller, dessen Handlung rund um den Erdball führt – und erst noch hervorragend recherchiert ist.

Das Virus kommt per Schiff nach Europa

Erster Schauplatz ist die britische Antarktiskolonie Südgeorgien, wo eingeschleppte Ratten das Ökosystem zerstört haben. Die Rattenplage auf der Insel ist eine historische Tatsache, ebenso deren Bekämpfung durch Tonnen von Giftködern. Es war die bislang grösste Ratten-Ausrottung weltweit. Bloss: Bei Cueni überleben einige Exemplare, die Jahre später per Schiff nach Europa gelangen und im ohnehin schon rattendurchseuchten London eine Pandemie auslösen. Denn diese Nager tragen ein Virus in sich, das vom Tier zum Menschen übertragbar ist.

Cueni verwebt geschickt verschiedene Handlungsstränge. Da begegnen sich zum Beispiel der Besitzer der grössten Rattenbekämpfungsfirma Londons und eine der Zwangsheirat entflohene Inderin, die in ihrer Heimat Ratten darauf trainiert hatte, TNT und Tuberkulose aufzuspüren. Beide kommen mit Professor Mendelez in Kontakt, der besessen ist von der Idee, die DNA des Menschen zu optimieren. «Hier geht es nicht um Ethik, es geht ums Überleben der menschlichen Rasse», verkündet er. Skrupellos arbeitet er seinem angeblich so hehren Ziel entgegen.

Ob es ihm tatsächlich gelingt, mit der sogenannten CRISPR/Cas-Methode – auch sie ist keine Erfindung Cuenis – die Menschen gegen künftige Pandemien immun zu machen, sei hier nicht verraten. Der Weg dorthin jedenfalls ist so spannend, dass man das Buch kaum aus der Hand legen kann.


 

 

Blick: Brandaktueller Pandemie-Thriller

blick.ch – 17. Juli 2020 22:55

von Claude Cueni

Im Jahr 1775 erreichte der englische Seefahrer James Cook die kalte, unwirtliche subantarktische Inselgruppe Südgeorgien. An Bord waren Kartografen, Abenteurer, Matrosen – und Ratten. Die Männer nahmen die Inseln im Südatlantik für ihren König Georg III. in Besitz und zogen weiter. Die Ratten blieben.

Damals lebten bis zu 100 Millionen Vögel auf den Inseln. Zweihundert Jahre später waren neunzig Prozent ausgerottet. Ratten hatten Küken, Eier und oft auch erwachsene Vögel gefressen und sich explosionsartig vermehrt. Deshalb beschlossen Artenschützer, das einstige Vogelparadies zu retten. Ab 2011 warfen sie mit Helikoptern 200 Tonnen Giftköder über den Inseln ab. Sieben Jahre später sandte man zu Kontrollzwecken Spürhunde aus: Auf Südgeorgien gab es keine Ratten mehr.

«Zombieviren» im Schmelzwasser

Diese Berichte weckten damals mein Interesse, und ich begann, Material für einen möglichen Roman zu sammeln. Ich las Studien über das klimabedingte Abschmelzen der Permafrostböden. Im Schmelzwasser schwimmen Mikroben, die jahrhundertelang im Eis gefangen waren. Biologen fanden in siebenhundert Jahre altem Karibu-Kot Viren, die sie im Labor wiederbeleben konnten. Selbst in dreissigtausend Jahre alten Bohrkernen wurden sie fündig. Wissenschaftler warnten vor sogenannten «Zombieviren und -bakterien».

Covid-19 war noch kein Thema, aber wir hatten Sars und die Vogel- und Schweinegrippe erlebt und wussten, dass elf Prozent aller Nagetiere Infekte auf den Menschen übertragen können. Allein in Rattenflöhen nisten über hundert verschiedene Krankheitserreger.

Ich überlegte: Was wäre, wenn Nachfahren der Cook-Ratten sich infizierten und auf dem gleichen Weg, auf dem ihre Vorfahren gekommen waren, nach England zurückkehrten?

Ratten überall

In den letzten Jahren häuften sich Berichte über Rattenplagen in Metropolen. Ratten sind Kulturfolger. Dort, wo sich Menschen niederlassen, bauen auch Ratten ihre Nester. Denn Menschen lassen ihren Dreck überall liegen und bieten den kleinen Nagern täglich ein Festmahl. Schon deshalb müsste Littering mit empfindlichen Geldbussen bestraft werden. In fast allen Grossstädten ermöglichen verdichtetes Bauen und Klimaerwärmung auch schwächeren Nagern das Überleben. Ratten sind schlau und gut organisiert. Sie besitzen eines der besten Immunsysteme. Selbst auf dem Reaktorgelände von Tschernobyl haben sie überlebt.

Der Mensch ist weniger robust. Über Rattenflöhe kann er sich mit dem Pestbakterium Yersinia pestis infizieren. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) registriert pro Jahr etwa dreitausend Pestfälle, meistens in Afrika, neuerdings auch in der Mongolei. Bei einem bakteriellen Infekt hilft Antibiotika. Bisher war das so. Aber allmählich entwickeln wir Resistenzen, weil die Industrie den Nutztieren vorsorglich Antibiotika verabreicht, damit sie sich nicht gegenseitig anstecken, wenn sie auf engstem Raum zusammengepfercht sind. Gelangt ein Bakterium in die menschliche Lunge, kann sich der Erreger via Tröpfcheninfusion verbreiten wie ein Grippevirus.

Pandemien gefährlicher als Klimaerwärmung

Waren all diese Informationen geeignet, um einen Thriller zu schreiben? Vielleicht, aber ich hatte kein Interesse, eine negative Utopie zu entwickeln. Als Teenager mochte ich solche Stoffe, aber heute bin ich eher Optimist, weil ich die enormen Fortschritte in der Medizin am eigenen Leib erfahre. Global betrachtet geht es der Menschheit wesentlich besser als vor fünfzig Jahren. Mein Agent riet mir: Entscheide dich entweder für Science-Fiction oder für eine Fiktion nahe an der Realität.

Ich entschied mich für Letzteres und las Studienberichte, die darlegten, wie man zukünftige Pandemien in den Griff kriegen könnte. Der Molekularbiologie George M. Church inspirierte mich zur Romanfigur Luis Mendelez, die behauptet, dass nicht Meteoriteneinschläge, Erdbeben, Klimaerwärmung oder Negativzinsen das grösste Problem der Menschheit sind, sondern zukünftige Pandemien. Pandemien aus dem Eis?

Allmählich erkannte ich die Umrisse einer möglichen Story. Aber entscheidend sind nicht die Themen, sondern die Hauptfiguren und ihre Widersacher. Nur wenn man die Helden mag, macht man sich Sorgen um sie. Und das ist das A und O jeder Geschichte. Helden müssen nicht perfekt sein, wir sind es auch nicht.

Manuskript fertig, als niemand etwas ahnte

Ich machte eine junge indische Köchin zur Hauptfigur: Nadi. Sie flieht vor einer Zwangsheirat nach London. In ihrer Kammer freundet sie sich mit einer Albino-Ratte an. Sie kann gut mit Ratten. Da sie unter der Einsamkeit leidet, habe ich ihr Hank geschickt. Doch Hank entpuppt sich als Schlitzohr. Nadi verdankt ihm einiges, aber manchmal hat sie allen Grund, ihn zu hassen. Der Roman erzählt die Geschichte von Nadi vor dem Hintergrund einer Pandemie. Sie hat einen beschwerlichen Weg vor sich. Über dreihundert Seiten weit. Der Weg ist die Story. 

Ende 2017 hatte ich mit dem Manuskript begonnen, im Oktober 2019 wurde es während der Frankfurter Buchmesse den Verlagen angeboten. Noch ahnte niemand, dass der Welt mit dem Coronavirus eine Pandemie bevorstand.

Rohbau für die Fantasie

Meistens schreibe ich an zwei oder gar drei Romanen gleichzeitig und entscheide mich erst nach etwa 40 Seiten, welche Story das Casting gewinnt. Es kommt vor, dass Figuren wie Nadi über sich hinauswachsen und sich selbständig machen. Dann fange ich wieder von vorne an. Obwohl ich bereits den nächsten Roman beendet hatte, dachte ich mir immer noch Varianten für das letzte «Genesis»-Kapitel in Sierra Leone aus.

Wahrscheinlich findet jeder Roman seine Vollendung erst in den Händen der Leserinnen und Leser. Denn sie sind es, die mit ihrer Fantasie Landschaften ausmalen, Räume möblieren und den Figuren Gesichter geben. Ich liefere nur den Rohbau.

Claude Cueni, «Genesis – Pandemie aus dem Eis», Nagel & Kimche, 300 Seiten. Ab heute im Handel.

 

066 Blick »Ratte an Chilisauce«

«Ich habe zum Frühstück Rattenfrikassee (Rats en gibelone) genossen, und ich begreife nicht, wieso ich eine so vorzügliche Nahrung nicht gekannt habe», schrieb der Franzose Geoffroy Saint-Hilaire 1870. Der Pariser war Präsident einer zoologischen Gesellschaft, die Grosses im Schilde führte. Paris war von der preussischen Armee umzingelt. Es gab kein Entrinnen aus dem 82 Kilometer langen Belagerungsring. Die Viertelmillion Schafe im Bois de Boulogne waren bereits verspeist, auch Gepökeltes war aufgebraucht.

Deshalb setzte sich die erlesene Gesellschaft im November 1870 zu einer zehntägigen «Grande Bouffe» (grosses Fressen) an den Tisch und liess sich von den besten Pariser Köchen alles servieren, was in den Gassen frei herumlief: Hunde, Katzen und Ratten. Die Not diktierte das Menü.

In vielen Gegenden der Dritten Welt ist das heute noch so. Ratten gehören dort zum Speiseplan wie bei uns das Wiener Schnitzel. Im Süden Nigerias ernähren sich rund 70 Prozent der Bewohner von Rattenfleisch. In Kambodscha werden während der Saison täglich rund zwei Tonnen Ratten nach Vietnam exportiert. Dort ergab eine Umfrage, dass keiner der Arbeiter über die Gesundheitsrisiken Bescheid wusste. Im verarbeiteten Fleisch wurden krank machende Bakterien nachgewiesen.

Vor einigen Tagen warnte die Uno vor zukünftigen Pandemien, ausgelöst durch sogenannte Zoonosen, von Tier zu Mensch übertragbaren Infektionskrankheiten. Die mobile Gesellschaft beschleunigt die Verbreitung.

Doch selbst wenn es gelingen würde, alle Lebendtiermärkte in Asien und Afrika zu schliessen, sind zukünftige Pandemien kaum zu verhindern. Das klimabedingte Schmelzen der Permafrostböden hat bisher unbekannte Viren und Bakterien freigelegt, die teilweise nach Hunderten von Jahren immer noch infektiös waren. Vor vier Tagen meldete die chinesische Nachrichtenagentur Xinhua, dass bei einem Patienten in der Inneren Mongolei erneut das Pestbakterium Yersinia pestis nachgewiesen wurde.

Einige Molekularbiologen glauben, dass man mit der Anwendung der Gen-Schere Crispr-Cas9 das menschliche Genom optimieren könnte, damit das Immunsystem so robust wird wie das der überlebenden Ratten in Tschernobyl.

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NZZ Der schöne Glanz des Extremismus

Neue Zürcher Zeitung
– 03. Juli 2020
 
Der schöne Glanz des Extremismus
Antifaschismus ist wieder in Mode, auch unter demokratischen Linken. Dabei wird mit einer totalitären Tradition kokettiert

Von der spanischen Revolutionärin Dolores Ibárruri, genannt La Pasionaria, gibt es Hunderte Bilder: die Pasionaria beim Singen eines Arbeiterliedes, die Pasionaria mit Soldaten an der Front im Spanischen Bürgerkrieg, die Pasionaria mit gereckter Faust vor einer riesigen Menschenmasse. «¡No pasarán!», so scheint sie zu rufen, «sie werden nicht durchkommen!»

Dann gibt es aber auch noch andere Bilder der stets schwarz gekleideten Frau, die eher selten zu sehen, aber ebenso charakteristisch sind. Eines zeigt sie 1972 mit dem kommunistischen Diktator Nicolae Ceausescu, der Rumänien mit einer Mischung aus Grössenwahn und brutalsten Polizeistaatmethoden regierte. Ein anderes zeigt sie lächelnd mit ihrem Landsmann Ramón Mercader, der in den 1960er Jahren in Moskau im Exil lebte, als ordengeschmückter «Held der Sowjetunion».

Kultur des Verdachts

Mercader war ebenfalls spanischer Kommunist, und seinen Orden hatte er sich verdient, indem er 1940 nach Mexiko reiste, um Josef Stalins altem Rivalen Leo Trotzki einen Eispickel in den Schädel zu rammen. Das war ganz im Sinne von Dolores Ibárruri. Schliesslich war die glühende Antifaschistin eine ebenso glühende Anhängerin des sowjetischen Diktators Josef Stalin, den sie als «Licht der Freiheit und der Gerechtigkeit» verehrte. Seine realen und imaginären Feinde dagegen betrachtete sie als faschistische Verräter, die «wie Raubtiere» ausgerottet werden müssten.

Mutige Kämpfer gegen das Böse, so lernen wir daraus, können böse Absichten haben. So banal diese Erkenntnis auch sein mag, so schwer ist sie für manche Leute zu akzeptieren. Dies besonders, wenn der Kampf gegen das Böse unter dem Titel «Antifaschismus» geführt wird, der derzeit wieder in aller Munde ist. So ist es innerhalb der Linken seit einigen Jahren Mode, Maifeiern und Reden mit Kampfparolen wie «Nie wieder Faschismus!» oder «¡No pasarán!» zu schmücken. Antifaschisten werden pauschal zu Helden erklärt, und seit dem mutmasslichen Mord an George Floyd ist es selbst für die brave SPD-Vorsitzende Saskia Esken Pflicht, sich «selbstverständlich» zum Antifaschismus zu bekennen.

Die Frage, wer und was damit alles gemeint ist, bleibt bei allem Pathos oft diffus. Mit echter Sorge hat der Antifa-Sprech denn auch nur zum Teil zu tun. Zwar entzündet er sich immer wieder an gefährlichen Bewegungen und Tendenzen, vom jahrelang verharmlosten rechtsextremen Terror über den völkischen Flügel der AfD bis zum faschistischen Revisionismus in Italien. Da der Kreis der Faschismusverdächtigen meist auffällig weit gefasst wird, geht es aber um viel mehr als um berechtigte Warnungen. Es geht um Koketterie, aber auch Identifikation mit einem alten Kampfmittel, dessen Patentante nicht umsonst Dolores Ibárruri heisst.

So ist es kaum Zufall, wenn SP-Politiker wie Cédric Wermuth ihre Reden wider den Kapitalismus, den Sexismus, den Rassismus, die SVP, Trump, Davos und die «liberale Elite» aus FDP und CVP mit Parolen wie «¡No pasarán!» und «Kein Fussbreit dem Faschismus!» spicken, um gleichzeitig an die Einheit der Linken zu appellieren. Oder wenn sich Jungsozialisten mit antifaschistischem Pathos mit Linksextremisten solidarisieren, die sich an Maos Roten Garden orientieren und Milchshake-Attacken auf SVP-Politiker als Akte heroischer Gegengewalt feiern.

Wichtig ist in dieser Weltsicht einzig, ob jemand gefühlsmässig der faschistischen Seite zugeordnet wird oder der antifaschistischen. Ob jemand Gewalt ablehnt und sich an demokratische Gepflogenheiten hält, spielt dagegen bei Freund wie Feind keine Rolle. Diese Logik passt bestens zur gegenwärtigen Woke-Kultur, die ihre Stärke gerne in Form von Shitstorms, Schnellurteilen und der Verehrung seltsamer Heiliger demonstriert. Sie gehört indes schon lange zum Wesen eines militanten Antifaschismus, der das demokratisch-kapitalistische «System» zu delegitimieren versucht, indem er möglichst viele Leute als Faschisten entlarvt. Ob Trump, die Polizei, die SVP oder sämtliche AfD-Mitglieder nach wissenschaftlichen Kriterien wirklich faschistisch sind (selbst politisch unverdächtige Historiker bezweifeln es), ist dabei egal. Denn wo ein neuer Faschismus droht, ist Gewalt legitim, und die Frage nach den wahren Zielen der Gewalttäter ist geradezu obszön.

Die Ursprünge dieses demokratiefeindlichen Antifaschismus gehen in die 1920er und die 1930er Jahre zurück, als der ehemalige Sozialist Benito Mussolini in Italien eine militaristische und rassistische Parteidiktatur errichtete, die in vielen Ländern Nachahmer und Bewunderer fand – namentlich in Deutschland. Für die extreme Linke, die sich in den kommunistischen Parteien sammelte, waren Hitler und Mussolini nur die aggressivsten Büttel des Finanzkapitals, das ihrer Meinung nach auch die Demokratie beherrschte. Folglich richtete sich ihr Kampf gegen den Faschismus von Anfang an gegen den Kapitalismus und die Demokratie, die wie 1917 in Sowjetrussland durch eine Parteidiktatur ersetzt werden sollte.

Wofür sie kämpfen, ist egal

Der Kreis der potenziellen Faschisten war dabei von Anfang an beliebig erweiterbar. Das mussten zuerst die deutschen Sozialdemokraten erfahren, die von den Kommunisten als «Sozialfaschisten» diffamiert wurden. Die Logik dahinter: Weil die SPD den Kapitalismus de facto duldete, war sie laut Stalin der «objektiv linke Flügel des Faschismus».

Die Folgen dieser Fehldiagnose waren desaströs: Adolf Hitler kam 1933 auch dank der Spaltung der Linken an die Macht, Tausende Kommunisten und Sozialdemokraten wurden verhaftet und ermordet. Aus dieser Niederlage trugen die Kommunisten jedoch einen nachhaltigen moralischen Sieg davon. Da das europäische Bürgertum zum Teil offen mit Faschisten und Nazis sympathisierte, vermarkteten sie sich geschickt als einzige wahre antifaschistische Kraft, die Sozialdemokraten und liberale Nazigegner bestenfalls als Juniorpartner duldete. Mit Hitler, so schreibt der französische Sozialwissenschafter und Ex-Kommunist François Furet in seinem Werk «Das Ende der Illusion», erhielt Stalin endlich einen Feind nach Mass. Aufgrund ihres mit zahlreichen Opfern errungenen Prestiges bestimmten die Stalinisten nun nicht nur darüber, wer Antifaschist sein durfte (im Prinzip jeder, solange er die Kommunisten nicht kritisierte), sondern auch, wer Faschist war (im Prinzip jeder, der lästig war oder als Sündenbock gelegen kam).

Statt an der Frage, wofür und mit welchen Methoden die Kommunisten eigentlich kämpften, wurden sie nun laut Furet einzig an ihrer Gegnerschaft zu Hitler, Mussolini und Konsorten gemessen. Selbst liberale Bürger und Intellektuelle glaubten nach 1933, man habe es hier mit echten Verteidigern der Freiheit und der Demokratie zu tun – denn so verkündete es ja auch die stalinistische Propaganda. Das ist umso bemerkenswerter, als Stalin unter Applaus seiner internationalen KP-Anhängerschaft in den 1930er Jahren die schlimmsten Verbrechen verüben liess, die jene des «Dritten Reiches» zunächst weit übertrafen: durch Folter konstruierte Schauprozesse gegen «faschistische» Verschwörer, Massendeportationen, Mordjustiz in Hunderttausenden Fällen.

Genauso unerbittlich machte die Führungsriege der KP Spaniens um Dolores Ibárruri im Spanischen Bürgerkrieg (1936 bis 1939) Jagd auf Andersdenkende in den eigenen Reihen, die mithilfe des sowjetischen Geheimdienstes als faschistische Agenten verfolgt wurden. 1939 entlarvte Stalin den linksextremen Antifaschismus endgültig als Lügengebilde, indem er mit Adolf Hitler einen Pakt zur Aufteilung Europas besiegelte. Weil Hitler diesen Pakt 1941 brach und von der Sowjetunion unter enormen Opfern besiegt wurde, lebte der Antifaschismus stalinistischer Prägung nach dem Zweiten Weltkrieg jedoch wieder auf, mit einem Glanz, der bis heute nachwirkt. Zumal sich Politiker, Journalisten und selbst Wissenschafter gerne blenden lassen: Während der Antikommunismus gemeinhin als böse gilt, weil ihn übereifrige Bürgerliche und rechte Militärregime dazu missbrauchten, um gegen Andersdenkende aller Art vorzugehen, sieht man im Antifaschismus nur das Gute. Dies, obwohl er sich auch nach dem Krieg erneut in seiner vollen Widersprüchlichkeit entfaltete.

Ideologie? Welche Ideologie?

So lobte die Philosophin Susan Neiman kürzlich in der «NZZ am Sonntag» ausgiebig den Nachkriegs-Antifaschismus in Deutschland, der in der DDR «von oben» und in der BRD «von unten» gekommen sei, aber allemal «wünschenswert» gewesen sei. Als ob es hüben wie drüben nur um die Aufdeckung alter und neuer Nazi-Netzwerke gegangen wäre. In Wahrheit liessen Stasi-Chef Erich Mielke und seine Genossen im Namen des Antifaschismus Tausende demokratische Gegner einsperren, Volksaufstände niederknüppeln und einen «antifaschistischen Schutzwall» bauen, der als «Mauer» bekannt ist. Auch westdeutsche Berufsrevolutionäre witterten überall Faschisten, die Gewalt und Terror rechtfertigen sollten – unter anderem gegen Holocaust-Überlebende, die kollektiv für die «faschistische» Politik Israels büssen sollten.

All das waren keine Betriebsunfälle, sondern logische Konsequenzen einer überdrehten Ideologie, die sich jederzeit gegen jeden richten kann. Gleichwohl wird heute kaum jemand misstrauisch, wenn DDR-Nostalgiker, alte Stalinisten, Vermummte und jungsozialistische Eiferer an Demos verkünden, Faschismus sei «keine Meinung, sondern ein Verbrechen». Es klingt ja erst einmal gut, weshalb die Medien lieber von «bunten Protesten» berichten, als sich mit der Ideologie hinter solchen Parolen zu befassen.

Und während Hitler-Bezwinger Churchill und andere Ikonen derzeit postum für ihre Sünden büssen müssen, wird Dolores Ibárruri bis heute als Grande Dame des Antifaschismus verklärt, als Demokratin, deren Verstrickungen in den Stalinismus höchstens anzutönen oder als vorübergehendes Problem zu betrachten sind. Für manche Jungsozialistinnen ist sie gar ein Vorbild, das die Linke «einen» wollte. Auf die Idee, das berühmte Denkmal der Pasionaria in Glasgow mit Warnhinweisen zu versehen, ist die Generation Woke dagegen noch nicht gekommen.

«¡No pasarán!»: Im Spanischen Bürgerkrieg richtete sich dieser Schlachtruf gegen Faschisten und gegen alle möglichen Feinde.

065 Blick »Schwarze Sklaven, weisse Sklaven«

«Der König dieses Gebietes hält eine grosse Zahl von Sklaven und Konkubinen.» So berichtet der Geograf Leo Africanus 1510 über seinen Besuch in der afrikanischen Stadt Gao. Ihren kometenhaften Aufstieg verdankte die Hauptstadt des Songhai-Reichs der geografischen Lage am östlichen Nigerbogen und dem Import von Pferden, Waffen und Salz aus Nordafrika. Bezahlt wurde mit Gold und schwarzen Sklaven, die von schwarzen Jägern eingefangen wurden.

Araber versklavten Europäer

Anmerkungen 01 zu »Genesis«

Der US-amerikanische Molekularbiologe George M. Church hat mich vor zwei Jahren zur Romanfigur »Mendelez« inspiriert. Er gehört zu den Pionieren der Genom-Forschung und entwickelte Techniken zur DNA-Sequenzierung.

Die Hauptfigur des Romans »Genesis« ist jedoch eine junge indische Köchin, die vor einer Zwangsheirat nach London flüchtet.

Gestern publizierte Focus ein Interview mit George M. Church. Hier ein Auszug, am Ende der Link zum vollständigen Interview:

 

FOCUS: Ihr Labor zählt zu den Pionieren bei der Genschere Crispr/Cas9. Könnte jemand in absehbarer Zeiteinen Nobelpreis dafür erhalten?

Church: Den gab es kürzlich für das Genome Editing, das die DNA von Pflanzen, Tieren und Menschen zielgerichtet verändert. Dazu dient auch Crispr/Cas9. Ich glaube nicht, dass in einem so kleinen Abstand ein Nobelpreis für eine Sache aus demselben Bereich verliehen wird.

FOCUS: Sie arbeiten daran mit, das ausgestorbene Mammut in arktischen Regionen wiederauferstehenzu lassen. Worin liegt der Sinn dieses Vorhabens?

Church: Das ist nur ein kleiner Teil von dem, was wir tun. Aber ich selbst habe aus Sibirien Proben von sechs eingefrorenen, 43.000 Jahre alten Mammuts mitgebracht und ausgewertet. Die entscheidenden Gene überführen wir in asiatische Elefanten. Sie sind sehr eng mit Mammuts verwandt. Wenn deren Nachkommen auf dem Tundraboden grasen, verwandelt er sich langsam in jene Graslandschaft zurück, die er früher war. Diese Bodenbedeckung bindet deutlich mehr Kohlendioxid.

FOCUS: Das Ganze ist ein Klimaschutzprojekt?

Church: Zu 99 Prozent, ja. Vielleicht rechnetes sich das eines Tages auch ökonomisch.

https://www.focus.de/gesundheit/coronavirus/kampf-gegen-pandemie-samstag_id_12113697.html

064 Blick »Geliebte Monster«

©Blick 12.6.2020

«Gorilla, eine Negerin entführend» nannte Emmanuel Frémiet (1824–1910) seine Bronzefigur, die er für die Ausstellung im Pariser Salon einreichte. Die Jury war schockiert. Im gleichen Jahr hatte bereits der Naturforscher Charles Darwin mit seiner Evolutionstheorie die Gemüter erhitzt. Die Preisrichter hielten sich an die damalige Political Correctness und verbannten den Gorilla hinter einen Vorhang. Die «erzieherische Massnahme» war erfolgreich. Frémiet erschuf zwar erneut einen Affen, gab ihm aber eine weisse Frau zum Frühstück und nannte das Werk «Gorilla, eine Frau entführend». Er erhielt dafür prompt die Ehrenmedaille.

Frémiets bronzener Affe inspirierte zahlreiche Autoren. Kein Geringerer als Edgar Wallace schrieb ein Drehbuch mit dem Arbeitstitel «Die Bestie». Er verstarb noch vor dem Happy End. Überlebt hat nur die Legende, er habe das erste Film-Monster erschaffen.

Das eigentliche Original entstand 1933, «King Kong und die weisse Frau», damals der bis anhin erfolgreichste Kinostart. Da Produzenten zur Risikominimierung gerne auf Fortsetzungen und Neuverfilmungen setzen, gibt es für Monster kein Verfallsdatum. Aber Konkurrenten. Sie sind etwas kleiner, unsichtbar und nisten sich als blinde Passagiere im Organismus von Millionen Menschen ein. Solche Horrorszenarien sind beliebt, deshalb stürmen heute selbst alte Pandemie-Filme wieder die Top Ten der Streamingdienste.

In «Outbreak»(1995) stammte das Virus von Affen und wurde nicht in Wuhan, sondern in einem US-amerikanischen Labor weiterentwickelt. Auch in Danny Boyles «28 Days Later» (2002) sprang ein Affen-Virus auf den Menschen über und infizierte ihn mit «Wut».

In den letzten Monaten brauchte es keinen Infekt, um Menschen in Wutbürger zu verwandeln. Die einen sorgten sich um Lohneinbussen oder Jobverlust, andere hatten in ihrer Jugend nie gelernt, Einschränkungen zu akzeptieren, und nannten die Quarantäne «Isolationshaft», während sie mit einer Tüte Popcorn «Godzilla II» schauten.

Ende Jahr soll King Kong gegen Godzilla antreten. Falls die beiden keine halbe Milliarde Dollar einspielen, werden sie frühzeitig pensioniert. Als Nachfolger empfehlen sich Dinosaurier und Covid-20.

© 2020 NZZ: Corona-Krise in 5 Episoden

Der Koch, sein Chef und das Virus:

Hat der Bundesrat in der Krise auf die richtigen Experten gehört?

Hat die Schweiz zu spät und zu heftig reagiert?

 

Die Corona-Krise in fünf Episoden.

 Von Stefan Bühler, Anja Burri, Michael Furger, Lukas Häuptli, Peter Hossli, Theres Lüthi, Franziska Pfister, Rafaela Roth und Rahel Eisenring (Illustrationen)

06.06.2020, 21.00 Uhr

 

Die Schweiz in der Corona-Krise, das könne man mit einem Flugzeug vergleichen, sagt der Epidemiologe Marcel Salathé. Es gibt einen Defekt an Bord, die Maschine beginnt zu sinken. Die Passagiere spüren, dass etwas nicht stimmt. Aber die Piloten erklären über den Bordlautsprecher, alles sei in bester Ordnung. In Reihe 34 sitzen zwar ein paar Leute, die realisiert haben, was passiert, aber was sie sagen, gelangt nicht bis zu den Piloten ins Cockpit.

 

Salathé sagt zwar keine Namen, aber es ist klar, wen er meint: Einer der Passagiere in Reihe 34, die angeblich genau wussten, was passiert, ist er selbst. Und die Leute im Cockpit, die nicht hätten hören wollen, das sind für Salathé der Bundesrat und die Spitzen des Bundesamtes für Gesundheit, in erster Linie Daniel Koch, der Corona- Verantwortliche.

Wenn man die Geschichte der Krise in der Schweiz auf ein paar wenige Wahrheiten herunterbrechen will, dann ist eine davon der tiefe Graben zwischen den Epidemiologen an den Hochschulen und den Beamten in Bern. Beide Seiten sind davon überzeugt, dass die andere Seite die Situation falsch eingeschätzt hat. Das wäre an sich kein Problem, aber nach allem, was wir heute wissen, wurde die eine Seite von der Politik gehört und die andere nicht.

 

Die Abneigung des Praktikers Daniel Koch gegenüber den Wissenschaftern könnte ein zentraler Grund dafür gewesen sein, dass der Bundesrat lange zögerte und dann unser Land innert weniger Tage zum Stillstand bringen musste – mit all den negativen wirtschaftlichen Folgen, die wir wohl noch lange spüren werden.

Es war eine klassische Vollbremsung: Sie kam spät, und sie war stark. Wieso hat man nicht früher gebremst? Hätte man damit vielleicht den Lockdown verhindern können? Was passierte in den entscheidenden Tagen in den Konferenzsälen in Bern und den Sitzungszimmer der Grossbanken? Warum gab es zuerst keine Masken und nun Hunderte Millionen?

 

Wie Wissenschafter den Bundesrat zu warnen versuchten und an alten Seilschaften scheiterten.

 

Was auf die Welt und damit auf die Schweiz zukommen sollte, war schon früh ziemlich klar, genauer gesagt am 5. Januar. Die Weltgesundheitsorganisation WHO setzte eine Warnung ab: «Pneumonia of unknown cause – China». Sie wurde registriert sowohl im Bundesamt für Gesundheit in Köniz bei Bern als auch bei den Epidemiologen an den Universitäten.

Von diesem Moment an gibt es zwei verschiedene Verhaltensmuster: hier die Wissenschafter, die bald zum Schluss kommen, dass die Lage schnell sehr ernst werden könnte, dass das Virus sich weltweit ausbreiten würde, dass es viele Toten geben könnte. Dort die Bundesverwaltung und die Politik, die weitermachen wie gehabt, zum Beispiel die freisinnige Nationalratspräsidentin Isabelle Moret, die am 12. Januar zu einer fünftägigen Reise nach China aufbricht, um das 70-jährige Bestehen der diplomatischen Beziehungen zu China zu zelebrieren.

 

Moret jettet kreuz und quer durchs Land und reist am 17. Januar wieder zurück ans World Economic Forum nach Davos. Dort erzählt sie am Rande eines Empfangs, dass sie unter anderem einen Minister getroffen habe, der tags zuvor noch in Wuhan weilte. Sie erzählt es lachend, mit einem wohligen Gruseln, so scheint es. Der Ernst der Lage ist bei ihr noch nicht angekommen, so wenig wie bei fast allen anderen WEF-Teilnehmern.

Gesundheitsminister Alain Berset sagt in Davos zu einer allfälligen Corona-Pandemie: «Wir sind sehr gut vorbereitet.» Es ist der 22.  Januar. Am nächsten Tag riegelt die chinesische Behörde die Millionenstadt Wuhan ab. Aus dem Bundesamt für Gesundheit heisst es erstmals, man sei «eher beunruhigt».

Wenige Tage später, am 29. Januar, spricht der Bundesrat in seiner Sitzung erstmals ausführlich über das Virus. Es hat sich bereits in 17 weitere Länder verbreitet und Europa erreicht: Frankreich meldet die ersten Fälle, Bayern verzeichnet einen ersten positiven Test. In Wuhan sind es rund 4500 Infizierte und über 106 Tote. Der Bundesrat berät Massnahmen für Gesundheitskontrollen an Flughäfen. Berset rapportiert die Aktivitäten des BAG: Man stehe in Kontakt mit den Kantonsärzten, Informationen für Einreisende aus China würden aufgeschaltet, eine Hotline eingerichtet. Danach folgt die erste Februarwoche, und Bundesbern verreist in die Sportferien.

Es ist die Zeit, in der die Situation zu eskalieren beginnt und die Erkenntnisse der Wissenschaft sich verfestigen. Die beiden Epidemiologen Christian Althaus und Julien Riou veröffentlichen am 30. Januar eine Studie im Wissenschaftsjournal «Eurosurveillance». Eine zentrale Erkenntnis darin: Das neue Virus hat das Potenzial, sich global auszubreiten. «Es war klar, dass es nicht gut ausschaut», sagt Althaus. Als ihm die Resultate vorliegen, verkauft er sein Aktienportfolio. Die Studie wird weltweit zitiert. Am gleichen Tag erklärt die WHO einen «Notfall im Bereich der öffentlichen Gesundheit von internationaler Bedeutung». «Ab diesem Zeitpunkt hätte man in der Schweiz eine Task-Force zusammenstellen müssen», sagt Althaus heute. Doch im Bundeshaus passiert nichts. Die Bundesratssitzung fällt ferienhalber aus.

 

Unter den Wissenschaftern breitet sich Frustration aus. Man fragt sich, ob das BAG den Ernst der Lage begreift, ob dort epidemiologisches Wissen ausreichend vorhanden ist. Ob man überhaupt Interesse hat an einem Austausch mit der Wissenschaft. Tatsächlich spricht vieles dagegen. Christian Althaus meldet sich bereits im Januar mehrmals beim BAG und bietet Hilfe an. Er ruft Koch direkt an, mailt ihm seine Studie ein paar Tage vor der Veröffentlichung und schreibt, er könnte «beim Auftreten von Sekundärinfektionen in der Schweiz hilfreiche Informationen liefern».

 

Später schreibt er einen Brief an den Bundesrat. Koch wird später gegenüber der «NZZ am Sonntag» sagen: «Herr Althaus hat nie versucht, mich zu kontaktieren, und hat nie beim BAG eine Warnung abgegeben.» Stattdessen sei er mit seinen Modellen sofort zu den Medien gegangen. Doch die E-Mails von Althaus liegen vor. Was Koch sagt, stimmt nicht.

Es scheint immer klarer: Der oberste Pandemieverantwortliche, 65- jährig und kurz vor der Pensionierung, will mit den jungen Epidemiologen nichts zu tun haben. Er ist davon überzeugt, dass ihre Forschung wenig bringt. Die Modelle von Althaus und seinen Kollegen hätten zu wenige Grundlagen für eine seriöse Voraussage und basierten auf unausgereiften Algorithmen, sagt er. Die theoretischen Ansätze der forschenden Wissenschaft taugten in der praktischen Umsetzung nicht.

 

Er und das BAG setzen auf andere Informationen. «Wir haben 30 Jahre Erfahrung mit Grippekurven. Wir wissen recht gut, welche Voraussagen man bei Epidemien machen kann.» Koch greift auf sein eigenes Netzwerk von Praktikern zurück. In engem Austausch mit ihm steht der Spitalinfektiologe Didier Pittet aus Genf. Auch er sieht der Pandemie gelassen entgegen. Am 26. Februar gibt er der Zeitung «Le Temps» ein Interview und sagt, er erwarte in der Schweiz «ein paar Einzelfälle». Es gebe keinen Grund, alarmiert zu sein. Zu diesem Zeitpunkt ist die Situation im Nachbarland Italien bereits ausser Kontrolle. Schulen, Museen und Universitäten sind geschlossen, ganze Gebiete unter Quarantäne.

 

Das BAG, so viel steht fest, schätzt in diesen ersten Wochen des Jahres 2020 die Gefahr völlig anders ein als die Epidemiologen und die WHO. Und die Behörde ist offenbar nicht bereit, die andere Seite anzuhören. Ein Verdacht drängt sich auf: Könnte es sein, dass der Bundesrat zu wenig umfassend informiert war? Dass er nur die Einschätzung seiner Beamten kannte, die sich auf ihre Erfahrung stützen? Und die Erkenntnisse der Epidemiologen drangen nicht bis ins Bundesratszimmer vor, obwohl zwei der wichtigsten nationalen Forschungsgremien dieses Landes von Epidemiologen präsidiert werden: der Forschungsrat des Nationalfonds mit Matthias Egger und die Akademien der Wissenschaften mit Marcel Tanner.

«Wie ist es möglich», sagt Salathé, «dass man sich eine hochkompetente und teure Wissenschaft leistet, aber in diesem entscheidenden Moment nicht auf sie zurückgreift?»

Für diese Vermutung spricht, dass während des Monats Februar, währenddessen die Schweiz ahnungslos Richtung Lockdown steuert, in Bundesbern nicht viel passiert. Als der Bundesrat nach den Skiferien wieder tagt, beschäftigt man sich mit Reise- und Handelseinschränkungen für China. Man beginnt mit Corona-Tests, es sind wenige, und sie fallen negativ aus. Äusseren Anlass zur Beunruhigung gibt es nicht. Auch die Lage im Ausland scheint unter Kontrolle, die Crypto-Affäre lenkt die Aufmerksamkeit weg von Corona.

Derweil schliesst sich aus Sicht der Wissenschafter ein Zeitfenster, währenddessen man den Lockdown hätte verhindern können. So sagt es jedenfalls Marcel Salathé. «Die Wahl zwischen dem Kollaps des Gesundheitswesens und dem Lockdown mit wirtschaftlichem Schaden wäre nicht nötig gewesen.» Es hätte für eine Zeitlang eine dritte Option gegeben, eine sanftere Bremsung, mehr Normalität, vielleicht ein Zustand wie heute.

«Die WHO hat sehr früh und sehr deutlich kommuniziert, dass man das kurze Zeitfenster nützen sollte, um sich auf einen Ausbruch vorzubereiten», sagt Althaus. «Ich fragte mich manchmal, ob die verantwortlichen Stellen in der Schweiz die Pressekonferenzen der WHO verfolgt haben.»

 

Zwei Fragen stellen sich: Was hätte man denn im Februar, als noch Zeit war, tun müssen, um die Vollbremsung zu verhindern? «Man hätte alles versuchen müssen, um die Übersicht über die Infektionsketten nicht zu verlieren», sagt Salathé. «Man hätte intensiver testen müssen. Dafür hätte aber der Bund die Versorgung mit Tests und Hygienemasken schon Ende Januar an die Hand nehmen müssen. Eine frühere Schliessung der Grenze, insbesondere zu Italien, hätte auch geholfen.»

 

Die zweite Frage lautet: Hätte man die Krise besser überstanden, wenn der Bund besser auf die Epidemiologen gehört hätte? Die Frage kann man nicht beantworten. Fest steht: Das wichtigste Ziel, nämlich zu verhindern, dass das Gesundheitswesen kollabiert, hat das BAG erreicht. Dazu kommt: Auch die Szenarien der Epidemiologen können danebenliegen – taten sie zum Teil. Aber das Problem ist, dass sie offenbar gar nicht beachtet wurden.

So entschliessen sich Althaus und Salathé, ihre Warnung öffentlich auszurufen. Es ist Ende Februar, als Althaus der NZZ ein vielbeachtetes Interview gibt. «Ich konnte nicht verstehen, dass man die Epidemie einfach auf uns zukommen liess, als ob nichts wäre. Darum habe ich mich dazu entschlossen.» Am 26. Februar erscheint das Interview. «Man muss nicht die halbe Schweiz unter Quarantäne stellen» lautet der Titel. Von anderen Medien wird vor allem die Zahl «30 000 Tote» aufgegriffen, welche die beiden NZZ-Journalisten als mögliches Szenario nennen und zu dem Althaus bemerkt: «Ein solches Worst-Case-Szenario ist nicht ausgeschlossen.»

Noch während das Interview für die Publikation vorbereitet wird, merkt man im Departement des Inneren von Alain Berset, dass sich die Welle nicht mehr verhindern lässt. Es ist der 25. Februar, der Tag, an dem der Bundesrat von den Ereignissen mitgerissen wird.

 

  1. Die Reaktion: Ein Flug nach Rom

Wie Alain Berset über den Alpen den Ernst der Lage erfasste und der Bundesrat von den Ereignissen mitgerissen wurde.

 

An diesem Dienstag, 25. Februar, um die Mittagszeit hebt in Bern- Belp der Bundesratsjet ab. An Bord: Gesundheitsminister Berset, zwei Kaderleute des BAG, zwei Beraterinnen aus Bersets persönlichem Stab sowie sein Kommunikationschef. Destination: Rom. Die italienische Regierung hat Minister der Nachbarstaaten sowie Deutschlands eingeladen, um zu demonstrieren, wie gut Italien auf die Krise vorbereitet ist. «Es sollte eine PR-Aktion des Gesundheitsministers werden», heisst es aus dem Kreis der Reisegruppe. Doch das Treffen gerät zum Desaster.

Praktisch gleichzeitig wird bekannt, dass in der Schweiz erstmals eine Person positiv getestet wurde. Der Chef des BAG, Pascal Strupler, und Daniel Koch treten um 17 Uhr in Bern vor die Medien und versuchen zu beruhigen. Für die Bevölkerung bestehe «zurzeit ein moderates Ansteckungsrisiko», sagt Strupler. Koch erklärt auf die Frage, ob nun die bevorstehende Basler Fasnacht abgesagt werden müsse: «Im Moment ist nicht vorgesehen, dass man die Massnahmen nun verschärft.»

 

Der Satz ist in dem Moment, in dem er gesagt wird, Makulatur. Denn in Rom wird Berset und seinen Begleitern klar, dass die Behörden in Italien die Kontrolle über die Epidemie verloren haben. «Wir wurden uns bewusst, dass die Lage gerade explodiert», sagt einer, der dabei war. Mit dieser Erkenntnis kehrt die Delegation am späten Abend nach Bern zurück. So spät, dass es nicht mehr reicht, um für die Bundesratssitzung vom nächsten Tag schriftliche Unterlagen zu erstellen. Für Berset ist auf dem Rückflug über die Alpen klar, dass er in den Krisenmodus schalten muss.

Am Mittwoch, 26. Februar, orientiert Berset seine Regierungskollegen mündlich. Auf Freitag wird eine geheime Sitzung angesetzt. Bis dahin bereitet Berset mit seinen Beratern die ersten Massnahmen vor. Sein Stab besteht aus knapp zehn Personen, die sich auch in normalen Zeiten jeden Morgen um 8 Uhr zur Sitzung treffen, intern «die Morgenandacht» genannt. Während der Corona-Krise finden diese Treffen im Sitzungszimmer im Parterre des Innendepartements statt, an einem ausladenden Tisch – so gross, dass die Distanzregeln eingehalten werden können.

Hier erhalten Bersets Anträge an den Gesamtbundesrat den letzten Schliff. Am Freitag, 28. Februar, geht er mit zwei wichtigen Vorschlägen in die Regierungssitzung: Er beantragt, die «besondere Lage» auszurufen, und schlägt vor, Veranstaltungen mit mehr als 1000 Personen zu untersagen. Die Regierung stimmt zu, womit die Absage der Basler Fasnacht besiegelt ist.

In diesem Moment agiert der Bundesrat schneller als die anderen Regierungen in Europa und glaubt, sich mit den Massnahmen etwas Luft verschafft zu haben. In der Woche darauf nimmt er nur noch Retuschen vor. Er entsendet zwei Armee-Ambulanzen zur Unterstützung ins Tessin. Die Stimmung in diesen Tagen ist geprägt von einer «maximalen Ungewissheit».

In Italien ist die Seuche ausser Kontrolle, in der Schweiz hingegen ist die Lage noch ruhig, zumindest oberflächlich. Am 4. März treffen sich die kantonalen Gesundheitsdirektoren in Bern. Es gibt Sandwiches im Plastiksäckchen, die Stimmung ist angespannt, die Meinungen gehen auseinander. Zürich hat noch keine einzige Massnahme erlassen, der Tessiner Gesundheitsdirektor fordert, die Grenzen zu schliessen.

 

Doch eine Grenzschliessung ist für den Bundesrat nicht nur eine medizinische, sondern in diesem Moment auch eine hochpolitische Frage. Die Abstimmung zur Begrenzungsinitiative steht an, die Tessiner Spitäler sind auf die Grenzgänger angewiesen. Kein Nachbarland hat bisher zu diesem Mittel gegriffen. Soll man wirklich dichtmachen? «Die Situation war mit keiner anderen zu vergleichen», sagt die Waadtländer Gesundheitsdirektorin Rebecca Ruiz. «Es gab permanente Unsicherheiten, ein Projekt ohne Meilensteine, ohne Anfang und ohne Ende.»

Rudolf Hauri, Präsident der Kantonsärzte, bemerkt: «Nachträglich kann man sagen, man hätte wohl eine Woche früher reagieren können. Doch man muss bedenken, dass sich die Situation bloss abzeichnete, wir aber nicht wussten, wie sie sich tatsächlich entwickelt.»

Kurz bevor die Welle die Schweiz erreicht, sieht man ein Land in politischer Lähmung. Niemand ist sich sicher, was zu tun ist. Will man handeln – oder noch warten? Kommen wir vielleicht um das Schlimmste herum? Was machen die anderen Länder?

Italien beschliesst den Lockdown, Österreich folgt kurz danach. Der Druck aus den Kantonen wird grösser. Das Innendepartement tagt nun fast rund um die Uhr. In einem Prachtsaal des Hotels «Bellevue» hält man Sitzungen mit Kantonsvertretern ab. Im «Bernerhof», dem nicht weniger prächtigen Sitz des Finanzdepartements, treffen sich Krisenstäbe und Parteienvertreter.

Am 13. März verbietet der Bundesrat Veranstaltungen mit mehr als 100 Personen, verhängt Limiten für Gastrobetriebe, führt Grenzkontrollen zu Italien ein, kündigt die Schulschliessung an und präsentiert ein Hilfspaket für die Wirtschaft. Im engsten Kreis denkt man immer noch nicht ans Schlimmste. «Wir glaubten, wir hätten ein paar Tage Ruhe», erinnert sich ein Bundesratsberater. Einmal mehr kommt es anders.

Am Samstagabend schliesst das Tessin alle Restaurants und Geschäfte. Am Sonntag rufen vier Kantone den Notstand aus und verbieten Versammlung mit mehr als 50 Personen. Die Spitzen des Parlaments brechen die Frühlingssession ab, Österreich und Deutschland machen die Grenzen dicht – und die Infektionszahlen explodieren. Erstmals kommen in der Schweiz innert 24 Stunden über 1000 neue Corona-Infizierte hinzu.

 

Noch am Sonntagabend trifft sich die Regierung zu einer Sitzung, beschliesst den Lockdown und mobilisiert die Armee. Laut mehreren Quellen sträubt sich Finanzminister Ueli Maurer gegen jegliche Massnahmen, die über die bisherigen hinausgehen. Auf der anderen Seite bringt Verteidigungsministerin Viola Amherd sogar eine Ausgangssperre ins Spiel. Die Regierung wählt einen Mittelweg. In der Nacht auf Montag werden die gesetzlichen Grundlagen für die Beschlüsse ausgearbeitet und am Montag vom Bundesrat genehmigt. Um 17 Uhr treten Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga, Karin Keller-Sutter, Viola Amherd und Alain Berset vor die Medien.

Dass sich Ende Februar das Virus überall ausbreiten könnte – also auch in der Schweiz – hat der Epidemiologe Christian Althaus mit seinem Modell schon im Januar berechnet. Der Pandemieverantwortliche Daniel Koch hingegen findet noch heute: «Es ist nichts eingetroffen, was Althaus gesagt hat.» Selbst als der Ernstfall da ist, will das BAG von den Epidemiologen offenbar noch nichts wissen – obwohl es zuerst danach aussieht.

Die Behörde hat die Wissenschafter nämlich zu einer Sitzung nach Bern eingeladen. Es ist der 18. März, zwei Tage nach dem Lockdown. Als Marcel Salathé sich zu Hause in Lausanne von seiner Familie verabschiedet, sagt er, er komme vielleicht am Abend nicht zurück. Er rechnet damit, dass der Bund nun eine Task-Force einrichtet und er sich in Bern ein Hotelzimmer nehmen wird. Doch die Sitzung dient nur dazu, die Wogen zu glätten, eine Aussprache, dann werden die Wissenschafter freundlich verabschiedet. Salathé übernachtet doch zu Hause. Drei Tage später twittert er: «In diesen Wochen ist mein Vertrauen in die Politik erschüttert. Nach der Aufarbeitung – was alles falsch lief und wie total veraltet die Prozesse sind – wird kein politischer Stein auf dem anderen bleiben.»

Dass Althaus und Salathé sich öffentlich kritisch äussern, kommt nicht überall gut an. Es sei ihm nahegelegt worden, sich zu mässigen, sagt Salathé. «Ich musste mir überlegen, wie man eine wissenschaftliche Wahrheit vermittelt, ohne jemandem in Bern auf den Schlips zu treten. Das war fast wie in Nordkorea. Man sagte uns: Ihr habt recht, aber wenn ihr es zu aggressiv in den Medien sagt, dann geht die Türe für eine Task-Force zu.» Wer ihm das gesagt, hat will Salathé nicht sagen.

Am 31. März beschliesst der Bundesrat eine Task-Force, Salathé und Althaus gehören dazu.

 

  1. Die Materialschlacht: Masken für Instagram

Warum in der Schweiz zuerst die Masken fehlten und dann die Armee für eine Milliarde Material zusammenkaufte.

 

Am 27. Februar 2020 sitzt Daniel Koch in Bern mit Verantwortlichen des Bundesamts für Gesundheit vor den Medien und sagt einen Satz, der zu den umstrittensten Aussagen dieser Krise gehören wird: «Hygienemasken nützen Menschen, die nicht krank sind, nichts. Es ist nicht bewiesen, dass die Masken eine Wirkung auf die Verbreitung des Virus’ haben.»

 

 Der Satz ist erstaunlich. Schliesslich haben Mitarbeiter desselben Bundesamts zwei Jahre zuvor in den Pandemieplan geschrieben: «Schutzmasken verringern das Übertragungsrisiko und sind deshalb prinzipiell während der gesamten Pandemiewelle einsetzbar.» Darum ist im Plan genau angegeben, wer wie viele Hygiene- und Atemschutzmasken auf Vorrat haben soll: Spitäler, Spitex-Dienste, Arztpraxen, Alters- und Pflegeheime und Privathaushalte. Hygienemasken sind für die Bevölkerung, Atemschutzmasken für das Gesundheitspersonal, gedacht.

Allerdings ist der Pandemieplan in diesem Punkt nicht viel mehr wert als das Papier, auf dem er steht. Bei den Masken-Vorräten handelt es sich nämlich nicht um Vorschriften, sondern um unverbindliche Empfehlungen. Längst nicht alle halten sich daran.

Die Maskenfrage ist eine der verwirrlichsten Episoden dieser Pandemie. Sie steht für eine Planungspanne, an deren Anfang erneut der Verdacht steht, der Bund habe zu spät realisiert, was auf die Schweiz zukommt. Am 12. Februar kommen die Schutzmasken in der Bundesratssitzung zur Diskussion: Ein Konzept für deren Einsatz sei in Arbeit, heisst es, doch «die Verfügbarkeit sei beschränkt». Es kam, wie es kommen musste: Beim Ausbruch der schwersten Pandemie herrscht in der Schweiz massiver Maskenmangel.

Zwar verfügt die Armeeapotheke zu diesem Zeitpunkt über 13 Millionen Hygienemasken. Doch diese reichen – sollte die gesamte Bevölkerung der Schweiz damit versorgt werden – gerade mal für drei bis vier Tage. «Die Spitäler hätten mehr vorsorgen müssen», sagt Daniel Koch heute und räumt ein, dass auch der Bund es unterlassen habe, genügend Schutzmaterial anzulegen. «Solche Verbrauchsgüter sind völlig vernachlässigt worden.»

Könnte es sein, dass Daniel Koch und mit ihm Gesundheitsminister Alain Berset der Bevölkerung nicht aus medizinischen Gründen von Masken abraten, sondern deshalb, weil die Vorräte nie und nimmer reichen. Der Verdacht hält sich hartnäckig – auch wenn Koch heute sagt: «Meine Aussagen zu den Masken hatten nichts mit deren Knappheit zu tun. Wir hätten auf keinen Fall Masken für den öffentlichen Raum empfohlen.»

 

Doch das wird sich ändern, je länger die Krise dauern wird. Koch bleibt zwar bei seiner Haltung, nicht aber die Behörden quer durch die Schweiz. Tramdurchsagen, Plakate, Maskenverteilaktionen an Bahnhöfen – bei geringer Distanz soll man Masken tragen, heisst es, und auch Bundesrat Berset erklärt in einem Interview mit CH Media auf einmal: «Die wissenschaftlichen Erkenntnisse über das Virus machen gewalttätige Fortschritte, und das hat auch einen Einfluss auf die Frage, ob und wann Masken sinnvoll sein können. Ich schliesse deshalb nicht aus, dass wir mit der Lockerung in bestimmten Situationen eine Maske empfehlen.» Wie ist es zu dieser Kehrtwende gekommen?

Am 23. März 2020 steigt in der Schweiz die Zahl der Personen, die an einem Tag positiv auf Corona getestet werden, auf 1455. Das sind, wie man heute weiss, so viele nie zuvor und danach: Es ist der Höhe- oder eher Tiefpunkt der Krise.

In diesen Tagen zieht der Bundesrat die Notbremse und entscheidet, die Verantwortung für die Beschaffung medizinischer Güter, zu denen auch Masken gehören, der Armee zu übertragen. Verteidigungsministerin Viola Amherd setzt Brigadier Markus Näf als sogenannten Beschaffungskoordinator des Bundes ein. Dieser arbeitet im zivilen Leben als Anwalt in einer Kanzlei an der Zürcher Bahnhofstrasse. Der Sprecher des Verteidigungsdepartements, sagt: «Markus Näf kennt den Markt hervorragend. Und er hat Kompetenzen im weltweiten Einkauf von Gütern.»

Näf hat einen Auftrag – und viel Geld zur Verfügung. Er soll für die Schweiz fast 400 Millionen Hygienemasken und 60 Millionen Atemschutzmasken kaufen. Dafür stellt ihm der Bund rund eine Milliarde Franken zur Verfügung. Plötzlich heisst die Losung: Masken müssen her – kosten sie, was sie wollen.

Und die Masken kosten viel. Denn jetzt sind Staaten aus der halben Welt auf der Jagd. Allen voran die USA. Deren Gesundheitsbehörde CDC gibt am 2. April 2020 die Empfehlung ab, dass alle Amerikaner und Amerikanerinnen in der Öffentlichkeit Masken tragen sollen. Auch deshalb ist der Markt völlig überhitzt. «Vor der Corona-Krise hatte eine Hygienemaske zwischen 2 und 5 Rappen gekostet», sagt Markus Näf. «Ende März zahlten wir dafür bis zu 90 Rappen.»

 

Konkurrenten sind allerdings nicht nur andere Staaten, sondern auch Kantone, Gemeinden, Spitäler, Spitex-Dienste und Altersheime in der Schweiz. Das absurde Gegeneinander ist Folge einer sogenannt dualen Beschaffungsstrategie. Es herrscht, wie eine Kadermitarbeiterin eines Spitals sagt, Catch-as-catch-can – Hol dir, so viel du kannst.

Die Zürcher Gesundheitsdirektorin Natalie Rickli etwa beauftragt die Kantonsapotheke mit dem Einkauf von Schutzmaterial. Am 5. April um 17 Uhr 54 landet die erste Maschine aus Schanghai. Der CEO des Spitals Männedorf drängt in die Kabine, reisst eine Kiste auf, kontrolliert das Material. Dann posieren er, Natalie Rickli, der Leiter der Kantonsapotheke und der Pilot für ein Foto. Es erscheint auf Ricklis Instagram-Account.

16 weitere Flüge aus China sollten im Verlauf der Epidemie in Zürich landen, eine mit zwei Produktionsmaschinen an Bord. Sie sollen Masken für die Spitäler produzieren, eine zahlt Zürich, eine das VBS. Wegen Problemen mit der Zertifizierung produzieren sie bis heute nicht. Insgesamt kauft die Zürcher Kantonsapotheke allein 20  Millionen Artikel ein.

Es sind nicht nur Masken, die gefragt sind. Vor den Produktionsstätten der Firma Hamilton Medical in Ittingen und Ems fliegen im März und April Transporthubschrauber der Armee ein und holen Beatmungsgeräte ab. Hamilton hat die Kapazität bis Ende April verdoppelt, die Mitarbeiter arbeiten auch am Wochenende. Ende April sind 600 Apparate ausgeliefert – eine Materialschlacht.

Deshalb zieht der Bundesrat Anfang April zum zweiten Mal die Notbremse: Per Notverordnung zentralisiert er weite Teile des Beschaffungswesens für Medizingüter und Medikamente beim Bund.

Zwischen Ende März und heute kauft der Bund 250 Millionen Hygienemasken. Rund 40 Millionen davon verkauft er zum Selbstkostenpreis den Kantonen und dem Detailhandel weiter. «Wir sind nicht überall mit den Preisen einverstanden, die uns nun in Rechnung gestellt werden», sagt Rickli. 90 Millionen Masken sind gegenwärtig noch in Produktion in China oder auf dem Weg von dort hierher. Und 120 Millionen befinden sich in Lagern in der Schweiz. Diese sind jetzt – fast zwei Monate nach Ausbruch von Corona in der Schweiz – prall gefüllt.

 

  1. Das Geld: Der Anruf kam nach Feierabend

Wie ein paar Banker in neun Nächten das grösste Wirtschafts- Rettungspaket der Schweizer Geschichte schnürten.

 

Es ist Dienstagabend, 10. März. Am Fuss des Zürcher Üetlibergs, im Bürokomplex Üetlihof, macht sich Andreas Gerber auf den Heimweg. Er arbeitet bei der Credit Suisse, ist dort verantwortlich für das Geschäft mit kleinen und mittleren Unternehmen. Gegen 18 Uhr klingelt sein Telefon. Es ist Thomas Gottstein, seit Mitte Februar CEO der CS. «Wir müssen etwas tun für Schweizer KMU», sagt er und skizziert eine vage Idee. Unkompliziert sollen Banken zinslose Darlehen an Firmen vergeben, um sie trotz Lockdown finanziell über Wasser zu halten. «Morgen früh will ich einen Vorschlag», ordnet Gottstein an und stellt Gerber eine Frage: «Wie würdest du Darlehen strukturieren, wenn du die Schweizer Regierung wärst?»

 

Gerber arbeitet mit seinem Team die Nacht durch und skizziert auf zwei A4-Seiten einen Plan, der in 40 Milliarden Überbrückungskredite münden wird. Sie sind Teil eines 72 Milliarden schweren Hilfspakets für die Wirtschaft, des grössten der Schweizer Geschichte. Im Lead sind CS und UBS, die sich Wochen zuvor noch als Feinde im Fall von Tidjane Thiam und Iqbal Khan gegenüberstanden.

Gerbers Team legt in seinem Papier fünf Punkte fest:

  1. Firmen mit Liquiditätsengpässen sollen Geld erhalten.
  2. Der Bund soll Sicherheiten stellen.
  3. Die Banken verteilen das Geld.
  4. Die Refinanzierung geschieht über die Schweizerische Nationalbank.
  5. Der Bund bestimmt eine Stelle, welche die Koordination und Garantieabwicklung unter den Beteiligten sicherstellt.

Am nächsten Tag geht das Papier zu Gottstein, und der setzt sich ans Telefon und holt andere an Bord: Mark Branson, Chef der Finanzmarktaufsicht, Nationalbankpräsident Thomas Jordan, Finanzminister Ueli Maurer. Er habe in eine ähnliche Richtung gedacht, sagt dieser und leitet die Banker an Daniela Stoffel weiter, an die Staatssekretärin für internationale Finanzfragen SIF.

Schliesslich ruft Gottstein Sergio Ermotti an, den CEO der UBS, seinen direkten Konkurrenten. Der Zürcher und der Tessiner reden Englisch. «I actually think it’s a good idea», wertet Ermotti den Vorschlag.

Gottstein instruiert sein Team, die Chefs der Kantonalbanken der Waadt und von Zürich sowie der Raiffeisen anzurufen. Eine aussenstehende Anwaltskanzlei – Baker McKenzie – wird eingeschaltet, um den Prozess juristisch neutral zu unterstützen. Gottstein will verhindern, dass sich die Hausanwälte verschiedener Banken streiten.

 

Bis zum 20. März arbeiten die Banker bis in die frühen Morgenstunden durch. Während Tagen reden sie zuerst miteinander, dann gehen sie mit ihren Anliegen zum SIF. «Das war teilweise eine zähe Angelegenheit», sagt Gerber. «Wir mussten immer wieder warten, bis der Bundesrat einverstanden war. Es galt Notrecht, aber der Bundesrat musste jeweils zuerst Gewissheit haben, was er tun darf.»

Alle Sitzungen laufen über Telefonkonferenzen. Am ersten Tag ist Gerber 13 Stunden am Apparat. Es ist chaotisch. Die Länge der Telefonmeetings wird auf drei bis vier Stunden beschränkt. Als er in einer langen Nacht realisiert, dass er Hilfe braucht für die Abwicklung der Kredite, schickt er eine Mail an die CS-Mitarbeiter und fragt, wer mitarbeiten möchte. Innerhalb von 24 Stunden melden sich 160 Personen, alle aus dem Home-Office.

Die Banken legen fest, die Situation dürfe nicht ausgenutzt werden, um sich gegenseitig Kunden abzuwerben. Firmen müssen die Kredite bei ihrer Hausbank beantragen. Bestehende Kredite dürfen nicht mit Covid-19-Darlehen refinanziert werden. Die Banken harmonieren. «Es ist wie im Krieg, man hat einen gemeinsamen Feind», so Ermotti. «Das Virus zu bekämpfen, hat absolute Priorität.»

Die letzten Fragen zum Rettungspaket werden erst wenige Stunden vor der Medienkonferenz am 20. März geklärt. Bedenken entstehen durch Maurers Forderung, das Geld müsse in dreissig Minuten bei den Kunden sein. «Es war allen klar, dass in dieser Zeit keine detaillierte Kreditprüfung stattfindet», sagt Gerber. Statt die Kreditwürdigkeit zu prüfen, einigt man sich auf eine «Plausibilisierung» des Umsatzes und der weiteren Angaben auf dem Antragsformular.

Am Ende kommt Ermotti mit einem ungewöhnlichen Vorschlag: «Ich habe von Anfang an gesagt, wir Banken sollten an diesen Krediten nichts verdienen, das wird sicher für UBS der Fall sein.» Banken beziehen das Geld bei der SNB zu einem Minuszins von 0,75  Prozent. Geben sie es zinslos weiter, verdienen sie 0,75 Prozent daran, abzüglich Kosten. «Dieser Nettogewinn gehört meiner Meinung nach nicht den Banken», sagt Ermotti. Er einigt sich mit Gottstein, die Gewinne in eine Stiftung für notleidende Unternehmen einzubezahlen.

 

  1. Das Lobbying: Eine PR-Maschine springt an

Wie zwei mächtige Wirtschaftsverbände erfolgreich auf eine rasche Aufhebung des Lockdown drückten.

 

Der Lockdown ist vier Tage jung, der Schock weicht erst langsam. Doch während der Wirtschaftsminister Guy Parmelin in der Bundesstadt Bern vor die Medien tritt und Dutzende von Milliarden Franken Hilfsgelder für die Wirtschaft verkündet, reift in der Finanzmetropole Zürich eine Erkenntnis: Staatliche Unterstützung ist gut, aber ein Ende des Shutdown wäre besser.

Dem Wirtschaftsminister und seinem Staatssekretariat für Wirtschaft Seco trauen sie in Zürich nicht zu, das Ruder in der Corona-Debatte herumzureissen. Es ist keine einfache Zeit für Parmelin, mehrere seiner Familienmitglieder sind an Covid-19 erkrankt. Er versucht, sich in die Debatte einzubringen, verliert sich aber auf Nebenschauplätzen: Er setzt sich in der Regierung für eine baldige Wiedereröffnung der Gärtnereien, Baumärkte und Zoos ein.

 

Doch nicht nur in den Medien, sondern auch im Bundesrat dominiert ein anderer die Diskussion: Gesundheitsminister Alain Berset. Für ihn hat die Gesundheit oberste Priorität. Anfang April gibt er der «Sonntags-Zeitung» ein Interview: Für die Wirtschaft hat er keine guten Nachrichten. Wer zu früh nachgebe, verlängere die Krise, sagt er. Und es sei noch nicht möglich, zu sagen, wann erste Lockerungen möglich würden.

Und so kommt die Maschinerie des mächtigsten Verbandes der Schweiz und bald darauf auch jene der Vertreter Hunderter Hoteliers und Restaurants in Gang: Economiesuisse und Gastrosuisse. Der eine Verband setzt auf vertrauliche Gespräche, der andere auf Poltern in den Medien, und beide sollten mit ihrer Methode Erfolg haben.

«Wir haben uns sehr rasch gefragt: Wie kommen wir aus dieser Krise wieder heraus?», erinnert sich Monika Rühl, Direktorin des Wirtschaftsdachverbandes Economiesuisse. «Es ging natürlich um die Gesundheit der Menschen, aber auch um die Verhinderung gesellschaftlicher Schäden und die Sicherung unseres Wohlstandes.»

Innerhalb des Verbands finden bilaterale Gespräche statt, virtuelle Treffen, grosse Telefonkonferenzen. Am Ende steht ein Plan, er heisst «Leben mit dem Virus. Schrittweise Rückkehr zur Normalität». Die Mitglieder von Economiesuisse formulieren drei Ziele: zusätzliche Verschärfungen vermeiden, die ersten Lockerungen auf möglichst viele Unternehmen ausdehnen und verhindern, dass die Bundesämter die Schutzregeln für die Wiedereröffnung diktieren.

Kurz nach Alain Bersets Interview im April gelingt es den Wirtschaftsvertretern, sich in Bern Gehör zu verschaffen: Nun suchen auch Bersets Mitarbeiter den Kontakt zu den Verbandsspitzen. Anfang April lädt der Bundesrat die Wirtschaftsvertreter in seinen Krisenstab ein. Economiesuisse- Präsident Heinz Karrer telefoniert regelmässig mit den einzelnen Bundesräten, andere Verbandsfunktionäre lassen ihre Kontakte in die Bundesverwaltung spielen.

Am Karfreitag, es ist der 10. April, schickt Economiesuisse schliesslich seinen Wiedereröffnungsplan nach Bern. Sechs Tage später beschliesst der Bundesrat die ersten Lockerungsschritte.

 

Casimir Platzer geht einen anderen Weg. Nach Ostern sitzt der Präsident des Gastronomieverbands wie Hunderte andere Hoteliers und Wirte vor Laptop und Fernseher, um die Pressekonferenz des Bundesrats live mitzuverfolgen. Für sie alle endet der Tag mit einer Enttäuschung. Der Bundesrat schmiedet Pläne für Coiffeure, Gärtner oder Zoos, aber die Restaurants und Hotels erwähnt er mit keinem Wort. Platzer bezeichnet das Schweigen des Bundesrats öffentlich als «Frechheit». Für Berner Verhältnisse ist das eine Eskalation. Aber dafür wird er gehört. Bersets Leute kontaktieren ihn und bitten ihn, weniger konfrontativ aufzutreten. Am 21. April trifft Platzer schliesslich den Gesundheitsminister und kann ihm seine Anliegen erklären.

Am 29. April wird die Wirtschaft erhört: Der Bundesrat hebt den Lockdown schneller auf als geplant. Ab dem 11. Mai können nicht nur Läden, Märkte und obligatorische Schulen, sondern auch Museen, Bibliotheken und Restaurants öffnen. Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga begründet den überraschenden Entscheid mit dem Rückgang der Ansteckungszahlen. Vom zunehmenden Druck aus der Wirtschaft sagt sie nichts.

Presse: Tödliche Bakterien im Permafrost

In Sibirien ist es erstmals seit 75 Jahren zu einem Milzbrand-Ausbruch gekommen. Ein Kind ist an der von Anthrax-Bakterien verursachten Erkrankung gestorben. Insgesamt 23 Menschen wurden infiziert.

Das Leben von Nenzen, einem indigenen Volk im Nordwesten Sibiriens, dreht sich um Rentiere. Mit ihren Herden ziehen die Nomadenfamilien durch die menschenleeren, flachen Weiten der Tundra von einer Weide zur nächsten. Ihre Häuser und traditionelle Kleidung machen sie aus Rentierleder.

Im Winter gibt es keinen besseren Schutz vor arktischem Frost. Das Fleisch der Rentiere wird roh und gekocht gegessen. Ausgerechnet diese Nähe zu den Tieren machte die Hirtenfamilien anfällig für eine gefährliche Infektion, die von Huftieren übertragen wird, den Milzbrand – auch bekannt unter der Bezeichnung Anthrax.

Auf der nordsibirischen Halbinsel Jamal wurde im Juli der erste Ausbruch dieser Krankheit seit dem Jahr 1941 registriert. Mehr als 2300 Rentiere sind bereits daran gestorben. Das gefährliche Bakterium wurde auch auf Menschen übertragen. Ein zwölfjähriger Junge ist am Montag an Darmmilzbrand gestorben. Das war offenbar die Folge des Verzehrs von verseuchtem Fleisch.

Insgesamt rund 90 Menschen wurden in die Krankenhäuser der Region gebracht. Bei 23 von ihnen wurde Milzbrand diagnostiziert. Laut Ärzten handelt es sich in den meisten Fällen um eine Krankheitsform, die durch Hautkontakt zu den Tieren übertragen wird und Geschwüre an der Haut verursacht. Die zweite Form, an der auch der Junge gestorben ist, ist gefährlicher. In diesen Fällen treten bei den Erkrankten blutiger Durchfall und Erbrechen auf, das Sterberisiko ist höher. Die Kranken werden mit Antibiotika behandelt.

Das Ausbrechen der Krankheit begann in Sibirien nach einer außergewöhnlichen Hitzewelle. Im Juni und Juli kletterten die Temperaturen am Polarkreis auf 35 Grad. Anfang Juli meldeten die am See Jarojto lebenden Hirten, dass bei ihnen Dutzende und dann Hunderte Rentiere gestorben sind. Zunächst machten sie die direkte Einwirkung der Hitze dafür verantwortlich.

Doch das Tiersterben hörte nicht auf, als die Temperaturen zurückgingen. Am 23. Juli wurde in dem lokalen sozialen Netzwerk „Vkontakte“ ein Hilfeaufruf gepostet: „In der Nomadensiedlung am See Jarojto, bestehend aus zwölf Häusern, sind 1500 Rentiere gestorben, Hunde sind verendet. Überall stinkt es, Kinder haben Hautgeschwüre.“

Das Bakterium Bacillus anthracis wurde nachgewiesen

Die Menschen seien bis jetzt nicht evakuiert worden. In den Proben, die Behörden bei Kadavern genommen und in Labore geschickt haben, wurde der Milzbranderreger, das Bakterium Bacillus anthracis, gefunden.

Russische Experten gehen davon aus, dass es tatsächlich die große Hitze gewesen sein könnte, die zu dem Ausbruch der Infektion führte. Die Sporen von Bacillus anthracis können jahrzehntelang in Kadavern überleben, die im Permafrost begraben sind. Die ungewöhnlich hohen Temperaturen führten zum Auftauen des Bodens, sodass die Bakterien wieder zum Leben erweckt wurden. Sie konnten an die Erdoberfläche gelangen, dort steckten sich erste Tiere an.

„Der Klimawandel spielt hier eine große Rolle“, erklärte Viktor Malejew, ein leitender Epidemiologe der russischen Verbraucherschutzbehörde, dem britischen Radiosender BBC. „Im Boden wurden vor Jahren tote Tiere begraben. Doch aufgrund des Permafrosts wussten wir lange Zeit nicht, was sich dort alles verbirgt.“

Solche Orte mit alten verseuchten Tierkadavern können nach Einschätzung von Experten auch noch nach 100 Jahren gefährlich sein. Der globale Klimawandel und das dadurch verursachte Auftauen des Permafrostbodens haben also mit großer Wahrscheinlichkeit zu dem Krankheitsausbruch geführt.

Spezialeinheit der Armee verbrennt Tote Rentiere

Nachdem den regionalen Behörden das Ausmaß der Gefahr bewusst geworden war, wurde in der betroffenen Region Quarantäne ausgerufen. Hirtenfamilien wurden evakuiert, sie mussten alle ihre Habseligkeiten in der Tundra lassen. „Stellen Sie sich vor – in einem Moment haben die Menschen alles verloren, den ganzen Besitz, ihre Häuser und Rentiere“, erzählte eine Bewohnerin im regionalen Fernsehen. Nun bekommen die betroffenen Familien Hilfe von Behörden und auch privaten Spendern.

Eine Spezialeinheit der russischen Armee, die für den Schutz vor biologischen Waffen zuständig ist, wurde in die Tundra geschickt. Das russische Fernsehen zeigte Soldaten in ABC-Schutzkleidung, die sich darauf vorbereiteten, mit Anthrax verseuchte Kadaver von Rentieren zu verbrennen.

Ein General erzählte, er wisse nicht, wie lange es noch dauern könne, bis das ganze Ausbruchsareal desinfiziert ist. Tote Rentiere seien im Umkreis von zehn Kilometern um die Nomadensiedlung zu finden. Den Hirten war ja nichts anderes übrig geblieben, als die Gefahrenzone zu verlassen und die Kadaver in der Tundra liegen zu lassen. Nun werden die Soldaten sie alle aufspüren und entsorgen müssen.

40.000 Rentiere wurden geimpft

Die Gegend wurde vom Militär abgesperrt. Vorsorglich sind überdies Impfstoffe für Mensch und Tier in die Region gebracht worden. Nach offiziellen Angaben der Behörden wurden bislang schon rund 40.000 Rentiere geimpft.

Außerdem will man bei dieser Gelegenheit auch nach jenen Orten suchen, an denen vor Jahrzehnten verendete Tiere begraben wurden. Auch dort könnte es theoretisch zu einer Freisetzung von Milzbranderregern zu einem späteren Zeitpunkt kommen.

Milzbrand ist in erster Linie eine Krankheit von Tieren. Sie kann aber auch vom Tier auf den Menschen übertragen werden. Die Übertragung von einem Menschen zum anderen ist allerdings sehr unwahrscheinlich.

Das todbringende Bakterium ist im 20. Jahrhundert in Militärlabors sehr gut erforscht worden, da es grundsätzlich auch als biologische Waffe eingesetzt werden kann. Für einen derartigen Angriff würde man Bakterien in der Luft als Aerosol versprühen. Sie können dann in die menschlichen Atemwege eindringen und zu Milzbrand führen.

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Interview Magazin Persönlich

Serie zum Coronavirus

«Ich lebe ständig in Quarantäne»

Im Teil 18 unserer Serie: Der Basler Erfolgsautor Claude Cueni ist jeden Winter in der Quarantäne. Deswegen kann er über die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel nur lachen.

von Matthias Ackeret

Herr Cueni, wie fest beeinträchtigt die Krise Ihren persönlichen Alltag?
Seit meiner leukämiebedingten Knochenmarktransplantation vor elf Jahren bin ich immunsupprimiert, um weitere Organabstossungen zu verhindern. Ich verbringe deshalb freiwillig jeden Winter in Quarantäne. Im August war eine Behandlung auf der Intensivstation notwendig. Seitdem lebe ich einer Dauerquarantäne. Das ist der Preis fürs Überleben. Ich habe das als neue Normalität akzeptiert und abgehakt. Wenn Angela Merkel nach ihrer 14-tägigen Quarantäre sagt: «14 Tage allein zu Hause, das ist nicht leicht», dann kann ich nur lachen.

Also hat das Ganze keinen Einfluss auf Ihr Leben …
Die Pandemie hat durchaus einen Einfluss auf meinen Alltag. Alle vier Spitäler, in denen ich seit Jahren in Behandlung bin, haben die Termine auf unbestimmte Zeit verschoben. Das ist unangenehm, weil man ja laufend mein Blut kontrollieren und die Medikamente anpassen muss. Angenehm ist hingegen, dass meine Frau unbezahlten Urlaub genommen hat und mir Gesellsellschaft leistet. Sonst hätte das Risiko bestanden, dass sie mir das Virus nach Hause bringt. Ich geniesse jetzt jeden Mittag ihre asiatische Küche und mache mich als «human selfie stick» nützlich, wenn sie ihre Videos dreht.

Sie sind Schriftsteller. Was ist der Einfluss auf Ihre Tätigkeit?
Keinen. Es ist alles eine Frage der Einstellung. Ich brauche keine optimalen Bedingungen, um kreativ zu sein. Ich hatte nie welche. Hätte ich darauf gewartet, hätte ich keinen einzigen Roman geschrieben.

Gibt es Ihnen sogar Inspiration?
Literatur ist immer auch Selbsterfahrung. Seit frühester Kindheit inspiriert mich alles was ich sehe, höre oder lese zu neuen Geschichten. Ich bin mein eigener Hofnarr und damit sehr glücklich.

Sie haben über vieles geschrieben, aber haben Sie sich einmal so etwas wie die jetzige Situation vorgestellt?
Ja. Ich muss mich seit meiner Leukämieerkrankung mit Viren, Bakterien, Keimen und dem Immunsystem beschäftigen. Das hat mich zum Roman «Genesis – Pandemie aus dem Eis» inspiriert, der am 20. Juli bei Nagel & Kimche erscheint. Ich schrieb ihn bereits ein Jahr vor dem Ausbruch der Conora-Pandemie. Für mich war immer klar, dass nicht Meteoriten, Ausserirdische oder die Klimaerwärmung das grösstmögliche Unglück für die Menschheit darstellen, sondern eine Pandemie. 

Lesen Sie in der heutigen Zeit?
Auch hier hat sich nichts geändert. Meine Medikamente haben starke Nebenwirkungen. Spätestens um 2 Uhr muss ich aufstehen und beginne meinen Arbeitstag mit meinem Rehab-Programm. Dann verfolge ich das Geschehen an den asiatischen Börsen. Über den Tag verteilt lese ich jeweils circa drei Stunden die internationale Presse. Diese Woche lese ich die Druckfahnen von «Genesis», und anschliessend lese ich das neue Manuskript «Hotel California», bevor ich es meinem Agenten zur Prüfung schicke.

063 Blick »Howgh, Hallo & Hi«

 

Der Stamm der Lakota Sioux grüsste meistens mit «Howgh», einer Kurzform von «Hau kola» (Hallo Freund). Das wichtigste Begrüssungsritual bestand jedoch nicht aus Worten, sondern aus einer Geste. Mit der erhobenen, offenen Hand signalisierte man: Ich bin unbewaffnet.

In den meisten asiatischen Ländern wird bei der Begrüssung Körperkontakt vermieden: In Japan gilt die respektvolle Verbeugung, in Thailand begrüsst man sich mit dem Buddhisten-Gruss «Wai», man faltet zusätzlich die Hände vor der Brust, und in Indien praktizieren vor allem Hindus das sehr ähnliche «Namaste».

Begrüssungsrituale sind nicht nur kulturell bedingt, sondern unterliegen auch dem Zeitgeist. Wer hätte vor 50 Jahren seinen Chef mit Vornamen begrüsst oder den dreifachen Wangenkuss praktiziert? Kinder wurden noch dazu angehalten, Erwachsenen artig die Hand zu schütteln. Seit Covid-19 wird davon abgeraten.

Eine US-Untersuchung stellte fest, dass in den Handabstrichen der Studienteilnehmer Spuren von insgesamt 4742 Bakterienarten gefunden wurden. Lediglich fünf kamen bei allen Probanden vor. Je nach Immunsystem, Säuregrad der Haut und hormonellen Faktoren waren einige Bakterien harmlos, andere nicht.

Wer auf internationalen Flughäfen auf die Toilette geht, wird immer wieder beobachten, wie Fluggäste die WC-Anlagen verlassen, ohne sich die Hände gewaschen zu haben. Je nach Kultur sind die Hygienegewohnheiten sehr unterschiedlich. Auch in der Gastronomie.

Bargeld-Gegner wittern nun eine neue Chance, denn bei jedem Bezahlvorgang wechseln Banknoten mit circa 3000 Bakterienarten den Besitzer. Doch fast alle bisherigen Epidemien und Pandemien haben ihren Ursprung in den teilweise immer noch offenen Lebendtiermärkten, wo aufgrund der extrem unhygienischen Bedingungen Infektionskrankheiten von Tier zu Mensch übertragen werden.

Dass man in Zukunft Händeschütteln nur noch bei der Besiegelung wichtiger Vereinbarungen praktiziert, ist nicht verkehrt. Denn die nächste Pandemie kommt bestimmt.

Würden wir heute die Begrüssungsrituale ändern, wären sie für die nächste Generation selbstverständlich. Vielleicht gilt dann die japanische Verbeugung, eine Luftnummer von «Gimme five» oder einfach «Howgh» und Handy hochhalten.

Presse: Zombieviren aus dem Eis (Focus)

 

Könnte die nächste Pandemie aus dem Permafrost kommen? Davor warnen in der Tat einige Wissenschaftler. Denn das Schmelzen der Permafrostböden drohe Viren freizusetzen, die im Untergrund lauern.

© Focus 21.4.2020

Aufgrund der Erderwärmung tauen die arktischen Regionen, deren Böden dauerhaft gefroren sind, besonders schnell. Sie umfassen rund 25 Prozent der Landgebiete der Erde. Dabei wird organisches Material freigelegt, das auch Knochen und Gewebe von Tieren enthält, die seit Tausenden von Jahren im Permafrost konserviert sind. Sie können Mikroorganismen enthalten, die bei den steigenden Temperaturen aktiviert werden.

Hinzu kommt, dass sich in den Schmelzwassertümpeln oder -strömen, die in großer Zahl entstehen, neue Gemeinschaften von Mikroben bilden. Diese waren in Eis eingefroren, das kleine Klüfte im Boden füllte, und lagen teilweise jahrhundertelang gewissermaßen im Tiefschlaf. Das große Tauen erweckt sie nun zu neuem Leben.

Unlängst trafen sich mehr als 50 Forscher aus aller Welt zu einer Konferenz in Hannover, um zu diskutieren, was diese Auferstehung von „Zombieviren“ und anderen Mikroben für die Menschen sowie die Entwicklung künftiger Infektionskrankheiten bedeuten könnte. „Das Treffen sollte den Anstoß geben herauszufinden, was aus dem Permafrost auftaut, um uns zu töten“, sagte die Veterinärmedizinerin Susan Kutz von der kanadischen University of Calgary bei der Konferenz gegenüber Medienvertretern.

Viren waren noch nach 700 Jahren im Eis intakt und infektiös

Tatsächlich beschrieben belgische Biologen in einer Studie mit dem sinnigen Titel „Zurück in die Zukunft in einer Petrischale“ bereits 2017, welche Gefahr von im Permafrost eingefrorenen Mikroben ausgehen kann. Sie hatten im 700 Jahre altem Karibu-Kot zwei Viren gefunden, die sie im Labor wiederbeleben konnten.

Zwar handelte es sich um Erreger, die Pflanzen bzw. Insekten befallen, doch „bemerkenswerterweise waren diese Viren auch nach 700 Jahren im Eis noch intakt und infektiös“, schreiben die Autoren. „“In den letzten Jahren häuften sich die Hinweise, dass der Permafrost ein gigantisches Reservoir alter Viren und Mikroben ist, die aktiviert und wieder freigesetzt werden, wenn sich die Umwelt ändert.“ Schon zuvor hatten französische Biologen in einem Bohrkern mit 30.000 Jahre altem Eis ein Riesenvirus entdeckt, dem sie später zusehen konnten, wie es eine Amöbe befiel.

„Wahrscheinlichkeit, dass durch die Kombination dieser Faktoren eine Seuche ausbricht, ist sehr hoch“

Die Studienmitautorin Ellen Decaestecker von der Universität Leuven weist auf eine weitere Ursache für potenzielle Pandemien hin: Das immer tiefere Vordringen von Menschen in bis dahin unberührte Lebensräume in der Arktis, etwa um Rohstoffe auszubeuten, aber auch durch den Tourismus. „“Wir ändern die Umwelt durch die Fragmentierung von Lebensräumen und den Klimawandel sehr schnell“, so Decaestecker. „Die Wahrscheinlichkeit, dass durch die Kombination dieser Faktoren eine Seuche ausbricht, ist sehr hoch.“

Diese könne zwar auch Menschen betreffen, doch zuerst würden vermutlich Tiere befallen, befindet Decaesteckers Kollegin Kutz: „Da sie im Gelände verteilt sind und auch in Gebieten grasen, in denen der Permafrost taut, können sie als Indikator dienen und früh warnen, bevor Menschen betroffen sind.“ Deshalb gelte es auf Krankheiten oder andere Anzeichen bei Tieren zu achten. Da die Bewohner der Arktis, voran die indigenen Völker, sich vielfach von den Tieren ernähren, seien auch sie den Erregern ausgesetzt.

Dass die Warnungen nicht aus der Luft gegriffen sind,  zeigt eine Milzbrand-Epidemie, die im Juli 2016 in Nordsibirien in einem Nomadenstamm ausbrach. Berichten der „Siberian Times“ zufolge wurden insgesamt 72 Menschen in Krankenhäuser gebracht, ein zwölfjähriger Junge starb. Zudem fielen dem Milzbrand-Erreger „Bacillus anthracis“ nach Angaben der Behörden 2300 Rentiere zum Opfer. Es war der erste Ausbruch seit 75 Jahren.

Der Erreger könnte von Tieren stammen, die vor 70 Jahren an Milzbrand verendet waren. Ihre Kadaver versanken im Permafrostboden, der im Sommer an der Oberfläche auftaut. Seitdem ruhten die toten Tiere im Eis – bis sie durch die steigenden Temperaturen wieder freigelegt wurden. Hinzu kam damals eine Hitzewelle im nördlichen Sibirien mit Temperaturen zwischen 25 und 35 Grad, die über vier Wochen lang anhielt.

Die Hitze, vermuten Forscher, reaktivierte die Sporen des Bacillus anthracis, die im Eis hundert und mehr Jahre überdauern können. Sie wurden auf Weideflächen geweht, wo sie Rentiere infizierten, die sich dort zur Sommerweide aufhielten. Die Nomaden wiederum steckten sich durch das Fleisch erkrankter Tiere an.

Allerdings kamen Wissenschaftler um den Mikrobiologen Karsten Hueffer von der University of Alaska Fairbanks in einer weiteren Studie zu dem Schluss, dass das Ende des russischen Anthrax-Impfprogramms im Jahr 2007 bei dem Ausbruch eine größere Rolle spielte als der warme Sommer.

Neben den schlagzeilenträchtigen Zombieviren drohen den Arktis-Bewohnern noch weitere gesundheitliche Gefahren. Denn durch die globale Erwärmung wandern viele Tier- und Pflanzenarten nach Norden. Sie könnten neue Krankheitserreger in die Arktis einschleppen. Dort sind die Gesundheitssysteme in der Regel aber nur schwach ausgebaut.

Das kanadische Internetportal „The Narwhal“ nennt ein Beispiel: Zu den sich nordwärts ausbreitenden Arten zählt der Biber. Die Nagetiere sind aber oft von Parasiten (sogenannte Giardien) befallen, die das „Biberfieber“ auslösen. Es geht mit starkem Bauchweh und heftigen Durchfällen einher. Der Erreger kann auch Menschen befallen. Deshalb wird es zunehmend gefährlich, Wasser direkt aus arktischen Gewässern zu trinken, wie es viele Leute dort tun.  Zudem wandern die Stechmücken, die das West-Nil-Virus übertragen, immer weiter nach Norden.

Zugleich nimmt die Bevölkerung durch den Bau neuer Straßen, die Einrichtung von Minen und die Rohstoffexploration Erdöl ständig zu. Die aus dem Permafrost freigesetzten oder eingeschleppten Erreger treffen somit auf immer mehr potenzielle Wirte. Diese Entwicklung betrifft auch viele Tiere – etwa das Karibu. Dessen Bestände in Nordamerika sanken in den vergangenen 25 Jahren um rund 40 Prozent. Ursache des Niedergangs ist unter anderen die Verbreitung von Parasiten, die sich im Magen-Darm-Trakt der Tiere festsetzen. „Die Rolle von Infektionskrankheiten dabei wurde lange übersehen, und der Klimawandel facht dieses Feuer noch an“, konstatiert die Tierärztin Kutz. 

In einer Hinsicht gibt die kanadische Forscherin aber Entwarnung: Auf der Basis der bisherigen Beobachtungen erscheine es unwahrscheinlich, dass aus dem Permafrost so ansteckende und tödliche Seuchen wie aktuell Covid-19 entstehen. Dafür gebe es einen anderen Grund zur Sorge. Die tauenden Böden könnten Bakterien oder Viren enthalten, denen der Mensch bisher nicht nicht begegnet ist – oder aber solche, auf die er mit desaströsen Folgen traf, wie etwa die Spanische Grippe von 2018. Dann sei er ihnen ziemlich schutzlos ausgesetzt, jedenfalls so lange, bis es Medikamente oder einen Impfstoff gibt.

Interview Nationalmuseum

Interview mit Claudia Walder / Mai 2020

Einführung

Claude Cueni ist erfolgreicher Autor und hat gesundheitsbedingt bereits Quarantäne-Erfahrung. Am 17. August erscheint bei Nagel & Kimche sein neuer Wissenschafts-Thriller «Genesis – Pandemie aus dem Eis». 2021 wird sein historischer Roman «Das grosse Spiel» verfilmt.

Persönliches

  1. Herr Cueni, Sie sind erfolgreicher Autor und wurden in einem Interview als «Quarantäneprofi» bezeichnet. Haben Sie Tipps für «Ungeübte»?

Wer jammert, sollte sich bewusstwerden, dass eine Quarantäne mit vollem Kühlschrank, Internet und Netflix eine Luxus-Quarantäne ist. In armen Ländern können sich die Leute nicht einmal Hamsterkäufe leisten.

Grundsätzlich ist eine Tagesstruktur hilfreich, egal ob man um 5 Uhr oder um 9 Uhr aufsteht: Fitness, Online-Zeitungen, Kontaktplfege über die sozialen Medien, in der Küche Neues ausprobieren. Und endlich mal den Keller aufräumen. Alles kann hilfreich sein.

  1. Hilft Ihnen die Isolation beim Schreiben – oder das Schreiben in der Isolation?

Weder noch. Ich kann rasch in meine Geschichten abtauchen und alles um mich herum ausblenden. Ich brauche keine optimalen Bedingungen zum Schreiben.

  1. Wenn Sie ein Charakter in einem Ihrer Bücher wären, wie würden Sie sich beschreiben?¨

In meinem autobiographischen Roman »Script Avenue« finden Sie einen Beschrieb auf 640 Seiten, ein Leben zwischen Tragödie und Comedy.

  1. In welcher literarischen oder filmischen Geschichte würden Sie sich gerne wiederfinden?

In keiner. Ich habe mich mittlerweile an mich gewöhnt.

  1. Sie sind 2019 Grossvater geworden, welches ist das erste Buch, das Sie Ihrer Enkelin schenk(t)en?

Ich arbeite noch daran. Es heisst »Hotel California – One more thing for Elodie«. Die zweite Fassung ist fertig. Es beinhaltet die Dinge, die ich meiner Enkelin noch gerne gesagt hätte, wenn sie erwachsen ist. Sie ist gerade ein Jahr alt geworden.

  1. Ihr neustes Buch «Genesis» trägt den Untertitel «Pandemie aus dem Eis». Zufall?

Da ich seit zehn Jahren immunsuprimiert bin, sind mir die Themen Viren und Bakterien vertraut. Ich war immer der Meinung, dass das grösstmögliche Unglück nicht Kriege, Meteoriteneinschläge, Klimaerwärmung oder Negativzinsen sind, sondern eine Pandemie, weil eine solche nicht auf Regionen beschränkt ist. Das fertige Manuskript wurde von meiner Literaturagentur bereits im Oktober 2019 an der Frankfurter Buchmesse den Verlagen angeboten. Geschrieben hatte ich es in den zwölf Moanten davor. Also weit vor dem ersten Auftritt von Covic-19.

  1. Wenn Sie das Geschehen in Ihrem Buch mit der jetzt eingetroffenen Situation vergleichen, was haben Sie sich anders vorgestellt? Was ist eingetroffen?

Auch bei mir ist der Auslöser eine Zoonose, also eine Übertragung von Tier zu Mensch. Der Fokus liegt aber nicht auf einem Horror-Szenario im Stil von Steven King, sondern auf einer indischen Köchin, die vor einer Zwangsheirat nach London flüchtet, eine zugelaufene Ratte dressiert und sich infisziert ohne selber daran zu erkranken.

Womit ich nicht gerechnet habe: Dass viele Schwerkranke aus Angst vor Ansteckung eine dringend notwendige Spitaluntersuhung verschieben und so den Zeitpunkt verpassen, wenn der Krebs noch keine Metastasen gebildet hat.

  1. Sehen Sie in der Corona-Krise auch positive Aspekte?

Jede grosse Krise ist ein Crash-Kurs in Philosophie. Sofern man lernfähig ist. Für mich hat sich nicht viel geändert. Da mir meine Frau keinen Virus nach Hause bringen will, hat sie unbezahlten Urlaub genommen und sich in Co-Quarantäne begeben. Wir haben es sehr gut miteinander.

  1. Mit welcher Persönlichkeit (real, historisch oder fiktiv) würden Sie gerne chatten/skypen – oder Briefe austauschen?

Mit John Law of Lauriston, dem Mann, der Geld aus Papier erfand und nie aufgab. Die Romanverfilmung hätte dieses Jahr beginnen sollen, aber eine Filmcrew hat mehr als fünf Personen und am Hof des Sonnenkönigs sollten nicht alle Darsteller einen Mundschutz tragen.

  1. Welche Frage würden Sie gerne einmal gestellt bekommen (bekommen Sie aber nie)?

Ich bin nicht so interessant, dass die Öffentlichkeit noch mehr über mich erfahren müsste.

Museum

  1. Welche Gedanken verbinden Sie spontan mit dem Begriff «Museum»?

Zeitreisen. Neues Lernen. Wissen ist sexy.

12. Besuchen Sie Museen lieber real oder virtuell? Und weshalb/wann welches?

Unbedingt real. Regelmässig besuche ich das Gelände des Römermuseums in Augusta Raurica, das Landesmuseum, wenn ich in Zürich bin und das British Museum in London. Aber ich mag auch skurrile Museen wie das Henkermuseum in Liestal.

  1. Was müssen Museen tun, um Sie in Zeiten der Isolation zu erreichen bzw. relevant für Sie zu sein?

Interesse wecken, neugierig machen. Egal ob es eine Ausstellung zum Thema »Guillotine«, »Reisen in der Antike« oder »Zinnfiguren« ist. In Corona-Zeiten müsste es virtuell sein. Man nutzt Zeit und Budget aber besser für eine reale Ausstellung nach Ablauf des Lockdowns.

  1. Was sollte ein historisches Museum heute sammeln, um in Zukunft einmal die Corona-Krise darstellen zu können?

Ein begehbarer Supermarkt mit leeren Regalen, im OFF Nachrichten, in jedem neuen Ausstellungsraum ein vermummter Aufseher, ein Bett auf einer Intensivstation, ein Grabmal nach der Vorlage von Auguste Bartholdis Voulminot-Skulptur in Colmar, ein Rehrudel in einer leeren Bar, ein Kurier auf dem Velo, Food-Delivery. Ein Vergleich mit anderen Pandemien in chronologischer Folge.

  1. Welches ist Ihr Lieblingsmuseum? Welche ist Ihre Lieblings-Museumwebseite? (Sind ja nicht unbedingt das Gleiche.)

Mein eigenes Museum war mir natürlich stets am liebsten. Ich hatte zahlreiche Schaufensterpuppen historisch korrekt eingekleidet und im Wald hinter dem Haus eine römische Mansio gebaut, eine römische Herberge. Der Architekturhistoriker Otto Lukas Hänzi hatte sie entworfen. Die meisten Gegenstände stammten aus Werkstätten, die normalerweise für Museen arbeiten. Es gab einen Keltenwald mit Totenköpfen in den Bäumen, ich wollte das alles der Öffentlichkeit kostenlos zur Verfügung stellen, aber der Kanton hat mir dann verboten, im eigenen Wald weiterzubauen.

Nachhaltig beeindruckt hat mich vor 20 Jahren auch der vor acht Jahren umgebaute »MuséoParc Alésia« im Burgund mit den nachgebauten Belagerungsringen um Alesia im Maßstab 1:1.

Meine Lieblingswebseite ist natürlich die vom Money Museum in Zürich. Die Geschichte des Geldes ist ja auch die Geschichte der Zivilisation und Thema meines Romans über die Erfindung des Papiergeldes.

  1. Gibt es ein Museum, in dem Sie oder ein Werk von Ihnen zu finden sind?

In diversen Römermuseen gab es jahrelang meine Dramatisierung des Gallischen Krieges im Museumshop (»Cäsars Druide / Das Gold der Kelten«). Aber ob das heute noch so ist, weiss ich nicht. Ich denke nicht.

  1. Welches Museum wäre das perfekte Setting für einen Roman / einen Film?

Auf jeden Fall das Landesmuseum. Kein anderes. Ich hatte dort vor 20 Jahren eine Buchvernissage. Mir gefiel die Stimmung in den Sälen nach Einbruch der Nacht.

  1. Stellen Sie sich vor, Sie dürften eine Ausstellung gestalten. Was würden die Besucher zu sehen bekommen? Wie würde die Ausstellung heissen? Und wäre sie real oder virtuell?

»Geschichte als Geschichte erzählen«. Auf jeden Fall real. Jeder Raum eine Epoche mit Schauspielern in historischen Kostümen, die sich untereinander unterhalten, aber nicht mit dem Publikum kommunizieren. Vor dem Gebäude eine historische Strassenkantine mit Fastfood nach damaligen Originalrezepten.

  1. Was war der eindrücklichste Moment, den Sie je in einem Museum erlebt haben?

Das war im History Museum in Hongkong. Es war deshalb eindrücklich, weil es grossartig gestaltet ist und diese Kultur für mich damals neu war. Eindrücklich war auch ein Besuch im Bartholdi-Museum in Colmar. Ich stiess auf ein Gemälde von Charles Bartholdi, dem erfolglosen Bruder des weltberühmten Auguste Bartholdi, der die Freiheitsstatue erschuf. Ich fragte mich, wieso sich die Brüder, beide Kunstmaler, nicht gegenseitig gemalt hatten und erkundigte mich bei der Konservatorin. Sie kopierte mir Briefe der Mutter. Darauf habe ich den Roman »Gigangen« neu geschrieben, die Rivalität der Brüder wurde ein zentrales Thema.

  1. In welchem Museum sollte man sich in 100 Jahren an Sie erinnern? Und weshalb?

In keinem. Ich gehöre nicht zu den Autoren, die sich wahnsinnig wichtig nehmen. Sobald ich tot bin, existiere ich nicht mehr. Und aus die Maus.

 

062 Blick »Die Frau, die niemals aufgab«

 

1761 verbrachte Joseph Grosholtz eine Winternacht in den Armen von Anne-Maria Walder, sie wurde schwanger, und Josef zog in den Siebenjährigen Krieg. Als seine Tochter Marie geboren wurde, lag er bereits erschossen auf den Schlachtfeldern der Grossmächte.

Die junge Witwe zog mit der kleinen Tochter nach Bern, erwarb die Schweizer Staatsbürgerschaft und arbeitete als Hausmädchen für den Arzt Philippe Curtius. Er modellierte für den Anschauungsunterricht menschliche Organe in Wachs. Ein Cousin des französischen Königs wurde auf ihn aufmerksam und bot ihm ein Atelier in Paris an. Zusammen mit seiner Patchwork-Familie zog er an die Seine. Die kleine Marie überraschte mit ihrem Talent und schuf bereits als Teenager ein eindrückliches Wachsporträt von Voltaire.

Während der Französischen Revolution stürmten Aufständische das entstehende Wachsfigurenkabinett und forderten die Herausgabe der in Ungnade gefallenen Zeitgenossen. Die Revolutionäre spiessten die Köpfe auf und trugen sie skandierend durch die Strassen. Im Gegenzug, so die Legende, erhielt Marie echte Köpfe zum Nachmodellieren: Die unter der Guillotine abgetrennten Häupter von Ludwig XVI., Marie Antoinette, Danton und später Robespierre.

Als Curtis starb, erbte Marie die Sammlung und heiratete 1795 den Ingenieur François Tussaud. Dieser war allerdings mehr dem Alkohol als dem Maschinenbau zugeneigt. Die resolute Marie trennte sich von ihm und floh vor dem nächsten Krieg mit ihrem kleinen Sohn nach England.

Nachdem sie 33 Jahre lang mit ihren Wachsfiguren an Jahrmärkten aufgetreten war, eröffnete die mittlerweile 74-Jährige ihr weltberühmtes Museum in London und starb fünfzehn Jahre später. Sie musste nicht mehr miterleben, wie während des Zweiten Weltkriegs deutsche Bomben ihr Kabinett in Brand setzten und ihre Wachsfiguren dahinschmolzen.

Mittlerweile ist Madame Tussauds ein internationaler Konzern mit 23 Niederlassungen und investiert in andere Branchen, da die neuen 3D-Drucktechnologien das alte Geschäft bedrohen. Mit lebensechten 3D-Ganzkörperporträts in farbiger Gips-Keramik bedienen junge Start-ups die narzisstische Gesellschaft: jeder ein Unikum, jeder ein Star und erst noch hitzebeständig.

061 Blick »Besiegte ein Bakterium Napoleon?«

Die Schlacht fand am 18. Juni 1815 in der Nähe des damals niederländischen Dorfes Waterloo statt. Der britische General Wellington besiegte gemeinsam mit dem preussischen Generalfeldmarschall Blücher Napoleons Armee und schickte den Korsen in die Verbannung.

Auf der Atlantikinsel St. Helena erlebte Napoleon sein endgültiges Waterloo: Er starb, fiel womöglich dem Bakterium Helicobacter pylori zum Opfer. Zwei Haare stützten zwar Verschwörungstheorien, wonach er mit Arsen vergiftet worden sei, doch erwiesen ist lediglich, dass sein Hut heute im Deutschen Historischen Museum ausgestellt ist.

Der Name Waterloo, mittlerweile ein Synonym für eine vernichtende Niederlage, überlebte in vielfältiger Art und Weise. Er inspirierte Songwriter (Abba 1974) und war weltweit Namensgeber für über zwei Dutzend Städte. In London tragen ein Bahnhof und eine U-Bahn-Station den Namen, sehr zum Ärger der französischen Regierung. Sie verlangte eine Umbenennung, vergebens. Kapitulieren ist nicht britisch. Weniger standhaft waren die Belgier. Auf Druck von Paris schmolzen sie 180’000 neue Euro-Münzen ein, die an Waterloo erinnerten.

Erhalten blieb uns auch das legendäre Filet Wellington, das sich der Freimaurer Wellington angeblich nach der Schlacht servieren liess. Nebst dem Filet im Teig bescherte Waterloo der Nachwelt auch den edlen Margaux Château Palmer, der es 1961 auf 99 Parker-Punkte brachte. Wellington hatte das französische Weingut seinem treuen General Charles Palmer geschenkt. Trotz enormer Anstrengungen erlebte dieser in den Rebbergen von Bordeaux ein finanzielles Waterloo. Gebodigt hatten ihn weder die Reblaus noch desertierte französische Soldaten, sondern die Bank, die ihm die Verlängerung der Hypothek verweigerte.

Nathan Mayer Rothschild war der Warren Buffett seiner Zeit und der grösste Financier des britischen Imperiums. Einige Autoren warfen ihm vor, dass er dank besseren Nachrichtenverbindungen früher von Napoleons Niederlage erfuhr und diesen Informationsvorteil an der Londoner Börse ausnutzte. Einer seiner Bankkunden, der Dichter und Journalist Heinrich Heine, notierte in seinem Buch «Lutetia» voller Bewunderung: «Geld ist der Gott unserer Zeit und Rothschild sein Prophet.»

 


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15. Mai 2020

 

060 Blick »Faule Knochen«

© Blick 2020 / Folge 60 /   17.4.2020                                                                                                              

Faule Knochen

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges versuchte man zur Normalität überzugehen. Es wurde wieder Fussball gespielt, und das Fernsehen entwickelte sich allmählich zum Massenmedium, es gab plötzlich mehr Fernsehzuschauer als Rundfunkhörer. Die Krönung von Elizabeth II. am 2. Juni 1953 brach alle Rekorde, obwohl der Gründer der Filmproduktionsgesellschaft 20th Century Fox behauptet hatte, dass sich das Fernsehen niemals durchsetzen würde: «Die Menschen werden sehr bald müde sein, jeden Abend auf eine Sperrholzkiste zu starren.»

Ermüdet haben die TV-Zuschauer aber nicht die flimmernden Holzkisten, sondern die Bedienung des Fernsehgeräts, weil man zum Umschalten aufstehen musste. Einer dieser Couch-Potatoes entwickelte deshalb für die Firma Zenith eine Fernbedienung mit Kabel. Er nannte sie treffend «Lazy Bones» (Faule Knochen). Nachdem er zu Hause ein paar Mal über das Kabel gestolpert war, erkannte er ein gewisses Verbesserungspotenzial.

«Lazy Bones» wurde begraben, und sechs Jahre später eroberte der kabellose «Space Commander» die Wohnstuben. Dank der inflatorischen Zunahme an neuen TV-Kanälen wurde das schmale Gerät zur Standardausrüstung, und Kinder wurden nie mehr als menschliche Fernbedienung missbraucht.

Die Zapping-Kultur brachte eine ganze Generation ungeduldiger Zappelphilipps mit verminderter Aufmerksamkeit hervor. In den Printmedien wurden die Texte kürzer, die Bilder grösser, und Filme starteten gleich mit einer dramatischen Szene und integriertem Vorspann.

Die Kurzvideo-Plattform Tiktok erlaubte gerade mal eine Länge von 15 Sekunden. Textnachrichten schrumpften, Emojis wurden die Hieroglyphen der Neuzeit, und die Nutzer fühlten sich wie allzeit vernetzte Space Commander. Je mehr Zeit sie einsparten, desto weniger hatten sie übrig.

Die Nachfahren der «Lazy Bones» gehen nun in Rente. Geräte werden mit der Sprache gesteuert. Geblieben ist die Zapping-Kultur. Jeder ist sein eigenes Medienhaus, sein eigener Zensor. Was nicht sofort überzeugt, wird weggezappt. Auch Jobs, Beziehungen und Kleingedrucktes. Im Wilden Westen bedeutete «zapped» abgeknallt.

059 Blick »Das Viagra der Antike«

«Mir wäre es lieber gewesen, du hättest nach Knoblauch gestunken», soll Kaiser Vespasian einem parfümierten Offizier gesagt haben. Die Gewürzpflanze war das Pesto der römischen Antike und gehörte zur Tagesverpflegung der Legionäre. Sie schleppten auf ihren Gewaltsmärschen dreissig Kilo Gepäck und verbrauchten 10 000 Kalorien am Tag (das Wort Burnout wurde erst 1974 erfunden). Die Soldaten waren anfällig für blutige Füsse und Verletzungen der gröberen Art. Die Pflanze galt als entzündungshemmend und wurde zum Synonym für das Soldatenwesen.

Im Mittelalter wurde Knoblauch in Klöstern angebaut und bei Lungenentzündungen empfohlen. Während der Pest glaubte man gar, man könne mit Knoblauch die Seuche bekämpfen. Die Pest ging vorbei wie alle Pandemien, der Aberglauben ist geblieben.

1733 schrieb Johann Christoph Harenberg seine «Christlichen Gedanken über die Vampire» nieder und legte damit den Grundstein für die Fledermaus, die sich als neurotische Blutsaugerin mit Knoblauch-Phobie in Literatur und Film einnistete.

Einige Studien behaupten, Knoblauch sei wirksam bei Lungeninfekten, weil er die in der Knolle enthaltenen Öle über die Lunge ausscheidet. Für einen nachweisbaren Effekt müsste man allerdings täglich ein Kilo Knoblauch essen, dann hätte es sogar einen positiven Einfluss auf die Blutfette. Aber eher einen negativen auf das Eheleben.

Gerüchteweise hört man, das BAG prüfe die kostenlose Abgabe von Knoblauch zur Durchsetzung von Social Distancing. China könnte liefern. Mit jährlich 21 Tonnen decken sie 80 Prozent des weltweiten Konsums. Für den US-Markt wird der Knoblauch in Haftanstalten vorgeschält. Dabei gelangt der Saft unter die Nägel und verbrennt die Haut. Deshalb nehmen viele Zwangsarbeiter die Knollen in den Mund, schälen sie mit den Zähnen und spucken sie wieder aus.

Heute gilt die Gewürz- und Heilpflanze als Viagra des armen Mannes. Es ist empfehlenswert, dass man vorgängig einen gemeinsamen Apéro mit Moretum einnimmt. Das Knoblauch-Rezept hat uns Apicius hinterlassen, der Paul Bocuse der römischen Antike. Leider ohne Angaben der benötigten Menge an Fetakäse, Selleriegrün und Koriander. Vielleicht nutzen Sie die Pausen im Homeoffice, um es herauszutüfteln.

058 Blick »Drei Experten, drei Meinungen«

 

Falls Screenshot für Sie schlecht lesbar, bitte nach unten scrollen.

Gemäss einer Umfrage in den USA rauchten in den 1960er-Jahren die meisten Ärzte Camel, Zahnärzte empfahlen die Marke Viceroy, und Schlanke griffen zu Lucky Strike. Es gab für jeden Zigarettenhersteller den passenden Experten. Sechzig Jahre später gilt Rauchen als gesundheitsschädigend und wird mit Mundgeruch assoziiert. Meistens weiss man erst Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte später, ob der damalige Zeitgeist irrte oder nicht.

Schwieriger ist es bei aktuellen Themen. Zerstört ultraviolettes Licht das Virus Covid-19? Herden-Immunität oder Social Distancing? Ausgangssperre ja oder nein? Beweist Taiwan, das «lediglich» 100 Infizierte hat und viermal grösser ist als die Schweiz, dass man nur mit einem sofortigen Lockdown die Pandemie eindämmen kann? Löst hingegen eine zögernde und führungsschwache Regierung italienische Verhältnisse aus? Für jede Massnahme gibt es einen Experten, der politische Entscheide wissenschaftlich absegnet.

Oft hört man: «Ich bin kein Experte, ich sage nur: Hört auf die Wissenschaft.» Aber wer wählt diese Experten aus? Jene, die laut eigenen Angaben wenig von der Sache verstehen?

Liest man täglich die Beiträge von Cash-Guru Fredi Herbert (83), stellt man fest, dass es für viele Aktien am selben Tag unterschiedliche Empfehlungen der Banken und Vermögensverwalter gibt: kaufen, halten, verkaufen. Am Ende wählt der Laie den Experten aus. Und somit auch die Aktie.

Es gibt zahlreiche Experimente, die das Expertenwesen auf die Schippe nehmen: Schimpansen, die bei der Auswahl von Aktien erfolgreicher sind als angestellte Bankenprofis; renommierte Verlage, die Manuskripte von längst publizierten Bestsellern ablehnen.

Heute wird deshalb vermehrt Software mit künstlicher Intelligenz eingesetzt. Aber es sind wiederum Menschen, die den Computer mit Daten füttern und diese gewichten. Und jeder Entwickler von Computerspielen weiss: Man kann so lange an den Algorithmen schrauben, bis das gewünschte Ergebnis vorliegt.

Am Ende des Tages ist man nicht nur auf eine möglichst grosse Anzahl unterschiedlicher Informationsquellen angewiesen, sondern auch auf den gesunden Menschenverstand. Soweit vorhanden.


Claude Cueni (64) ist Schriftsteller und lebt in Basel. Er schreibt jeden zweiten Freitag im BLICK, gestern veröffentlichten wir überdies seinen persönlichen Erfahrungsbericht aus der Quarantäne. Am 20. Juli erscheint im Verlag Nagel & Kimche sein neuer Roman «Genesis – Pandemie aus dem Eis».


 

Über die Quarantäne

 

© Blick 2020 / Foto: Dina Cueni 22.3.2020

Die Quarantäne macht aus einem das, was man zulässt

Der Schriftsteller und BLICK-Kolumnist Claude Cueni (64) lebt seit Jahren mit reduziertem Immunsystem – und seit Monaten in Quarantäne. Für ihn sind Jammern und Klagen keine Option. 


Nach dem Tod meiner damaligen Frau brach mein Immunsystem zusammen. Ich erkrankte an einer ALL-Leukämie. Eine Knochenmarktransplantation liess den Blutkrebs verschwinden, aber die fremden Blutstammzellen begannen meine Organe abzustossen. Diese Graft-versus-Host-Reaktion (GvHD) wurde chronisch und hat bisher 60 Prozent meiner Lunge abgestossen. Um diesen Prozess zu stoppen, wird das Immunsystem mit zahlreichen Medikamenten erfolgreich unterdrückt. Die Kehrseite: Mit reduziertem Immunsystem ist man anfällig für schwer verlaufende Infekte. Chemos, Bestrahlungen und mittlerweile über 40’000 Pillen haben Folgeerkrankungen ausgelöst.

SRF Skype Interview: Quarantäne

Das Coronavirus zwingt immer mehr Menschen ins Homeoffice oder sogar in die Quarantäne. Wie lange hält man das durch? Unter Umständen jahrelang, wie der Basler Schriftsteller Claude Cueni zeigt. Sein Immunsystem ist nahezu auf null. Das Skype-Gespräch führte Michael Perricone. Aufnahme: 11.3.2020 / Sendung 13.3.2020


Video


SRF: Herr Cueni, wie lange sind Sie jetzt schon in Quarantäne?

Claude Cueni: Ich bin seit Jahren über den Winter immer in Quarantäne – ich habe praktisch ein Generalabonnement. Ich bleibe in der Wohnung und gehe nicht raus. Ich habe keine Besucher.

Sie kommunizieren aber mit Leuten ausserhalb der Wohnung.

Natürlich. Ich habe Kollegen und Freunde, mit denen man sich austauscht, meistens über die sozialen Medien. Das geht prima.

Aber es ist schon eine Vereinsamung?

Ja, man wird zum Robinson. Aber ich bin ein Robinson mit einer grossartigen Frau, deshalb ist es nicht so schlimm.

 

Sie sind Schriftsteller, schreiben fast jährlich ein Buch. Was empfehlen Sie Leuten in Quarantäne, welche diese Inspiration nicht haben?

Man soll nicht auf Dinge fokussieren, die man nicht mehr tun kann, sondern darauf, was man tun kann. Es ist wie bei einer Speisekarte: Man findet dort keine Sachen, die man nicht bestellen kann. Man soll sich nicht wünschen, mit der Frau im Meer zu schwimmen oder mit dem Mountain-Bike im Elsass rumzufahren. Man muss solche Sachen einfach von der Liste streichen. Man macht sich bloss unglücklich, wenn man immer hadert.

 

Auch ins Ausland zu Reisen, ist für Sie seit Jahren keine Option mehr. Weshalb denn eigentlich?

Damit ich keine Keime oder Bakterien auflese. Diese Gefahr ist einfach zu gross. Ich war das Leben lang topfit, habe viel Sport gemacht. Aber nach dem Tod meiner ersten Frau bin ich an Leukämie erkrankt, hatte auch eine Knochenmarktransplantation. Die fremden Zellen stossen meine Organe ab, vor allem die Lunge. Deshalb erhalten Transplantierte Medikamente, die das Immunsystem unterdrücken, damit es keine Abstossungen mehr gibt. Nur ist man dann empfänglich für allerlei, teilweise sehr schweren, Folgeerkrankungen. Das ist der Preis fürs Überleben. Bei mir wurden mittlerweile 60 Prozent der Lunge abgestossen, deshalb schaffe ich keine Höhe 1500 Meter.

Was würde denn passieren, wenn Sie sich mit Corona anstecken?

(Lacht) Das wäre wahrscheinlich das Ende. Das ist ja auch die Befürchtung bei den meisten Hochrisikopatienten. Und sie haben den Eindruck, dass der Bundesrat die Grenzen erst dann schliesst, wenn alle AHV-Bezüger tot sind.

Sie finden, die Massnahmen des Bundesrates sind zu zögerlich. 

Absolut. Wenn jeden Tag 70’000 Grenzgänger hereinkommen (aus Italien, Anm. der Red.) und nur ein Prozent infiziert wäre, dann sind das 700 Leute. Und man argumentiert ja damit, dass man diese Leute auch für das Gesundheitswesen braucht. Aber wenn dieses auch durchinfiziert würde, dann hätte das überhaupt keinen Nutzen gehabt.

Dennoch wirken Sie gelassen. 

Der ganz wichtige Punkt für meine Gelassenheit ist, dass ich dann eine Sterbebegleitung in Anspruch nehmen kann, wenn es so weit ist. Das verstehen die Leute, die dagegen sind, leider überhaupt nicht. Es fehlt ihnen wohl an Lebenserfahrung oder an Empathie. Aber das ist genau die Option, die den Alltag erträglich macht.

Welche Hoffnungen haben Sie? Doch nochmals um die Welt zu reisen? 

(Lacht) Ich denke nicht so weit. Ich denke daran, was ich heute mache und was ich morgen mache.

Seit zehn Jahren sind Sie in dieser Situation. Gibt es da nicht auch Momente der Verzweiflung?

Selten. Aber natürlich, es kommt vor. Dem kann man mit Strategien begegnen: Ich gehe dann meistens an den Computer und schreibe an einem Roman weiter. Oder ich sitze auf dem Sofa und singe Lieder.

 

Sie singen Lieder?

(Lacht) Oldies aus den 70er und 80er Jahren. Denn man kann nicht gleichzeitig singen und sich Sorgen machen.

 

Spüren Sie auch eine Solidarität oder finden Sie, die Leute seien zu Unachtsam?

Ich hörte kürzlich eine TV-Moderatorin nach dem Tod eines Corona-Patienten sagen, der Mann sei bereits 76-jährig gewesen, also nichts, das einem beunruhigen könnte. Das gibt mir schon zu denken.

 

Zum Schluss: Am 20. Juli kommt ihr neuer Roman raus. Wovon handelt er?

Von einer Pandemie! Aber das ist reiner Zufall, das fertige Buch wurde bereits im Oktober an der Frankfurter Buchmesse den Verlagen angeboten. Geschrieben habe ich es in den zwölf Monaten davor.

 

Gibt es ein Happy-End?

Das verrate ich Ihnen doch nicht.

 

 

Interview Krebsliga: Quarantäneprofi

Claude Cueni – Quarantäneprofi

Schweizer Autor, 64 Jahre alt, lebt in Basel.

Claude Cueni – Sie erkrankten 2009 an einer akuten lymphatischen Leukämie (ALL), 2010 folgte eine Knochenmarktransplantation. Seitdem leiden Sie unter einer chronischen Graft-versus-Host-Disease (GvHD). Das heisst, bei Ihnen wird vor allem die Lunge abgestossen. Um dies zu verhindern, wird ihr Immunsystem künstlich niedergehalten. Das macht Sie anfällig für Infekte. Können Sie sich an den Moment erinnern, als Sie realisierten, dass es für Ihre Gesundheit am besten ist, in Quarantäne zu leben?
Seit 2009 verbringe ich jeden Winter freiwillig in der Quarantäne, aber als ich im August 2019 die Intensivstation verliess, sagten mir die Ärzte, ich müsse Infekte vermeiden, dann könne ich noch eine Weile leben, andernfalls könne es schnell vorbei sein. Seitdem lebe ich in einer Dauerquarantäne. Das ist der Preis fürs Überleben. Wenn auch ohne Garantie. Ich habe es rasch als Notwendigkeit akzeptiert und als neue Normalität abgehakt.

Was für Vorkehrungen haben Sie damals sofort getroffen?
Es bedeutet, dass man die Wohnung nur noch für Spitalbesuche verlässt und nach Beginn der Grippesaison keine Besuche mehr empfängt.

Welche Tipps können Sie anderen krebsbetroffenen Menschen geben, welche durch den Coronavirus nun auch nicht mehr in Kontakt mit anderen Menschen kommen sollten?
Die Krankheit macht mich nicht zum Experten. Ein strukturierter und abwechslungsreicher Tagesablauf mit Körperpflege, Fitness, Essenszeiten, Pilleneinnahme ist sicher hilfreich. Es braucht aber auch jemanden im nahen Umfeld, der einkauft und in der Apotheke die Rezepte einlöst. Wenn diese Person fehlt, liefern die Apotheken auch gerne nach Hause, die Grossverteiler sowieso, aber zurzeit gibt es Wartezeiten von ca. vier Wochen. Wenn Sie in der Nacht Krämpfe und Nervenschmerzen haben und früher aufstehen, was bei mir meistens der Fall ist, beginnt der Tagesablauf einfach zeitverschoben.

Claude Cueni, was machen Sie als Quarantäne-Profi persönlich gegen den Blues?
Ich singe Songs aus den 1970ern und 1980ern, denn man kann nicht singen und sich gleichzeitig sorgen. Songs, die man als Teenager gehört hat, öffnen das Tor zur Erinnerung. Man fühlt sich in die Zeit zurückversetzt als das Leben noch unbeschwert und frei von Krankheiten war. Jeder muss seine eigene Strategie finden. Songs sind ein Versuch wert. Online Bücher und Zeitungen lesen, Filme, Dokus und Serien schauen, Computerspiele, kochen… alles was ablenkt, kann hilfreich sein. Man muss sich nicht mit Dingen beschäftigen, die man eh nicht ändern kann. Ändern kann man nur die Einstellung dazu.

Vermissen Sie die Gesellschaft anderer Leute nicht?
Ja, manchmal, wenn jemand eine Mail schickt und schreibt, er würde mich gerne wieder einmal zu einem Kaffee treffen. Oder wenn ich interessante Einladungen erhalte. Aber ich hatte nie einen grossen Freundeskreis. Als meine erste Frau starb und ich sechs Monate auf der Isolierstation lag, konnte ich anschliessend meine Freunde an einer Hand abzählen. Niemand dachte, dass ich überlebe. Man stirbt im Bekanntenkreis meistens bevor man gestorben ist.

Wie pflegen Sie dennoch Kontakte?
Ich lebe seit zehn Jahren eine sehr harmonische Ehe mit meiner Frau Dina. Der wichtigste Aussenkontakt ist mein Sohn. Obwohl er als Strafrichter und Mitinhaber einer Anwaltskanzlei ein volles Programm hat, ruft er mich täglich mehrmals an und wir unterhalten uns eine oder zwei Stunden über Gott und die Welt. Wichtig sind auch die Kontakte über die sozialen Medien. Ich habe über Facebook zwei Freunde gefunden, die ich nicht mehr missen möchte. Über den Messenger tauschen wir uns täglich mehrmals aus und schicken uns interessante Zeitungsartikel. Wir haben viel Humor.

Was macht Isolation mit uns Menschen?
Das, was man mit sich machen lässt. Wenn man viel mit sich alleine ist, braucht es unbedingt eine „Second Opinion“, damit man seine Standpunkte überprüfen kann. Sonst kann man sich verrennen und wird ein schrulliger Kauz.

Die nächste Frage hat nichts mit Corona und Quarantäne zu tun, vielmehr mit Ihrer ursprünglichen Diagnose Krebs. Sind sie heute krebsfrei?
Die Leukämie ist bei mir schon sehr lange nicht mehr nachweisbar. Das Problem sind die Spätfolgen von Chemotherapien, Bestrahlungen und mittlerweile über 40.000 Pillen. Nebst Graft-versus-Host-Disease (GvHD) leide ich an einer „Bronchiolitis Obliterans“, einer rasch fortschreitenden Polyneuropathie und diversen anderen Spätfolgen.

Sehen Sie das Leben, wie Sie es heute führen, als Glück oder als Chance?
Weder Glück noch Chance. Ich kann einem Leben unter dem Damoklesschwert nichts Positives abgewinnen. Aber als Romanautor habe ich das Glück, in meine fiktiven Welten abtauchen zu können. Ich vergesse dann alles. Auch wenn ich nicht schreibe, denke ich über meine Figuren nach, als seien sie real. Ich bin seit frühester Kindheit mein eigener Hofnarr und sehr glücklich dabei.

Claude Cueni – gibt es etwas, dass die Krebsliga tun könnte, um Sie besser zu unterstützen?
Ich finde es sehr gut, dass es die Krebsliga gibt. Als ich an Leukämie erkrankte, sagte mir ein Frauenarzt, den ich erst seit einigen Monaten kannte: „Du brauchst jetzt einen Krankheits-Manager, du wirst bald nicht mehr in der Lage sein, bei all diesen Diagnosen und Behandlungen den Überblick zu behalten.“ Es braucht tatsächlich einen kompetenten Ansprechpartner ausserhalb des Spitalbetriebs, das kann auch die Krebsliga sein.

Ich wünsche allen Menschen, die an einem ähnlichen Schicksal leiden, vom Guten nur das Allerbeste.

Und wir wünschen Ihnen, lieber Herr Cueni, weiterhin viel Inspiration für Ihre Bücher. Mögen alle Viren von Ihren vier Wänden fernbleiben!

57 Blick »Göttliche Dienstleistungen«

In jungen Jahren schlenderte der «lose gegurtete» Dandy Julius Caesar ähnlich provozierend über das Forum wie heutige Träger herunterhängender Baggy Pants. Bis zum Start seiner politischen Karriere hatte er bereits 6,25 Millionen Denare Schulden angehäuft, das hätte damals ausgereicht für 12,5 Millionen Bordellbesuche.

Bereits im alten Rom waren Stimmen käuflich. Caesar finanzierte seine Wahl zum Konsul im Jahre 59 v.Chr. mit Darlehen und musste darauf einen Weg finden, seinen Schuldenberg abzutragen. Der Weg führte nach Gallien. Händler hatten immer wieder über das sagenhafte Gold der Kelten berichtet, das die «Barbaren» als Opfergaben in heilige Teiche und Flüsse warfen. Aus Respekt vor den Wassergöttern, Geistern und Dämonen war es deshalb verboten, in Gewässer zu pinkeln.

Sind heute geopolitische Strategien oder Bodenschätze oft ein Kriegsgrund, waren es in der Antike Gold, Sklaven und die Erweiterung des Reiches. Da es verboten war, ohne Einwilligung des Senats ausserhalb der Staatsgrenzen Krieg zu führen, konstruierte Caesar eine Bedrohung durch die von germanischen Stämmen bedrängten helvetischen Auswanderer und fischte mit seinen Legionen so erfolgreich in keltischen Gewässern und Tempeln, dass der Goldpreis in Rom um 25 Prozent fiel.

Dass man Gold in Flüsse, Weiher und Brunnen warf, sozusagen als Anzahlung für bestellte göttliche Dienstleistungen, war in der Antike weitverbreitet.

Die Tradition wird heute mit den beliebten Wunschbrunnen am Leben erhalten. Obwohl die meisten diesen Aberglauben belächeln, können sie dennoch nicht widerstehen, bei einem Rom-Besuch Münzen in den Trevi-Brunnen zu werfen und sich heimlich etwas zu wünschen.

Auch der Weiher vor dem weltberühmten Löwendenkmal in Luzern ist als Wunschbrunnen bei Touristen beliebt. Täglich werfen vor dem «traurigsten und bewegendsten Stück Stein der Welt» (Mark Twain) Ferienreisende Münzen ins Wasser.

Drei praktisch veranlagte Luzernerinnen wollten vor einem Jahr zukünftiges Glück nicht den Launen der Götter überlassen und fischten die Münzen heimlich aus dem Weiher. Sie durften das Geld behalten. Denn wer Geld wegwirft, gibt seinen Eigentumsanspruch auf.

Claude Cueni (64) ist Schriftsteller und lebt in Basel. Er schreibt jeden zweiten Freitag im BLICK. Seine ersten 50 BLICK-Kolumnen sind unter dem Titel «Die Sonne hat keinen Penis» erschienen.

56 Blick »Sind Sie eine Pizza?«

Der Entscheid fiel um drei Uhr nachts. Noch ahnten die Zyprioten nicht, dass ihr Sparvermögen in Gefahr war. Im entfernten Brüssel einigten sich im März 2013 die Finanzminister der Euro-Zone und der IWF auf eine «einmalige Rettungssteuer», um zypriotische Banken vor dem Kollaps zu bewahren. Alle Bankkunden sollten über Nacht einen Teil ihres Ersparten verlieren. Als die Menschen auf der Insel aufwachten, spuckten die Geldautomaten kaum noch Geld aus, Banken blieben geschlossen. Die «garantierte» Einlagensicherung: gestrichen.

Die Enteignung löste europaweit Entsetzen aus. Nach den Negativzinsen tarnt sich der nächste Angriff auf die Sparvermögen als Vorstoss für die Abschaffung des Bargeldes zwecks Bekämpfung der Kriminalität. Jean-Claude Juncker, Ex-Präsident der EU-Kommission, erläuterte einmal die Standard-Strategie: Wir beschliessen etwas und warten ab, was passiert. Wenn es kein grosses Geschrei gibt, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, machen wir weiter.

Da bereits heute jeder Laden und jeder Kunde bestimmen kann, ob ein Kauf cash oder digital abgewickelt wird, braucht es keine Bevormundung. Die Abschaffung des Bargeldes erleichtert zukünftige Enteignungen per Mausklick. Man wird diese staatlichen Raubzüge als «einmaligen Klimarappen» deklarieren und laufend umbenennen.

1915 erhob der Bund wegen des Ersten Weltkriegs eine «direkte Bundessteuer», die er «Kriegssteuer» nannte, ab 1934 «Krisenabgabe», und nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs hiess sie «Wehrsteuer». Der Krieg ist vorbei, die direkte Bundessteuer ist geblieben.

Die bargeldlose Gesellschaft wäre auch die Voraussetzung für ein Punktesystem nach chinesischem Muster (Social Scoring), bei dem der gläserne Bürger wie eine Pizza bewertet und mit Punkten belohnt oder bestraft wird. Das digital bezahlte Rindsfilet wird nicht verboten, aber mit einer automatisch eingezogenen Klimaabgabe bestraft.

Man wird die Aufhebung des Datenschutzes damit begründen, dass dies zur Klimarettung notwendig ist, weil trotz aller Kampagnen nicht nur die Zahl der Flugpassagiere weiter steigt. Sinken wird das Vertrauen in den Staat, denn «Bargeld ist geprägte Freiheit» (frei nach Dostojewski).

© Blick 2020

EU-Protokoll / SRF vom 7.2.2020

srf.ch

– 07. Februar 2020 08:04

News – Schweiz

Rahmenabkommen mit Brüssel

EU erhöht den Druck auf Bundesbern

Ein Dokument, das Radio SRF vorliegt, zeigt klar auf: Brüssel will das Rahmenabkommen nicht mehr verhandeln.

Oliver Washington

In einem Protokoll hält die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen fest, was sie mit Bundesrätin Sommaruga in Davos besprochen hat.

Das Dokument, das Radio SRF vorliegt, enthält pikante Details – etwa, dass ein Nachverhandeln des Rahmenabkommens von Brüssel abgelehnt wird.

Nach dem Spitzentreffen in Davos informierte die EU-Kommission die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union darüber, was Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Bundesrätin Simonetta Sommaruga miteinander besprochen haben. Mit einem schriftlichen Sitzungsprotokoll das Radio SRF vorliegt.

Eine Bitte an Brüssel

Damit ist nun bestätigt, dass Sommaruga die EU-Politikerin von der Leyen gebeten hat, dass sich die Kommission bis zur Abstimmung über die Begrenzungsinitiative am 17. Mai nicht einmischen solle.

Der Bundesrat hat offensichtlich Angst, dass Äusserungen und Druckversuche aus Brüssel der SVP-Initiative Auftrieb verleihen könnten. Von der Leyen ihrerseits hat zugesichert, dass die Kommission Schweigen werde.

Nur wenige Tage Zeit für die Schweiz

Weiter bestätigt das Protokoll was bereits bekannt ist: Die EU-Kommission gibt der Schweiz nach der Abstimmung vom 17. Mai nur wenige Tage Zeit für ein klares Zeichen zum Rahmenabkommen.

Und von der Leyen betonte gegenüber Sommaruga auch, die EU sei bereit gewisse Punkte im Rahmenabkommen zu präzisieren – nicht aber den Text nachzuverhandeln.

Interessante Klammer im Protokoll

Interessant ist auch, was im Protokoll in einer Klammer nur beiläufig erwähnt ist: das Nein zu Nachverhandlungen widerspreche dem, was einzelne Bundesräte wohl erwartet hätten. Eine diplomatische Klammer, um zu sagen: sie haben es noch immer nicht verstanden – in Bern.

Umgekehrt könnte man sagen: der Bundesrat hat es noch nicht aufgegeben, das Abkommen eben doch nachzuverhandeln.

55 Blick »Elvis lebt!«

Eine Hausfrau aus Michigan begegnete 1988 einem aufgedunsenen Mann, der in einer Filiale von Burger King in Kalamazoo einen Hamburger verdrückte. Das Magazin «Weekly World News» brachte die sensationelle Story auf die Titelseite und erzielte damit die höchste Auflage ihrer Geschichte. Der Mann war angeblich der offiziell 1977 verstorbene King of Rock ’n‘ Roll.

Beim Beatle Paul McCartney war es umgekehrt. 1969 erschien in einer Studentenzeitung der University of Michigan ein Beitrag mit der Schlagzeile «Ist Paul McCartney tot?». Angeblich sollte er drei Jahre zuvor verstorben und seitdem auf Drängen des Managements durch einen Doppelgänger ersetzt worden sein. Dass der Linkshänder auf dem Cover von «Abbey Road» (1969) die Zigarette in der rechten Hand hält und barfuss über die Strasse geht, war ein klares Indiz dafür, dass McCartney im Reich der Toten spazieren geht.

Der Wissenschaftler David Grimes analysierte die populärsten Verschwörungstheorien – wie die geheimnisumwitterte Ufo-Raststätte Area 51 im militärischen Sperrgebiet nordwestlich von Las Vegas. Dort soll sich die Regierung der USA mit Ausserirdischen zum Lunch getroffen haben.

Grimes rechnete aus, dass die Nasa in den 1960er-Jahren beinahe eine halbe Million Mitarbeiter beschäftigte. Also auch Sekretärinnen, die geheime Dokumente kopierten, und unzufriedene Köche und Chauffeure. Je mehr Menschen an einem Geheimnis beteiligt sind, desto wahrscheinlicher ist es, dass es gelüftet wird. Spätestens auf dem Sterbebett würde ein Eingeweihter beichten, dass er mit einem Ausserirdischen einen Joint geraucht hat. Grimes errechnete eine Wahrscheinlichkeit von 95 Prozent und ein Verfalldatum für die Geheimhaltung von maximal drei Jahren und acht Monaten.

Neurologen halten Verschwörungstheorien für eine kreative Leistung des zentralen Nervensystems. Ist der Sauerstoffgehalt in einer bestimmten Hirnregion besonders hoch, erscheint diese auf dem Gehirnscan in gelben und roten Farben. Bei Verschwörungstheoretikern ist dieser Bereich, der für «magisches Denken» und Aberglauben verantwortlich ist, besonders stark durchblutet.

Falls Sie also morgen am Taxistand Michael Jackson begegnen, behalten Sie es gescheiter für sich.


© Blick 2020


 

54 Blick »Schwein gehabt«

Wer im Mittelalter kein Schwein hatte, musste sich mit fleischlosem Essen begnügen. Denn wo kein Schwein war, fehlte das Glück, und der Betreffende war «ein armes Schwein».

Aber auch wer Schwein hatte, war nicht immer glücklich darüber, denn bei Pferderennen und Armbrustwettbewerben erhielt der Viertplazierte als Trostpreis ein Schwein. Er musste damit zur allgemeinen Belustigung durchs Dorf laufen und den Spott ertragen. Er hatte somit Glück im Unglück, also nochmals: «Schwein gehabt».

Einige Historiker behaupten, das glückbringende Schwein sei einem Kartenspiel geschuldet, bei dem das Ass «Sau» genannt wurde. Zog man ein Ass, hatte man Schwein. Wahrscheinlich ist die Herkunft der Redewendung je nach Region unterschiedlich.

Ein niedliches rosa Schwein gilt heute als Symbol für Glück, Reichtum und Zufriedenheit. Auch im chinesischen Horoskop. Im Jahr des Schweins, das heute zu Ende geht, hat man wie üblich einen Anstieg der Geburtenraten verzeichnet. Für Juden und Muslime schwer verständlich, denn bei ihnen gilt das Schwein als unrein.

Im Mittelalter waren die meisten Menschen Analphabeten, und jene, die schreiben konnten, hatten oft eine Sauschrift, die «kein Schwein lesen konnte». Die Formulierung bezog sich jedoch nicht auf das Tier, sondern auf eine angesehene Gelehrtenfamilie namens Swien (Schwein), die manchmal Handschriften nicht entziffern konnte, worauf der enttäuschte Bittsteller klagte, dass «kein Schwein» (kein Swien) das Gesudel habe lesen können.

Während ein «Schwein» sowohl männlich als auch weiblich sein kann und als Beschimpfung gilt, ist die vulgäre Steigerungsform Sau weiblich, und das ist aus feministischer Sicht doch «unter aller Sau». Doch das Schimpfwort hat mittlerweile eine sprachliche Zellteilung mit vielfältigen Mutationen erfahren. Es gibt das saugute Fondue bei saukaltem Wetter zu sauteuren Preisen.

In den sozialen Medien verwechseln manchmal Leute mit reduziertem Wortschatz die Kommentarspalten mit Kotztüten und «lassen die Sau raus». Beliebt ist das Upgrade von Nazi auf «Nazisau», populär seit kurzem die «Klimasau».

Es wäre schön, wenn sich der Veganismus auch in der deutschen Sprache durchsetzen würde.


© Blick 2020 – 24. Januar


 

GODLESS SUN, Textauszug 1-15

 

 

(Diese Manuskriptseiten waren noch nicht lektoriert/korrigiert / Die Druckvorlage ist beim Verlag)

Ich habe das nicht gewollt

Ich habe das alles nicht gewollt, die Sache ist aus dem Ruder gelaufen. Sie schleichen nachts um das Haus, manchmal werfen sie Kieselsteine gegen das Fenster oder tote Fische auf die Veranda. Ich bin sicher, eines Tages wird jemand an der Haustür klingeln und mir ein rostiges Messer in den Bauch stechen. Ich habe das wirklich nicht gewollt. Ich bin auch kein Leader. Ich habe weder Charisma, noch bin ich eine stattliche Erscheinung. Ich gehöre nicht zu den Menschen, die man gleich wieder vergisst, ich gehöre zu den Menschen, die man gar nicht wahrnimmt. Das war immer so, bis vor Kurzem.

Nachdem mich Natascha verlassen hatte, wollte ich ein ruhiges Leben führen, alle 14 Tage einen Geronimo-Heftroman abliefern und ansonsten meinen Frieden haben. Ja, ich schreibe Pulp, Pulp Fiction, Schundromane, Trash, Kioskromane, but don’t judge a book by his cover! Es braucht eine Menge Recherchen und Phantasie um alle vierzehn Tage aus dem Leben von Geronimo zu berichten. Geronimo ist der Kriegerhäuptling und Schamane der Bedonkohe-Apachen. Er starb 80jährig in Fort Sill, Oklahoma. Wenn ich schreibe, muss ich mich an die Serienbibel halten. Alle sieben Autoren müssen sich daran halten. Das gilt auch für die Mistery Serie »Insel des Grauens« und die neue Science-Fiction-Reihe »Orion, Herrscher der Galaxy«. Sie wird nächstes Jahr die Geronimo-Serie ablösen, dann findet der Wilde Westen im Weltall statt, endlose Galaxien statt zerklüfteter Canyons, Flüssignahrung statt Bohnen mit Speck, und Laserkanonen statt dem Peacemaker von Samuel Colt. Streng genommen war Samuel Colt 1836 nicht der Erfinder, sondern lediglich der Patentinhaber und Produzent. Aber Bärbel streicht mir jeweils alle historischen Details. Ich hatte darum gekämpft, dass ich Geronimos ursprünglichen Namen, Bedonkohe, näher erläutern darf, denn er bedeutet »Der Gähnende«, aber Bärbel mailte, so genau wolle es unsere Leserschaft nicht wissen, deshalb würden die Pulp Fiction Leser am Bahnhofskiosk meine Heftromane kaufen und kein Sachbuch bei Amazon bestellen. Ich müsste mich an einem einfachen Publikum orientieren. Das gilt für alle Heftserien. Es gibt klare Regeln: einfache Sätze, am liebsten Hauptsätze, keine vielschichtigen Charaktere und vor allem: No Sex. Es ist in Ordnung, wenn ein Mann seine verdreckten Reitstiefel auszieht, die silberne Gurtschnalle löst, aber dann ist Schluss mit Erotik. Das wäre ein Plot für die pinkfarbene Heftreihe »Leonie«, ein Fortsetzungsroman über eine Prostiuierte, die tagsüber Musikunterricht erteilt und nachts wildfremden Männern einen bläst. »Dylan liebt die Gefahr, aber die Flammen die zwischen ihm und Leonie lodern, jagen sogar dem einsatzerprobten Feuerwehrmann Angst ein«. Nichts für mich. Die Heftserien »Die Gräfin von Venedig« und die Adaption von Hansruedi Wäschers Comic »Sigurd, der richterliche Held« haben sie leider eingestellt. Dabei mag ich History über alles.

In Pulp Fiction Romanen ist History nur Kulisse, Dekoration, mehr nicht. Eigentlich erzählen wir immer die gleichen Geschichten von Liebe, Hass, Verrat, Rache, Macht, Reichtum, und inszenieren sie vor wechselnden Kulissen. Den Wilden Westen mochte ich am meisten. Wenigstens darf ich noch 18 Hefte schreiben bis die Serie von »Orion, Herrscher der Galaxy« abgelöst wird. Geronimo werde ich vermissen. Vor allem Cochise, den Häuptling der Chokonen-Apachen, der ihm die schöne Taz-ayz-Slath ausspannen will. Ich hatte noch reichlich Figurenmaterial, um bis an mein Lebensende neue Plots zu erfinden. Ulzana, Victorio und Nana, sie waren allesamt grosse Mitstreiter von Geronimo, aber sie verfügten nicht über seine Diya, die göttliche Gabe, Visionen zu empfangen und die Ndaa K’ehgodih, die Kraft, das Gehirn der Feinde zu manipulieren und die Gesetze von Zeit und Raum aufzulösen.

Animistische Religionen, Aberglauben und die Manipulation von Menschen, das hat mich schon immer fasziniert, aber Bärbel meint, ich könne ja ein Sachbuch schreiben, aber in Zukunft sei Mistery gefragt. Die etablierten Kirchen verlören immer mehr Mitglieder, sie verlören den Glauben, aber nicht den Aberglauben. Das müsse bedient werden: Mistery sei die Religion des 21. Jahrhunderts.

So hat es mir Bärbel in ihrer Mail erklärt. Sie ist die Chefin des virtuellen Writer’s Room. Sie ist eine der zahlreichen Lektorinnen von Morton & Stanley, die jährlich 18 Millionen Heftromane verkaufen. Bärbel betreut meine Serien und ist somit auch die Lektorin der anderen sechs Autoren. Wir schreiben unter dem gleichen fiktiven Autorennamen, Jack Hogan. Wir sind die Ghostwriter eines Autors, den es gar nicht gibt.

Selbst wenn mich einer dieser Männer, die nachts um das Haus schleichen, erschiesst, werden die neuen Serien überleben. Ich habe einen Vorrat angelegt. Bärbel besteht darauf, dass wir eine Reserve für drei Monate haben, also 6 Heftromane von jeder Serie. Vielleicht würde mich Bärbel vermissen, wenn sie mich niederstechen, vielleicht, aber eher nicht. Aber sie würde zumindest bemerken, dass plötzlich keine neuen Folgen mehr kommen. Ich habe Bärbel noch nie live gesehen. Wir verkehren nur via Mail. Ich habe sie vor Jahren einmal gegoogelt und ein Foto von ihr gefunden. Sie wirkte etwas aufgedunsen, müde, vielleicht war sie früher mal eine schöne Frau, ich weiss es nicht. Jetzt hatte sie tiefhängende Hamsterbacken, halblanges Haar, nicht sehr gepflegt, ich bin sicher, sie war mittlerweile Single und hatte sich daran gewöhnt. Ich mochte sie. Sie war immer sehr nett. Sie hatte eine einfühlsame Art, manchmal bestimmt und dominant, aber doch warmherzig und mütterlich im guten und im schlechten Sinne. Ich hatte den Eindruck, sie habe das Pensionsalter schon überschritten, aber vielleicht ergeht es ihr ähnlich wie uns Ghostwritern: Angesichts der bescheidenen Honorare muss Bärbel arbeiten, bis sie tot umfällt. Wie meine Helden in Dodge City, wenn der Fünfuhrzug einfährt. Aber jetzt fährt kein Zug mehr.

Wäre das alles nicht passiert, wäre ich bestimmt in der alten Villa von Onkel Calvin geblieben. Ich habe mich dort immer wohl gefühlt. Das ehemalige Herrschaftshaus wurde um 1850 von einem Eisenbahnmogul gebaut. Er soll ein visionärer Mann gewesen sein, der an die Zukunft der Eisenbahn glaubte und deshalb seine maison de plaisance direkt an die projektierte Eisenbahnlinie baute. Damals lag die Parzelle noch im Grünen inmitten von Feldern. Heute steht die Villa inmitten von Schrebergärten. Man nennt sie heute Familiengärten, weil Moritz Schreber, der Namensgeber, heute nicht mehr den besten Ruf geniesst. Er war ein Arzt aus Leipzig der zur Zeit der Industrialisierung die sozialen Folgen des Stadtlebens durch die Arbeit im Grünen, in sogenannten Armengärten, abfedern wollte. Er erfand übrigens auch ein Gerät zur Verhinderung der Selbstbefriedigung. Auf jeden Fall nennt man diese Gärten heute Familiengärten, aber man sieht dort unter der Woche kaum junge Leute. Es sind meistens Senioren oder Seniorinnen, die sich mit Akribie ihrem Gemüse widmen und den ganzen Tag über kaum ein Wort miteinander reden. Am Wochenende kommen auch Türken, Albaner, Kosovaren, Italiener und Portugiesen, sie kommen meistens mit der halben Familie, grillen und reden so laut, dass sich wiederum die einsamen Witwer aufregen, die frustriert ihre Erdbeeren pflücken, Weinbergschnecken mit der Gartenschwere vierteilen und darüber nachdenken, was sie später mit dieser vollen Erdbeerschüssel anfangen sollen. Wann waren die Kinder das letzte Mal mit den Enkeln zu Besuch?

Onkel Calvin wohnte im Erdgeschoss der Villa. Er hatte sich in den ehemaligen Salon zurückgezogen, ein pompöser Saal mit einem wuchtigen Kristallleuchter, der über einem langen Konferenztisch hing. An der Stuckaturdecke war ein blauer Himmel mit weissen Wölkchen gemalt, mit putzigen, bunten Vögeln, die sich hinter Rosenranken versteckten. Am Ende des langen Tisches thronte Onkel Calvin in seinem abgewetzten braunen Chesterfield Sessel. Er empfing keine Besucher mehr. Nur mich. Das ist nicht immer so gewesen.

Onkel Calvin hatte mir die beiden oberen Stockwerke überlassen, nicht aus Nächstenliebe, denn Onkel Calvin hat ein Leben lang nur sich selbst geliebt. Vielleicht werde ich später noch darauf zurückkommen, auf jeden Fall war Onkel Calvin mit seinen 87 Jahren nicht mehr so gut auf den Beinen. Treppensteigen, das war ihm zu mühsam geworden, nicht ungewöhnlich diese motorische Einschränkung, das kommt ja nicht von heute auf Morgen, das ist der Trost bei diesen altersbedingten Redimensionierungen, man vollzieht sie in kleinen Schritten, schluckt sie in mundgerechten Portionen, und nachdem sich Onkel Calvin zum ersten Mal den Schenkelhals gebrochen hatte, mied er fortan die oberen Stockwerke.

Ich hatte diese deshalb für mich alleine, fünf grosse Zimmer im ersten Stock und weitere Räume im Dachstock. Hier lagerte noch ein Teil des Mobiliars des früheren Besitzers, vollgestopfte Kommoden, Stühle mit gebrochenen Sitzflächen aus Bast, Tische mit gedrechselten Beinen, vollbeladen mit Bergen von verstaubten Kleidern, von Motten zerfressen, vergilbte Bücher mit spröden Ledereinbänden. Unter dem kleinen Dachfenster standen einige schwere Reisetruhen aus dem 19. Jahrhundert, in einer der Truhen war noch ein alter Katalog, »Malles et sacs de Louis Vuitton, Paris, 1 rue Scribe, Téléphone 239-68. Boîte pour chapeaux de dames, Malle cuir pour hommes«.

Ich weiss, ich verliere mich in Detail, das liegt einerseits daran, dass ich seit 9 Jahren ohne Natascha lebe, aber auch daran, dass es mir körperliche Schmerzen zufügt, dass ich in meinen Heftromanen nicht aus dem Vollen schöpfen darf, dass ich nicht ein bisschen belesener sein darf als das Zielpublikum.

Ich hatte mir im ersten Stock ein kleines Paradies eingerichtet. Jedes meiner Zimmer war im Stil einer Epoche eingerichtet. Das Wild West Zimmer hatte ich als Saloon eingerichtet, Arizona, 19. Jahrhundert, die Wände mit groben Holzplanken verkleidet. Einen Tresen aus alter Eiche mit antiker Spiegelwand hatte ich in Brüssel ersteigert, und den ganzen Kitsch an den Wänden hatte ich von einem Westernstore übernommen, der konkurs gegangen war. Das alte Klavier war schon da, ich spiele nicht Klaiver, ich bin durch und durch unmusikalisch. Ich bewundere deshalb Sänger, Musiker und Komponisten, wie ich eigentlich alle Menschen bewundere, die Dinge können, die ich nicht beherrsche.

Onkel Calvin hat mich einmal darauf hingewiesen. Er hatte stets Zeit, über solche Dinge nachzudenken. Deshalb war er auch nachtragend, wie viele Menschen, die im Alter unsichtbar werden.

Er beschwerte sich oft darüber, dass ich den Boden des Westernzimmers mit schweren Holzdielen verlegt hatte. Er meinte, irgendwann würde der Boden einstürzen und ihn im Schlaf erschlagen. Sein Salon lag direkt unter meinem Saloon. Die Wortverwandtheit kommt übrigens nicht von ungefähr. Französische Trapper nannten während des Goldrausches in Alaska die Holzbaracken, in denen sie Karten spielten, soffen und sich anschliessend gegenseitig erschossen, Saloon, eine ironische Anspielung auf die gediegenen Pariser Salons Ende des 19. Jahrhunderts. Ich hatte dies letztes Jahr in der Folge »Smokey Smith« beiläufig erwähnt. Aber Bärbel hatte es gestrichen. Wie üblich. Ich muss mich offenbar an das Bildungsniveau von Primarschülern halten. Nur bei den Science-Fiction Serien darf ich einen höheren Schulabschluss voraussetzen, was wiederum für mich recherchenmässig einn dreifachen Aufwand bedeutet, weil ich nicht so viel von Raketenantrieben, schwarzen Löchern und der Relativitätstheorie verstehe.

Aber wir waren bei Onkel Calvin, der mich stets daran erinnerte, dass der Schreiner damals einen Mordslärm gemacht hatte. Aber wenn ich den Boden wieder heraus reisse, entgegne ich jeweils, wird das wieder Lärm machen und eine Menge Staub aufwirbeln. Er behauptete dann, dass er daran ersticken würde, und zürnte, ob es das sei, was ich wolle. Dass er sterbe, und ich das Herrschaftshaus für mich alleine habe. Dabei rauchte er wie ein Schornstein, kubanische Zigarren, und litt fürchterlich, wenn die Pollen im Frühjahr ihren Flug antraten. Im Sommer ertrug er die Hitze schlecht, im Herbst war er oft erkältet und im Winter fror er unsäglich und bat mich die Heizung aufzudrehen und gleichzeitig Heizkosten zu sparen, ich solle bei mir oben weniger lüften. Ich sagte ihm einmal, er solle weniger rauchen, das beeinträchtige die Durchblutung in den Füssen, aber er nannte das dummes Zeug und zündete sich eine weitere Zigarre an. Wenn er es zu bunt trieb, erinnerte ich ihn daran, dass ich nie darum gebeten hatte, in seine Villa einzuziehen. Dann hielt er für eine Weile den Mund. Manchmal rächte ich mich an ihm, in dem ich unsere Dialoge in der »Insel des Grauens« einbaute. Dort gibt es auch sowas wie ein verwunschenes Haus, in dem ein alter, mürrischer Mann die Geister der Vergangenheit heraufbeschwört.

Wären all diese schrecklichen Dinge nicht passiert, wäre ich bestimmt in der Villa geblieben, ich hätte das Anwesen renoviert, ich wäre in diesem Land geblieben und hätte mir alles vom Mund abgespart, um das Orion Schlafzimmer noch etwas auzubauen. Ich hätte mir in London noch einen römischen Gladiator in Lebensgrösse bestellt, vielleicht hätte ich mir sogar den neuen Darth Vader aus Plexiglas gekauft. Das Versandhaus in Nevada hatte mir gemailt, dass sie mir die Transportkosten schenken würden. Wahrscheinlich hätte ich auch zwei Schaufensterpuppen gekauft um John Law, das Finanzgenie des 17. Jahrhunderts, und einen Kardinal einzukleiden. Ich denke, Kirche, Naturwissen-schaften und Militär lenken den Lauf der Menschheitsgeschichte. Und die Frauen natürlich, die Liebe, die Leidenschaft, die Besessenheit. Vielleicht auch der Aberglauben, der Boden auf dem Religionen und Sekten gedeihen.

Ja, Science-Fiction liegt tatsächlich im Trend, als hätten die Menschen allmählich die Nase voll von der Realität.

Ich werde nichts renovieren. In Zukunft werden Hotelzimmer mein Zuhause sein. Ich weiss nicht, wohin es mich verschlagen wird, wahrscheinlich wird man mich bis ans Ende der Welt jagen. Aber Science-Fiction könnte ich überall schreiben, in der Hacienda De Los Santos in Mexico oder im Hanoi La Siesta in Vietnam. Die haben sogar ein Spa. Vielleicht gibt’s dort Happy Ending. Bestimmt. Und Highspeed Internet hat heute jedes bessere Hotel. Das ist das einzige was ich bräuchte, um Bärbel weiterhin alle 14 Tage einmal Mistery und einmal Science-Fiction zu mailen.

Ich habe Science-Fiction stets unterschätzt, aber gute Science-Fiction ist die Kombination aus History und Gegenwart. Bei Börsenprognosen benutzt man die Charttechnik. Man schaut, wie sich die Aktie in der Vergangenheit entwickelt hat, wie sie auf politische und psychologische Ereignisse reagiert hat, und wagt eine Prognose. Science-Fiction Autoren sind somit die Charttechniker der Gesellschaft.

Ja, Sie haben Recht, ich leide darunter, dass Autoren von Kioskromanen keine Anerkennung finden. Dabei sind sie für viele Menschen sehr hilfreich. Es gibt im deutschsprachigen Raum mittlerweile über 10 Millionen Honks. Das sind Hauptschüler ohne nennenswerte Kenntnisse. Die lesen Pulp Fiction Romane. Auch labile und frustrierte Menschen mögen Pulp Fiction. Auch Männer mit geistigen oder organischen erektilen Dysfunktionen. In Trashromanen ist ein Mann noch ein Mann. Heftromane bieten Struktur, Orientierung, Trost, Hoffnung. Sie helfen zu akzeptieren, dass das Leben trostlos ist. Albert Camus sagte: »Die Fantasie tröstet die Menschen über das hinweg, was sie nicht sein können, und der Humor über das, was sie tatsächlich sind.« Wir sprachen eben über Orientierung. Die Gewissheit, dass jeden Donnerstag das neue Heft am Kiosk aufliegt, gibt der Woche eine Struktur, genau wie die Abendnachrichten. Darauf ist Verlass. Fällt ein Feiertag auf den Donnerstag, stürzt der Leser in die Abgründe seiner zerrissenen Seele. Er säuft dann den ganzen Gründonnerstag über.

Zu meinen Lesern gehören übrigens viele Alkoholiker, Suchtkranke, Menschen in Krisensituationen. Ich erfahre das meistens in den einschlägigen Foren. Ich poste manchmal etwas unter dem Namen »Crazy Horse« und frage scheinheilig: Wie hat euch eigentlich »Hängt ihn höher« gefallen? Pulp Fiction Leser sind treue Leser, sie werden nie richtig erwachsen und selbst wenn sie ihre Lebenskrise überwinden, besuchen sie weiterhin die geheimnisvolle Insel oder fliegen mit Commander Orion durch die Galaxy. Leser von Schundromanen sind leicht manipulierbar, sie träumen sich ihre Welt zusammen und sind dankbar für Illusionen aller Art. Ich glaube deshalb, dass die meisten religiös sind. Auf ihre Art natürlich.

Gefährlich wird es für uns Trashautoren, und natürlich auch für Bärbel, wenn die Leser ihre Einkommensverhältnisse signifikant verbessern, wenn sie plötzlich reisen. Die Tourismusindustrie ist der grösste Feind der Schundliteratur. Immer mehr Menschen können immer billiger reisen. Die fliegen jetzt selber an all die exotischen Orte, die ich mal beschrieben habe. Ich verliere meine Schauplätze, deshalb ist die neue Science-Fiction-Reihe so wichtig für mein wirtschaftliches Ueberlben. Die Galaxy hat noch keiner beflogen. Ich bin der Pilot, verdiene aber weniger als eine Stewardess.

Seit einigen Tagen erhalte ich die zahlreichen Morddrohungen sogar per Mail, das ist deshalb erstaunlich, weil man den Absender zurückverfolgen kann. Alle Dämme sind gebrochen. Ich hatte die Polizei um Hilfe gebeten, aber ein Beamter riet mir, einen Bodyguard zu nehmen. Ich fragte, ob es nicht die oberste Pflicht eines Staates sei, die Unversehrtheit seiner Bürger zu schützen, doch er meinte, niemand könne mehr für meine Sicherheit garantieren, ich sei selber schuld. Aber ich schwöre, ich habe das nicht gewollt! Niemand konnte mit einer derartigen Eskalation rechnen. Ich verabscheue Gewalt, ich bin Pazifist, nicht aus Schwäche, sondern aus Überzeugung. Ich bin auch sonst, im privaten Umgang, ein sehr friedliebender Mensch, fast schon im asiatischen Sinne harmoniebedürftig. Selbst in meiner letzten Beziehung war ich derjenige, der nachgibt. Ob das Klugheit oder die Feigheit des Pantoffelhelden war, sei mal dahingestellt. Ich weiss bis heute nicht, wieso mich Natascha vor 9 Jahren verlassen hat. Ich dachte, unsere Liebe würde ewig halten.

Vielleicht war ich zu stark mit Geronimo beschäftigt. Oder mit seiner Geliebten. Aber das ist heute kein Thema mehr, ich mag nicht darüber sprechen. Ich weiss, John Steinbeck schrieb in »Jenseits von Eden«, wenn ein Mensch unter keinen Umständen über etwas sprechen wolle, bedeute es, dass er Tag und Nacht darüber nachdenke. Vielleicht hätte mir Natascha einen Tipp geben können, hätte mir erklären können, was ich bis heute nicht verstehe: Wie konnte das alles nur geschehen?

Ich weiss nicht, wie offen ich über die Ereignisse sprechen kann. In unserer narzistischen Gesellschaft akzeptiert man kaum noch abweichende Meinungen. Political Correctness ist die Pflicht zur Realitätsverweigerung. Ich war stets ein entschiedener, ja kompromissloser Befürworter der freien Meinungsäusserung. Meinungsfreiheit bedeutet auch, dass man Dinge sagt, die niemand hören will. Ist von George Orwell, nicht von mir. Ich habe viele Dinge gesagt, die niemand hören wollte. Ich dachte, das kann man aushalten. Darüber kann man reden. Aber wenn Menschen sich nicht artikulieren können, schlagen sie zu. Das macht mir Angst. Ich werde jetzt Dinge schreiben, die niemand hören wollte.

Ich bin erleichtert, dass alles geklappt hat mit meinem Ticket. Ich dachte, vielleicht kriege ich unter meinem bürgerlichen Namen gar kein Ticket mehr, vielleicht verweigert man mir die Ausreise. Aber wer kennt mich schon unter meinem bürgerlichen Namen? Ich habe viele Namen, selbst Gott hat viele Namen, Autoren sowieso. Verzeihen Sie mir bitte, dass ich nicht immer »Autorinnen und Autoren« schreibe, das ist mir einfach zu anstrengend, physisch, aber auch intellektuell. Ich schreibe schliesslich alle 14 Tage einen Heftroman à 64 Seiten, Normseiten, das sind 30 Zeilen à 60 Zeichen. Dafür braucht ein erfahrener Autor eine Woche. Ich kriege 1250 Euro für einen Roman, also 5000 im Monat. Sie werden sich vielleicht fragen, wieso ich mir das antue, wieso ich nicht was Anständiges erlernt habe? Ich bin schreibsüchtig, das ist alles, ich befriedige meine Sucht und verdiene damit meinen Lebensunterhalt. Andere Menschen brauchen Zigaretten, fressen sich voll, kaufen teure Uhren und schnelle Autos, verbringen ihre Freizeit in Casinos oder Bordellen, ich sitze vor meinem Computer, erfinde Geschichten, reise in Gedanken mit meinen Figuren um die Welt, pendle zwischen vergangenen Epochen und zukünftigen Zivilisationen. Es ist die schönste Welt, die ich mir vorstellen kann, die Phantasie. Ich bin zufrieden damit, ich war es jedenfalls lange.

In den letzten Monaten hatte ich oft das Bedürfnis, mich mit den anderen Autoren auszutauschen. Ich bin eigentlich ein Familienmensch, obwohl ich ein Dasein als Robinson friste. Ich denke, ein regelmässiger Austausch unter Berufskollegen, das wäre auch der Wunsch der anderen Autoren, aber Bärbel hat uns für die interne Kommunikation anonymisiert, wir kennen uns lediglich unter Namen wie »Cassidy John« oder »Lady Summerhill«. Ich heisse übrigens »Rebecca La Rue«, und niemand weiss, ob sich ein Amerikaner oder eine Spanierin hinter diesem fiktiven Autorennamen verbirgt. Diese Anonymität ist von »Morton & Stanley« gewollt. Keiner soll sein Honorar mit dem Einkommen der anderen vergleichen können. Für die Leserschaft sind wir alle Jack Hogan.

Viele junge Menschen träumen davon, Schriftsteller zu werden. Aber es ist kein einfacher Job, schon gar nicht, wenn sie in der Pulp Avenue stranden. Wenn Sie abends die »Insel des Grauens« verlassen oder mit Commander Orion aus der Galaxy zurückkehren und hinunterfallen in die reale Welt, in eine Bar, zu einem Date, und wenn sie dann sagen, dass sie Kioskromane schreiben, ist die Dame an der Bar bis ins nächste Jahrzehnt ausgebucht. Problematischer wäre es nur, wenn sie gestehen würden, dass sie arbeitslos sind. Nun gut, das könnte man schönreden und behaupten, man sei Privatier. Aber das Mädchen würde sich fragen, wieso ich wie ein Dudeist rumlaufe. Das sind die Freaks, die sich in der »Church of the Latter-Day Dude« vereinigt haben und den Lebensstil von »The Big Lebowski« verherrlichen. Aber auch das könnte man schönreden und behaupten, dass Multimillionäre heute nicht mehr in Edelklamotten rumlaufen, sondern eher in Jeans, Traineroberteil und Turnschuhen. Die können sich das leisten, die sind auf niemanden mehr angewiesen, die haben genügend Fuck-You-Money. Das bedeutet, sie haben genügend Geld, um in jeder Situation dem Gegenüber Fuck You ins Gesicht zu schleudern. 

Aber das ist nicht mehr mein Thema. Wie alle Menschen, die die meiste Zeit mit ihrer eigenen Phantasie verbringen, neige ich zu Ausschweifungen, vielleicht ist es auch Geschwätzigkeit oder gar eine Geringschätzung der Realität. Manchmal ist Geschwätzigkeit auch Arroganz, ein übertriebenes Ego, manchmal aber auch Ausdruck von Einsamkeit. Ich bin sicher, Robinson hat wie ein Wasserfall geplappert, nachdem ihn Daniel Defoe nach 28 Jahren von seinem tristen Inseldasein erlöst hat.

Aber worauf ich hinauswollte: Ich denke, ich brauche mit 43 Jahren keine neue Beziehung mehr, die länger als eine Nacht dauert. Nachdem mich Natascha verlassen hatte, wollte ich Single bleiben und niemanden im Haus haben, der mich daran erinnert, dass ich einen persönlichen Jahrestag vergessen habe. Freiheit bedeutet, um drei Uhr morgens zum Kühlschrank zu schlurfen und eine Currywurst fressen. Und niemand fragt wieso. Für Natascha war das sicher nicht einfach. Sie war eine jüdische Russin aus Paris, klingt vielleicht etwas exotisch, war es auch. Sie hatte blondes Haar, einen aufrechten Gang und war eine markante Erscheinung, gross, dominant, raumfüllend, und doch sehr fragil, hungrig nach Anerkennung und Fürsorge, als Figur hätte Bärbel Natascha zusammengestrichen, zu komplex, versteht keiner. Auch ich hatte Mühe damit. Aber so war Natascha. Manchmal denke ich darüber nach, wo sie im Augenblick sein könnte, ob sie glücklich in einer Beziehung lebt. Ich verliere mich in Varianten, ausufernden Geschichten und realisiere erst nach Stunden, dass ich mir das alles ausgedacht habe. Natascha ist keine Heftserie, Natascha war 9 Jahre lang meine Freundin. Wir hatten es gut miteinander, dachte ich jedenfalls.

Ich erwähnte schon, dass mir Lovestorys nicht liegen, ich meine als Autor. Ich hatte Bärbel auch schon Alternativvorschläge unterbreitet für eine neue History Serie, »Priscus, Held der Arena«. Mein Held kämpft in der Zeit von Kaiser Titus im Flavianischen Amphitheater. Damals gab es das Kolosseum noch nicht, er kämpfte gegen seinen besten Freund, den Gladiator Verus. Alles recherchiert. Der Dichter Martial hat diesen Jahrhundertkampf in einem Gedicht festgehalten. Wäre das kein Stoff für eine neue Römerserie gewesen? Aber Bärbel sagte, das Thema Gladiatoren sei ausgelutscht, es gebe schon zu viele davon. Ich mailte zurück, genau das könnte ein Hinweis darauf sein, dass das Interesse besonders gross sei, deshalb gebe es so viele Gladiatorenromane. Ich insistierte und mailte, dass ich gerne den Mithraskult der römischen Legionäre dramatisieren würde, den Kult der göttlichen Sonne, aber Bärbel meinte, ich solle doch gescheiter ein Sachbuch zum Thema schreiben, das sei ein ganz anderes Publikum.

Vielleicht habe ich deshalb heimlich Godless Sun geschrieben und bei Crocodile Books publiziert.

Crocodile Books ist kein richtiger Verlag, eigentlich ist es eine Druckerei, die sich selber Durckaufträge beschafft, indem sie Bücher, die niemand publizieren will, gegen Vorschuss druckt und vertreibt. Marlon, mein Verleger, war ein grossgewachsener Mann um die 40, vom Alkohol ausgezehrt. Sein Vater war ein stadtbekannter Kunstmaler gewesen, der sein halbes Leben in Kneipen verbracht hatte. Jetzt ist er tot, an einer Alkoholvergiftung gestorben, aber in den Kneipen der Altstadt hängen seine depressiven Bilder, die er jeweils den Wirten abtreten musste, um seine Besäufnisse zu bezahlen. Die Wirte dachten vielleicht, wenn der alte Oscar so weitersäuft, stirbt er bald und kleckert keine Leinwände mehr voll, dann steigen die Preise, das ist nun mal das Gesetz von Angebot und Nachfrage. Marlon hat mir das einmal erzählt, als er Flyer für einen Pizza Service druckte. Marlon begleitete seinen Vater bereits im Kindsalter auf seinen Kneipentouren. Marlon sieht sich als Rebell. Tagsüber druckt er Visitenkarten und schmale Broschüren, nachts druckt er Dinge, die kein Feuilletonredaktor anfasst, das macht ihm Spass, deshalb hat er auch Godless Sun gedruckt. Er sagte damals, mein Buch sei ihm derart eingefahren, dass er eine ganze Woche nur noch gesoffen habe. Aber ich glaube, das tat er eh. Vielleicht ist es genetisch, schlechte Vorbilder, ich weiss es nicht. Ich war überglücklich, als Marlon Godless Sun druckte und auslieferte. Wir feierten zusammen mit seiner Freundin Aline drei Tage lang. In Aline war ich ein bisschen verliebt. Marlon hatte lediglich 500 Exemplare gedruckt. Einige Dutzend hatte ich selber bestellt, um zu prüfen, ob Bestellvorgang und Lieferung funktionieren. Ja, hat alles funktioniert, ich habe mittlerweile zweihundert Exemplare unter meinem Schreibtisch. Und alle bezahlt. Godless Sun war ein Flop. Ich habe etwa 30 Exemplare verkauft, aufgerundet. Ich traf Aline einmal an einer Bushaltestelle. Sie sagte mir, Marlon saufe immer noch, er schlage sie auch, sie habe eine Fehlgeburt erlitten, er habe sie regelrecht geprügelt. Sie habe sich in der Toilette eingeschlossen und dann sei es passiert, direkt in die Kloschüssel. Man hätte bereits Händchen und Füsschen erkennen können.

»Wie kann Gott sowas zulassen?« hatte sie geschluchzt. Hinter ihr hing ein Plakat der christlichen Agentur für den Glauben. Auf blauem Hintergrund stand in grossen gelben Lettern geschrieben: »Gott liebt dich«.

Ich hatte Aline in den Arm genommen und ihr gesagt, sie könne bei mir wohnen. Sie wohnte zwei Tage bei mir. In der zweiten Nacht erschien Marlon im Treppenhaus und grölte, er würde sich eine Kugel durch den Schädel jagen, wenn sie nicht sofort zu ihm zurückkäme. Aline kramte eilig ihre sieben Sachen zusammen und eilte zur Wohnungstür. Er braucht mich, schrie sie verzweifelt als sie die Treppe hinuntereilte. Mir schien, sie platze schier vor Glück. Es ist mir ein Rätsel, wieso sich Frauen sowas antun. Aber die römische Antike ist leichter zu verstehen als die weibliche Psyche.

Ich habe später, wohl aus Trotz und Verzweiflung, Godless Sun noch ins Englische übersetzt. Ich dachte, der englische Markt ist viel grösser als der deutschsprachige Markt. Das ist schon richtig, aber auch die englische Variante hat sich nicht verkauft, ich habe die englische Ausgabe mit der Amazon Software Create Space als Selfpublisher publiziert, als E-Book und Print on Demand, ausser Spesen nix gewesen. Trotz allem Fleiss war alles Scheisse.

Ich sagte vorhin, ich sei froh gewesen, dass alles geklappt hat mit dem Flugticket und so. Nein, nicht alles hat geklappt. Ich habe damals den Abflug verpasst. Venedig war nie meine Destination, aber es war der nächstbeste Flug aus der Hölle. Ich dachte, flieg doch erst mal nach Venedig, von dort kannst du dann weiterreisen, Hongkong, Südamerika, Neuseeland, Miami, einfach so lange zwischen Ost und West hin- und herfliegen, bis alle meine Spuren verwischt oder meine Maschine abgestürzt ist.

Buchseite / Rezensionen

053 Blick »Kult der Habgier«


 

In den 1950er-Jahren war L. Ron Hubbard mit seinen Science-Fiction-Romanen Dauergast in den US-Bestsellerlisten. Für den Lebemann waren die Honorare nicht genug, und er kam zum Schluss, dass man nur mit einer Religion wirklich reich werden könne. Aus den Episoden seiner SF-Serie «Battlefield Earth» schmiedete er eine Scientology-Bibel, die nicht weniger als die «Säuberung des Planeten» durch «die Übernahme und Kontrolle aller Aktivitäten in der Welt» propagierte.

Hubbard versprach «völlige spirituelle Freiheit und Wahrheit». Doch die Wahrheit überliess er den Fantasielosen. 1974 wurde er in Frankreich wegen Betrugs zu vier Jahren Gefängnis verurteilt. Sein Sohn gestand 1982 vor dem Distriktgericht von Massachusetts: «Mein Vater ist ein Betrüger und war immer ein Betrüger», der religiöse Aspekt der Firma sei nur erfunden worden, um Steuervorteile zu erlangen.

Das «Time Magazine» publizierte 1991 die Titelgeschichte «Kult der Habgier» und bezeichnete Scientology als «riesige, gewinnbringende globale Gaunerei, die durch Einschüchterung ihrer Mitglieder und Kritiker in Mafia-Manier überlebt». Die Organisation verklagte das Magazin. Und verlor. In Frankreich wurde sie 2009 wegen «bandenmässigen Betrugs» zu einer Busse von 600 000 Euro verurteilt.

Absolviert man alle Kurse, bezahlt man über 500 000 Franken und gelangt zur Einsicht, dass man pleite ist. Der bayrische Verfassungsschutz warnt: «Der Staat darf nicht zusehen, wenn eine Organisation Menschen wirtschaftlich ruiniert und geistig abhängig macht.» Die Schweiz schaut zu und stuft die «totalitäre» und «verfassungsfeindliche» Firma als Kirche ein…

Mittlerweile akquiriert die Organisation ihre Opfer mit Kampagnen wie «Sag Nein zu Drogen» und «Jugend für Menschenrechte». Der Niedergang ist trotzdem nicht aufzuhalten, denn die Konkurrenz auf dem pseudoreligiösen Markt wächst parallel zum Mitgliederverlust der Landeskirchen. Mittlerweile gibt es auch die Religion der «Fliegenden Spaghettimonster», eine Gründung des Physikers und Parodisten Bobby Henderson. Seine atheistischen Anhänger huldigen dem Spaghetti-Gott. Das Abendmahl gibts in jeder Pizzeria. Kostenpunkt circa 24 Franken, zur Erleuchtung einen Grappa.


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Die ersten 50 BLICK Kolumnen sind als eBook (colour), Paperback (s/w) und Hardcover (colour) erhältlich.

052 Blick »Wenn die Glocken rufen«

Der französische Schriftsteller Aurélien Scholl (1833–1902) schrieb, selbst Gott brauche Werbung, er habe deshalb Glocken. In der Tat waren die ersten Glocken und Schellen bereits vor viertausend Jahren Bestandteil von kultischen und religiösen Zeremonien.

In der Antike boten Glocken Schutz vor bösen Geistern. Auch die ersten christlichen Kirchenglocken sollten den Teufel fernhalten. Später riefen sie die Gläubigen zum Gottesdienst und kündigten während der Messe die Ankunft des Heiligen Geistes an. Da er nie erschien und die Hoffnung bekanntlich zuletzt stirbt, hören wir seit 2000 Jahren das Geläut. Kirchenglocken hatten früher auch einen praktischen Nutzen: Sie schlugen die Zeit an. Das war hilfreich, denn noch im 18. Jahrhundert hatten die wenigsten Menschen tragbare Uhren.

Die Glocke emanzipierte sich und warnte als Feuerglocke bei Brandgefahr und Stürmen, markierte den Beginn von Veranstaltungen wie Märkten, Unterricht, Sport oder später der Börse. Einige Glocken dienten den Bauern als akustischer GPS-Tracker. Sie konnten in unübersichtlichem Gelände ihre Tiere aufspüren und erst noch Wölfe abschrecken.

Mittlerweile empfinden viele Städter, die (freiwillig) aufs Land ziehen, das Kuhgebimmel als Ärgernis und fordern Kühe ohne Glocken, doch die Bauern fürchten, dass eine entglockte Leitkuh den Respekt der Herde verliert und in Depressionen verfällt – wie ein Macho, dem man den getunten Mazda wegnimmt.

Ein Dorn im Auge beziehungsweise eine Glocke im Ohr sind vor allem die Kirchenglocken, die angesichts der leeren Kirchenbänke eher wie Alarmglocken klingen. Die Landeskirchen verteidigen ihre Glockenuhren heute mit dem Hinweis, sie seien ein Dienst an der Öffentlichkeit, als hätte mittlerweile nicht jeder eine Armbanduhr. Wieso aber eine lärmempfindliche Person freiwillig in die Nachbarschaft einer jahrhundertalten Turmuhr zieht, wird wohl Gegenstand einer neuen ETH-Studie sein.

Mich stören weder Kuh- noch Kirchenglocken. Mein Nachbar Leo sagt, er hätte auch nichts gegen das Gebimmel, wenn auch er zu jeder vollen Stunde auf dem Balkon in sein Alphorn blasen darf.

Textprobe 01 »Script Avenue«

Auch Tante Puce arbeitete in dieser »Fabrik«. Da Onkel Maurice ihr verbat, sich tagsüber um mich zu kümmern, legten sie mich in eine Holzkiste, die auf einer Werkbank neben dem Plumpsklo lag. So verbrachte ich meine ersten Lebensjahre in einer Schraubenkiste. Das klingt hart, aber die Kiste war mit einer grauen Militärdecke ausgepolstert und angenehm weich. Ich war auch nie allein. Ich meine jetzt nicht in der Kiste, sondern allgemein.

Wenn einer aufs Klo musste, kam er unweigerlich an mir vorbei und strich mir mit ölverschmierten Fingern übers Gesicht. Hatte er sich erleichtert, passierte er erneut meine Kiste und strich mir einige Kolibakterien über die andere Wange. Diese Leute hatten noch nie etwas von Robert Koch oder Louis Pasteur gelesen. Auf jeden Fall war dies der Grundstein für eine solide Immunabwehr.

Mein einziger Lichtblick war ein verschmutztes Fenster, das teilweise die Sicht auf eine kleine Schafweide freigab, eigentlich ein idealer Ort, um günstig einen Film über das finsterste Mittelalter zu drehen. Aber wie sollte die Crew jemals Vilaincourt finden?

Die Schafe haben mich geprägt. Selbst ein halbes Jahrhundert später, als ich im Koma lag, erinnerte ich mich an sie. Wenn ich heute Schafe sehe, fühle ich einen Kloß im Hals und versuche, ein Mann zu sein.

Mein Onkel Maurice hatte es auch mit den Schafen. Wenn alle Arbeiter den Stall, oder von mir aus die Fabrik, verlassen hatten, ging Onkel Maurice zu seinen Schafen. Die Tiere mochten ihn nicht, Schafe spüren, wenn sich ein Dreckskerl nähert. Onkel Maurice stellte sich hinter ein Schaf und hielt es an den Lenden fest. Wenn das Schaf ruhig war, ließ er zu meiner großen Verblüffung seine Hose fallen und ich sah seinen nackten, affenmäßig behaarten Hintern. Er vollführte dann rhythmische Bewegungen, ich dachte, dass er das Schaf molk, denn abends, wenn er in die Küche kam, brachte er stets Milch mit. So entsteht Intelligenz. Man beobachtet etwas, bringt es in Zusammenhang mit einer anderen Beobachtung und lernt. Heureka! Das ist der Grundstein der Evolution.

Aber richtig verwirrend war, wenn mein Onkel Maurice abends meine zerbrechliche Tante Puce molk. Er packte sie am Nacken wie seine Schafe und drückte sie über den Küchentisch. Dann ließ er seine Hose runter und führte wieder seine rhythmischen Bewegungen aus. Er war zu dumm, um auch nur zu ahnen, dass ich es nicht vergessen würde. Irgendwie hielt er mich immer noch für einen seelenlosen Embryo. Aber ich vergaß nichts. Ich hatte von klein auf ein Gedächtnis wie ein Elefant. Beneiden Sie mich nicht darum, und lesen Sie weiter.

051 Blick »Cola für den Weihnachtsmann«

Er hiess Bischof Nikolaus von Myra und lebte in der ersten Hälfte des vierten Jahrhunderts in der heutigen Türkei. Als er hörte, dass ein Mann seine drei Töchter auf den Strich schicken wollte, weil er sie mangels Mitgift nicht verheiraten konnte, schlich er sich nachts zum Haus der drei Jungfrauen und warf drei Goldklumpen durchs Fenster. Aus der Legende wurde ein Brauch. Fortan geisterte Nikolaus durch die Jahrhunderte und legte Kindern Geschenke in die Schuhe – eine Grosszügigkeit, die heute berechtigtes Misstrauen erzeugen würde. Ist das etwa der Grund, wieso nicht sein Geburtstag, sondern der Tag, an dem er starb, gefeiert wird?

1931 waren seine blauen und goldenen Umhänge zerschlissen, und er kleidete sich in der Garderobe von Coca-Cola neu ein. Der amerikanische Illustrator Haddon Sundblom prägte in den folgenden 33 Jahren das Bild von Santa Claus, die Figur wurde zum Symbol für Weihnachten. Da auch Sundblom im Alter aufgrund des verlangsamten Stoffwechsels an Gewicht zunahm, wurde auch der Bauch des Weihnachtsmannes immer grösser; und wenn enttäuschte Kinder in den 1970er-Jahren klagten, dass der Nikolaus nicht gekommen sei, behauptete man, er sei beim Nachbarn im Kamin stecken geblieben.

Vor 50 Jahren war der 6. Dezember noch der Tag der Abrechnung. Es waren noch nicht die Kinder, die Erwachsene in Panik versetzten, sondern die Eltern ihre Kinder. Deshalb hatte der Nikolaus stets diesen wortkargen Schmutzli an seiner Seite. Der Mann in Rot erzählte allerlei Fake News über unsere Sünden im ausklingenden Jahr, aber man wagte nicht zu widersprechen, denn hinter ihm stand ebendieser Henkersknecht. Jahrzehnte später wurde er oft wegrationalisiert, um Kosten zu sparen, aber vor allem um die fragile Psyche der Helikopter-Kinder nicht zu verletzen. Das war gut gemeint, denn Gewalt ist keine Lösung. Aber wer dem Schmutzli nie in die Augen geschaut hat, hatte es im späteren Leben schwer, denn an jeder Arbeitsstelle mobbt ein Folterknecht.

050 Blick »Helden in Bronze«

 

Helden in Bronze haben eine jahrtausendealte Tradition. Bereits vor über 2000 Jahren gab der König von Pergamon die Bronze-Statue des «sterbenden Galliers» in Auftrag. Auf der ganzen Welt stehen Staatsmänner im Massstab «grösser als üblich» auf prominenten Plätzen. Sie werden zu touristischen Hotspots oder von Revolutionären vom Sockel gestürzt. Manchmal führt bereits das angekündigte Projekt zu heftigen Kontroversen.

In Berlin wollten die Amerikaner nach dem Mauerfall ihren Ex-Präsidenten Ronald Reagan (1911–2004) mit einer Statue ehren. Sie sollte an seinen historischen Besuch und seinen Kampf gegen die Mauer erinnern: «Mr. Gorbachev, tear down this wall!» («Herr Gorbatschow, reissen Sie diese Mauer nieder!»). Doch die rot-grüne Stadtverwaltung stellte sich quer.

Keinen Einwand hatten sie gegen die Heldenstatue des Künstlers Scott Holmquist. Sie zeigt einen afrikanischen Dealer mit Handy in der Pose eines siegreichen Feldherrn. Vorübergehend stellte Holmquist die drei Meter hohe Bronzestatue im Berliner Görlitzer Park auf. Hier verkaufen Dealer ungestört ihre Drogen. Hans-Jürgen Papier, Ex-Präsident des deutschen Bundesverfassungsgerichts, kommentierte: «Ein Staat, der geltendes Recht in so offenkundiger Weise nicht durchsetzen kann, entzieht den Bürgern das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit des Rechtsstaates.»

Wieso wählte Scott Holmquist einen afrikanischen Dealer? Man hätte ihm umgehend Rassismus vorgeworfen, hätte er seine Skulptur nicht «Last Hero» (letzter Held) genannt und in einem Interview mit dem Kulturmagazin «Monopol» präzisiert, dass «Dealer einer heldenhaften Arbeit» nachgehen, weil sie bei «Regen und Kälte draussen sind» und ihre «riskante Arbeit ohne Polizeischutz» verrichten. Provokation als Geschäftsmodell?

Es bleibt das Geheimnis des Künstlers, wieso ein Krimineller, der den Tod ins Gastland bringt, mehr Mitgefühl erzeugt als Berliner Obdachlose, «die bei Regen und Kälte draussen sind» und in Mülleimern nach Nahrung suchen.

Jedes Heldendenkmal steht für die Werte einer Epoche. Einige überleben, andere werden gestürzt. Seit letztem Monat steht Ronald Reagan auf amerikanischem Hoheitsgebiet: auf der Terrasse der US-Botschaft in Berlin.

049 Blick »Die Scheisskolumne«


Bild © Cristina Guggeri, ganze Kollektion auf: https://www.areashoot.net/the-daily-duty-collection/


 

 «Hatten Sie heute Stuhlgang?» Mit dieser Frage will der Arzt erfahren, ob man auf der Toilette gewesen ist. Die Bezeichnung stammt aus dem Mittelalter. Damals sägte man die Sitzfläche von Stühlen aus und hängte einen Topf darunter. Den Inhalt entsorgte man in nahen Sickergruppen oder kippte ihn, wenn es draussen zu kalt war (oder finster genug), aus dem Fenster. Deshalb war es für Nachtschwärmer empfehlenswert, eine Kopfbedeckung zu tragen. Wer kein Glück hatte, glitt unter dem Fenster aus; und wenn noch Pech dazukam, klatschte die nächste Ladung auf den Hinterkopf.

Das Mittelalter war nicht nur aus hygienischer Sicht ein zivilisatorischer Rückschritt. Bereits in der Antike gab es Grosslatrinen mit Wasserspülung und achtzig Sitzplätzen. Trennwände waren nicht erwünscht, denn Toilettenanlagen waren so beliebt wie heute die sozialen Medien. Man entlud nicht nur den Darm, sondern auch den Ärger über Götter und die Welt. Erst ab dem 17. Jahrhundert änderte das Schamgefühl, und die Leute zogen es vor, inkognito auf dem Thron zu sitzen.

Ein beliebtes Toiletten-Graffito war damals: «Drum drücket und dränget mit aller Kraft – für die notleidende Landwirtschaft.» Scheisse war wertvoller als Bitcoins. Der französische Philosoph Pierre Leroux schlug deshalb im 19. Jahrhundert vor, die Steuer mit den eigenen Exkrementen zu bezahlen. In einer direkten Demokratie hätte eine solche Initiative durchaus Chancen. Die Umsetzung könnte allerdings anspruchsvoll sein.

Im modernen Japan verrichten die Leute ihr Geschäft auf topmodernen Washlets, die mit internetfähigen Bedienungspanels ausgerüstet sind. Urinwerte und Blutzuckerspiegel können direkt an den Hausarzt gemailt werden.

Japan ist nicht überall. Weltweit haben über vier Milliarden Menschen keinen Zugang zu sicheren sanitären Anlagen. Jährlich sterben 432 Millionen an verseuchtem Trinkwasser (Unicef 2019). Indiens Premier Modi versprach bei seinem Amtsantritt, hundert Millionen WC-Kabinen zu bauen. Fünf Jahre später hatte er es geschafft. Doch leider nutzen viele die Häuschen als Geräteschuppen. Für eine Verhaltensänderung wird die Ausrufung des Welttoilettentages am 19. November wohl nicht ausreichen.

 

048 Blick »Heute schon demonstriert?« dt./engl.

Heute schon demonstriert?

Demonstrieren gehört in den westlichen Demokratien zu den Minderheitsrechten, und das ist gut so. Es gibt bewilligte und unbewilligte Demonstrationen, einige respektieren das, einige nicht. Demos an der frischen Luft fördern auf jeden Fall die Gesundheit, und als Datingplattform sind sie nicht zu verachten.

Beliebt, weil kaum kontrovers, sind Demos gegen Diktatoren, wobei man sich manchmal fragt, wieso in der friedlichen Schweiz demonstriert wird und nicht am Tatort im Nahen Osten oder in Südamerika. Oder haben uns die Medien verschwiegen, dass all diese Despoten in Wahrheit in luxuriösen Apartments an der Zürcher Goldküste leben? Auf jeden Fall käme kein Schweizer Student auf die Idee, in Burkina Faso für eine fleischlose Kantine zu demonstrieren.

Leider schleichen sich bei vielen friedlichen Demos selbsternannte Antifaschisten ein, die mit faschistischen Methoden Gebäudereinigern, Glasereien und Autowerkstätten neue Aufträge beschaffen. Dass Pubertierende ab und zu Dampf ablassen, ist hormonell bedingt und ziemlich normal. Aber wenn die Trotzphase auch im fortgeschrittenen Alter anhält, liegt es wohl an einem unterentwickelten Verständnis für den demokratischen Rechtsstaat.

Um Frust abzubauen, gäbe es durchaus friedliche Alternativen wie Marathonlaufen, Masturbieren im Lift, Rauschsaufen oder Singen im Wald.

Den Protestierenden bei unbewilligten Demonstrationen ist meistens egal, ob Verkehrsknotenpunkte blockiert, Arbeitswillige im Stau stehen oder der Infarktpatient in der Ambulanz «I did it my way» singt.

Kreative Lösungen sind gefragt. Die vorbildlichsten Kundgebungen sind jeweils der Einmarsch der Athleten bei der Eröfffnung der Olympischen Spiele. Da Fussballstadien nicht ausgelastet sind, könnten sie zeitweise als Demostadion genutzt werden. Publikum wäre im Buchungspreis inbegriffen. Veranstalter von Kaffeefahrten könnten dafür gewonnen werden, die Kundschaft ins Stadion zu fahren. Auf den Totomat-Displays könnte Werbung für Heizkissen, Jägermeister und solarbetriebene Rollatoren geschaltet werden, Kaffee und laktosefreier Kuchen wären umsonst – eine klassische Win-Win-Situation. Wäre dieser Vorschlag nicht eine Demo wert?


© Blick, 1. November 2019


 

047 Blick »Retten Streetpotatoes die Welt?«

Retten Streetpotatoes die Welt?

Die neunjährige Mexikanerin Xóchitl López wuchs im Hochland Chiapas auf. Ihre Eltern waren zu arm, um ihr all das zu kaufen, was für Teenager in der westlichen Welt selbstverständlich ist. Xóchitl hat nie geklagt, dass man ihr die Kindheit gestohlen hat.

Letztes Jahr wurde sie vom Institut für Nuklearwissenschaft der grössten mexikanischen Universität für ihren Solar-Warmwasseraufbereiter aus recyceltem Material mit einem Preis geehrt. Sie sagt: «Es gibt viele Menschen mit niedrigem Einkommen, die sich diese Heizungen nicht leisten können. Deshalb holzen sie Bäume ab, um Brennholz zu gewinnen. Das wiederum beeinträchtigt die Welt durch die globale Erwärmung.» Mittlerweile erhält Xóchitl Unterstützung von Universitäten.

Im Alter von neun Jahren entwickelte Ken Lou «künstliches Holz» aus recyceltem Material, das beim Verbrennen weder Umwelt noch Gesundheit schadet. Er ist der jüngste Erfinder Guatemalas und wurde von der Regierung ausgezeichnet.

Es gibt viele Xóchitls und Kens auf unserem Planeten. Sie leisten Bewundernswertes. Aber für die westlichen Medien sind diese kreativen Teenager, die tatsächlich Nützliches für die Umwelt tun, kaum ein Thema.

Interessanter sind narzisstische Streetpotatoes der antidemokratischen Weltuntergangssekte Extinction Rebellion (XR), die in roten Karnevalskostümen esoterische Partys feiern. Einige nennen sich «Red Brigades» (Rote Brigaden) wie die italienische Terrorgruppe Brigate Rosse, die Ende der 70er-Jahre für 97 Tote verantwortlich war.

Stuart Basden, Gründungsmitglied von XR, bestreitet in einem Essay vom 10. Januar 2019, dass XR eine Klima-Bewegung sei. Co-Gründer Roger Hallam erläuterte am 4 Februar 2019 an einer Veranstaltung von Amnesty International in London seine Strategie zum Systemwechsel und sagte: «Ja, einige könnten bei diesem Prozess sterben.»

Zurzeit versucht XR, friedliche Klimademonstranten zu radikalisieren. Aber der Planet braucht weder grüne Uriellas noch Rote Brigaden, sondern Innovationen. Und sie werden kommen, weil man damit Geld verdienen kann. Extinction Rebellion tut hingegen im Augenblick genau das, was sie der Politik vorwirft: Herumsitzen und «Slogans statt Taten» liefern. Eine Eskalation ist absehbar.


Die Quellen zu den beiden Zitaten.

Bildlizenz: pixabay.com


 

Extinction Rebellion (XR), two Co-Founders in their own words

Extinction Rebellion isn’t about the Climate

Source:

https://medium.com/@plaosmos/extinction-rebellion-isnt-about-the-climate-42a0a73d9d49

 
 
 
Stuart Basden, Jan 10 / 2019

Yes, yes, I know. The climate is breaking down. It’s urgent. An emergency. We’ve only got a few years left to ‘fix’ it.

Indeed, we won’t fix it. Weather patterns will become increasingly unstable and unpredictable, and the effects it will soon have on how humans around the world grow food will be devastating, likely causing harvests to fail across entire continents and food prices to sky-rocket. Millions have already suffered due to the amplified instability. We’re facing imminent societal collapse (whatever that means), both around the world and in the UK. All of our lives are soon going to radically change.

None of this is particularly controversial. When a bus is driving with a certain momentum towards a person, it gets clearer and clearer that it will hit the person. After a certain point, it’s inevitable. And that’s where we stand now, with regards to the momentum of climatic change. The bus is about to hit us. Our lives are about to change. It’s not clear whether or not we’ll survive (as a species). Many species have already been run over. Two hundred species each and every day go extinct.

I’ve been with Extinction Rebellion (XR) from the start. I was one of the 15 people in April 2018 who came together and made the collective decision to try to create the conditions that would initiate a rebellion. I was a coordinator of one of the original five working groups, and I’ve been organising with XR day-and-night since then (frugally living off my savings so I don’t have to work, having quit an industry that paid me £1000/week). And I’ve been in RisingUp (the organisation from which XR has emerged) since the first RisingUp action in November 2016. I’m a RisingUp Holding Group member, and a member of the XR Guardianship Team.

And for the sake of transparency: that previous paragraph is all about me ‘pulling rank’ — I’m trying to convince you to listen to what I have to say…

And I’m here to say that XR isn’t about the climate. You see, the climate’s breakdown is a symptom of a toxic system of that has infected the ways we relate to each other as humans and to all life. This was exacerbated when European ‘civilisation’ was spread around the globe through cruelty and violence (especially) over the last 600 years of colonialism, although the roots of the infections go much further back.

As Europeans spread their toxicity around the world, they brought torture, genocide, carnage and suffering to the ends of the earth. Their cultural myths justified the horrors, such as the idea that indigenous people were animals (not humans), and therefore God had given us dominion over them. This was used to justify a multi-continent-wide genocide of tens of millions of people. The coming of the scientific era saw this intensify, as the world around us was increasingly seen as ‘dead’ matter — just sitting there waiting for us to exploit it and use it up. We’re now using it up faster than ever.

Euro-Americans violently imposed and taught dangerous delusions that they used to justify the exploitation and reinforced our dominance, while silencing worldviews that differed or challenged them. The UK’s hand in this was enormous, as can be seen by the size of the former British empire, and the dominance of the English language around the world. There is stark evidence that everyday racial bias continues in Britain, now, today. It’s worth naming some of these constructed delusions that have been coded into societies and institutions around the world:

  • The delusion of white-supremacy centres whiteness and the experience of white people, constructing and perpetuating the myth that white people and their lives are somehow inherently better and more valuable than people of colour.
  • The delusion of patriarchy centres the male experience, and excludes/hinders female assigned people from public life (reducing them to a possession or object for ownership or consumption). Patriarchy teaches dominating and competitive behaviours, and emphasises the idea that the world is a place of scarcity, separation and powerlessness.
  • The delusions of Eurocentrism include the notion that Europeans know what is best for the world.
  • The delusions of hetero-sexism/heteronormativity propagate the idea that heterosexuality is ‘normal’ and that other expressions of sexuality are deviant.
  • The delusions of class hierarchy uphold the theory that the rich elite are better/smarter/nobler than the rest of us, and make therefore better decisions.

There are other delusions. These delusions have become ingrained in all of us, taught to us from a very young age.

None of these delusions have ended, although some of the arguments that supported them (e.g. phrenology) have been dispelled. They continue to play out through each of us, in our ways of relating, regardless of our identity. The current pride in the history of the British empire, or the idea that the USA is on the side of ‘good’, continues to enable neo-colonialism in 2019, taking the form of palm-oil plantations, resources wars, and the parasitical financial sector, to name but a few. The task of Extinction Rebellion is to dispel these delusions. We need to cure the causes of the infection, not just alleviate the symptoms. To focus on the climate’s breakdown (the symptom) without focusing attention on these toxic delusions (the causes) is a form a denialism. Worse, it’s a racist and sexist form of denialism, that takes away from the necessary focus of the need for all of us to de-colonise our selves.

My ancestors are European, some of whom claimed to ‘own’ people as slaves. There are black people with the name Basden in the Americas, and I have begun to mobilise my (white) family to make contact in order to seek to pay reparations.

However, my own accountability cannot be fully paid through this. The insanity* of the mind of the coloniser continues today. It continues in the extraction of fossil fuels, minerals and water from the earth. It continues in deforestation and industrial agriculture. It continues in a callous culture of consumption, which intensifies each Christmas. It continues in evictions and deportations. It continues in the ways of relating to those around us that perpetuate separation and division.

The result is isolation, pain and suffering. The result can be felt at the individual level — in the endemic levels of loneliness and mental-health illness. It can be felt at the community level — in the theft of land for plunder and profit by largely-European-and-US-based banks and corporations. And it can be felt at the global level — in the polluting of our air and oceans.

So Extinction Rebellion isn’t about the climate. It’s not even about ‘climate justice’**, although that is also important. If we only talk about the climate, we’re missing the deeper problems plaguing our culture. And if we don’t excise the cause of the infection, we can never hope to heal from it.

This article is calling to all of those who are involved in XR who sometimes slip into saying it’s a climate movement. It’s a call to the American rebels who made a banner saying “CLIMATE extinction rebellion”. It’s a call to the XR Media & Messaging teams to never get sloppy with the messaging and ‘reduce’ it to climate issues. It’s a call to the XR community to never say we’re a climate movement. Because we’re not. We’re a Rebellion. And we’re rebelling to highlight and heal from the insanity that is leading to our extinction. Now tell the truth and act like it.

* I use the term ‘insanity’ carefully, with the intention of highlighting the need for healing. Indigenous First Nation people helpfully taught me to see the mindset of the coloniser as a sickness. In no way do I intend to marginalise or discredit the experience of people who have been labelled ‘insane’ by a normative system, nor who identify as being ‘insane’.

** Climate Justice refers to the injustice that those who are affected first and worst by extreme weather events (the people in the poorer countries, the majority of whom live in the Global South) are not likely to be the ones who caused the climate emissions (the people who consume the most, including the pathologically wasteful cultures of Europe and Turtle Island (aka North America), and the rich who live/travel around the world).


Interview mit der Pressesprecherin von XR. 

https://youtu.be/H3kJwQBZOkM


Co-Founder Richard Hallam, Co-Founder, Meeting with Amnesty International


London, 4.2.2019

Video https://bit.ly/2LKrysM Roger Hallam. 06.45 – 06:54

»We are going to force the governments to act. And if they don’t, we will bring them down and create a democracy fit for purpose. And yes, some may die in the process.«


046 Blick »Spinatleugner«

 

Die meisten Kinder hassten es, kotzten es auf den Tisch, warfen mit dem Löffel nach ihrer Mutter oder verkrochen sich in der Waschküche. Ab 1929 wurden Millionen von Kindern mit dieser braunen Pampe zwangsernährt, eine pädagogisch umstrittene Form des Waterboardings. Schuld daran war der amerikanische Comic-Zeichner Elzie Crisler Segar, der den prügelnden Seemann Popeye erfand, der zur Stärkung jeweils eine Büchse Spinat verdrückte.

Als Fleisch während des Zweiten Weltkriegs Mangelware wurde, empfahl man den Soldaten Spinat. Denn Wissenschaftler glaubten, dass der hohe Eisengehalt von 35 Milligramm die Muskeln stärke. In den USA stieg der Spinatkonsum um ein Drittel, und Popeye erhielt in der texanischen Spinathochburg Crystal City ein Denkmal.

Erst im Erwachsenenalter erfuhren die einst traumatisierten Spinatleugner, dass der Eisengehalt pro hundert Gramm nicht 35 Milligramm beträgt, sondern lediglich 3,5 Milligramm. Eine Legende besagt, dass der Schweizer Physiologe Gustav von Bunge 1890 den Eisenwert zwar korrekt berechnet hatte, aber dass er für seine Untersuchungen getrockneten Spinat benutzt hatte.

Frischer Spinat hat einen Wassergehalt von rund 90 Prozent und somit nur gerade 3,5 Prozent Eisen. Da Wissenschaftler unfehlbar sind, schob man die Schuld auf eine Sekretärin, die sich angeblich um eine Kommastelle verhauen hatte. Im Zug der Political Correctness wurde aus dem Fräulein ein Laborant.

Obwohl die Menschen in Europa noch nie so alt wurden, warnen uns regelmässig neue Studien vor dem Genuss einzelner Nahrungsmittel. Jede Studie empfiehlt eine andere tolerierbare Tagesmenge. Mal betrifft es Eier, Erdnüsse, Kaffee, manchmal Rotwein, wobei hier die schädliche Tagesmenge davon abhängt, ob die Studie in einem Weinland durchgeführt wurde. Mediziner in Katalonien empfehlen maximal 70 Gramm Alkohol pro Tag, in Deutschland liegt die empfohlene Obergrenze bei 20 Gramm.

Soeben publizierten die sieben grossen ernährungswissenschaftlichen Institutionen die Mutter aller Studien und kamen zum Schluss: alles Chabis. Die Einteilung in gesunde und ungesunde Lebensmittel sei nicht mehr zeitgemäss.

Wahrscheinlich ist es unserer Unkenntnis geschuldet, dass wir uns überhaupt noch ernähren.

© Blick 4. Oktober 2019, Kolumne 46

045 Blick »Ich gut, Du Nazi«

© Blick, Kolumne 45 vom 20. September 2019


Sie schlugen den Gegnern die Köpfe ab und hängten die Trophäen um den Hals ihrer Pferde. So beschrieb der griechische Geschichtsschreiber Poseidonios das Schlachtritual der Kelten. Diese «haarigen Wilden» sprachen unverständliches Kauderwelsch und wurden deshalb Barbaren genannt, was so viel heisst wie «Stotterer». Im Lauf der Jahrhunderte wechselte die Bedeutung, und der Begriff galt nur noch für unzivilisiertes Benehmen.

Eine ähnliche Verwandlung erlebt der Begriff «Nazi». Was ist ein Nazi? Es gibt den unbelehrbaren Alt-Nazi, der einen Massenmörder verehrt, und es gibt den Neo-Nazi, der weder Hitler noch den Holocaust erlebte und in der Schule einen Fensterplatz hatte.

Nazis haben sechs Millionen Juden ermordet. Kann man jemanden, der Nobelpreisträger Milton Friedman zitiert, wonach man entweder offene Grenzen oder ein Sozialsystem haben kann, mit den schlimmsten Verbrechern der Weltgeschichte gleichsetzen?

Als Nazi werden Rechtsextreme bezeichnet, obwohl einige Historiker immer noch darüber streiten, ob Hitler nun ein Rechtsextremer oder ein Linksextremer gewesen ist. Denn er träumte wie alle Sozialisten von der sozialen Gleichschaltung, und sein Programm bewegte sich zwischen dem linken Totalitarismus Stalins und dem Faschismus des Ex-Kommunisten Mussolini. Karl Marx‘ klassenlose Gesellschaft hiess bei Hitler «Volksgemeinschaft». Ein populärer Witz war damals: «Aussen braun, innen rot.» Was also ist ein Nazi?

ZDF-Korrespondentin Nicole Diekmann (#nazisraus) formulierte es ironisch: «Jeder, der nicht grün wählt, ist ein Nazi.»

Mittlerweile gehört die einschüchternde Nazi-Keule zur populistischen Folklore im deutschsprachigen Raum und ersetzt das Argument.

Jeder Begriff nützt sich durch den inflatorischen Gebrauch ab. In den 70er-Jahren war jemand «geil», wenn er sexuell erregt war. Heute ist alles geil, was Spass macht – ein Song ist geil, Geiz ist geil und eine Burger-Aktion «drei für zwei» ist megageil.

Die nächste Generation wird das Nazi-Wort wahrscheinlich nicht mehr mit den «nationalistischen Sozialisten» in Verbindung bringen. Ich hörte im Sommer einen Teenager fluchen, weil der Tramchauffeur nicht auf ihn gewartet hatte. Er rief ihm nach: «Scheissnazi!»

044 Blick »Desperados auf zwei Rädern«

 

Dass wir heute auf unseren Trottoirs von rücksichtslosen Velo-Rowdys und E-Trottinettlern verjagt werden, hat mit dem Wetter im frühen 19. Jahrhundert zu tun. Und das kam so: Missernten führten zu einer Nahrungsmittelknappheit, zahlreiche Menschen starben den Hungertod. Während wir heute mit der Sexualpädagogin Deanne Carson öffentlich diskutieren, ob man Babys vor dem Wickeln um Erlaubnis fragen muss, hatten die Menschen damals noch echte Probleme.

Auch Karl Freiherr von Drais. Er konnte sich kaum noch das Futter für seine Pferde leisten. Da es damals weder Crowdfunding noch die Kultur des Jammerns gab, erfand er kurzerhand eine hölzerne Konstruktion mit zwei Rädern, eine sogenannte Laufmaschine, ein Vorläufer des Velos, aber noch ohne Pedale. Für den Antrieb benutzte man die Beine. Die «Draisine» erfreute sich rascher Beliebtheit, da man sie nicht füttern musste und sie nie ein Burn-out erlitt.

Doch das Geld, das der Freiherr von Drais beim Futter einsparte, investierte er in Hochprozentiges. Das hielt ihn aber nicht davon ab, 1812 eine «Notenschriftmaschine» zu erfinden, die beim Klavierspielen gleichzeitig die Noten aufzeichnete. Berühmt wurde auch seine «Schnellschreibmaschine» mit lediglich 16 Tasten und ein innovatives Rohrleitungssystem, das von seinen Hauslieferanten, den Schnapsbrennereien, übernommen wurde.

Es war wohl einer Schnapsidee geschuldet, dass er an einer Expedition nach Brasilien teilnahm. Als er fünf Jahre später mittellos zurückkehrte, wollte man den «närrischen Mann» entmündigen, aber seine Schwestern retteten ihn. Mittlerweile war seine Draisine von anderen europäischen Herstellern kopiert und verbessert worden. Er griff wieder zur Flasche. Nach einer Wirtshausschlägerei landete er in der Gosse und wurde zum Gespött: «Freiherr von Rutsch, zum Fahre kei Kutsch, zum Reite kein Gaul, zum Laufe zu faul.»

Heute ist das verkannte Genie auf einer Briefmarke verewigt, und die Weiterentwicklungen seiner hölzernen Laufmaschine sind ein Ärgernis für Fussgänger. Denn im Gegensatz zu Autofahrern geniessen Verkehrssünder auf zwei Rädern fast schon diplomatische Immunität.

043 Blick »Eine Frau sieht rot«

Ende des 19. Jahrhunderts stürmte die zwei Meter grosse Carry Nation mit einer Axt einen Saloon in Kansas und schlug die ganze Bar kurz und klein. Der Sheriff nahm sie wegen Sachbeschädigung fest. Carry protestierte, sie habe den Saloon nicht beschädigt, sondern zertrümmert, und sie werde nach ihrer Haftentlassung weiter wüten.

Dabei hatte alles friedlich begonnen. Carry war schon früh der Frauenorganisation Temperance Union beigetreten, die aus der Abstinenzbewegung der 1870er-Jahre entstanden war. Alkoholsucht war in jener Zeit ein echtes Problem.

Jeder Einwohner über 15 trank im Schnitt achtzig Flaschen Whiskey pro Jahr, also dreimal so viel wie die Nachfahren im 21. Jahrhundert. Arbeiter tranken am Morgen, am Mittag und am Abend, das Land war notorisch besoffen, und ganze Familien stürzten in Elend und Armut. Auch Carrys Biografie war mit Alkoholleichen gepflastert.

Frustriert vom abflauenden Erfolg der Abstinenzler, wollte sich Carry nicht mehr mit Protestliedern und Sitzstreiks vor den Saloons begnügen. Sie liess sich scheiden, gründete mit radikalen Christen eine neue Sektion und griff zur Axt. Sie sagte, Gott persönlich habe ihr die Lizenz zum Hacken erteilt.

Medienwirksam randalierte sie im US-Senat, auf ihren Vortragsreisen wurde sie wie ein Popstar gefeiert. Promis biederten sich an und genossen fortan ihren Whiskey heimlich, während Carry nach über hundert zertrümmerten Saloons das Merchandising entdeckte und kleine Äxte mit der Aufschrift «Saloon-Zerschmetterer» verkaufte.

Wie die meisten Massenbewegungen, die zu Beginn ein durchaus legitimes Anliegen haben, radikalisiert sich bei nur mässigem Erfolg eine ungeduldige Minderheit und begeht Straftaten, die sie als moralische Pflicht zum Widerstand deklariert. 

Greta Thunberg lehnt Gewalt ab. Das wiederholt sie auch, wenn sie zum Fotoshooting ein T-Shirt der gewalttätigen Antifa anzieht oder im Hambacher Forst mit zwei Vermummten posiert, die zur «Rettung des Klimas» Angestellte des Stromkonzerns RWE mit nicht ganz CO2-freien Molotow-Cocktails angriffen und verletzten.

Der Flirt mit demokratiefeindlichen Straftätern ist wohl als Drohung zu verstehen. Falls ja, könnte es bald heissen: Friday was yesterday.


 

 

 

042 Blick »Braveheart hätte Brüssel abgefackelt«


Jede Nation hat ihren Freiheitshelden, wir haben unseren Wilhelm Tell, die Philippinen ihren Lapu-Lapu und die Schotten ihren Wallace, besser bekannt als Braveheart (US-Film mit Mel Gibson, 1995). Was sie alle gemeinsam haben, ist ihr mutiger Kampf gegen einen übermächtigen Unterdrücker.

Auch der Arverner-Fürst Vercingetorix war ein Freiheitsheld. Nach der Niederlage von Alesia musste er vor Cäsar niederknien und seine Waffen strecken. Gallien war «befriedet», nun galten römische Gesetze, und der römische Silberdenar wurde der Euro der Antike.

Feige Fürsten unterwarfen sich hingegen kampflos, weil Cäsar ihnen Ämter anbot. In zweitausend Jahren ist aber noch niemand auf die Idee gekommen, diese Bücklinge als Freiheitskämpfer zu bezeichnen.

Es ist deshalb bemerkenswert, dass sich heute eine Gruppierung, die sich einer völlig zerstrittenen EU unterwerfen will, ausgerechnet «Operation Libero» nennt. Das Wort bedeutet so viel wie «unabhängig/frei». Sie wollen Errungenschaften verschenken, zu denen sie nichts beigetragen haben, und fragten auf ihrer Homepage: «Willst du unsere Freiheit in Europa verteidigen? Werde ein Braveheart.» Ein Freiheitskämpfer, der sich unterwirft? Braveheart hätte eher Brüssel abgefackelt.

Worin besteht die «Befreiung», wenn die mutlosen Liberos kampflos aufgeben wollen, was sich die meisten der 512 Millionen EU-Bürger sehnlichst wünschen: direkte Demokratie. Was erhalten sie im Gegenzug? Betreute Demokratie?

Worin besteht die «Befreiung», wenn man sich einer diktatorischen Union unterwirft, die immer weniger von Mitbestimmung und Meinungsfreiheit hält und die Besteuerung von Bargeld plant, um den bargeldlosen Verkehr durchzusetzen? Wenn Erspartes nur noch virtuell verfügbar ist, wird es für die europäischen Zentralbanken ein Leichtes, «einmalige» Zusatzsteuern von den Konten der Bürger abzuheben. Per Mausklick übers Wochenende.

Ist es wirklich «progressiv», wenn ein zukünftiger «Nettozahler» vor einer Union mehrheitlich maroder Staaten kapituliert?

Libero ist der charmante Arm der EU-Bürokratie, das hochmütige Pepsodent-Lächeln des neuen Versailles. Es geht nicht um links oder rechts, es geht um die direkte Demokratie: ja oder nein.


English translation


Every Nation has its freedom heroes, we have our William Tell, the Philippines, their Lapu-Lapu and the Scots their Wallace, better known as Braveheart (US-the movie with Mel Gibson, 1995). What they all have in common is their brave fight against an overwhelming oppressor.

Also, the arverni Prince Vercingetorix was a freedom hero. After the defeat of Alesia, he had to stretch in front of Caesar, kneel down, and his weapons. Gaul was pacified””, now the Roman laws were in force, and the Roman silver denarius was the Euro of the ancient world.

Cowardly Prince threw themselves, however, without a fight, because Caesar offered them Offices. In two thousand years no one has come up with the idea to call these kippers, as a freedom fighter.

The opposite of independent and free

It is remarkable, that today, a grouping, a completely fractious EU under throw want of all things, “Operation Libero” is called. The word means as much as “independent/free”. You want to give away achievements to which you have not contributed, and asked on their Homepage: “do you Want to defend our freedom in Europe? A Braveheart will.” A freedom fighter who throws himself under? Braveheart would have rather burned in Brussels.

What is the “liberation”, when the discouraged Liberos want to go down without a fight, which most of the 512 million EU citizens desperately: direct democracy. What you get in return? Supervised Democracy?

lifted up Pepsodent-Smile

What is the “liberation”, if you throw in a dictatorial Union that holds less and less of participation and freedom of expression and the taxation of cash plans, the cashless transport to enforce? If Savings is only virtually available, it will withdraw for the European Central banks a Lightweight, “one-time” additional taxes from the accounts of citizens. By a mouse-click away over the weekend.

Is it really “progressive” if in the future a “net contributor” in front of a Union majority capitulated addresses of ailing States?

the Libero is the charming Arm of the EU bureaucracy, the haughty Pepsodent-Smile of the new Versailles. It’s not about left or right, it’s about direct democracy: Yes or no.


Francais / mauvaise traduction


Chaque Nation a son Héro, nous avons notre Guillaume Tell, les Philippines Lapu-Lapu et les Cloisons de vos Wallace, mieux connu sous le nom Braveheart (US-Film avec Mel Gibson, 1995). Ce qu’ils ont tous en commun, c’est votre courageux Combat contre un puissant Oppresseur.

La Arverner-Prince Vercingetorix était un Freiheitsheld. Après la Défaite d’Alésia, il dut César de s’agenouiller et de ses Armes. La gaule était «pacifié», maintenant, étaient considérés par la Loi romaine, et romain Silberdenar l’Euro a été l’Antiquité. Figue Princes se soumirent en revanche, sans combat, parce que César vous Offices offert. Dans deux mille Ans, mais personne n’est venue l’Idée de cette Bücklinge en tant que Combattants de la liberté, de la désigner. Le Contraire de indépendant et libre.

C’est pourquoi Il est intéressant de noter que, aujourd’hui, à un Groupement, se sont totalement agressifs de l’UE, de soumettre, justement, «Opération Libero» est appelé. Le Mot signifie «indépendant/free». Vous voulez Réalisations faites à rien d’avoir contribué, et a demandé sur sa page d’Accueil: «Veux-tu de notre Liberté en Europe défendre? Vais un Braveheart.» Un Combattant de la liberté, se soumet? Braveheart aurait plutôt Bruxelles brûlé à la torche. Quelle est la «Libération», si les découragés Liberos, sans renoncer à ce que la plupart des 512 Millions de Citoyens de l’UE ardemment désirer: la Démocratie directe. Qu’obtenez-vous en Retour? Supervisé Par La Démocratie?

Enflé Pepsodent-Sourire Quelle est la «Libération», si on dictatorial Union européenne soumet, de moins en moins de Participation et d’Expression, l’estime et l’Imposition de l’Argent prévoit, pour les transactions du Trafic? Si des Économies encore virtuel est disponible, pour les banques Centrales européennes Léger, «une fois» de taxes additionnelles sur les Comptes des Citoyens de décrocher. D’un Clic de souris pour le Week-end. Est-il vraiment «progressif» si l’un des futurs «Contributeurs nets» avant une Union majoritairement maroder Unis capitulé? Libero est la charmante Bras de la Bureaucratie européenne, l’orgueilleux Pepsodent-Sourire de nouveau de Versailles. Il ne s’agit pas de gauche ou de droite, il s’agit de la Démocratie directe: oui ou non.


 

041 Blick »Dinner für alle«

Dinner für alle

Kaiser Domitian, ein paranoider Rambo der römischen Antike, führte nicht nur Krieg gegen iranische Reitervölker, korrupte Beamte, Atheisten, lesbische Priesterinnen und homosexuelle Senatoren, sondern auch gegen den Dichtestress in Roms Gassen.

Die zahlreichen Garküchen erschwerten ein Durchkommen. Es war nicht die Qualität der gesalzenen Erbsen und Gemüsesuppen, die beinahe die ganze Bevölkerung zu den Strassenkantinen trieb, sondern der Umstand, dass die Unterschicht in ihren kleinen Mietwohnungen keine Feuerstellen zum Kochen hatte und Brennholz eh den Reichen vorbehalten war. Wollte man eine warme Mahlzeit, war man auf die privat betriebenen Imbissbuden angewiesen.

Garküchen breiteten sich entlang der Handelswege aus. An Grossanlässen wie den Spielen im Circus Maximus oder an den Olympischen Spielen waren die Fleischspiesse und Pasteten nicht mehr wegzudenken. Beim Bau des Regensburger Doms vor 700 Jahren versorgten bereits «dampfende Würstchenbuden» die Bauarbeiter. Zwischen zwei Brothälften eingeklemmt wurde der Imbiss später zum Hotdog.

Die Geschichte der antiken Garküchen bis zur McDonald’s-Systemgastronomie zeigt die Veränderungen in der Ernährung einer zunehmend mobilen Gesellschaft.

Da wir uns heute einbilden, immer weniger Zeit zu haben und googeln müssten, wie man ein Spiegelei brät, sind Strassenküchen auch in der westlichen Welt wieder im Trend. Sie stillen unsere Sehnsucht nach exotischen Ferienzielen, wo Street Food immer noch zum Stadtbild gehört wie damals im alten Rom.

Ärger macht den Freiluft-Gastronomen nicht mehr der Kaiser, sondern der Dichtestress im Paragrafen-Dschungel einer regulierungswütigen Bürokratie. Als die thailändische Regierung vor zwei Jahren die Strassenküchen in Bangkok verbot, musste sie bereits am nächsten Tag zurückkrebsen. Denn günstiger Street Food ist für die Bevölkerung Asiens unverzichtbar.

Und Kaiser Domitian? Hatte er Erfolg? Er wurde ermordet, nicht von einer zornigen Strassenköchin, sondern von freigelassenen Sklaven und Gladiatoren. Im Auftrag seiner Ehefrau Domitia Longina, die zu Recht um ihr Leben fürchtete.


© Englisch translation by Adrian McDonalds, KXan36, Dallas, USA


The Emperor Domitian, a paranoid Rambo Roman antiquity, not only led the war against Iranian horse-people, corrupt officials, atheists, lesbian priestesses, and gay senators, but also against the sealing stress in Rome’s streets.

The numerous food stalls difficult one to get Through. It was not the quality of the salted peas and vegetable soups, the drive to nearly the whole population of the street canteens, but the fact that it had under-layer in your small rental apartments have no fire for cooking and firewood was always reserved for the Wealthy. You wanted a hot meal, we had to rely on the privately operated food stalls.

food stalls spread along the trade routes. At large events like the Games in the Circus Maximus or the Olympic Games, the meat kebabs and pies were an indispensable part. During the construction of the Regensburg Cathedral 700 years ago steaming stalls of Sausages-served already “” the construction worker. Between two bread halves, the Snack bar was clamped later to the hot Dog.

The history of ancient food stalls up to the McDonald’s system gastronomy shows the changes in the diet of an increasingly mobile society.

As we imagine today to have less and less time and Google would have to how to fry an Egg, are the street kitchens in the Western world back in the Trend. You are breast-feeding goals, our longing for an exotic holiday, where Street Food is still in the city, like the time in ancient Rome.

Anger makes the free air-restaurateurs no longer the Emperor, but the sealing stress in the paragraph jungle of a regulation-happy bureaucracy.

the Thai government two years ago, the street kitchens in Bangkok ban, she had to cancers already back the next day. For more affordable Street Food for the population of Asia is indispensable.

And the Emperor Domitian? He had success? He was murdered not by an angry street cook, but of freed slaves and gladiators. On behalf of his wife, Domitia Longina, the feared right to your life.

040 Blick »Die Wetterhexe« dt./engl.

Zuerst kam der Regen. Neun Monate lang. Die Menschen klagten und beteten. Dann kam die Hitze, elf Monate lang, sie war ungewöhnlich stark, «glühend und schrecklich», wie ein Chronist im Jahr 1540 berichtete, mit Temperaturen von weit über 40 Grad. In Italien war es bereits im Winter wärmer gewesen als normalerweise im Hochsommer. Ganze Seen trockneten aus, in Basel konnte man an einigen Stellen den Rhein zu Fuss überqueren, Wälder brannten, Felder verkümmerten, Ernten fielen aus, das Vieh verendete auf den Weiden, in Europa verdursteten über zehntausend Menschen, viele kollabierten bei der Feldarbeit, die Nahrungsmittelpreise schossen in die Höhe, Mord und Totschlag waren die Folge.

In über 300 Chroniken wird Europas grösste Naturkatastrophe detailliert geschildert. Das meteorologische Phänomen übertraf alle späteren Hitzesommer bei weitem.

Da man damals davon ausging, dass alles im Leben einen Sinn hat und einer gewissen Logik folgt, suchte man nach einer Ursache. Wer war dafür verantwortlich? Wer zum Teufel hatte gesündigt? Wen hatte Satan als Werkzeug für diesen «Wetterzauber» benutzt? Das musste eine Hexe sein, die sich mit schwarzer Magie auskannte.

Die Wahl fiel auf die 50-jährige Prista Frühbottin. Sie verkehrte mit Menschen am Rande der Gesellschaft und gehörte somit zu den üblichen Verdächtigen. Am 29. Juni 1540 wurde sie in Wittenberg wegen angeblichem «Wetterzauber» und dem Vergiften der Weiden zusammen mit ihrem Sohn verhaftet. Sie wurden Opfer der damals populären Hexenprozesse. Zusammen mit zwei anderen «teuflischen Gesellen» schmiedete man sie an Eichenbalken. Sie wurden «geschmäucht und abgedörrt», bis nur noch ein Häufchen Asche übrig blieb.

Die angebliche «Wetterzauberin» erlangte eine gewisse Berühmtheit. Selbst Martin Luther erwähnte sie in einem Brief an seine Ehefrau und nannte die Hexenverbrennung «nichts Neues, weil auch in diesen Landen der Teufel tobt», und bezeichnete die Hinrichtung als «Gottes Strafe für die Verachtung seines lieben Wortes».

Es dauerte 473 Jahre, bis der Rat der Stadt Wittenburg Prista Frühbottin und ihre Familie rehabilitierte.


© Englisch translation by Adrian McDonalds, KXan36, Dallas, USA


First, the rain came. For nine months. The people complained and prayed. Then the heat came, for eleven months, she was unusually strong, “glowing and terrible,” as a chronicler in the year 1540 reported, with temperatures well over 40 degrees. In Italy, it was already warmer in the Winter than it normally is in the height of summer. All the lakes dried up, and in Basel one could cross in some Places the Rhine on foot, forests burned, fields, stunted Crops were lost, cattle dead in the pastures, in Europe, thousands of people, many collapsed working in the field of thirst and ten, the food prices shot up, murder and mayhem were the result.

In more than 300 Chronicles is described by Europe’s largest natural disaster in detail. The meteorological phenomenon exceeded all of the later heat of the summer by far.

Since it was at the time, that everything in life has a meaning and a certain logic follows, they looked for a cause. Who was responsible? Who the hell had sinned? Who had used Satan as a tool for “weather magic”? This had to be a witch who was familiar with black magic.

The choice fell on the 50-year-old Prista Frühbottin. You consorted with people on the margins of society, making it one of the usual Suspects. 29. June, 1540, she was arrested in Wittenberg due to alleged “weather magic” and the Poison of the pastures together with their son. They were victims of the then-popular witch trials. Together with two other “devious bachelor” was forged to oak beams. They were geschmäucht “and abgedörrt” until only a pile of ash remained.

The alleged “Weather witch” gained a certain notoriety. Even Martin Luther is mentioned in a letter to his wife and called to the witch-burning “is nothing New, because even in this Land of the devil is raging,” and described the execution as “God’s punishment for the contempt of his love word”.

It lasted for 473 years, until the Council of the city of Wittenburg Prista Frühbottin and your family rehabilitated.

Claude Cueni (63) is a writer and lives in Basel. He writes every second Friday of the VIEWS.

Interview, Buch, Salis Verlag 2019

Claude Cueni:

»Der Mensch ist stärker als er meint.«

 


Interview von Steven Schneider


 

Claude Cueni, warum lacht man, wenn es längst nichts mehr zu lachen gibt?

Einige haben den Rhythmus im Blut, ich vielleicht den Humor. Mir fällt einfach immer ein ironischer Aspekt ein, eine Pointe, ein Wortspiel, in zahlreichen Alltagssituationen steckt eine Menge Komik. Mir fällt das sofort auf und ich speichere ab.

 

Worüber können Sie lachen?

Über mich. Ich gehöre nicht zu den Autoren, die sich furchtbar ernst oder gar zu ernst nehmen.

 

Lebt es sich besser mit dem Tod vor Augen?

Besser sicher nicht. Aber anders. Man ist auf den Augenblick fokussiert. Es ist ein eigenartiges Gefühl, wenn die Zukunft abhandenkommt. Es ist ein Wechsel zwischen Gelassenheit und Gleichgültigkeit.

 

Würden Sie es als Wunder bezeichnen, dass wir uns überhaupt unterhalten können?

Nein, ich glaube nicht an Wunder. Dass ich wider Erwarten noch am Leben bin, verdanke ich nicht einem unsichtbaren Freund, sondern der modernen Medizin, der hämatologischen Abteilung des Basler Uni-Spitals und einem anonymen Knochenmarkspender.

 

Wie würden Sie es dann bezeichnen, dass Sie nach dem vermeintlichen Schlusspfiff eine Verlängerung geschenkt bekommen haben? Glück, Schicksal?

Der Glauben an ein Schicksal mag tröstlich sein, weil er uns von jeder Schuld freispricht, aber es ist auch die Weigerung, Verantwortung zu übernehmen. Ich weiß nicht, wieso ich noch am Leben bin. Nennen wir es also einen glücklichen Zufall.

 

Und dank dieses glücklichen Zufalls können Sie nun weiter Verantwortung übernehmen. Wofür?

Als Vater tragen Sie lebenslänglich Verantwortung. Das bedeutet nicht, dass sie ihren Kindern reinreden, das bedeutet, dass Sie immer für sie da sind. Ich bin auch dafür verantwortlich, dass es meiner Frau nach meinem Tod weiterhin gut geht. Auch ohne mich.

 

Glauben Sie, dass Ihre Geschichten, die Sie in die Welt hinausschicken, auch ein Hilfsangebot sind?

Einige Leserinnen und Leser sehen das tatsächlich so. Seit meinem autobiografischen Roman Script Avenue, schreiben mir viele Leute, die schwer erkrankt sind oder andere schwerwiegende Schicksalsschläge zu meistern haben, zum Teil viel schwierigere als meine. Für diese Menschen ist es schön, mit jemandem in Kontakt zu treten, der Ähnliches durchstehen muss und nicht aufgibt. Wenn es geht, besuche ich sie auch im Spital, falls es mit dem Taxi erreichbar ist. Aus Brasilien erhielt ich einmal eine Mail von einem Spastiker, der mir dankte, weil die Figur des jungen, spastischen Kelten in Cäsars Druide/Gold der Kelten ihn motiviert hatte, sich aufzuraffen und wieder Arbeit zu finden. Nach Das Grosse Spiel schrieben mir auffallend viele gescheiterte Unternehmer, dass sie dank meinem Romanhelden John Law ihre Firmenpleite überwunden und wieder Mut gefasst haben.

 

Ein detailreiches Buch über den Begründer der modernen Finanzwirtschaft, das jetzt auch als Serie in Deutschland verfilmt wird. War Ihnen eigentlich bewusst, dass, wie John Law, Ihre Figuren eine derart starke Wirkung auf andere haben können?

Nein, sicher nicht. Ich habe keine Botschaft. Aber ironischerweise schöpfe ich heute Kraft aus Romanfiguren, die ich selbst erschaffen habe.

 

Welche Romanfigur aus Ihrem Universum bringt Sie zum Lachen?

Wenn Onkel Arthur in der Pacific Avenue den Ich-Erzähler anschreit: »Hat dir jemals eine Romanfigur die Fresse poliert?«, kann ich immer noch darüber lachen. Eigentlich erheitern mich alle meine Figuren immer wieder, auch im Alltag liegt eine Menge Situationskomik, man muss nur beobachten, genau zuhören und später die schrägen Szenen mit einer gewissen Ernsthaftigkeit beschreiben, lachen sollen die Leser.

 

Bei Ihnen klingt es so, als sei gutes Schreiben ein Kinderspiel.

Meine Produktivität ist keine besondere Leistung. Es ist vielleicht ein Akt der Verzweiflung, vielleicht eine chronische Zwangserkrankung. Wahrscheinlich beides. Als ich die Script Avenue schrieb, träumte ich oft Pulp-fiction-mäßige Szenen oder Slapstick-Dialoge und lachte im Schlaf. Dann wachte ich abrupt auf und setzte mich an den Computer. Das ist völlig normal, wenn man sich rund um die Uhr in seiner eigenen fiktiven Welt bewegt. Meine Frau imitiert mich dann beim Frühstück und wir blödeln herum. Aber ich rechne es ihr hoch an, dass sie mich nachts nie aufweckt. Denn Sie weiß: Ich arbeite.

 

Woher nehmen Sie die Kraft, trotz Zerfall und Schmerzen großartige Bücher zu schreiben?

Ich wuchs in einem religiösen und gewalttätigen Irrenhaus auf und flüchtete in eine Phantasiewelt, in die Script Avenue. Ich musste enorm viel Kraft und Mut aufbringen, um dieser finsteren Welt zu entfliehen und in eine neue Welt einzutreten, die mir kaum bekannt war. Ich habe mein Leben von da an stets als sportliche Herausforderung gesehen. Never give up. Mein Freiheitsdrang war enorm. Jedes erfolgreich gemeisterte Hindernis gab mir Mut, auch höhere Herausforderungen durchzustehen.

 

Sie scheinen sehr leidensfähig zu sein.

Ja. Kommt hinzu, dass ich mich fast ein Leben lang mit dem Alltag in den verschiedenen Epochen beschäftigt habe, um meine historischen Romane möglichst authentisch niederzuschreiben. Hunger, Krieg, Armut, Krankheit und Tod waren alltäglich. Ich habe von den damaligen Zeitgenossen viel gelernt.

 

Zum Beispiel?

Verglichen mit früher sind wir heute eine wehleidige, selbstverliebte Schneeflöckchen-Gesellschaft, die nichts mehr aushält, schnell aufgibt und nach immer mehr staatlicher Bemutterung ruft.

 

Schlechte Aussichten für uns.

Nun, der Mensch ist stärker als er meint, sonst wäre unsere Spezies längst ausgestorben. Man muss akzeptieren, dass das Leben nie gerecht ist, weder im Guten noch im Bösen.

 

Ich persönlich finde es eine schöne Vorstellung, dass es im Leben gerecht zugeht.

Wieso sollte es gerecht sein? Es gibt keine höhere Instanz, die für Recht und Ordnung sorgt. Nach dem großen Erdbeben 1755 in Lissabon fragten sich die Leute: Wenn es einen allmächtigen Gott gibt, der eingreifen möchte, aber nicht kann, dann ist er impotent. Könnte er eingreifen, tut es aber nicht, dann ist er bösartig.

 

Ist man ehrlicher, wenn man dauernd an seine Endlichkeit erinnert wird?

Ja, natürlich. Das ist auch befreiend. Ich bin sicher direkter geworden, aber versuche stets dabei freundlich zu bleiben. Es ist der Ton, der die Musik ausmacht.

 

Ihre beiden autobiografischen Romane sind, um bei der Musik zu bleiben, vielschichtige Symphonien. Darin  entsteht ein irres Universum, brüllend komisch, höchst tragisch. Am Schluss der Script Avenue schreiben Sie: »Da es mein letztes Buch sein wird, soll es mein bestes werden. Es soll ein ehrliches Buch werden. Authentisch. Nicht alle werden es mögen.« Es wurde trotzdem ein Bestseller.

Gute Geschichten entstehen nun mal nicht im Schlaraffenland. Je beschissener die Biografie, desto besser das Buch. Das ist ein Glück für die Leser, aber Pech für den Autor.

 

Sie könnten wohl auch das Sterben zur Komödie machen.

Als mir der Arzt anhand einer Grafikkurve zeigte, wie meine Lunge kontinuierlich von den fremden Blutstammzellen abgestoßen wird, dachte ich mir: »Wenn das jetzt ein Aktienkurs wäre, ich müsste die Aktie sofort verkaufen.« Mir fallen auch in solchen Situationen stets heitere Dinge ein, sofern es mich alleine betrifft. Ich kann nichts dagegen tun, ich bin mein eigener Hofnarr geworden.

 

Und dieser Hofnarr hilft Ihnen zu überleben?

Zum Überleben hilft eher der Rückzug in die eigene Phantasiewelt. Bei mir war es eben diese fiktive Script Avenue meiner Kindheit. Sie war die einzige Möglichkeit einer bedrohlichen Umgebung zu entkommen. Aber auch ich erreiche manchmal meine rote Linie. Wenn man plötzlich in der Nacht Atemnot kriegt, Muskelkrämpfe oder Nervenschmerzen hat, völlig übermüdet ist, dann braucht es viel Disziplin, um das durchzustehen. Es gibt Autoren, die behaupten, sie bräuchten ideale Bedingungen zum Schreiben. Ich kann darüber nur lachen.

 

In der Pacific Avenue sagen Sie: »Gesunde legen die Latte zum Suizid manchmal ziemlich tief. Wird man ernsthaft krank, verschiebt man sie etwas nach oben und noch etwas nach oben, denn man begreift, dass das Leben einmalig ist, dass es keine zweite Chance gibt und dass eine Existenz voller Schmerzen und Einschränkungen immer noch besser ist als keine. Tote trinken im Sommer keine eisgekühlte Cola mehr.« Sie waren schon mehrmals auf der Kippe zum Tod. Kann man nachher einfach normal weiter machen?

Nein, man verliert das Urvertrauen in das Leben. Ein Alltag unter dem Damokles-Schwert ist zermürbend, aber ich habe eine großartige Frau an meiner Seite, die mich mit ihrer Lebensfreude und Zuneigung wieder auf andere Ideen bringt. Ich fokussiere auf das Jetzt. Seneca sagte, das Leben ist lang genug, wenn man es richtig nutzt. Ich versuche es, das Leben ist einmalig und äußerst interessant. Man muss nicht hadern, sondern schätzen, was immer noch möglich ist. Lesen und Schreiben und am Wochenende ein Glas Bordeaux und die Frühlingsrollen meiner Frau.

 

Sind Sie nie neidisch auf andere gleichaltrige oder gar ältere Männer, die bei bester Gesundheit sind?

Nein, Neid war mir schon als Kind absolut fremd. Der Erfolg der andern hat mich stets angespornt. Ich freue mich, wenn andere in meinem Alter noch topfit sind. Was hätte ich davon, wenn sie genauso krank wären wie ich? Nichts. Und Neid auf Materielles ist etwas für faule Menschen. In Asien werden erfolgreiche Menschen bewundert, sie spornen an, in unserer Neidkultur kommt gleich der Rasenmäher.

 

Was ist schöner: Liebe zu geben oder geliebt zu werden?

Als Kind will man geliebt werden, als verliebter Teenager schenkt man Liebe, entzieht sie aber auch wieder, als Vater stellt man sich zurück und schenkt bedingungslose Liebe und im reiferen Alter gelangt man zur Erkenntnis, dass Schenken mehr Freude bereitet als Beschenktwerden. Sofern man ein bisschen Weisheit erlangt hat.

 

Ihre erste Frau ist 2008 an Krebs verstorben, nachdem Sie sie viele Monate zu Hause gepflegt hatten.

Es war eine unmenschliche Aufgabe, 24 Stunden am Tag, aber meine Frau bestand darauf, dass nur ich sie pflege. Ich weiß nicht, ob ich es heute wieder tun würde. Aber wahrscheinlich schon. Nach ihrem Tod war ich am Boden zerstört, mein Immunsystem im Eimer, ich hatte ständig Entzündungen und ein Jahr später Leukämie. Für meinen Sohn war es besonders schwierig, weil er innert kurzer Zeit auch noch seine beiden Großeltern verloren hatte. Und der Hund war ebenfalls gestorben. Ich nahm einen Tag nach dem andern und vermied, in die Zukunft zu schauen. Ich habe nicht damit gerechnet, mich erneut zu verlieben. Ich las das Herbstgedicht von Rilke: »Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr. Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben.« Ich dachte, so wird es wohl sein.

 

Aber so war es natürlich nicht, wenn man die Script Avenue gelesen hat.

Ich flog mit meinem Sohn nach Hongkong. Ich hatte ein Jobangebot im Advisory Board einer börsennotierten Computerspiel-Firma. Mein Sohn traf eine junge Chinesin, seine jetzige Frau, und ich lernte eine Filipina kennen, meine heutige Ehefrau Dina. Als sie ein Jahr später erstmals in die Schweiz flog, lag ich bereits in einem Isolierzimmer der Hämatologie mit tellergroßen blauen Flecken am Körper. Ich sagte Dina, ich würde die nächsten Wochen nicht überleben, es sei besser, zurückzufliegen, ich bot ihr eine hohe Summe an, damit sie auf den Philippinen ein Business eröffnen kann. Doch sie sagte, in ihrer Kultur würden die Frauen nicht davonlaufen, das täten nur die Männer. Und im Augenblick würde ich ja noch leben und für sie zähle nur das Jetzt. Wir haben heute eine tiefe und sehr harmonische Beziehung und nehmen es mit Humor, dass sich einige Leute wegen des Altersunterschieds den Hals verrenken. Je kleiner die Stadt, desto grösser die Verrenkung.

 

Was liebt Ihre Frau an Ihnen?

Sie bringen mich in Verlegenheit, ich frage gescheiter meine Frau. (…) Also, sie sagt, ich sei ein einfacher Mensch, sehr lieb, unkompliziert und nie böse, selbst wenn ich große Schmerzen habe. Und sie liebe meinen Humor. Sie nennt mich abwechselnd Honey Bunny oder Warren Buffett.

 

Ihre beiden Kosenamen machen mich neugierig.

Wir hatten uns in Hongkong zusammen Pulp Fiction angeschaut. In der Eröffnungsszene sagt die Figur Honey Bunny »I love you, Pumpkin«, und Pumpkin antwortet: »I love you Honey Bonny.« Und dann springt er auf den Tisch und schreit: »Everybody be cool this is a robbery!« War ein kleiner Scherz, den wir uns nicht mehr abgewöhnen konnten. Den Namen »Warren Buffett« erhielt ich, weil ich seit Jahren mit Börsengeschäften Geld verdiene.

 

Was lieben Sie an Ihrer Frau?

Ihre Lebensfreude, ihre Herzenswärme, ihre mentale Stärke, ihren Wissensdurst, ihre Geduld, ihre Cleverness, ihre Lebensphilosophie und natürlich, dass das Leben mit ihr so unkompliziert und harmonisch ist. Beinahe hätte ich ihre außerordentlichen Kochkünste vergessen.

 

Ihre Spezialität?

Es gibt Leute, die stundenlange Fahrten in Kauf nehmen, um bei ihr zu essen. Ihre Spezialitäten sind Teriyaki Beef, Adobong Manok, Pankit, scharfe Springrolls und ihr Cassava Cake, ein Dessertkuchen aus der Wurzelknolle der Maniokpflanze und Macapuno, einem weichen Kokosfleisch. Nicht zu verachten sind auch ihre Karaoke-Einlagen während des Kochens.

 

Hitverdächtig.

Es ist kein Zufall, dass überall auf der Welt zierliche Filipinas mit Reibeisenstimmen Musik-Casting-Shows gewinnen. Sie singen mit soviel Herzblut, als ginge es um Leben und Tod. 

 

Macht Ihre Frau aus Ihnen einen besseren Menschen?

Meine erste Frau, die ich als Teenager kennenlernte, hat mich ohne Zweifel sozialisiert, später auch domestiziert und während ihrer langjährigen Krebserkrankung tyrannisiert. Dina bringt enorm viel Lebensfreude in meinem Alltag, sie macht mich glücklich und glückliche Menschen sind oft auch bessere Menschen, weil sie zufrieden sind. Dina verdanke ich sehr viel. Trotz Krankheit, habe ich heute das bessere Leben.

 

Wie unterscheiden sich Frauen von Männern?

Ich bin nicht Experte. Man sollte auch nicht verallgemeinern. Ich erzähle deshalb nur über meine Erfahrungen nach dem Tod meiner ersten Frau und den sechs Monaten auf der Isolierstation: Die meisten Kollegen hatten nicht wirklich Eier. Wenn sie einen Schnupfen haben, rufen sie den Notarzt und wenn ein Kollege schwer erkrankt, machen sie sich aus dem Staub, schämen sich später und getrauen sich deshalb nicht mehr Kontakt aufzunehmen, wenn man wider Erwarten überlebt hat. Frauen sind anders. Nicht alle, aber generell sind sie mental stärker, treuer, sie laufen nicht davon.

 

Was ist Liebe?

Bedingungsloses Vertrauen und Vertrautheit, Heimat.

 

Haben Sie auch Ihrer Frau wegen überlebt?

Das hat mir der Oberarzt der Hämatologie schon mehrmals gesagt, aber ich dachte stets, weder ich noch Dina haben Einfluss auf den Bürgerkrieg in meinem Körper und wir könnten lediglich die Art und Weise beeinflussen, wie wir damit umgehen. Aber mittlerweile muss ich meinem Arzt recht geben, ich denke nicht, dass ich ohne Dina so lange überlebt hätte.

 

Welche Figur in Ihrer Script Avenue macht Ihnen etwas vor in Sachen Liebe?

Maricel. Maricel ist Dina. Und ich verliebe mich als Romanfigur in Maricel. Die Szenen habe ich besonders gerne geschrieben und dabei ein paar Tränen vergossen. Tja, ein Autor, der von seiner eigenen Geschichte überwältigt wird und die Tastatur wässert, ist natürlich auch Stoff für eine Komödie. Im neuen Roman Der Mann, der Glück brachte verliebt sich der Ich-Erzähler in eine Elsässerin, doch es ist natürlich immer Dina, in die ich mich erneut verliebe. 

 

Worauf kommt es an im Leben?

Zu Lebzeiten ist das individuell verschieden. Wenn das Ende naht, bedauert man, dass man soviel Lebenszeit mit idiotischen Dingen verbracht hat, dass man zu viel gearbeitet und den Freundeskreis zu wenig gepflegt hat. Es stirbt sich leichter, wenn man mit einer gewissen Befriedigung auf sein Leben zurückschauen kann, wenn man weiß, dass man schwierige, aber lösbare Aufgaben gemeistert hat, wenn man einige Träume realisiert und das Leben anderer Menschen signifikant verbessert hat. Denn nach dem Tod heißt es schon bald »aus den Augen, aus dem Sinn«, man wird schnell vergessen, sofern man keine Schulden hinterlassen hat. Überleben tut man nur im Gedächtnis der Menschen, die man geliebt hat oder denen man Gutes getan hat. Aber auch das erlischt mit der Zeit wie alles im Leben. Und am Ende spielt eh alles keine Rolle, weil Tote keine Erinnerung haben.

 

Was soll auf Ihrem Grabstein stehen?

Ich will keinen Grabstein. Ich will auch kein Land zum Vermodern beanspruchen. Ich will kremiert werden. Meine Frau und mein Sohn werden sich die Asche teilen, wobei sie sich noch nicht im Klaren sind, wer die Arme und wer die Beine kriegt.

 

Sterben und sterben lassen

Die Weltwoche publizierte kürzlich einen kritischen Artikel zur Sterbehilfe. Das Problem dabei: Ein gesunder Mensch kann nicht fundiert über das Thema urteilen. Niemand hat das Recht, mir vorzuschreiben, wie ich mein Leben beenden soll.

Von Claude Cueni

Mein Sohn hat mir abgeraten, diesen Beitrag zu schreiben. Er meint, ich würde in der Öffentlichkeit langsam als «Autor wahrgenommen, der niemals stirbt». Mein Sohn ist nicht nur das Beste, was mir jemals im Leben passiert ist, er ist auch seit einem Vierteljahrhundert mein fähigster Lektor, meine zuverlässige second opinion. Als Jurist und Strafrichter hat er eine andere Sicht der Dinge.

Ich zögerte noch aus einem anderen Grund, diesen Beitrag zu schreiben. Weil ich Matthias Ackeret zustimme, wenn er in seinem kritischen Artikel zur Sterbehilfe schreibt: «Dass ein alter, krebskranker Mensch, der dem Tod geweiht ist, sich für die Sterbehilfe entscheidet, ist nachvollziehbar.» Also machte eine Replik wenig Sinn. Ich hätte höchstens angefügt, dass es auch nachvollziehbar ist, wenn es sich um einen lediglich mittelalterlichen, krebskranken Mann handelt.

Was solche Debatten erschwert, ist stets der Umstand, dass jeder von einem anderen Fallbeispiel ausgeht. Ackeret legt den Fokus auf einen eher seltenen Fall: eine mehr oder weniger gesunde Frau, die sich entschied zu sterben. Den gibt es natürlich auch, aber er ist die Ausnahme.

Mut zum Weiterleben

Rico Bandle bat mich ein paar Tage später, meine Absage nochmals zu überdenken und einen Text zu schreiben, der meine eigene Situation beschreibt. Ich mag meine eigene Geschichte nicht mehr hören, und vielen Leserinnen und Lesern geht es vielleicht ähnlich. Aber als er mich fragte, ob sich denn ein Gesunder fundiert zum Thema Sterbehilfe äussern könne, setzte ich mich an den Computer.

Als ich im Herbst 2009 an Leukämie erkrankte und die Überlebenschancen gering waren, holte ich in Frankreich eine Zweitmeinung ein. Der Arzt meinte, an einer Leukämie zu sterben, sei kein schöner Tod und es sei in diesem fortgeschrittenen Stadium nicht falsch, das Leben zu beenden. Ich kontaktierte vom Spitalbett aus diverse Sterbehilfeorganisationen. Bei einem Verein hatte ich den Eindruck, es ginge um einen Termin für eine Fensterreinigung: «Wann können wir anfangen?» Grosses Vertrauen setzte ich hingegen in Frau Dr. med. Preisig von Lifecircle. Sie war die Einzige, die um meine vollständige Krankenakte bat, diese ausgiebig studierte und mich dann in einem dreistündigen Gespräch davon abhielt, voreilig zu handeln. Sie entsprach in keiner Weise dem negativen Bild, das die Medien von ihr zeichnen. Sie hat auch nie über Geld gesprochen oder um ein Honorar gebeten. Abschliessend sagte sie, sie sei einfach da, wenn es nicht mehr ginge. Eine Sterbehelferin, die Mut zum Weiterleben macht? Ja, das ist Frau Dr. med. Preisig.

Ich lebe wahnsinnig gerne. Das Leben ist hochinteressant. Wenn ich um zwei Uhr morgens aufstehe (unfreiwillig), freue ich mich, auf dem iPad die News der internationalen Presse zu lesen. Über Whatsapp erhalte ich täglich ein berührendes Video meiner Enkelin. Sie ist acht Wochen alt, ich will sie aufwachsen sehen. Wenn meine Frau um fünf in mein Arbeitszimmer kommt, umarmen wir uns nach zehn Jahren immer noch wie Frischverliebte. Wir haben es gut miteinander. Ich habe ein wunderbares Leben. Ich bin umgeben von humorvollen Menschen, ich mag Ironie, Sarkasmus und eine Prise Zynismus, Lachen ist eine gute Medizin.

Therapiebedingte Langzeitschäden

Im letzten Herbst setzte der Bürgerkrieg in meinem Körper wieder ein. Seit der leukämiebedingten Knochenmarktransplantation stossen die fremden Blutstammzellen meine Organe ab. Nach zehn Jahren sind sechzig Prozent der Lunge irreversibel zerstört. Mir reichen vierzig Prozent zum Schreiben. Zum Treppensteigen hätte ich gern ein bisschen mehr.

Je länger man eine solche Krankheit überlebt, desto wahrscheinlicher ist das Auftreten von therapiebedingten Langzeitschäden. Wie zum Beispiel die Polyneuropathie. Wenn Sie an gewissen Tagen einen Buchstaben in die Tastatur tippen, ist es so, als hätte der Zahnarzt einen Nerv getroffen. Ich musste deshalb mit Schreiben aufhören. Ich schrieb in meinem autobiografischen Roman «Script Avenue»: «Solange ich schreibe, werde ich nicht sterben.» Das gab mir zu denken.

Die Polyneuropathie begann bereits vor einigen Jahren. Zuerst verklebten nur die Fussgelenke, und es gab immer weniger Tage und Nächte, in denen ich nicht von Muskelkrämpfen und Nervenschmerzen gepeinigt wurde. Dauererschöpfung. Atemlos durch die Nacht. Aber ohne Helene Fischer.

Meine Wohnung gleicht heute einer Krankenstation. Manchmal möchte ich einschlafen und nie mehr aufwachen. Aber ich steige immer noch jeden Morgen auf mein Fitnessvelo, mache Kraftübungen und singe eine Stunde lang die Oldies und Chansons der siebziger Jahre. Singen ist gut für die Lunge, und man kann nicht gleichzeitig «Aux Champs-Elysées» singen und Trübsal blasen. Das Leben unter dem Damoklesschwert ist anspruchsvoll, es braucht Disziplin und Wille.

Bereits an Weihnachten 2017 musste ich mit einem schweren Lungeninfekt ins Spital. Die Behandlung wurde schwierig, weil ich noch den Rotavirus auflas. Als man mich in einem kritischen Zustand auf die Intensivstation verlegen wollte, warf ich das Handtuch. Ich rief Frau Dr. med. Preisig an, sie war im Urlaub und bereit, diesen zu unterbrechen. Wir vereinbarten den 13. Januar 2018. Meine Frau brachte mich mit einem Sauerstoffkonzentrator nach Hause und wurde meine Tag- und Nachtschwester. Die nächsten fünf Tage verbrachte ich meistens auf dem Klo. Als der Virus erledigt war, begannen die Lungenmedikamente zu wirken. Ich kriegte nochmals die Kurve, zum dritten Mal innerhalb von zehn Jahren. Ich hatte überlebt, aber auf einem nochmals tieferen Niveau.

Mangel an Empathie?

Die Gewissheit, dass ich das Leiden im allerschlimmsten Fall abkürzen kann, macht mein Martyrium erträglich. Das ist ein ganz wichtiger Punkt, den kaum ein Gesunder versteht. Ohne Handbremse würde kein Mensch in ein Auto steigen. Frau Dr. med. Preisig verdient deshalb für ihre Arbeit höchste Wertschätzung.

Wenn sich gesunde Leute über Sterbehilfe äussern, haben sie kaum eine Ahnung, wie tief man ins Elend abrutschen kann, wenn Schmerzen schwer kontrollierbar und Heilungsaussichten ausgeschlossen sind. Ist es ein Mangel an Vorstellungsvermögen oder ein Mangel an Empathie?

Meine erste Frau starb nach vierzehnjähriger Krankheit an Krebs. Sie hatte sterben wollen wie ihre geliebten Hunde. Ihr Arzt hielt sie davon ab, er sagte, heute sterbe man schmerzfrei. Meine Frau hatte bis zuletzt Schmerzen, die Morphiumspritzen behinderten die Atmung. Ihr Arzt meinte später, sie hätte sich ins künstliche Koma versetzen lassen sollen, dann wäre sie schmerzfrei gestorben.

Auf den Tod warten ist definitiv nicht mein Ding. Als mein Vater vor einigen Monaten mit 95 im Sterben lag, fragte er mich bei jedem Besuch: «Was mache ich eigentlich hier? Auf den Tod warten?» Ich habe ihm nie geantwortet. Es war seine Entscheidung.

Ich bin leidensfähig, sehr sogar, ich bilde mir ein, ich sei ein schwerverletzter römischer Legionär vor Alesia. Ich kann mich gut mit fiktiven Figuren identifizieren. Tragikomische Szenen bringen mich zum Lachen, manchmal zum Weinen. Ich bin längst mein eigener Hofnarr geworden.

Ich habe mittlerweile mein Ableben sowohl mit meinem Arzt als auch mit meiner Familie besprochen. Mein Sohn und meine Frau werden sich die Asche teilen, wobei noch nicht klar ist, wer die Arme und wer die Beine kriegt.

An der Schwelle zum Tod

Ich liebe das Leben unglaublich, ich werde nicht leichtfertig aufgeben, ich bin es meiner Familie schuldig, ich bin es auch den Ärzten und dem gesamten Pflegepersonal schuldig. Sie haben sich enorm um mich bemüht und mir ein Leben in der Verlängerung geschenkt. Auch wenn die Zukunft abhandengekommen ist.

Je kürzer meine Lebenserwartung wird, desto mehr geniesse ich die Natur. Bücher verlieren an Bedeutung. Was überlebt, sind die Gene und die guten Taten.

Die Gerüchte über meinen baldigen Tod sind etwas verfrüht. Denn ich habe wieder mit Schreiben begonnen, bin an der letzten Überarbeitung meines neuen Romans. Ich glaube an die Fortschritte der Medizin, walking dead wird zur chronischen Erkrankung.

Ich werde immer wieder gefragt, ob man an der Schwelle zum Tod nicht doch noch religiös wird. Als Teenager bezeichnete ich Gott als Sankt Nikolaus für Erwachsene. Heute halte ich Religion für die grösste Betrugsgeschichte der Menschheit, für eine groteske Form des Aberglaubens. Manchmal schreiben mir Leute anonym, der liebe Gott bestrafe mich. Aber es sterben leider auch Babys an Leukämie, bevor man ihnen Religiosität wie eine Schluckimpfung verabreicht.

Wenn ich eines Tages das Palliativstadium erreiche, werde ich es akzeptieren, und niemand hat das Recht, mir vorzuschreiben, wie ich das Leben beenden soll. Dieser Niemand ist nicht derjenige, der mir um zwei Uhr morgens beisteht, wenn ich mich wie Kafkas Käfer vor lauter Krämpfen und Nervenschmerzen nicht mehr selber aufrichten kann. Wenn ich es eines Tages beenden muss, dann wird es kein Suizid sein, sondern Schmerzbefreiung mit Todesfolge. Wieso soll ein vernünftiger Mensch ausgerechnet das Sterben dem Zufall überlassen?

Leben und leben lassen. Sterben und sterben lassen. Jeder Film geht einmal zu Ende. Ist das etwa ein Grund, den Film nicht anzuschauen? Ich habe akzeptiert, dass jedes Leben ein Verfalldatum hat. Wie jedes Mandarinenjogurt auch. Seneca sagt, das Leben sei nicht zu kurz, wenn man es richtig genutzt habe. Das ist so, no bad feelings.

© Die Weltwoche vom 25. April 2019
 
 
 

39 Blick »Zu wenig Planet« dt./engl.

 


© Blick 28. Juni 2019 / Folge 39


Vor rund 70’000 Jahren schrumpfte die Weltbevölkerung aufgrund eines Temperatursturzes auf einige Tausend Exemplare. Nach der erneuten Klimaerwärmung hatte der Mensch die Möglichkeit, sesshaft zu werden, Ackerbau und Viehzucht zu betreiben, Vorräte anzulegen und sich fleissig zu vermehren.

Als Julius Cäsar die Helvetier bei Bibracte zur Umkehr zwang, lebten bereits rund 250 Millionen Menschen auf der Erde, zu Beginn des 17. Jahrhunderts waren es 500 Millionen. Ernteausfälle, Hungersnöte, Seuchen und Kriege verhinderten einen weiteren Zuwachs. Das änderte sich im 19. Jahrhundert dank der industriellen Revolution, Fortschritten in der Medizin und Ertragssteigerungen in der Landwirtschaft.

Als Winston Churchill 1965 starb und die Rolling Stones die Berliner Waldbühne zertrümmerten, hatte sich die Weltbevölkerung auf rund 3,3 Milliarden mehr als versechsfacht. Heute zählt die Uno 7,7 Milliarden und sagt für 2050 9,7 Milliarden voraus.

Es versteht sich von selbst, dass alle umwelt- und klimapolitischen Massnahmen verpuffen, wenn die Weltbevölkerung in diesem Tempo weiterwächst.

Mehr Menschen verbrauchen mehr Ressourcen. Ein Mangel führt zu Krieg. Ein Überschuss an jungen Männern sowieso.

Weltweit hat eine Frau im Schnitt 2,5 Geburten, in Afrika sind es 4,4. Hätten diese Frauen die Wahl, schreibt die Gates-Stiftung, wäre das Bevölkerungswachstum um dreissig Prozent reduziert. Doch wegen Armut, mangelnder Bildung und weil in etlichen Drittweltländern Kinderreichtum ein Statussymbol ist, sind viele Bemühungen vergebens. Während in Grossbritannien 92,6 Prozent aller Frauen Verhütungsmittel benutzen, sind es im Südsudan lediglich 4 Prozent. Bill Gates sagt: «Kein Geld dieser Welt kann Afrika retten, nur Geburtenkontrolle.»

Im Gegensatz zur privaten Entwicklungshilfe zerstören staatliche Hilfsmassnahmen aus dem Westen oft das einheimische Gewerbe, füllen die Taschen korrupter Regierungen und besänftigen das schlechte Gewissen der Geberländer. An der demografischen Entwicklung ändert sich nichts.

Ein Uno-Botschafter nennt sie deshalb eine «tickende Zeitbombe». Das ist nicht Science-Fiction, das ist Mathematik.


column by Claude Cueni about the population growth

Translation by Adrian McDonald


In Front of around 70’000 years, the world population shrank due to a temperature fall to a few Thousand copies. After re-warming the person had the opportunity to settle down to grow Crops and livestock, inventories and multiply diligently.

When Julius Caesar forced the helvetii at Bibracte to repentance, lived around 250 million people on the earth, at the beginning of the 17th century. Century, there were 500 million. Crop failures, famines, pestilence and wars prevented a further increase. This changed in the 19th century. Century thanks to the industrial Revolution, advances in medicine and increases in yield in agriculture.

died As Winston Churchill in 1965 and the Rolling Stones, the Berlin forest stage smashed, had six times the world’s population, approximately 3.3 billion more than. Today, the UN counts 7.7 billion, and predicts that by 2050, 9.7 billion.

It goes without saying that all of the environmental and climate fizzle policy measures, when the world population is growing at this rate.

more and More people consume more resources. A deficiency leads to war. A Surplus of young men anyway.

in the World, a woman on average has 2.5 births in Africa is 4.4. These women had the choice, writes the Gates Foundation, would be to reduce the population growth of thirty percent. However, due to poverty, lack of education and because in many third world countries, children are wealth, a status symbol, are a lot of efforts in vain. While in the UK, 92.6 percent of all women use contraception, in South Sudan, only 4 per cent. Bill Gates says: “No money in the world can save Africa, only birth control.”

In contrast to the private development aid destroy the state aid measures from the West, often the local business, filling the pockets of corrupt governments and appease the bad Conscience of the donor countries. To the demographic development, nothing will change.

A UN Ambassador she calls, a “ticking time bomb”. This is not Science Fiction, this is mathematics.

38 Blick »Nach uns die Sintflut« dt./engl.


Claude Cueni about the destruction of the environment

Translation: Adrian McDonalds

“is Constantly tormented of the earth,” said the Roman officer Pliny, as he had to watch as a mine Manager, as slaves in Spanish mines, the Rock is perforated, until it crashed like a porous bone and down to the valley thundered. “As the winner, you can look to the fall of nature.”

Around eighty thousand tons of lead picked up by the Romans every year, from the ground to water pipes and kitchenware, although you could detect the toxicity of yellow-grey skin of the miners. Also for the manufacture of linen dresses you used toxic substances, many of the workers died of lung cancer and tuberculosis. Waste disposed of in rivers, how is that even today in many third world countries. The expanding settlements they cleared all the forests, the eroded soil, Floods were the result.

the stench in the streets

That dirty air, rivers full of feces and contaminated soil make people sick, and then we knew already in ancient Rome. You got annoyed, but mostly about the putrid stench that wafted through the alleys.

Pliny wrote: “We are poisoning yourself what makes us live.” He came to the conclusion that the human nature is detrimental for so long, until it hurt him.

this Is so? In the 20-million metropolis of New Delhi, the toxic exceed on some days steam the of the WHO set the red line to the fifty-fold. Often the Smog engulfs the lunch time, the sun’s light. In the list of the cities with the highest air pollution, we find six Indian cities. However, the country has excellent engineers, physicists, and chemists.

nature exploiters and anti-social

Also in lung surgeons report an increase in the number of broken lungs. While the climate is still about the causes will be discussed, the opinions on the subject of environmental pollution are unanimous.

In their After-me-the-deluge mentality of different industrial natural exploiters of anti-social, leave their garbage everywhere. Improvement is not in sight. More likely, the optimization of the human genome is more likely, so that man is similarly resistant as the rats of Chernobyl.

 


Nach uns die Sintflut

«Ständig wird die Erde gequält», klagte der römische Offizier Plinius, als er als Minenverwalter mitansehen musste, wie Sklaven in spanischen Bergwerken den Fels durchlöcherten, bis er wie ein poröser Knochen zusammenkrachte und ins Tal hinunter donnerte. «Wie Sieger blicken sie auf den Sturz der Natur.»

Rund achtzigtausend Tonnen Blei holten die Römer jedes Jahr aus dem Boden, um Wasserleitungen und Geschirr herzustellen, obwohl man die Giftigkeit an der graugelben Haut der Bergarbeiter erkennen konnte. Auch für die Herstellung von Leinenkleidern benutzte man giftige Stoffe, zahlreiche Arbeiter starben an Lungenkrebs und Tuberkulose. Abfälle entsorgte man in Flüssen, wie das heute noch in vielen Drittweltländern üblich ist. Die expandierenden Siedlungen holzten ganze Wälder ab, der Boden erodierte, Überschwemmungen waren die Folge.

Dass Dreckluft, Flüsse voller Fäkalien und verseuchte Böden die Menschen krank machen, wusste man bereits im alten Rom. Man ärgerte sich aber vor allem über den fauligen Gestank, der durch die Gassen wehte.

Plinius schrieb: «Wir vergiften selbst das, was uns leben lässt.» Er kam zum Schluss, dass der Mensch der Natur so lange schadet, bis sie ihm selbst schadet.

Ist das so? In der 20-Millionen-Metropole Neu-Delhi übersteigen an manchen Tagen die toxischen Schwaden die von der WHO gesetzte rote Linie um das Fünfzigfache. Oft verschlingt der Smog bereits um die Mittagszeit das Sonnenlicht. In der Liste der Städte mit der höchsten Luftverschmutzung finden wir sechs indische Städte. Dabei hat das Land hervorragende Ingenieure, Physiker und Chemiker.

Auch bei uns berichten Lungenchirurgen über eine Zunahme von kaputten Lungen. Während beim Klima noch über die Ursachen diskutiert wird, sind die Meinungen beim Thema Umweltverschmutzung einhellig.

In ihrer Nach-mir-die-Sintflut-Mentalität unterscheiden sich industrielle Naturausbeuter allerdings kaum von Asozialen, die ihren Müll überall liegen lassen. Besserung ist nicht in Sicht. Wahrscheinlicher ist eher die Optimierung des menschlichen Genoms, damit der Mensch ähnlich resistent wird wie die Ratten von Tschernobyl.

© Blick, Folge 38 vom 14. Juni 2019


 

37 Blick »The myth of the cancer-healing vegan blood«

Column, Claude Cueni

In ancient Rome were celebrating gladiatorial combat was originally part of the Funeral. The organizers wanted to honor the deceased with the diluted blood and the spectacle for a political office recommend. Gladiator blood was regarded as a miracle cure. It was used for the “cure” of epilepsy. Doctors contradicting each other. Nevertheless, the need remained for 500 years until the ban of the arena games, around 400 after Christ.

The gladiators died out, the remained but to believe. Charles Henri Sanson, the executioner of the French Revolution, wanted to be a doctor, but had to take the Henkerjob of the father. Kill instead of Heal. He reported in his diaries that each of onlookers huddled under the scaffold to the blood to absorb drops, seeping between the planks of wood through it, when the severed head plopped into the wicker basket. These blood-stained textiles it was said of a healing effect.

but think in Red

blood is always a Symbol for vitality and life force. It was the firm Conviction that you do not appease with blood the gods only, but also disaster to avert, and could cure the Ill. Blood rituals are as old as mankind. In all cultures, blood had a magical effect. Already Odysseus lured into the underworld, the souls of the dead with a blood sacrifice. But a religious coloring has often believe. In Christianity, the priest drinks the communion of the blood of Christ for the spiritual strengthening.

… and a pinch of Himalayan salt

While the country churches are constantly losing members, get an alternative Patchwork-religions of the inlet, because the need for community and spirituality remains the same, and so are looking for a number of Stops in a Mix of radical nutrition and fast rules, green fundamentalism, strictly regulated extremism and a pinch of Himalayan salt.

The most Militant among them, claim that vegan blood cancer heal. Anyone who has dies of cancer and non-vegan eats, it’s your own fault. The cancer vegan Mari Lopez preached last year, 500’000 followers, that chemo therapies are unnecessary. She died a few months later. How many Desperate have followed her advice, is not known.

37 Blick »Heilendes Gladiatorenblut« dt./engl.

deutsch / english


© Blick 2019 / Kolumne 37 vom 31. Mai 2019


The myth of the cancer-healing vegan blood – column, Claude Cueni

In ancient Rome were celebrating gladiatorial combat was originally part of the Funeral. The organizers wanted to honor the deceased with the diluted blood and the spectacle for a political office recommend. Gladiator blood was regarded as a miracle cure. It was used for the “cure” of epilepsy. Doctors contradicting each other. Nevertheless, the need remained for 500 years until the ban of the arena games, around 400 after Christ.

The gladiators died out, the remained but to believe. Charles Henri Sanson, the executioner of the French Revolution, wanted to be a doctor, but had to take the Henkerjob of the father. Kill instead of Heal. He reported in his diaries that each of onlookers huddled under the scaffold to the blood to absorb drops, seeping between the planks of wood through it, when the severed head plopped into the wicker basket. These blood-stained textiles it was said of a healing effect.

but think in Red

blood is always a Symbol for vitality and life force. It was the firm Conviction that you do not appease with blood the gods only, but also disaster to avert, and could cure the Ill. Blood rituals are as old as mankind. In all cultures, blood had a magical effect. Already Odysseus lured into the underworld, the souls of the dead with a blood sacrifice. But a religious coloring has often believe. In Christianity, the priest drinks the communion of the blood of Christ for the spiritual strengthening.

… and a pinch of Himalayan salt

While the country churches are constantly losing members, get an alternative Patchwork-religions of the inlet, because the need for community and spirituality remains the same, and so are looking for a number of Stops in a Mix of radical nutrition and fast rules, green fundamentalism, strictly regulated extremism and a pinch of Himalayan salt.

The most Militant among them, claim that vegan blood cancer heal. Anyone who has dies of cancer and non-vegan eats, it’s your own fault. The cancer vegan Mari Lopez preached last year, 500’000 followers, that chemo therapies are unnecessary. She died a few months later. How many Desperate have followed your advice, is not known.


deutsch


In alten Rom waren Gladiatorenkämpfe ursprünglich Bestandteil von Begräbnisfeiern. Der Veranstalter wollte den Verstorbenen mit dem verflossenen Blut ehren und sich mit dem Spektakel für ein politisches Amt empfehlen. Gladiatorenblut galt als Wundermittel. Es wurde für die «Heilung» von Epilepsie verwendet. Ärzte widersprachen. Trotzdem hielt sich der Brauch 500 Jahre lang bis zum Verbot der Arenaspiele um 400 nach Christus.

Die Gladiatoren starben aus, der Aberglauben blieb. Charles Henri Sanson, der Henker der Französischen Revolution, wollte Arzt werden, musste aber den Henkerjob des Vaters übernehmen. Töten statt Heilen. Er berichtete in seinen Tagebüchern, dass sich jeweils Schaulustige unter das Schafott drängten, um Bluttropfen aufzunehmen, die zwischen den Holzplanken hindurchsickerten, wenn der abgeschlagene Kopf in den Weidekorb plumpste. Diesen blutbefleckten Textilien sagte man heilende Wirkung nach.

Blut war stets ein Symbol für Vitalität und Lebenskraft. Man war der festen Überzeugung, dass man mit Blut nicht nur die Götter besänftigen, sondern auch Unheil abwenden und Kranke heilen konnte. Blutrituale sind so alt wie die Menschheit. In allen Kulturen hatte Blut eine magische Wirkung. Bereits Odysseus lockte in der Unterwelt die Seelen der Verstorbenen mit einem Blutopfer. Aberglauben hat oft eine religiöse Färbung. Im Christentum trinkt der Priester beim Abendmahl das Blut Christi zur spirituellen Stärkung.

Während die Landeskirchen laufend Mitglieder verlieren, erhalten alternative Patchwork-Religionen Zulauf, denn das Bedürfnis nach Gemeinschaft und Spiritualität bleibt bestehen, und so suchen Etliche Halt in einem Mix aus radikalen Ernährungs- und Fastenvorschriften, grünem Fundamentalismus, streng reguliertem Extremismus und einer Prise Himalaya-Salz.

Die Militantesten unter ihnen behaupten, dass Veganerblut Krebs heile. Wer an Krebs stirbt und sich nicht vegan ernährt hat, ist selber schuld. Die krebskranke Veganerin Mari Lopez predigte letztes Jahr ihren 500’000 Followern, dass Chemotherapien überflüssig sind. Sie starb wenige Monate später. Wie viele Verzweifelte ihrem Rat gefolgt sind, ist nicht bekannt.

36 Blick „Ist Gott impotent oder bösartig?«

 

© Blick 17. Mai 2019 / Kolumne 36


Es begann um 9.30 Uhr. Man schrieb den 1. November 1755, Allerheiligen in Lissabon. Die Strassen waren menschenleer. Die Stadtbewohner hatten sich in den Kirchen versammelt, um der Toten zu gedenken. Plötzlich bebte die Erde, die Gewölbe von über 100 Gotteshäusern brachen ein und begruben die Gläubigen unter sich. Wer schwer verletzt überlebte, erstickte an der gigantischen Staubwolke, die sich über den Trümmern erhob und den Himmel verdunkelte. Die brennenden Kerzen in den Kirchen und die offenen Feuerstellen in den Häusern entfachten verheerende Brände. Wer sich ans Ufer des Tejo retten konnte, wurde kurz darauf von zwanzig Meter hohen Wellen in den Tod gerissen. Der Tsunami flutete die Küsten Nordafrikas, und die Nachbeben brachten sogar im fernen Luxemburg eine Militärkaserne zum Einsturz. In den Trümmern von Lissabon stahlen und mordeten marodierende Banden.

Nach der Jahrhundertkatastrophe kämpften alle um die Deutungshoheit. Protestantische Geistliche hielten das Unglück für eine Bestrafung der katholischen Portugiesen, weil sie die falsche Konfession hatten und weil ausgerechnet an diesem Tag das Inquisitionsgericht tagen sollte. Katholiken wiederum erkannten eine Strafe Gottes für das dekadente Leben in der damals reichsten Stadt Europas. Dieser Deutungsversuch geriet jedoch ins Wanken, als die Menschen erfuhren, dass ausgerechnet das Rotlichtviertel die Katastrophe unbeschadet überstanden hatte. Wieso hatte Gott Prostituierte am Leben gelassen? Jeder hatte eine Meinung dazu, und da Meinungen nichts kosten, gab es viele davon.

Das Erdbeben markierte den Beginn der Erdbebenforschung und beeinflusste den Städtebau: Die Häuser erhielten Brandmauern, die Strassen wurden breiter. Aber das nachhaltigste Beben fand in den Köpfen der Europäer statt. Die Menschen fragten irritiert, wieso ein allmächtiger und gütiger Gott so viel Leid zugelassen hatte. Diese öffentlichen Debatten ebneten den Boden für Aufklärung, Wissenschaft und Vernunft.

Der schottische Philosoph David Hume schrieb: «Will Gott Böses verhindern, kann es aber nicht? Dann ist er impotent. Kann er es, will es aber nicht? Dann ist er bösartig.»


ENGLISH


Column by Claude Cueni on the earthquake of Lisbon 1755 / translation Adrian McDonalds

It began at 9.30 am. You wrote the 1. November 1755, all saints day in Lisbon. The streets were empty of people. The town residents had gathered in the churches to commemorate the dead. Suddenly, the earth shook, and the vaults of over 100 houses of worship, broke and buried the faithful among themselves. Those who survived seriously injured, choked on the gigantic cloud of dust that rose above the rubble, and the sky darkened. The burning candles in the churches and the open fires in the houses sparked devastating fires. Who could save to the banks of the Tagus, was ripped out of twenty-Meter-high waves in the death. The Tsunami flooded the coasts of North Africa, and the aftershocks brought as far as Luxembourg is a military barracks to collapse. In the rubble of Lisbon, marauding gangs, stole, and murdered.

After the century of disaster, all fought for the sovereignty of interpretation. Protestant clergy had the misfortune to be a punishment of the Catholic Portuguese, because they had the wrong religion and because, of all things, on this day the Inquisition days. Catholics detected, in turn, a God’s punishment for the decadent life in what was then the richest city in Europe. This interpretation of the trial but was shaken when the people heard that the red light district that had survived the disaster unscathed. Why had left God prostitute alive? Everyone had an opinion, and since opinions cost nothing, there were many of them.

The earthquake marked the beginning of the earthquake research and influenced the urban design: The houses were fire-walls, the roads were wider. But the most sustainable earthquake took place in the minds of the Europeans. The people asked irritated, why an omnipotent and benevolent God had allowed a lot of suffering. These public debates have paved the ground for enlightenment, science and reason.

The Scottish philosopher David Hume wrote: “is there to prevent the God of Evil, can it? Then he is impotent. He can do it, don’t want to do it? Then he is malicious.”

Claude Cueni (63) is a writer and lives in Basel. He writes every second Friday of the VIEWS.


FRANCAIS


Claude Cueni sur le Tremblement de terre de Lisbonne en Vue

Il a commencé à 9h30. On a écrit le 1. Novembre 1755, jour de la Toussaint, à Lisbonne. Les Rues étaient désertes. Les habitants de la ville avaient les Églises se sont réunis pour commémorer les Morts. Soudain la Terre trembla, les Voûtes de plus de 100 lieux de culte se sont effondrés, et les enterrèrent les Fidèles à se. Celui qui, grièvement blessé, a survécu, étouffait à la gigantesque Nuage de poussière, de Débris et, levant le Ciel obscurci. Les Cierges dans les Églises et les Cheminées dans les Maisons ont déclenché des Incendies dévastateurs. Qui se sur la Rive du Tage, de les sauver, a été, peu après, de vingt Mètres de haut, dans des Vagues de la Mort déchiré. Le Tsunami a inondé les Côtes de l’Afrique du nord, et les Répliques ont même apporté dans l’extrême Luxembourg une Caserne militaire de l’Effondrement. Dans les Ruines de Lisbonne ont volé et mordeten marodierende Gangs. Après la Jahrhundertkatastrophe se battaient tous pour l’Interprétation. Protestante Spirituelle gardé le Malheur, pour la Punition des Portugais catholiques, parce qu’ils la fausse Religion avaient et parce que, justement, ce Jour-là, le tribunal de l’Inquisition jours. Les catholiques, à leur tour, ont reconnu la Punition de Dieu pour la Vie décadente de l’époque, de Ville les plus riches d’Europe. Cette Deutungsversuch a cependant Vaciller, comme les Gens ont appris que, justement, le Quartier rouge de la Catastrophe, sans préjudice avait survécu. Pourquoi Dieu avait des Prostituées laissé la Vie? Tout le monde avait une Opinion, et parce que les Opinions ne coûte rien, il y avait beaucoup de celui-ci. Le Tremblement de terre qui a marqué le Début de l’étude des tremblements de terre et de l’influence de l’Urbanisme: Les Maisons ont reçu des Murs coupe-feu, les Routes ont été plus large. Mais le plus puissant Tremblement de terre a eu lieu dans l’Esprit des Européens. Les Gens demandaient irrité, et pourquoi, un tout-puissant et bienveillant de Dieu tant de Souffrances avait admis. Ces Débats publics ont préparé le terrain pour la Sensibilisation, de la Science et de la Raison. Le Philosophe écossais David Hume écrit: «Dieu Veut empêcher le Mal, mais ne peut pas? Ensuite, il est impuissant. Il peut, mais ne veut pas? Ensuite, il est méchant.» Claude Cueni (63) est un Écrivain et vit à Bâle. Il écrit chaque deuxième Vendredi.


 

35 Blick »Pfeffer auf dem Mond«

 

© Blick, Kolumne 35 vom 3. Mai 2019


Pfeffer auf dem Mond

Wenn eine Nervensäge im Mittelalter die Geduld seiner Mitmenschen strapazierte, wünschte man ihn ins Pfefferland. Man nahm irrtümlicherweise an, dass das Land, wo der Pfeffer wächst, am weitesten entfernt ist.

Pfeffer war damals unglaublich teuer, weil er auf einer monatelangen und gefährlichen Reise von Arabern und Venezianern auf dem Landweg von Indien nach Europa transportiert wurde. Nur vermögende Leute konnten sich Pfeffer leisten, also Adel und Klerus. Man nannte sie deshalb abschätzig «Pfeffersäcke». Das Gewürz war ein Statussymbol, zeitweise eine Zweitwährung, die mit Gold aufgewogen wurde. Wer also in Europa Pfefferkörner kaufen wollte, bezahlte eine «gepfefferte Rechnung».

Arme Leute, und das waren damals die meisten, würzten ihre Speisen mit Senfbrühe. Diese wurde so eifrig benutzt wie heute Ketchup. Zu jedem Essen «gab man seinen Senf dazu», auch das eine häufige Redewendung heute

Die ewigen Rivalen Spanien und Portugal teilten sich die Welt und wollten über das Meer die legendären Gewürzinseln erreichen. Der portugiesische Seefahrer Vasco da Gama fuhr der afrikanischen Küste entlang und entdeckte die Route nach Indien. Sein Landsmann Magellan fuhr hingegen für den Erzfeind Spanien Richtung Westen und fand die Passage zum Pazifik. Im September 1519 war er mit fünf Schiffen und 234 Männern aufgebrochen, nach knapp drei Jahren kamen 18 Überlebende zurück, vier Schiffe waren gesunken, aber das letzte war voll beladen mit Pfefferkörnern, Muskat und Zimt im Wert von 500 Golddukaten. Das entsprach den hundertfachen Expeditionskosten.

Magellan hatte nichts davon. Der philippinische Stammesfürst Lapu-Lapu hatte ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht beziehungsweise einen Speer durch die Brust gebohrt.

Magellans erste Weltumsegelung war der Auftakt zur blutigen Christianisierung Südostasiens und der Vorabend der Globalisierung. Mittlerweile liegt Asien vor der Haustür.

Deshalb wünscht man sich heute nervige Menschen nicht mehr ins Pfefferland, sondern auf den Mond. Es ist allerdings fraglich, ob es dort oben genügend Platz gibt.

34 Blick »Der Wolf kommt«


 

© Blick vom 20. April 2019


Der griechische Dichter Äsop, der vor rund zweieinhalbtausend Jahren lebte, ist kaum bekannt, berühmt ist hingegen seine Fabel vom jugendlichen Hirtenjungen, der immer wieder um Hilfe schreit («Der Wolf kommt!»). Die Dorfbewohner eilen zu Hilfe, kein Wolf weit und breit. Als dann der Wolf tatsächlich kommt, bleiben die Leute zu Hause.

Wer 1972 als Teenager eine Buchhandlung betrat, muss ganz schön erschrocken sein. Der Bestseller «Die Grenzen des Wachstums» war omnipräsent. Wer damals 16 war, ist heute 63, und falls er ab 1981 das Hamburger Magazin «Der Spiegel» gelesen und aufbewahrt hat, findet er heute in seiner Sammlung 38 Cover-Stories, die mehr oder weniger das Ende der Welt voraussagen: «Der Wald stirbt» (1981), «Wer rettet die Erde?» (1989), «Vor uns die Sintflut» (1995), «Achtung, Weltuntergang» (2006), um nur einige zu nennen.

Alles, was man zum ersten Mal erlebt, prägt sich wie ein Brandzeichen ein, egal, ob es das Sterben eines geliebten Menschen ist, der erste Sex oder die erste Fernreise in einen anderen Kulturkreis. Das gilt auch für die erste Schocknachricht.

Auch wenn der Weltuntergang noch auf sich warten lässt, so haben diese übereilten Prophezeiungen doch zu einer Sensibilisierung beigetragen.

Jugendliche, die noch kaum der Pubertät entronnen sind, werfen ergrauten Politikern vor, den Planeten zugrunde zu richten, weil sie altersbedingt die Folgen ihrer Tatenlosigkeit eh nicht mehr erleben werden. Das ist teilweise zutreffend.

Die Passivität der Erwachsenen hat aber auch damit zu tun, dass die Älteren seit 38 Jahren Weltuntergänge erleben und überleben und mittlerweile ähnlich reagieren wie die Dorfbewohner in der Fabel von Äsop. Einem Teenager, der noch vom hormonellen Tsunami getrieben wird und Halt in radikalen Schwarz-Weiss-Ideologien sucht, fehlt mangels Lebenserfahrung schlicht die Möglichkeit, etwas, das er zum ersten Mal erlebt, vernünftig einzuordnen.

Könnte er das, wäre ihm bewusst, dass das ungebremste Bevölkerungswachstum das grösste Problem der Menschheit ist. Es ist ein sehr heikles Thema, das man lieber ausklammert. So wie es auch schon die Betreiber von Hotel Mama gemacht haben.


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33 Blick »Panik Wallfahrten«


© Blick, Kolumne 33 vom 5. April 2019


Wir brauchen keine Panik-Wallfahrten

Der italienische Universalgelehrte Galileo Galilei widerlegte 1614 die damals herrschende Meinung, wonach Luft kein Gewicht habe. Dann behauptete er auch noch, dass sich die Erde um die Sonne drehe. Mehr als 99 Prozent der damaligen Wissenschaftler waren anderer Meinung und bezeichneten Galileos Behauptungen als Blasphemie.

Der Astrophysiker Nir Joseph Shaviv sieht sich mit einer Ablehnung von 97 Prozent seiner Kollegen konfrontiert. Er sagt, Wissenschaft sei keine Demokratie. Der deutsche Bundestag lud ihn nach Berlin ein, um seine Thesen darzulegen.

Shaviv behauptet, dass die Klimaerwärmung im frühen Mittelalter wesentlich stärker war, weil die Sonneneinstrahlung höher und die Vulkantätigkeit niedriger war. Es sei irreführend, nur die letzten 100 Jahre für Klimamodelle beizuziehen. Viele halten seine Aussagen für «Quatsch». Aber besteht das Prinzip der Wissenschaft nicht gerade darin, als gesichert geltende Erkenntnisse permanent in Frage zu stellen?

Dass die kolossale Umweltverschmutzung die Gesundheit schädigt und vom Menschen verursacht wird, stellt niemand in Frage. Auch die Klimaerwärmung bezweifelt niemand. Strittig ist nur, ob sie eine jahrtausendealte Naturkonstante mit wechselnden Eis- und Hitzeperioden ist oder ganz oder teilweise vom Menschen verursacht wird.

Man kann nun die medial befeuerte Panik für die Erhebung neuer Abgaben nutzen. Man kann die Klimakeule zur neuen Nazikeule machen. Aber dem Klima ist das ziemlich egal. Gefragt sind Visionen. Ist historisches Wissen Voraussetzung dafür?

Wer hätte sich früher vorstellen können, dass eines Tages die stinkenden Dampflokomotiven durch elektrische Eisenbahnen ersetzt werden, kaputte Herzen durch gesunde, Menschen auf dem Mond landen und Telefone mobil werden?

Während wir darüber debattieren, was wir alles verbieten (oder besteuern) könnten, bauen die Japaner Wasserstoffautos und glauben, den CO2-Ausstoss der Neuwagen bis in 30 Jahren um 90 Prozent senken zu können. 

Die Welt von morgen braucht keine Panik-Wallfahrten, sondern Ingenieure und den Glauben von Jules Verne, wonach alles, was sich ein Mensch ausdenkt, eines Tages von einem anderen Menschen realisiert werden wird.


© Blick, Kolumne 33 vom 5. April 2019


 

32 Blick »Täglich grüsst der Weltuntergang«

Bereits vor zweitausend Jahren zogen selbsternannte Propheten durch die Gegend und versetzten die Bevölkerung in Panik: «Der Weltuntergang ist nah! Tut Busse!» Da diese Warner offenbar eine Standleitung zu höheren Mächten hatten, sammelten sich die Ängstlichen und Humorlosen um sie herum und frassen ihnen aus der Hand.

Wer am meisten Angst verbreitete, hatte am meisten Anhänger. Mit der Figur des Teufels errang das Christentum die Pole-Position. Fortan schwebte das Damokles-Schwert über den Köpfen der Sünder und bestimmte ihr Handeln.

Die Zukunft nach Nostradamus

Der Meister der Panikmache ist Nostradamus, der die Zukunft bis ins Jahr 3797 voraussagte und klugerweise 1566 verstarb, damit ihm niemand seine Irrtümer vorwerfen konnte.

Als im Sommer 1999 «ein grosser König des Schreckens» vom Himmel runterfahren sollte, bestand kein Zweifel daran, dass Putin (oder eher Kim Jong Il?) die Welt zerstören würde. Da die beiden anderweitig beschäftigt waren, wurden die nebulösen Verse nachträglich als poetische Beschreibung einer Sonnenfinsternis interpretiert und fortan hiess es, Nostradamus habe die Sonnenfinsternis vorausgesagt.

Greta, das sprechende Flugblatt

Die heutigen Weltuntergangs-Propheten sind keine Religionsführer, sondern Wissenschaftler. Der Club of Rome publizierte 1972 «Die Grenzen des Wachstums», Ölvorräte würden bis 2010 versiegen. Wann haben Sie zuletzt getankt? Dann krabbelte der Borkenkäfer in die Redaktionsstuben, und wir nahmen Abschied von der Tanne in Nachbars Garten.

Die aktuelle Panik-Kampagne mit einem autistischen Mädchen als sprechendes Flugblatt war eine clevere Idee des PR-Profis Ingmar Rentzhog. Nur nützt sie weniger dem Klima als dem Aktienkurs seiner Firma und den beiden Aktiengesellschaften von Gretas Vater.

Klima retten, Pony reiten

Wenn «Klima retten» nicht zum neuen «Pony reiten» verkommen soll, braucht es technische Innovationen und Hilfen zur Geburtenkontrolle, denn die Mehrheit im Westen will sich nicht einschränken, und die Dritte Welt wird nicht auf die begonnene Industrialisierung verzichten.

Die Dreckschleudern in den Fabriken des 19. Jahrhunderts wurden nicht durch Verschrottung der Dampfmaschinen und einem folkloristischen Rückfall in die Pubertät beseitigt, sondern durch neue Erfindungen (und soziale Verbesserungen).

Claude Cueni (63) ist Schriftsteller und lebt in Basel. In seinem Roman «Godless Sun» beschrieb er die Entstehung einer neuen Naturreligion. Cueni schreibt jeden zweiten Freitag im BLICK.


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31 Blick »Mobile Neandertaler«

© Blick vom 8. März 2019, Kolumne 31

Mobile Neandertaler

Im alten Rom war es ähnlich wie heute mit dem Flugverkehr. Ein Beamter klagte: «Alle wollen Strassen, bloss nicht in ihrer Nachbarschaft.» Zuvor hatte sich schon Julius Cäsar mit dem Thema beschäftigt und sich Einbahnstrassen und Fahrverbote ausgedacht, aber die Umsetzung war schwieriger als die Eroberung Galliens.

Bridget Driscoll wäre hingegen lieber nicht berühmt geworden. Als sie am 17. August 1896 in London auf dem Weg zu einer Tanzveranstaltung war, traf sie auf Roger. Genauer gesagt: auf ein seltsames Ding, das mit einer Geschwindigkeit von sechs Stundenkilometern auf sie zuschlingerte. Der französische Ingenieur Emilie Benz hatte seinen Roger-Benz zusammengeschraubt und mit vier Rädern versehen. Bridget erlitt eine tödliche Kopfverletzung und ging als erstes Opfer eines Autounfalls in die Geschichte ein.

Das war neu. Denn bisher brachen sich die Londoner auf dem holprigen und von Pferden vollgepissten Pflaster eher die Knochen, wenn sie sich zwischen Tierkadavern und ineinander verkeilten Kutschen ihren Weg bahnten.

Mit der zunehmenden Motorisierung verschwanden zwar Tonnen von Pferdeäpfeln aus dem Strassenbild, aber tödliche Unfälle häuften sich und machten eine Strassenverkehrsordnung notwendig.

1868 wurde in London die erste gasbetriebene Verkehrsampel installiert, sie explodierte bereits nach wenigen Wochen. Erst mit der Elektrifizierung wagte man einen neuen Anlauf. 1920 leuchteten in New York dreifarbige Ampeln für Fahrzeuge und ab 1933 in Kopenhagen die ersten Ampeln für Fussgänger. Es folgten Schilder, Zebrastreifen, Tempolimits, Sicherheitsgurt und vor rund 50 Jahren der Airbag.

Städtebauliche Massnahmen, eine Verbesserung der Fahrzeugtechnik und verkehrspädagogische Pflichtschulungen wurden laufend verbessert.

Doch ausgerechnet die Politik gefährdet heute die Sicherheit auf den Strassen und setzt sich über die Warnungen der Experten hinweg. Neulenker, die auf Automaten gelernt haben, dürfen seit 1. Februar ohne Zusatzprüfung geschaltete Autos fahren. Rechtsvorbeifahren und Rechtsüberholen auf Autobahnen soll auch noch erlaubt werden. Freude herrscht unter den mobilen Neandertalern.

30 Blick »Lucky Luke & die echten Daltons«.

© Blick Folge 30, 22. Februar 2019

 

Lucky Luke & die echten Daltons

 

Im Wilden Westen Mitte des 19. Jahrhunderts sorgten Marshalls für Ruhe und Ordnung in den Städten. Frank Dalton war einer von ihnen. Aber nicht lange. Bereits im Alter von 28 Jahren wurde er von einem Outlaw erschossen. Seine Brüder Bob und Grat, auch sie Marshalls, waren darüber so erbost, dass sie die Branche wechselten und sich fortan mit ihren Brüdern Emmett und Bill in den Fachbereichen Pferdediebstahl, Eisenbahn- und Banküberfall weiterbildeten.

 

Der Erfolg stieg ihnen zu Kopf, und im Oktober 1892 wollten Bob, Grat und Emmett gleich zwei Banken aufs Mal ausrauben. Bill war verhindert, er sass gerade im Knast in Kansas. Er wurde von den Berufskollegen Dick Broadwell und Bill Power vertreten.

 

Doch vor der C. M. Condon & Company Bank in Texas wurden sie von einem bewaffneten Aufgebot gestellt und niedergeschossen. Ein berühmtes Foto vom 5. Oktober 1892 zeigt vier Leichen, zwei Daltons und die beiden Kumpels. Emmett Dalton war nicht auf dem Foto, denn er überlebte trotz 23 Schussverletzungen.

 

Er wurde zu lebenslanger Haft verurteilt und nach 15 Jahren begnadigt. Erneut musste er die Branche wechseln. Den neuen Job fand er nicht als Rausschmeisser in einem Saloon, sondern inmitten von Western-Kulissen aus Pappkarton. Er wurde historischer Berater in Hollywood, schrieb das Drehbuch zum Film «Beyond the Law» und spielte den Bösewicht gleich selbst. Mit sechzig schrieb er seine Autobiografie «When the Daltons Rode» (Als die Daltons ritten) und starb.

 

Nicht wirklich. 1946 erweckte ihn der Comic-Zeichner Morris zu neuem Leben. Er hatte mit Lucky Luke eine Figur erschaffen, die schneller als ihr Schatten schiesst, aber es fehlten noch einige Bösewichte. Vier der Dalton-Brüder wurden seine ewigen Gegenspieler, der Kleinste war smart, der Grösste doof. Ab 1955 füllte René Goscinny (ab 1959 auch Texter von «Asterix») die Sprechblasen. Nach seinem Tod übernahmen jüngere Autoren.

 

Während Comic-Zeichner wie Hergé (24 Alben) ihre Figuren mit ins Grab nahmen und testamentarisch weitere Abenteuer verboten, gönnte Morris seinen Millionen Fans weitere Geschichten (bisher 78 Alben) und seinen Erben neue Lizenzeinnahmen.

Highway to hell. Kein Nachruf.

© Weltwoche vom 10. Januar 2019

Der Teufel, der ihn verfolgte

Im autobiografischen Roman «Script Avenue» liess ich meinen Vater frühzeitig sterben. Nun ist er tatsächlich tot. Zuvor kam es zu einer eigenartigen Begegnung. 

Von Claude Cueni

Ich habe meinen Vater nicht aus Rache getötet, ich wollte ihn auch nicht bestrafen, ich habe ihn aus Angst getötet. Das erste Mal 1980 in meinem Erstlingswerk «Ad acta». Später, als ich mit «Das Gold der Kelten» den Gallischen Krieg dramatisierte, liess ich ihn von einem nubischen Sklaven vergewaltigen, von römischen Legionären ans Kreuz nageln und schliesslich vor den Toren Alesias jämmerlich zugrunde gehen. Vergebens. Nachts schlich er sich in meine Träume zurück, er hatte Arme wie Monsterkraken. Sie stanken nach abgestandenem Zigarettenrauch und Feldschlösschen-Bier. Mit einem Beil zerhackte ich die Hände, die so viel Übles getan hatten. Sie wuchsen nach wie die Häupter der Hydra. Ich erträumte mir Schwerter, Harpunen und die Machete von Danny Trejo in Robert Rodriguez’ «Machete Kills», die Hydra wuchs nach.

«Nüdeli mit Hackbraten»

Schliesslich beendete ich 2014 mit meinem autobiografischen Roman «Script Avenue» die Endlosschlaufe. Ich liess den «hageren Blonden im hellblauen Hemd» eines natürlichen Todes sterben. Die Beerdigung verlief unblutig. Ich dachte, die Dämonen würden jetzt tief unter der Erde vermodern, Staub zu Staub. Doch im Folgeband «Pacific Avenue» erhielt ich von einem DHL-Boten die Tagebücher meines Vaters. Offenbar hatte er noch ein bisschen weitergelebt. Ich las seine Tagebücher und dachte, vielleicht könnte ich mehr über diesen merkwürdigen Menschen erfahren, aber er hatte nichts Bewegendes festgehalten. Mozart schrieb am 13. Juli 1770 wenigstens: «Gar nichts erlebt. Auch schön.» Mein Vater notierte am 22. November 1963: «Nüdeli mit Hackbraten, 20:00 St. Anton.» Das war der Tag, an dem Kennedy erschossen wurde.

Ich hörte nichts mehr von meinem Vater, jahrelang. Bis mich schliesslich im Herbst dieses Jahres eine SMS erreichte. Mein Vater liege im Sterben, er habe den Wunsch geäussert, mich nochmals zu sehen, er sei sehr unruhig in der Nacht. Ich bestellte ein Taxi und besuchte ihn im Pflegeheim, sein Zimmer war leer. Die Schwester sagte, er sei im Frühstücksraum. Nur gerade zwei Personen sassen an einem viereckigen Tisch, eine alte Frau, die ins Leere starrte, und gegenüber ein alter, ausgemergelter Greis in einem Rollstuhl, das bisschen Haar wie lose Sträucher in der Wüste, ein einziger Zahn war ihm geblieben.

Das musste mein 95-jähriger Vater sein. Ich setzte mich neben ihn und wartete. Er bemerkte, dass sich jemand gesetzt hatte, vermied es aber, den Kopf zu drehen. Wir sassen eine ganze Weile da. Vor ihm war ein Teller mit einem Butterbrot, das jemand in kleine Stücke geschnitten hatte. Ich war gewarnt worden, er sei beinahe taub. Deshalb hatte ich kleine Zettel vorbereitet mit Antworten auf Fragen, die er mir möglicherweise stellen würde. Auf dem ersten Zettel stand: «Ich trage einen Mundschutz, weil ich keine Immunabwehr habe.»

Es ärgerte ihn, dass jemand ihm einen Zettel vors Gesicht hielt, er warf einen flüchtigen Blick darauf, dann gleich einen zweiten, plötzlich schaute er mir direkt ins Gesicht, ich zog meinen Mundschutz für einen Augenblick herunter, er ergriff meinen Unterarm, schaute an die Decke und dankte Gott, dass er das noch erleben durfte. Seine Hand war immer noch riesig, aber sie hatte nicht mehr das Ausmass einer pazifischen Riesenkrake mit klebrigen Saugnäpfen. Die Haut hatte sich dunkel verfärbt, stellenweise bläulich, als hätte jemand seine Lebensenergie gedimmt, als hätte das Blut bereits begonnen zu verdicken und sich zu setzen. Ich begriff, dass man die Hydra nicht besiegt, indem man sie jede Nacht enthauptet, man besiegt sie, indem man sie sein lässt.

Martyrium im Worst Case

Die Kommunikation war einfacher als erwartet. Die meisten Fragen hatte ich geahnt und die Antworten auf den Zetteln notiert. Eine Pflegerin sagte ihm, er solle brav den Mund auftun. Kaum hatte er es getan, schob sie ihm ein Stück Brot in den Mund und bestrich die restlichen Brotwürfel mit einer zusätzlichen Butterschicht. Mein Vater rief laut, dieses Heim sei ein Gefängnis. Die Pflegerin lachte, offenbar hielt sie es für einen Scherz. Aber ich bin sicher, er hatte es ernst gemeint und nur so getan, als fände er es lustig, wie ein Kleinkind behandelt zu werden.

Er sagte der alten Dame gegenüber, dass ich ihr Sohn sei. Sie reagierte nicht. Als er es wiederholte, stand sie auf, nahm ihren Rollator und bewegte sich auf mich zu. Sie crashte gegen meinen Stuhl. Ich dachte, vielleicht hat sie Probleme mit den Augen oder mit der Motorik. Sie crashte erneut gegen meinen Stuhl, immer und immer wieder, wie eine verwelkte Jeanne d’Arc mit ihrem Sturmbock. Ich fragte sie, ob ich vielleicht ihren Stuhl besetzt habe, aber das konnte ja nicht sein, weil sie bereits sass, als ich reinkam. Ich stand auf und schob meinen Vater in sein Zimmer zurück.

Wir setzten uns auf den kleinen Balkon. Er sagte, es sei schon merkwürdig, wie ein Leben ende, er sitze hier und warte auf den Tod. Ich schwieg. Hätte ich ihm etwa sagen sollen, dass ich seit Jahren Mitglied von Lifecircle und Exit bin, weil ich seit zehn Jahren hauptberuflich krank bin und Lebensfreude und Humor unter dem Damoklesschwert nur deshalb intakt sind, weil ich das Martyrium im Worst Case abkürzen könnte? Ich behielt diese Gedanken selbstverständlich für mich. Jeder soll sterben, wie er mag. Mein Vater hatte sich für den christlichen Kreuzgang entschieden, da er glaubte, dass sein unsichtbarer Freund es nicht gerne sehen würde, wenn er sich heimlich aus dem Staub machte.

Mein Vater hatte viel zu erzählen, es war sein Leben, ich war nur eine Fussnote, er hatte nie Kinder gewollt, weder Ehefrau noch Familie. Aber jetzt, wo das Ende nahte, kam ihm in den Sinn, dass es da noch ein paar Blutsverwandte gab. «Ich bin seit zehn Jahren verheiratet», hatte ich auf einem der Zettel notiert. Er äusserte den Wunsch, meine Frau kennenzulernen, also kamen wir am nächsten Tag zu zweit. In ihrer Gegenwart blühte er auf, sang ein joviales Mundartlied über Vergänglichkeit und Tod und dass am Ende eh alles scheissegal sei. Ich erfuhr mehr über ihn als in meiner gesamten Kindheit. Er sagte, er sei vom Dittinger Dorfpfarrer vergewaltigt worden, seine Mutter sei nicht eingeschritten. Dass auch er weggeschaut hatte, als zwei meiner Cousins jahrelang von einem Onkel vergewaltigt wurden, hatte er verdrängt. Seine Biografie hatte er neu erfunden. Schliesslich sagte er, sein ganzes Leben sei schiefgelaufen, er habe viel Unrichtiges getan, so vielen Menschen Unrecht getan, aber daran sei nicht er schuld, sondern der Teufel, der ihn seit Geburt verfolge.

Reue und Hader am Lebensende sind der highway to hell, weil es für alles zu spät ist – ein dornenreicher Abschied, wenn Körper und Geist im Gleichschritt ermatten, bis man endlich aufhört zu existieren. Ich empfand Mitleid für einen Menschen, der heuchlerische Frömmigkeit zum Lifestyle erhoben, aber ein durch und durch unchristliches Leben geführt hatte. Wer ein Leben lang nur an sich denkt, hat am Lebensende niemanden, der an ihn denkt. Ich hörte ihm trotzdem zu, «no bad feelings anymore», die «Script Avenue» war meine reinigende Neunzig-Grad-Wäsche gewesen. Jetzt war alles in trockenen Tüchern.

Todesanzeigen sind Fake News

Als ich Anfang Oktober die SMS erhielt, er sei in der Nacht gestorben, bekam ich feuchte Augen. Seit meine erste Frau vor zehn Jahren gestorben ist, passiert das auch, wenn eine Cartoon-Figur stirbt. Empathie gehört zwar zum Rüstzeug eines Autors, aber weniger wäre mir offen gestanden lieber. Aber wenn man im Leben genügend Leid erfahren hat, entwickelt man ein grösseres Einfühlungsvermögen.

Mein Vater wollte keine Todesanzeige. Vielleicht fürchtete er, man würde wenig Vorteilhaftes über ihn schreiben, obwohl Todes- anzeigen meistens Fake News der gröberen Art sind. Ich hätte getextet: «Er lebte länger als erwartet und deutlich länger als verdient. Sein Tod beweist, dass das Böse tatsächlich sterben kann.» Dass mein Vater 95 Jahre alt wurde, ist vielleicht der ultimative Beweis, dass es keinen Gott gibt.

Man kann von jedem Menschen etwas lernen, sowohl vom Positiven als auch vom Negativen. Ich erinnere mich, wie er mich als Knirps an der Hand aus der Wohnung schleifte, nachdem er meine Mutter mit einer brutalen Ohrfeige vom Taburett gefegt hatte. Als ich übermüdet neben ihm im Wirtshaus «Sommereck» sass, sagte er: «Wenn du einmal gross bist, musst du mit deiner Frau auch so verfahren.» Dann bestellte er das Übliche, «ein Bier, einen Sirup».

Muss ich ihm dankbar sein? Ohne ihn hätte ich als Teenager wohl nie die nötige Kraft gehabt, diesem gewalttätigen und religiösen Irrenhaus zu entfliehen. Hätte er Eier gehabt, wären mir keine Strausseneier gewachsen. Mein Leben lang war ich stets bemüht, nicht so zu werden wie er. Ich werde ihn nur vermissen für das, was er nie gewesen ist.

Claude Cueni ist Schriftsteller und lebt in Basel. Zuletzt erschien von ihm «Warten auf Hergé» (Münster-Verlag). Am Sonntag, 13. Januar, 12.35 Uhr auf Radio SRF 2 Kultur: «Musik für einen Gast» mit Claude Cueni.

 

© Weltwoche vom 10. Januar 2019

Interview Hessischer Rundfunk

Anmoderation: Kai Völker

Vor genau 90 Jahren sind sie zum ersten Mal in ein Abenteuer gezogen. Der junge Mann mit der hochstehenden Locke und sein kleiner weißer Hund. Tim und Struppi haben Millionen Leser in der ganzen Welt begeistert. Was wir heute über ihren Erfinder Hergé wissen, begeistert dagegen wenig. Claude Cueni, Buch- und Fernsehautor aus Basel, hat über Hergé recherchiert. Und einen Essay und einen Roman geschireben. Hallo, Claude Cueni!

Hergé, der Erfinder von Tim und Struppi, stand den belgischen Nazis nah. Merkt man das den Geschichten von Tim und Struppi an?

Heute kaum noch. Die ersten Alben erschienen ja ab 1929 in Schwarzweiss und wurden später von Hergé und seinen unterschlagenen Co-Autoren gekürzt, koloriert und laufend der political correctness angepasst. Das einzige was erhalten geblieben ist, sind die antisemitischen Zeichnungen des  skrupellosen jüdischen Bankiers Bohlwinkel im Geheimnisvollen Stern.

Seine Nähe zu den Ideen der Nazis hat Hergé und dem Erfolg seiner Geschichten rund um Tim und Struppi nie geschadet. Das ist aus heutiger Sicht kaum zu verstehen. Haben Sie eine Erklärung?

Das hat ihm anfangs schon geschadet. Nach dem Krieg wurde er ja viermal als Nazi-Kollaborateur verhaftet, verbrachte eine Nacht im Gefängnis, verlor für zwei Jahre sämtliche Bürgerrechte, wurde mit einem Berufsverbot belegt… aber der Rechteinhaberin Moulinsart ist es gelungen, mit Hilfe zahlreicher Fans, die heute als Autoren oder Journalisten arbeiten, den Mythos Herge zu erschaffen. Eine grossartige Geschichtsfälschung.

Sie selber sind mit den Geschichten von Tim und Struppi groß geworden. Sie haben die Geschichten verschlungen und geliebt. Geht das auch heute noch, wo sie die ganze Geschichte von Hergé kennen?

Gute Frage. Als Kind liebt man Tim & Struppi und interessiert sich nicht für Hergé. Wenn ich mir heute eine Haddock-Büste kaufe oder eine Mondrakete, kaufe ich Kindheitserinnerungen. Wir erinnern uns nicht an Hergé, sondern an die Abenteuer von Tim & Strupi, an die Zeit, in der wir der Erwachsenenwelt entflohen und im Schatten des Arumbaya Fetisch vor uns hinträumten.

Für viele Fans von Tim und Struppi war sicher auch ihr Erfinder Hergé ein Held. Sie haben ihn vom Sockel gestoßen. Wie waren die Reaktionen?

Es gab einen Shitstorm aus Belgien und Frankreich. Ich habe damit gerechnet und deshalb im Anhang des Romans WARTEN AUF HERGE 143 Quellen aufgeführt, alles ist transparent, jeder kann es überprüfen und trotzdem die Fakten schönreden. Ich habe damit kein Problem, wir leben in eine freien Land. Und wissen Sie, wenn Sie es allen recht machen wollen, müssen sie am morgen im Bett bleiben.

Mit welchem Zitat würden Sie Hergé am besten charakterisieren?

»Wenn mir eine Idee gefällt, assimiliere ich sie vollständig, und ich vergesse augenblicklich und für immer, dass sie von einem anderen stammt.«

Wofür werden Volksvertreter gewählt?

© Blick, Samstag, 18. August 2018


Gewalt von nicht-integrierten Migranten gegen Frauen wird lieber tabuisiert als thematisiert. Schriftsteller und BLICK-Kolumnist Claude Cueni hat das bei seinem Roman «Godless Sun» selber erlebt.

Max Frisch sagte einst: «Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen.» Heute müssen wir sagen: «Wir riefen Flüchtlinge, und es kamen nicht nur Flüchtlinge.» Sondern auch ein paar junge, gewaltgewohnte Abenteuermigranten aus frauenfeindlichen Kulturen, die unsere Toleranz als Feigheit verspotten.

Als Angela Merkel im Herbst 2015 eigenmächtig die Grenzen öffnete, warnten europäische Geheimdienste, Polizeipräsidenten und Soziologen vor den Folgen einer unkontrollierten Zuwanderung aus patriarchalischen Gesellschaften. Soziologe Gunnar Heinsohn sagte: «Wo es zu viele junge Männer gibt, wird getötet.» Merkel traf keinen vernünftigen Entscheid, sondern einen politischen.

Und sogleich die Nazikeule

«Refugees welcome» war populär, als ich den Roman «Godless Sun» schrieb. Wer Integrationswillige von Integrationsunwilligen unterschied, wurde gleich mit der Nazikeule erschlagen. Da das Thema zu meinem neuen Romanstoff passte, flocht ich die Flüchtlingskrise ein und las jeden Morgen auf dem iPaddie Online-News der deutschen Lokalzeitungen. Denn nur Regionalmedien berichteten anfangs regelmässig über die tägliche Gewalt, über Angriffe auf Frauen, über die Zunahme von Antisemitismus und Homophobie und über blutige Auseinandersetzungen zwischen verfeindeten Ethnien und überforderten Polizeikräften.

Wer das nicht relativierte, war ein Hetzer. Wenn sich Skeptiker in Talkshows zu Wort meldeten, blendete die Redaktion das Bild eines weinenden Kindes ein, der Kritiker starb augenblicklich den medialen Tod. Meinungsvielfalt galt nur noch unter Gleichgesinnten. Die neue Political Correctness führte zu einer Schweigespirale, aber nicht zur Lösung des Problems.

Houellebecqs «Unterwerfung»

Als «Godless Sun» erschien, hielten mich einige für einen Schwarzmaler, was ich durchaus verstehen konnte, denn was sie in den nationalen Medien lasen, entsprach nicht den aufwendigen Recherchen, die meinem Roman zugrunde liegen. Ich hatte Fakten dramatisiert und in eine nahe Zukunft extrapoliert. 

Der Deutschlandfunk nannte «Godless Sun» das deutsche Pendant zu Michel Houellebecqs «Unterwerfung». Der Redaktor mailte, es sei sehr schwierig gewesen, die Rezension durchzuboxen, es habe Widerstand gegeben. Obwohl der erste Buchtrailer im Internet 1,4 Millionen Aufrufe erzielte, war es nicht einfach, eine Lesung zu organisieren. Nur eine kam zustande. Ein Buchhändler bat um Verständnis, sagte, er möge das Buch, aber die Kundschaft würde ihm eine solche Veranstaltung verübeln.

Opfer finanzieren Täter

Es hat nun zwei Jahre gedauert, bis man einsah, dass die Entwicklung nicht so verlief wie erhofft, dass einige Migranten bei uns jene Kultur ausleben, die ihre Heimatländer zum Scheitern gebracht hat. Sie schaden nicht nur dem Gastland, sondern auch ihren Landsleuten, die sich bei uns vorbildlich integriert haben. Ich kenne einige davon.

Leider gibt es immer noch Politiker, die jedes Gewaltdelikt als bedauerlichen Einzelfall bagatellisieren und Frauen Empfehlungen geben, wie sie sich durch gemässigte Kleidung, Pfeffersprays, verkürzte Ausgangszeiten und eine Armlänge Abstand schützen können. Absurderweise finanzieren die Opfer von Gewaltdelikten mit ihren Steuerzahlungen nicht nur jene Politiker, die sie im Stich lassen, sondern auch die Sozialkosten der Gewalttäter.

Lieber Gewalt verharmlosen

Viele Politiker wollen das Risiko vermeiden, als fremdenfeindlich eingestuft zu werden und bei der nächsten Wahl durchzufallen. Lieber Gewalt verharmlosen als gemeinsame Sache mit dem politischen Gegner machen. Aber wenn man Probleme lösen will, muss man sie beim Namen nennen. Und handeln. Dafür werden Volksvertreter gewählt.

 

«Godless Sun» von Claude Cueni

 

Im Kreuzfeuer der Fanatiker 

Im 2016 erschienenen Bestseller «Godless Sun» von Claude Cueni (62) geht ein Atheist, der sein Geld mit dem Schreiben von Groschenromanen verdient, den Ursprüngen der Religionen nach, dem Sinn des Lebens – und gerät unversehens in Konflikt mit religiösen Fanatikern. Den brisanten aktuellen Hintergrund liefern Flüchtlingskrise, Migration, Islamisierung und eine westliche Gesellschaft, die mit ihrer Toleranz gegenüber der Intoleranz ihre Werte aufs Spiel setzt. Als Begleitbuch zu «Godless Sun» erschien die «Bibel der Atheisten», eine Sammlung von Zitaten zum Thema von Xenophanes bis Woody Allen.

Der Schriftsteller und BLICK-Kolumnist Claude Cueni lebt in Basel. Im November erscheint sein neues Buch «Warten auf Hergé».

04 Blick »Keine Nobelpreise für Haram«


Die Schweiz kommt mittlerweile auf 30 Nobelpreise (alle Kategorien / Stand September 2020)


 

Nein, Sie werden keinen Nobelpreis erhalten. Die Frist für Nominierungen ist abgelaufen. Der Begründer, Alfred Nobel (1833–1896), Sohn eines Rüstungsfabrikanten, war ein schwedischer Chemiker und Erfinder. Sein jüngerer Bruder Emil starb zusammen mit vier anderen Mitarbeitern bei einem Experiment mit seinem Nitroglycerin.

Sein grösster Coup gelang ihm jedoch mit dem Ballistit, einem raucharmen Pulver, das Schusstechnik und Kriegsführung revolutionierte. Alfred Nobel starb, nachdem er 355 Patente angemeldet und 90 Sprengstoff-Fabriken gebaut hatte. Er hinterliess ein enormes Vermögen, mit dem seit 1901 die Nobelpreise finanziert werden.

In den folgenden 115 Jahren haben gerade mal zwei muslimische Wissenschaftler in den Königsdisziplinen Medizin, Physik und Chemie eine Auszeichnung erhalten. Im gleichen Zeitraum kommt die Schweiz auf 20 Nobelpreise. Wieso ist das so?

Vor rund 1000 Jahren hätten arabische Wissenschaftler noch alles abgeräumt. Das war die Blütezeit des weltoffenen und toleranten Islams, und Bagdad war das Zentrum von Wissenschaft und Forschung.

Aber mit dem Aufkommen des Wahhabismus setzte sich die Doktrin durch, wonach alles Wissen schon im Koran angelegt ist und die Wissenschaft sich danach richten muss. Wie soll man da Nützliches für das 21. Jahrhundert entwickeln? Das Prinzip der Wissenschaft ist ja gerade, dass man unabhängig von seiner Weltanschauung vermeintlich gesichertes Wissen immer wieder hinterfragt.

Eine Gesellschaft, die auf den weiblichen Teil der Bevölkerung verzichtet und nur zwischen halal und haram (erlaubt oder nicht erlaubt) unterscheidet, verharrt in ewiger Stagnation, weil die Voraussetzungen für Innovationen fehlen.

Das Prinzip der Wissenschaft ist auch in der politischen Diskussion unentbehrlich. Man tut der Gesellschaft keinen Gefallen, wenn man Kritiker reflexartig mit orchestrierten Empörungsritualen einschüchtert. Political Correctness ist heute das Halal-Haram des freien Westens, das Gegenteil von Aufklärung.

Aber Denkverbote lösen keine Probleme. George Orwell sagte: «Freiheit bedeutet Dinge zu sagen, die andere nicht hören wollen.» Leider gibts für kluge Zitate keinen Nobelpreis.

 

©Blick 23. Februar 2018

Interview Weltwoche 5. April 2018

© 2018 Weltwoche – Interview mit Rico Bandle

Herr Cueni, Sie leben noch. Ein Wunder!

Eher ein Triumph der Medizin. Mein Überleben verdanke ich der guten Behandlung in der Hämatologie des Balser Unispitals. Aber ich lebe weiter unter dem Damoklesschwert. Seit der Leukämie bedingten Knochenmarktransplantation herrscht Bürgerkrieg in meinem Körper. Die fremden Blutstammzellen stossen meine Organe ab. Aber ja, ich lebe noch. 

Bei Ihnen hat man das Gefühl, die Aussicht, jederzeit sterben zu können, habe Sie produktiver gemacht. 

Dieses Jahr habe ich bisher sechsmal die Wohnung verlassen, vier Mal für einen Spitaltermin.  Jeder Kriminelle mit Fussfesseln hat mehr Bewegungsfreiheit. Was soll ich den ganzen Tag tun? Reha? Dunkle Schokolade essen? Ich stehe jeden Tag um spätestens drei Uhr morgens auf, unfreiwillig. Dann mache ich das, was ich mir bereits als Kind angewohnt habe. Ich ziehe mich in meine Fantasiewelt zurück, in meine «Script Avenue». Ich bin ein zufriedener Mensch, wenn ich in meine Welt zurückkehre, hier bin ich zu Hause. 

Verhält man sich anders, wenn man weiss, dass man nicht mehr lange zu leben hat?

Die einen pflanzen noch einen Baum, die andern fällen einen Baum, weil sie den Überlebenden keinen Schatten gönnen. Ich tue weder das eine noch das andere. Vieles habe ich bereits verschenkt, ich fokussiere auf das Jetzt und geniesse es auch. Das Leben ist einmalig. Aber ich mache mir keine Illusionen. Ausserhalb der Familie bleibt man nur in Erinnerung, wenn man Schulden hinterlassen hat. Das Einzige, was bleibt, ist das, was man für andere getan hat. 

Was man für die Familie getan hat?

Nein, auch für andere Leute. Seit meinem Buch «Script Avenue», schreiben mir viele Leute, die schwer erkrankt sind oder andere schwerwiegende Schicksalschläge zu meistern haben, zum Teil viel schwierigere als meine. Für diese Menschen ist es schön, mit jemandem in Kontakt zu treten, der Ähnliches durchstehen muss und nicht aufgibt. Wenn es geht, besuche ich sie auch im Spital, falls es mit dem Taxi erreichbar ist.

Sie veröffentlichen alle paar Monate ein Buch. Verspüren Sie den Drang, vor dem Tod noch möglichst viel zu publizieren?

Nein, sobald Sie tot sind, hat das alles keine Bedeutung mehr. Aber wenn ich mit etwas Neuem beginne, möchte ich es auch zu Ende bringen. Also werde ich von meinen Figuren zur Eile gedrängt und vernachlässige mein Reha-Programm. Jetzt ist eben «Der Mann, der das Glück brachte» erschienen, der nächsten Roman, »Warten auf Hergé«, liegt bei den Testlesern. Vielleicht ist es eine Zwangserkrankung, vielleicht ein Akt der Verzweiflung, wahrscheinlich beides. 

Eine Zwangserkrankung?

Die Geschichten entwickeln sich mittlerweile auch weiter, wenn ich nicht am Computer sitze. Mein Gehirn arbeitet auch wenn ich schlafe, dann kann ich am nächsten Tag die Szenen wie ein Sekretär niederschreiben. Meine Frau rezitiert manchmal beim Frühstück die Dialoge, die ich im Schlaf gemurmelt habe. Aber sie weckt mich nie in der Nacht, denn sie weiss, ich arbeite. 

Sie können noch selber Tippen? 

Ich habe eine Brille, bei der eine Seite abgedeckt ist, weil die Augen infolge Pillen und Schlafmangel manchmal auseinanderdriften. Der Sauerstoffkonzentrator steht für Notfälle neben dem Pult. Und ich habe Chirurgenhandschuhe für den Fall, dass die Nervenschmerzen in den Fingerkuppen mich am Schreiben hindern. Das sind alles Nebenwirkungen der Behandlung, aber das ist okay, ist alles Einstellungssache. Wenn ich von anderen Autoren höre, dass sie nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen schreiben können, kann ich herzhaft lachen. 

Der Horror wäre, mitten in einem Buch zu sterben.

Ich sage immer im Scherz: Solange ich schreibe, sterbe ich nicht. Da ist etwas Wahres daran. Man erkrankt ja oft erst nachdem etwas Schwieriges beendet ist. So war es auch nach dem Tod meiner ersten Frau. Ich war während der Pflegejahre nie krank, nach ihrem Tod war ich total erschöpft, mein Immunsystem im Eimer und ein Jahr später erkrankte ich an Leukämie.

Viele Leute, die in einer ähnlichen Situation sind wie Sie, werden gläubig. Die Aussicht, dass nach dem Tod nicht alles vorbei ist, ist tröstlich. Bei Ihnen scheint das Umgekehrte der Fall zu sein: Ihr rationaler Atheismus scheint unverrückbar.

Absolut. Wenn mir Leute sagen, es kommt etwas nach dem Tod, so tönt das für mich etwa so, als würde jemand behaupten, in meinem Briefkasten sei ein blauer Elefant, der Saxophon spielt. Eine völlig absurde Vorstellung. Jede Religion ist für mich eine Variante des Aberglaubens. Aber jeder soll glauben, was er will.

Es ist doch traurig, an nichts glauben zu können, was nicht beweisbar ist. Religion, auch wenn sie noch so absurd erscheint, spendet Wärme.

Ja, es ist ohne Zweifel sehr tröstlich, wenn man mit Hilfe religiöser Phantasien die beschränkte Lebenszeit ins Unendliche verlängern kann. Für mich besteht der Trost darin, dass man es im Extremfall selber beenden kann. Das ist ein ganz wichtiger Punkt! Ich bin weder lebensmüde noch lebenssatt, ich lebe wie schon gesagt sehr gerne. Aber erst die Gewissheit, dass es für den worst case eine Handbremse gibt, macht den Alltag erträglich. Und wenn ich Wärme brauche, umarme ich meine Frau. 

Ihr aktueller Roman, «Der Mann, der das Glück brachte», ist ein Krimi rund um eine Person von der Lotteriegesellschaft, die die Gewinner benachrichtigt und berät. Hierfür haben Sie mit jenem Mann gesprochen, die diese Aufgabe für Swisslos übernimmt, Willy Messmer. 

Mit ihm habe ich mich ausgetauscht, die Geschichte und die Figuren sind aber fiktiv, das möchte ich betonen. Interessant ist, dass es einige Gewinner plötzlich mit der Angst zu tun kriegen. Sie haben das Gefühl, dass nach dem grossen Glück ein Unglück folgen werde. Als ob das Eine mit dem Anderen abgegolten werden müsse. 

Ist da etwas dran?

Sicher nicht. Aber ich kann das Gefühl nachvollziehen. Auch ich hatte als Teenager solche Phobien: Wenn ein Manuskript fertig war und ich es auf die Post brachte, hatte ich stets die Befürchtung, ich würde unterwegs von einem deux chevaux überfahren, ausgerechnet jetzt, wo ich meinen Nobelpreis verdächtigen Roman an den Suhrkamp Verlag abschicken wollte. Ein Stoff für Woody Allen. 

Man hört oft Geschichten, dass Lottomillionäre ihr Geld rasch wieder los sind.

Die Medien lieben diese Geschichten. Die Leser wohl auch. Ein Michael Carroll arbeitete bei der Müllabfuhr, gewann umgerechnet 13,6 Millionen Euro, nach 5 Jahren war alles weg. Er arbeitet heute wieder bei der Müllabfuhr. Das sind krasse Ausnahmen, die Realität sieht ganz anders aus. Gemäss einer Umfrage von Swisslos hatte der Gewinn bei 87 Prozen der Befragten keinen grossen Einfluss auf Alltag und Umgebung. Die Hälfte gab an, dass sie sich lediglich ab und zu Kleinigkeiten leisten wie auswärts essen, Ausflüge oder Ferien. Sie geniessen und schweigen. Das ist die Normalität.

Vor zwei Jahren haben Sie «Godless Sun» veröffentlicht, eine apokalyptische Vision angesichts der fortschreitenden Migration, insbesondere durch Muslime. Seither sind Sie als «rechter Autor» abgestempelt. Würden Sie den Roman wieder schreiben?

Als das Buch herauskam, galt ich als «Schwarzmaler«. Es war die Zeit, kurz nach»dem Angela Merkel im Herbst 2015 verfassungswidrig im Alleingang die Grenzen geöffnet hatte. Da musste man jeden Zuwanderer «Flüchtling» nennen. Zitierte man öffentlich eine Statistik starb man den medialen Tod. Mittlerweile hat der Wind gedreht. Trotzdem würde ich das Buch nicht mehr schreiben.

Weshalb nicht?

Weil es sinnlos ist. Die negativen Folgen der unkontrollierten Massenzuwanderung sind irreversibel. Wäre ich in Afrika geboren, ich garantiere Ihnen, nichts könnte mich davon abhalten, nach Europa zu kommen. Aber wenn hundertausende Testosteron getriebene junge Männer aus verfeindeten Ethnien bei uns aufeinanderprallen, führt das früher oder später zu gesellschaftlichen Verwerfungen. Wenn die Wähler den Politikern, die ihre Fehlentscheide bis zu ihrem Amtsende aussitzen wollen, weiterhin ihre Stimme geben, ist das ihr gutes Recht, das ist Demokratie. Aber ich spiele nicht den Sisyphos. 

Das tönt resigniert. Houellebeck hatte auch Erfolg mit demselben Thema.

Houellebecks Bücher kann man nicht totschweigen. Er ist bekannt genug, um mit einem solchen Buch eine Debatte zu lancieren. Das ist mir nicht gelungen. 

Gerade die Kulturszene ist gnadenlos gegenüber Leuten mit abweichender Meinung: Eben hat sich der Suhrkamp-Verlag von seinem Starautor Uwe Tellkamp distanziert, weil er sich kritisch zur Einwanderungspolitik geäussert hat. Sie selbst haben noch nie einen Preis erhalten, obschon «Script Avenue» zum Stärksten gehört, was die Schweizer Literatur in den letzten zehn Jahren herausgebracht hat.

Wer sich für Rechtsgleichheit einsetzt und linke und rechte Gewalt und Intoleranz gleichermassen verurteilt, gerät in Verdacht, ein Verräter zu sein. Ich war dabei, als SVP-Politiker Oskar Freysinger Mitglied des Schweizer Autorenverbands werden wollte. Wer damals im Sinne von Voltaire der Aufnahme zustimmte, galt als persona non grata. Ich setzte mich für Freysinger ein, obwohl ich weder seine Bücher noch seine Ansichten mag. Mit Ausnahme von mir und einem Tessiner waren alle für die Ablehnung von Freysingers Antrag. Ich bin dann als einziger aus dem Verband ausgetreten. 

Aus Protest?

Wer meine Ansichten nicht teilt, ist nicht mein Feind. Aber mit dieser Auffassung gehört man im Kulturbetrieb zu den Randständigen. Das ist auch der Grund wieso ich nach 20 Büchern in vierzig Jahren noch nie an die Solothurner Literaturtage eingeladen wurde. Was die Szene zusammenhält, ist die gemeinsam praktizierte Intoleranz gegenüber anderen. Aber ich bin niemandem böse. No bad feelings. Mich interessiert mehr, ob meine Frau heute abend ihre philippinischen Frühlingsrollen kocht.

 

BLICK KOLUMNE HISTORY

© Blick, 18. Mai 2018 – No. 10 Der Wein, der Papst wurde

© Blick, 4. Mai 2018 – No. 9 Selfies mit Tinte

© Blick, 20. April 2018 – No. 8 In den Sack spucken

© Blick, 6. April 2018 – No. 7

© Blick, 23. März 2018 – No. 6

© Blick, 9. März 2018 – No. 05

© Blick 23. Februar 2018 – No. 04

© Blick 9. Februar 2018 – No. 03

© Blick 27. Januar 2018 – No. 02

 

© Blick 12. Januar 2018 – No. 01


 

Aus der geschützten Werkstatt für Pädophile

20minuten schreibt heute (7.1.2018):

Es geht um unerwünschte sexuelle Avancen und Belästigungen bis hin zu Vergewaltigungen. Beschuldigt sind Priester, Ordensleute und Nicht-Kleriker. Bei der Bischofskonferenz sind bis heute gegen 250 sexuelle Übergriffe gemeldet worden. Sie ereigneten sich zwischen 1950 und heute. Betroffen sind über 140 Kinder und Jugendliche sowie 88 Erwachsene.

Das erinnert mich an die Kontroverse im Jahre 2014 im Zusammenhang mit meinem autobiograhischen Roman »Script Avenue« (640 Seiten). Auf zwei Seiten hatte ich die sexuellen Belästigungen im Internat Schwyz Mitte der 70er Jahre erwähnt.  Nicht aus Empörung, sondern weil es eine der autobiographischen Episoden war, die meine Einstellung zur Katholischen Kirche verständlicher machte.

Eine Innerschweizer Zeitung zitierte damals aus dem Roman. Regierungsrat und Bildungsdirektor Walter Stählin (SVP) zeigte sich »sehr betroffen« und rief medienwirksam eine »Task Force« ins Leben, die rasch zum Schluss kam, dass es keine Fakten gibt und das Ganze wohl meiner Phantasie entsprang.

Sie hatten keinen einzigen damaligen Mitschüler befragt. Damit sie »wahrheitsgetreu« sagen konnten: Wir haben keine Fakten.

Stattdessen erwähnten sie Mails von Ehemaligen, die in den 60er Jahren im Internat gewesen waren… und die Vorgänge Mitte der 70er Jahre bestritten –  obwohl sie den fehlbaren Präfekten Costa gar nie gekannt hatten…

Nach wochenlangem Aufwand fand ich schliesslich die Anschriften zweier damaligen Internatskollegen (der eine wohnte in Maroko). Sie waren bereit, als Zeitzeugen auszusagen. Aber Walter Stählin, der kurz vor der Beendigung seiner Amtszeit stand, hatte »kei Luscht«.

Ich liess es dann dabei bewenden, weil ich nun wirklich keine Lust hatte, dass man einen 640seitigen Roman in der Oeffentlichkeit auf ein paar wenige Zeilen reduziert.

Ich erhielt Monate später Besuch aus dem Bistum Chur. Sie hatten die Sache aufklären wollen, aber der Kanton Schwyz hatte sich geweigert die Liste der damaligen Intenatsschüler auszuhändigen… Ich übergab darauf Msgr. Dr. med., Dr. ius. can. Bischofsvikar Bonnemain Joseph Maria, den ich als sehr integre und beeindruckende Persönlichkeit kennenlernte, die Anschriften und Telefonnummern von zwei damaligen Mitschülern, die bereit waren, als Zeitzeugen auszusagen. Ich zeigte ihm auch den folgenden (pubertären) Tagebucheintrag:

Das Glockengebimmel regt mich auf, der schwule Präfekt auch. Die zu niedrige WC Türe auch. Die Abfallkörbe finde ich hingegen lustig: WC St. Johann, WC Don Bosco.

Ich weiss nicht, ob die beiden Zeitzeugen mittlerweile kontaktiert wurden. (Nachtrag vom 23.8.2018: Nein, sie wurden nicht.)

*

Zum besseren Verständnis:

Der fehlbare Präfekt hiess Costa. Er fasste uns beim morgendlichen Waschgang gerne überraschend an den Hintern, es ging also um sexuelle Belästigungen und nicht um mehr. Als kraftstrotzende 17jährige hätten wir uns zu wehren gewusst, aber er näherte sich stets überraschend von hinten. Einige fragten sich, wieso diese uralte Geschichte nach so vielen Jahren auftaucht. Eine »Anklage« nach so vielen Jahren wäre in der Tat lächerlich, aber in einem autobiographischen Roman gehören die zwei Seiten dazu, um darzulegen, wieso die Hauptfigur die katholische Kirche für eine geschützte Werkstatt für Pädophile hält.

*

Das Kollegium Schwyz, 1856 vom Kapuzinerpater Theodosius Florentini gegründet, wurde bis 1972 vom Bistum Chur geführt, von da an übernahm der Kanton Schwyz die Schule. Bis 2001 gehörte ein Internat mit unterrichtenden Priestern dazu. Daher das damals angespannte Verhältnis zwischen Bistum Chur und Kanton Schwyz.

Pilotfilm Cobra 11 – Die Autobahnpolizei

Wiederholung am 3. Juli 2017 auf RTL Nitro um 23.10

Die Erstausstrahlung fand am 12. März 1996 bei RTL statt und hatte 10 Millionen Zuschauer

Meine Hommage (Drehbuch) an #Hergés Figuren: Der #Pilotfilm zur #RTL Serie »Alarm für Cobra 11« mit dem Titel »Bomben bei Kilometer 92« wurde bereits in 120 Ländern ausgestrahlt.

Ich war seit frühester Kindheit ein Tintin-Fan, Tintinologen werden deshalb diverse Charaktere und Szenen aus den Tim-und-Struppi-Alben erkennen: Schulze & Schulze als Bauarbeiter, Prof. Bienlein, Rascar Capacs, die alte Frau, die eine Telefonzelle besetzt, – weil es draussen regnet usw. usf. 

RTL NITRO ist kostenlos und unverschlüsselt mit einem digitalen Satelliten-Receiver über Astra 19,2° zu empfangen.

Seit dem Start im März 1996 wurden in über 160 Folgen rund 3.100 Autos zu Schrott gefahren, 794 Gangster verhaftet, 300.000 Meter Film belichtet und ein paar Tonnen Popcorn verspiesen. 


Inhalt (Wikipedia):


Ein neuer Fall für Kriminalhauptkommissar Frank Stolte und Kriminalhauptkommissar Ingo Fischer. An einer Autobahnböschung detoniert eine als Krabbendose getarnte Bombe. Zwei Straßenarbeiter überleben mit knapper Not. Sofort scheint der Täter mit Richie Weber gefasst, da dieser kurz vorher mit Bomben entlang der Autobahn gedroht hatte. Kurz darauf wird bei einem Trödler eingebrochen. Die gestohlenen Sachen werden wenig später mit einer Kassette und einer Zinnfigur in der Nähe der Autobahn gefunden. Auf der Kassette gibt sich ein gewisser „Rascar Capac“ als Urheber des Bombenanschlags zu erkennen. Er fordert 1 Million DM in bar und ein Kilo Gold. Bei dem Trödler finden die Kommissare heraus, dass es sich bei „Rascar Capac“ um eine Figur aus einem Tim und Struppi-Comic handelt. Nach einer gescheiterten Lösegeldübergabe wird eine Baustelle umgestellt, sodass es zu einer Massenkarambolage kommt. Für Frank beginnt ein Katz-und-Maus-Spiel. Zuerst wird er vom Bombenleger in ein Schwimmbad geschickt, als dort aber auch Ingo auftaucht, schickt „Rascar Capac“ Frank in ein Museum. Dort scheitert allerdings die Geldübergabe, als ein Museumswächter den Sack mit dem darin enthaltenen Geld stiehlt. Nachdem auch diese Lösegeldübergabe gescheitert ist, wird der Polizist Marcus Bodmar durch einen Anschlag von „Rascar Capac“ schwer verletzt und warnt die Kommissare vor weiteren Anschlägen. Revierleiterin Katharina Lamprecht hat nach den Anschlägen mit der Presse zu kämpfen. Doch der Fall nimmt eine unerwartete Wendung, als herausgefunden wird, dass der Sprengstoff, den Rascar Capac benutzt, schon früher einmal von dem Terroristen Khalid Masharid benutzt wurde. Dieser sitzt allerdings im Gefängnis. Auch bei einem Gespräch mit dem Terroristen kommen die Kommissare nicht weiter. Erst durch einen Tipp des verletzten Marcus Bodmar, der im Krankenhaus alle Tim und Struppi-Comics durchgelesen hat, finden die Kommissare in einem stillgelegten Autobahnbunker den Sprengstoff, den Khalid einst benutzt hatte. Als die Kommissare dem Terroristen mitteilen, dass sie seinen Sprengstoff gefunden haben, finden sie auch heraus, dass es Steve Kröger ist, ein ehemaliger Häftling, dem Khalid den Aufenthaltsort seines Sprengstoffes verraten hat, und der sich hinter dem Pseudonym „Rascar Capac“ versteckt. Nun kommt es zu einer letzten finalen Lösegeldübergabe, bei der Kröger Frank erst durch die ganze Stadt schickt und später in einem Hotel das Geld durch einen Wäscheschacht werfen lässt. Doch Kröger wird zusätzlich von Ingo und Anja Heckendorn, welche als Ersatz für Bodmar neu im Team ist, verfolgt. Es beginnt eine Verfolgungsjagd, bei der Frank auf das Dach von Krögers Auto springt. Schlussendlich rast Kröger mit seinem Wagen in einen Güterzug und kann leicht verletzt verhaftet werden, doch er verspricht wiederzukommen.



Weitere verfilmte Drehbücher  vom gleichen Autor


 

Manchester

Nach dem Pariser Attentat auf die Redaktion von Charlie Hebdo (2015) sagte Bundesrätin Doris Leuthard in ihrem Tweet vom 7. Januar 2015: »Satire ist kein Freipass. Aber keine Darstellung, keine Publikation legitimiert Gewalt. Das ist aufs Schärfste zu verurteilen.«

Also irgendwie selber schuld? ViktorGiacobbo schrieb damals ans UVEK, dass auch das Bundesratsamt kein Freipass sei, um nach den ermordeten Karikaturisten die Satiriker zu ermahnen.

Wer damals die Wurzel des Uebels im »politischen Islam« (religiöser Faschismus) sah, wurde als islamophob bezeichnet oder als Hetzer diffamiert. (Ich habe seit der Publikation meines Romans »Godless Sun« Erfahrung damit.)

Was schreibt nun die (mittlerweile) Bundespräsidentin Doris Leuthard nach Manchester auf Twitter? «Die Tatsache, dass das Anschlagsziel einmal mehr Leute sind, die auswärts ein Konzert geniessen wollen, ist entsetzlich». Sie sei in Gedanken bei den Betroffenen und empfinde tiefes Beileid mit den Opferfamilien.

Diese repetitive Heuchelei ist unerträglich, wenn man bedenkt, dass der rechtskräftig verurteilte 32jährige Iraker XX aus der Schaffhauser IS-Zelle »ausgewiesen« wurde… aber »bleiben darf«

(https://www.srf.ch/news/schweiz/is-unterstuetzer-wird-ausgewiesen-und-darf-bleiben)

weil ihm angeblich im Irak die Todesstrafe droht. Das bedeutet im Klartext: Der Schweizer Regierung ist die Unversehrtheit eines nachweislichen Terrorunterstützers wichtiger als die Unversehrheit der eigenen Bevölkerung bzw. der Steuerzahler, die für Kost, Logis, Gesundheitskosten, Gratisanwälte usw. usf. derjenigen aufkommen, die die Ausrottung dieser (ungläubigen) Steuerzahler propagieren. Obwohl er laut dem Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) stellt er weiterhin eine Gefahr für die Schweiz dar (SRF 22.12.16).

Man muss nicht Autor sein, um sich auszudenken, was geschieht, wenn wir eines Tages nicht 80 Gefährder im Land haben, sondern 800. Zum Schutz aller hier lebenden Muslime, die sich bei uns integriert haben (die grosse Mehrheit), muss man jener radikalen Minderheit, die das nicht will, das Aufenthaltsrecht entziehen. Und nicht nur auf dem Papier.

#chronos (1967)

1967 verkündeten »Die Beatles« »All Your Need Is Love«, darauf rief David Garric die Mutter seiner Angebetenen an und flehte »Dear Mrs. Applebee«, die »Rollings Stones« kamen hingegen gleich zur Sache: »Lets spend a night together«; »Procol Harum« stand eher auf Meerjungfrauen (A Whiter Shade of Pale) und Scott McKenzie empfahl »San Francisco« (und ein paar Blumen im Haar), doch die »Bee Gees« wollten lieber nach »Massachusetts« zurück und »Herman’s Hermits« beklagte das ganze Jahr über »No Milk today«.

Und in Solothurn gründete 1967 ein 16jähriger Schlagzeuger die »The Scouts«: Sein Name Chris von Rohr. Später rockte er mit Krokus alle Bühnen der Welt, Krokus wurde die erfolgreichste Schweizer Rockband aller Zeiten.

1967 erschienen »Bonnie and Clyde« in den US Kinos, die Geschichte eines Liebespaares, das in den 1930er als Bankräuber national berühmt wurde. Faye Dunaway und Warren Beatty ballerten sich durch die USA und ärgerten das Time Magazin, das »Gewalt der grausigsten Art« diagnostizierte und den »Mythos des guten Gangsters« verurteilte. Der Film wurde mit Auszeichnungen überhäuft. Mittlerweile haben Wirtschaftswissenschaftler der Royal Statistical Society den Mythos »Bankraub« entzaubert. Statistisch gesehen »verdient« ein Bankräuber pro Einsatz  15.823.– Euro. Somit wäre sogar eine Anstellung an der Frittenmaschine von McDonalds mit 13. Monatslohn und Fortzahlung im Krankheitsfall lukrativer. Mit jedem zusätzlichen Banküberfall erhöht sich erst noch die Wahrscheinlichkeit, dass »Bonnie und Clyde« Nachahmer ihren Big Mac hinter Gittern verspeisen.

1967 kam »Die Reifeprüfung« (The Graduate) mit dem jungen Dustin Hoffman auf die Leinwand. Er spielte den schüchternen College-Absolventen Benjamin Braddock, der mit einer verheirateten Frau eine Beziehung eingeht (die Affäre mit deren Tochter kam etwas später). Aeltere Frau mit jungem Liebhaber, das war für damalige Verhältnisse revolutionär.

„Sie versuchen doch jetzt, mich zu verführen, nicht wahr?“

Der Evangelische Filmbeobachter fand den Streifen deshalb »unnötig«, die Redakteure des Internationalen Filmlexikons hingegen: »Temporeiche Gesellschaftssatire, die gleichermaßen die verkalkte Moral des amerikanischen Establishments und die Weltfremdheit der jungen Generation aufs Korn nimmt.“

Um Herzensangelegenheiten ging es auch am Groote Schuur Hospital in Kapstadt. Christian Barnard und sein Team führten die erste Herztransplantation durch. Patient Louis Washkansky überlebte 18 Tage und starb an den Folgen einer Lungenentzündung. Die Medikamente, die das Abstossen des neuen Herzens verhindern sollten, hatten im Gegenzug sein Immunsystem lahmgelegt. Der Medienforscher Eckart Roloff nannte die Operation, die weltweit für Furore sorgte, die »publizistische Entdeckung des Patienten«.

Nicht mehr zu retten war das Herz des einstigen Medizinstudenten und Playboys, den die Berliner taz den »Marlboro Mann der Linken« nannte. Ein peruanischer Offizier hatte die Symbolfigur der Kubanischen Revolution erschossen, den Argentinier Ernesto Rafael Guevara de la Serna, der als »Che Guevara« zur Heiligenikone mutierte, aber eine ähnliche Demontage erlebte wie seinerzeit Mutter Theresa. Vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen rechtfertigte der Stalinverehrer Folter, Mord und Arbeitslager. In einem Interview mit Sam Russell vom sozialistischen »Daily Worker« sagte Guevara, er hätte während der Kubakrise Atomraketen gegen die USA abgefeuert, wenn sie unter kubanischer Kontrolle gestanden hätten…


Mit dieser Kolumne verabschiede ich mich nach zweieinhalb Jahren und rund 60 Chronos Jahresrückblicken. Danke fürs Lesen! Die gesammelten #chronos sind neu im Buchhandel erhältlich: 

 

#chronos (1967)

1967 verkündeten die Beatles «All You Need Is Love», darauf rief David Garric die Mutter seiner Angebeteten an und flehte «Dear Mrs. Applebee», die Rolling Stones kamen hingegen gleich zur Sache: «Let’s Spend A Night Together»; Procol Harum standen eher auf Meerjungfrauen («A Whiter Shade of Pale») und Scott McKenzie empfahl «San Francisco» (und ein paar Blumen im Haar), doch die Bee Gees wollten lieber nach «Massachusetts» zurück und Herman’s Hermits beklagten das ganze Jahr über «No Milk Today».

Und in Solothurn gründete 1967 ein 16-jähriger Schlagzeuger die The Scouts; sein Name: Chris von Rohr. Später rockte er mit Krokus alle Bühnen der Welt, Krokus wurde die erfolgreichste Schweizer Rockband aller Zeiten.

Der Mythos Bankraub

1967 erschien «Bonnie and Clyde» in den US-Kinos, die Geschichte eines Liebespaares, das in den 1930ern als Bankräuber national berühmt wurde. Faye Dunaway und Warren Beatty ballerten sich durch die USA und ärgerten das Time Magazine, das «Gewalt der grausigsten Art» diagnostizierte und den «Mythos des guten Gangsters» verurteilte. Der Film wurde mit Auszeichnungen überhäuft. Mittlerweile haben Wirtschaftswissenschaftler der Royal Statistical Society den Mythos «Bankraub» entzaubert. Statistisch gesehen «verdient» ein Bankräuber pro Einsatz 15?823 Euro. Somit wäre sogar eine ­Anstellung an der Fritten­maschine von McDonald’s mit 13. Monatslohn und Fortzahlung im Krankheitsfall ­lukrativer. Mit jedem ­zusätzlichen Bank­überfall erhöht sich erst noch die Wahrscheinlichkeit, dass «Bonnie und Clyde»- Nachahmer ihren Big Mac hinter ­Gittern verspeisen.

1967 kam «Die Reifeprüfung» («The Graduate») mit dem jungen Dustin Hoffman auf die Leinwand. Er spielte den schüchternen College-Absolventen Benjamin Braddock, der mit einer verheirateten Frau eine Beziehung ­eingeht (die Affäre mit deren Tochter kam etwas später). Ältere Frau mit jungem Liebhaber, das war für damalige Verhältnisse revolutionär. «Sie versuchen doch jetzt, mich zu verführen, nicht wahr?» DerEvangelische Filmbeobachterfand den Streifen deshalb «unnötig», die Redaktoren des Internationalen Filmlexikons fanden hingegen: «Temporeiche Gesellschaftssatire, die gleichermassen die verkalkte Moral des amerikanischen Establishments und die Weltfremdheit der jungen Generation aufs Korn nimmt.»

Um Herzensangelegenheiten ging es auch am Groote Schuur Hospital in Kapstadt. Christian Barnard und sein Team führten die erste Herztransplantation durch. Patient Louis Washkansky überlebte 18 Tage und starb an den Folgen einer Lungenentzündung. Die Medikamente, die das Abstossen des neuen Herzens verhindern sollten, hatten im Gegenzug sein Immunsystem lahmgelegt. Der Medienforscher Eckart Roloff nannte die Operation, die damals weltweit für Furore sorgte, die «publizistische Entdeckung des Patienten».

Demontierte Heiligenikone

Nicht mehr zu retten war das Herz des einstigen Medizinstudenten und Playboys, den die Berliner taz den «Marlboro-Mann der Linken» nannte. Ein peruanischer Offizier hatte die Symbolfigur der Kubanischen Revolution erschossen, den Argentinier Ernesto Rafael Guevara de la Serna, der als Che Guevara zur Heiligenikone mutierte, aber eine ähnliche Demontage erlebte wie seinerzeit Mutter Teresa. Vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen rechtfertigte der Stalin-Verehrer Folter, Mord und Arbeitslager. In einem Interview mit Sam Russell vom sozialistischen Daily Worker sagte Guevara, er hätte während der Kubakrise Atomraketen gegen die USA abgefeuert, wenn sie unter kubanischer Kontrolle gestanden hätten … Claude Cueni ist Schriftsteller und lebt in Basel.


Dies war nach zweieinhalb Jahren die letzte #chronos Kolumne. Danke fürs Lesen, Kommentieren, Kritisieren und Loben.


 

#chronos (1980)

«Mr. John Lennon?», fragte Mark Chapman, als die Musiklegende vor dem New Yorker Dakota-­Gebäude aus dem Auto stieg. Der frühere Drogenabhängige und das Mitglied der Born-Again-Christians-Sekte streckte sein Idol aus sechs Metern Entfernung mit fünf Schüssen nieder. Nach der Entlassung aus einer psychiatrischen Anstalt hatte Chapman die fixe Idee entwickelt, dass eigentlich John Lennon für sein verpfuschtes Leben verantwortlich sei. Eine halbe Stunde nach dem Attentat erlag der Kopf der Beatles im Roosevelt General Hospital seinen Verletzungen.

Einen friedlichen Tod starb hingegen der jugoslawische Staatspräsident Josip Broz Tito. Der notorische Schürzenjäger und Heiratsschwindler war viermal verheiratet und mit einer Amtszeit von 35 Jahren der am längsten regierende Diktator Jugoslawiens: «Ich regiere ein Land mit zwei Alphabeten, drei Sprachen, vier Religionen und fünf Nationalitäten, die in sechs Republiken leben, von sieben Nachbarn umgeben sind und mit acht Minderheiten auskommen müssen.» Selbst für einen ehemaligen WWII-Marshall kein einfach zu lösendes Problem.

Schwierig, aber lösbar war Erno Rubiks Zauberwürfel, der 1980 den deutschsprachigen Raum erreichte. Das bunte Drehpuzzle des ungarischen Bauingenieurs und Architekten Rubik diente ursprünglich dazu, das räumliche Denkvermögen der Studenten zu schulen. Rubiks Cube lässt sich in 43 Trillionen verschiedene Positionen bringen und wurde mittlerweile 350 Millionen Mal verkauft, aber nur gerade der junge Holländer Mats Valk schaffte es bisher, alle 54 Farben in 5,5 Sekunden zu sortieren.

Das Jahr 1980 begann mit dem Einmarsch der Sowjet­armee in Afghanistan. Man wollte den Ausgang des tobenden Bürgerkriegs zugunsten von Moskau beeinflussen und so den Süden der Sowjetunion sichern. In den folgenden zehn Jahren kämpften sie gegen dreissig verschiedene Mujaheddin-Gruppen, die vom Westen, aber auch von der islamischen Welt unterstützt wurden.

Vorerst ohne direkte westliche Beteiligung begann im September der «erste Golfkrieg», die militärische Auseinandersetzung zwischen Irak und Iran um die Vorherrschaft am Persischen Golf. Mit der Operation «Eagle Claw» versuchten die USA die 52 US-Diplomaten aus der Teheraner Geiselhaft zu befreien. Sie scheiterten. Nicht an den Gotteskriegern, sondern an Sandstürmen und defekten Sea-Stallion-Helikoptern.

Das auf allen Ebenen gescheiterte Unternehmen «Adlerklaue» kostete am Jahresende Jimmy Carter die zweite Amtszeit und öffnete das Weisse Haus für Ronald Reagan. Daran änderte auch Carters Kritik an «fehlerhaften Meinungsumfragen» nichts, die er in seiner berühmten «malaise speech» ein Jahr zuvor gehalten hatte. Verkohlte Soldatenleichen im Wüstensand und Helikopterschrott bescherten dem Friedensnobelpreisträger eine bittere Wahlniederlage.

«Paku paku» nannte ein japanischer Professor und Gamedesigner sein neues Game, das 1980 unter dem Namen «Pac-Man» nach Europa kam. Ursprünglich hiess es «puck», die englische Bezeichnung für Kobold. Aber als die Kids an den Automaten aus dem Buchstaben P ein F machten, war eine Namensänderung angezeigt. Mittlerweile hat sich der Klassiker mehrere Hundertmillionen Mal verkauft und hat zahlreiche Nachahmer inspiriert.

Cliff Richard bedauerte, «We Don’t Talk Anymore», und The Eagles hatten darauf «Heartache Tonight». Das hatte auch Robert De Niro, als er in «Raging Bull» Jake LaMotta spielte: «Am ersten Abend, als ich hier anfing, hab ich den Besitzer gefragt: Wo ist denn hier die Toilette? Da sagt der: Sie sind mittendrin.»

#chronos (1997)

1997 war «Ein Toter auf der Flucht». So hiess Band 1859, das letzte Kioskheft aus der Bastei- Westernreihe, die 1957 gestartet worden war. Keine geeignete Badewannenlektüre war hingegen ein Roman, den der britische Bloomsbury-Verlag mit einer wenig optimistischen Startauflage von lediglich 500 Exemplaren in den Handel brachte. Das Buch, das mittlerweile in 65 Sprachen und 200 Ländern über 100 Millionen Mal verkauft wurde, stammt aus der Feder der Engländerin Joanne K. Rowling. «Harry Potter und der Stein der Weisen» soll die Autorin gemäss dem Forbes Magazin innerhalb von sieben Jahren zur Milliardärin gemacht haben.

Milliardäre wollten auch Jungunternehmen am «Neuen Markt» werden, der neuen New-Economy-Börsenplattform, die nach dem Vorbild der amerikanischen Technologiebörse Nasdaq startete. Die Anfänge erinnerten an die holländische Tulpenmanie am Ende des 16. Jahrhunderts. Das Ende auch.

Im Reichwerden übten sich auch die Albaner. Nach dem Fall des Kommunismus waren die Neokapitalisten noch etwas unerfahren und vertrauten ihr Geld dubiosen Firmen an, die ihnen pro Monat bis zu fünfzig Prozent Zins versprachen. Als das Schneeballsystem der Ponzi-Firmen zusammenbrach, verloren Zehntausende ihr gesamtes Erspartes. Wütend ­plünderten sie Militärlager, bewaffneten sich und griffen staatliche Institutionen an. Kriminelle Clans füllten das Macht­vakuum, bis die OSZE internationale Schutz­truppen schickte, um geordnete Neuwahlen zu ermöglichen.

1997 übergab das Vereinigte Königreich, nach Ablauf der Pachtzeit von 99 Jahren, Hongkong, die New Territories (und 1,5 Millionen an der Vogelgrippe H5N1 erkrankte Hühner) an die Volksrepublik China. Seitdem ist die ehemalige britische Kronkolonie eine chinesische Sonderverwaltungszone mit freier Marktwirtschaft, «ein Land, zwei Systeme» (Deng Xiaoping).

1997 manövrierte James Cameron mit einem Reisebudget von über 200 Millionen US-Dollar die «Titanic» nochmals gegen einen Eisberg. Der mit elf Oscars prämierte Monumentalfilm sprengte alle bisher gekannten Dimensionen und machte Kate Winslet und Leonardo DiCaprio, die als Besetzung eigentlich nur zweite und dritte Wahl gewesen waren, zu Weltstars. Die berührendste Szene war mit einem Lied von Céline Dion unterlegt: «My Heart Will Go On».

In der Nacht zum 31. August 1997 fuhr Henri Paul mit übersetzter Geschwindigkeit durch den Autotunnel unter der Place de l’Alma in Paris. Im Blut hatte er einen Cocktail von 1,8 Promille, das Antidepressivum Prozac und Tiapridal zur Behandlung von Alkoholismus. Beim Aufprall gegen einen der Betonpfeiler erlitt er schwerste Gesichtsverletzungen, seine beiden Passagiere im Fonds überlebten den Unfall nicht: Lady Di und ihr Freund Dodi Al-Fayed. Diverse Medien, darunter auch das ZDF, behaupteten später, Henri Paul sei von einem Killer des MI6 mit einer Stroboskop-­Lichtblitzkanone geblendet worden, weil die «Königin der Herzen» schwanger gewesen sei. Als sie in einem früheren Interview nach dem Zustand ihrer Ehe befragt wurde, antwortete sie: «In dieser Ehe waren wir zu dritt, also war es ein wenig überfüllt.» Die Übertragung der Beisetzung war das mit 2,5 Milliarden Zuschauern bis anhin weltweit grösste Medienereignis.

A general view of the handover ceremony showing the Chinese flag (L) flying after the Union flag (R) was lowered July 1, 1997. Hong Kong returned to Chinese sovereignty at midnight after 156 years of British colonial rule. REUTERS/Kimimasa Mayama
HONGKONG – RTR4ZIL Vor der Übergabe Hongkongs von Großbritannien an China in der Nacht des 30. Juni 1997, wird der britische Union Jack eingeholt und die chinesische Flagge gehisst.

Beim Brand der Grabtuchkapelle wurden Teile des Turiner Doms und des Turiner Schlosses zerstört. Wie durch ein Wunder wurde das  Turiner Grabtuch unbeschädigt aus den lodernden Flammen gerettet. Laut unbe­stätigten Quellen hat der Turiner Tourismus­verein für solche Fälle noch ein paar Paletten mit Stoffrollen vorrätig.

#chronos (1959)

1959 erblickte Barbara Millicent Roberts das Licht der Welt. Sie hörte auf den Namen Barbie und wurde im Massstab 1:6 an der New Yorker Spielwarenmesse American Toy Fair vorgestellt. Die Mutter aller Barbies kostete drei US-Dollar und war verliebt in die eigene Magersucht. Sie musste zwei Jahre in ihrem schwarz-weiss gestreiften Badeanzug ausharren, bis sie endlich ein Junge zum Abendessen einlud: Ken. Modelliert hat die heute weltweit meistverkaufte Anziehpuppe Max Weissbrodt, der für die Firma Hauser eigentlich Spielfiguren aus Elastolin ­entwarf: Tiere, Indianer, Ritter und römische Legionäre im Massstab 1:45.

Etwas grösser zeichnete der stets prozessfreudige Albert Uderzo 1959 seine ersten Römer, die Asterix und Obelix in der französischen Jugendzeitschrift Pilot verprügelten und anschliessend als Band 1 («Asterix le Gaulois») erschienen. Texter war der «Lucky Luke»-Autor René Goscinny.

Im Massstab 1:1 erschienen schliesslich die Römer von Regisseur William Wyler, die Prinz Ben Hur auf die Galeeren schickte, obwohl die römische Kriegsflotte ausschliesslich professionelle Ruderer verpflichtete. Für die 50?000 Komparsen waren über eine Million Requisiten hergestellt worden. Gegen Ende der Dreharbeiten wurde William Wyler darauf hingewiesen, dass Kulissen und Kostüme der Historie nicht genügen. Er zog eine Historikern bei und fragte: «Was muss ich tun, damit es echter aussieht?» Ihre ­Antwort: «Man müsste alles verbrennen!» Der Produzent verstarb an einem Herzinfarkt und der ­Monumentalfilm wurde mit elf Oscars ausgezeichnet.

Noch rechtzeitig den Galeeren entwischt ist 1959 der kubanische Diktator ­Fulgencio Batista. Er verliess mit 40 Millionen US-Dollar in bar seinen ­Regierungssitz und überliess diesen den Revolutionstruppen unter Fidel Castro.

1959 lieferten sich der amerikanische Vize­präsident Richard Nixon (46) und Nikita Chruscht­schow (65) vor einer Waschmaschine eine hitzige Debatte, die als «Küchengeschichte» in Nixons Memoiren beschrieben ist. Die beiden besuchten die Nationalausstellung der USA in Moskau. Man liess alles auffahren, was die ­Überlegenheit des Westens illustrieren konnte; russische Frauen konnten sich in einem amerikanischen Modellhaus kostenlos einer Beauty­behandlung unterziehen, während an den ­Wänden Diashows von amerikanischen Highways, Supermärkten und modernsten Kücheneinrichtungen liefen. Nixon tippte mit seinem Zeigefinger immer wieder respektlos auf die Brust des Sowjetchefs, was diesen zunehmend in Rage versetzte, und belehrte diesen: «Keine Seite darf der ­anderen ein Ultimatum stellen.» Dieser polterte: ­«Drohungen werden wir mit Drohungen beantworten.» Obwohl beide Streithähne wussten, dass ihr spontanes Gespräch gefilmt und später in den USA ausgestrahlt würde, verloren beide die ­Contenance und lieferten sich einen heftigen Schlagabtausch, bis Chruscht­schow schliesslich rief: «Lasst uns unsere Raketen vergleichen!»

Duelle gab es auch im amerikanischen Fernsehen. 1959 startete die erste von insgesamt 430 Folgen der Western-TV-Serie «Bonanza». Sie erzählte die Geschichte von Ben Cartwright und seinen drei Söhnen, die auf der Ponderosa-Ranch leben. Die gewaltarmen Episoden, oft fiel kein einziger Schuss, propagierten moralische Standards und endeten stets mit einem Happy End. Also nicht ganz wie im echten Leben.

Über eine «sensationelle Wendung beim ­Genfer Kindermord» berichtete hingegen 1959 die schweizerische Boulevardzeitung
Blick in ihrer allerersten Ausgabe. Sie titelte: «Der Diener ist nicht der Mörder.»

#chronos (1949)

CDU_Wahlkampfplakat_-_kaspl013„Whatever can go wrong, will go wrong«, behauptete der amerikanische Ingenieur Edward A. Murphy. Seine Aussage über menschliches Versagen und Fehler in komplexen Systemen erlangte als »Murphys Law« weltweit Kultstatus. Doch Murphys Law gründet auf der selektiven Wahrnehmung des Menschen: Man memoriert, wenn man vor der Kasse in der falschen Schlange steht, vergisst aber, dass man in den vorangegangen Monaten stets Glück hatte.

»Wir leben alle unter dem gleichen Himmel, aber wir haben nicht alle den gleichen Horizont«, sagte Konrad Adenauer, der erste Kanzler der neuen Bundesrepublik Deutschland. Etwas später wurde die Deutsche Demokratische Republik (DDR) gegründet, das geteilte Berlin musste über eine Luftbrücke mit Kohle und Nahrungsmitteln versorgt werden. Die »Rosinenbomber« flogen in 15 Monaten über eine Viertelmillion Einsätze.

Vergebens wartete Herta Heuwer in ihrer Berliner Imbissbude auf eine Lieferung Ketchup und erfand in ihrer Not die Currywurst. Schuhfabrikant Adolf Dassler hatte als langjähriges NSDAP Mitglied Panzerabwehrwaffen hergestellt, nach dem Krieg produzierte »Adi« Dassler Schuhe und gründete »Adidas«. Werner Otto legte im zerbombten Hamburg den Grundstein für ein Versandhaus, das heute 80 Prozent des 2,27 Milliarden Umsatzes über das Internet erzielt: Der Otto-Versand.

In China proklamierte Mao Zedong nach dem Sieg seiner Volksbefreiungsarmee die Volksrepublik China und errichtete einen kommunistischen Staat. »Was ist so ungewöhnlich am Kaiser der Qin-Dynastie? Er hat nur 460 Gelehrte lebendig begraben, wir dagegen 46.000.« Unter Maos Diktatur starben (je nach Quelle) 44 bis 72 Millionen Menschen. Deng Xiaoping, der spätere Reformpolitiker, sagte 30 Jahre später: »Maos Hirn ist damals heißgelaufen. Unsere Köpfe aber auch. Keiner hat ihm widersprochen, auch ich nicht«. Das gilt auch für die Jugendlichen, die in den 70er Jahren die rote Mao-Bibel des Massenmörders in der Hosentasche mitführten.

Im Nahen Osten endete der erste Arabisch-Israelische Krieg. Im Vorjahr, unmittelbar nach der Gründung des Staates Israel, hatte eine Alianz aus Ägypten, Syrien, Libanon, Irak und Jordanien den neuen Staat angegriffen. Diese lehnten den UN Teilungsplan für Palästina ab und bestritten das Existenzrecht Israels. Trotz Milliardenzahlungen leben heute immer noch viele Palästinenser in Flüchtlingslagern. Gemäss dem Internationalen Währungsfond (IWF) veruntreute der 2004 verstorbene Palästinenserchef Jassir Arafat in den Jahren 1995 bis 2000 über 900 Mio. Dollar an internationalen Hilfsgeldern. Bei seinem Tod hatte er gemäss Forbes ein Privatvermögen von 300 Mio. Suha, Arafats Witwe, erhält heute noch monatlich 100.000 Dollar auf die Insel Malta überwiesen.

1949 schrieb das 1902 gegründete populärwissenschaftliche Magazin für Wissenschaft und Technologie (Popular Mechanics): »Computer der Zukunft werden nicht mehr als 1.5 Tonnen wiegen«.

Nicht voraussehbar war auch die Karriere von John Lee Hooker. Ueberraschend erreichte er mit seinem »Boogie Chillen« Platz Eins der Rhythm & Blues-Hitparade und verkaufte sensationelle eine Million Singles.

»I heard papa tell mama, let that boy boogie-woogie,

It’s in him, and it got to come out.«

In der Zwischenzeit hatte Samuel Becket sein Theaterstück »Warten auf Godot (»En attendant Godot«) beendet. Es musste geschlagene vier Jahre warten, bis es endlich in Paris zur Uraufführung kam.

Estragon: »Komm, wir gehen!«

Wladimir: »Wir können nicht.«

Estragon: »Warum nicht?«

Wladimir: »Wir warten auf Godot.«

#chronos (1978)

garfield2Aus seinem sicheren Pariser Exil heraus, rief der 76jähriger Ajatollah Chomeini das iranische Volk zum Sturz von Schah Reza Pahlavi auf. Er benutzte die Rechte der freien Welt, um den Traum einer unfreien Welt zu verwirklichen und verhängte eine Fatwa gegen »koloniale Programme und westliche Kinos«. Darauf wurden im Iran an einem Tag 25 Kinos in Brand gesteckt, allein beim Anschlag auf das Cinema Rex kamen 430 Menschen ums Leben.

Terror erreichte auch die Via Stresa in Roms. Die Roten Brigaden entführten den früheren Ministerpräsidenten Aldo Moro. Dabei wurden fünf seiner Leibwächter erschossen. Zwei Monate später wurde Moro im Kofferraum eines Renaul 4 tot aufgefunden. Die Untersuchungskommission des italienischen Senats sagte nach 6jähriger Ermittlung: »Es gibt stichhaltige Indizien, dass auch die Geheimdienste bei der Entführung dabei waren«. Auch spätere Untersuchungen in den Jahren 2006 und 2013 führten zu keinem abschliessenden Ergebnis.

Veschwörungstheorien lösten auch der plötzliche Tod von Papst Johannes Paul I. aus. Er war der Nachfolger des 1978 verstorbenen Papst Paul VI. und wurde der »Papst des Lächelns« genannt. Er hatte jedoch wenig zu Lachen und verstarb bereits nach 33 Tagen. Sein Nachfolger wurde der Pole Karol Wojtyła, Erzbischof von Krakau.

Im Sommer 78 kam im englischen Oldham das »Baby« des späteren Nobelpreisträgers Robert G. Edwards auf die Welt. Er war weder der biologische Vater noch der Geburtshelfer, sondern der Wissenschaftler, der Jahre zuvor die Grundlagen für die In-vitro-Fertilisation (IVF) geschaffen hatte. Das erste Retortenbaby hiess Louise Joy Brown und brachte 28 Jahre später auf natürlichem Wege einen Sohn zur  Welt. Mittlerweile leben weltweit bereits über 5 Millionen Retortenbabys.

Portrait_of_Ruhollah_Khomeini_By_Mohammad_SayyadEine Geburt der besonderen Art ereignete sich 1978 in Mama Leoni’s Italian Restaurant.  Ein fetter, fauler und frecher Kater mit orangefarbenem Fell erblickte das Licht der Welt und hörte auf den Namen Garfield. Sein Schöpfer war der amerikanische Comiczeichner Jim Davis (*1945), der zwar mit 25 Katzen aufwuchs, aber später als Zeichner keine Katze hatte, weil seine erste Frau unter einer Allergie litt. Ob das der Grund für die Scheidung war, ist nicht bekannt. Mittlerweile werden die Garfield-Strips unter seiner Leitung von einem ganzen Team von Zeichnern und Textern erstellt und erscheinen in 2570 Zeitungen und Magazinen. Damit erhielt Garfield einen Eintrag ins Guinessbuch der Rekorde.

Rekordverdächtig war auch die 1978 in den USA gestartete TV Serie »Dallas«, die es in vierzehn Staffeln auf 357 Folgen brachte. Erzählt wurde die Geschichte der Erwings, die mit Oelgeschäften reich geworden warne. Obwohl untereinander zerstritten, lebten die meisten gemeinsam auf der Southfork Ranch –  auf Wunsch des Finanzchefs der Produktionsgesellschaft. Kennzeichnend für die Serie war unter anderem, dass Figuren, die einen irreversiblen Filmtod erlitten hatten, plötzlich wieder in Erscheinung traten, wenn sinkende Quoten ihre Wiederauferstehung forderten. Der Drehort wurde im Laufe der Jahre derart von Fans überrannt, dass der entnervte Farmbesitzer die Farm verkaufte. Heute beherbergt das Anwesen ein Filmmuseum. Star der Serie war Bösewicht J.R. (Larry Hagman): »Das reicht Sue Ellen, warum läßt Du Dir nicht einen Besen vom Parkplatz holen, damit Du nach Hause fliegen kannst.«

Nicht nach Hause fliegen sollte Sally. Eric Clapton bat sie: »Lay down, Sally, no need to leave so soon. I’ve been trying all night long just to talk to you.« 

Bûche de Noël

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Erfinder ist ein Pariser Pâtissier, der am Heiligabend im Jahre 1879 beinahe in eine Depression versunken wäre. Aber von vorne: In grauer ­Vorzeit sollen unsere Vorfahren die Zeit der ­Wintersonnenwende gemeinsam an einem ­Lagerfeuer bei Speis und Trank gefeiert und der göttlichen Sonne gehuldigt haben. Im Mittelalter ersetzten die grossen offenen Kamine die ­Lagerfeuer und es war üblich, am Weihnachtsabend den dicken Ast einer Buche ins Feuer zu legen und dafür zu sorgen, dass die Glut nicht erlosch, bevor man von der Mitternachtsmesse zurückkam.

Im 19. Jahrhundert emigrierten grosse Teile der verarmten Landbevölkerung in die Städte, um in den Fabriken Arbeit zu finden. Es war die Epoche der industriellen Revolution, der 80-Stunden-Woche, der Eisenbahn und der ­tausend Erfindungen. Während der Schweizer Chocolatier Rodolphe Lindt in Bern die Conche entwickelte und feincremige Schokolade ­produzierte, sass der melancholische Pâtissier Antoine Charadot im 600 Kilometer entfernten Paris und sehnte sich nach Licht, Wärme und dem Knistern des Holzscheits, das seine Eltern und Grosseltern jeweils um diese Zeit in den offenen Kamin gelegt hatten. Doch in den Pariser ­Wohnungen an der Rue de Buci gab es keine ­offenen Kamine. Statt in Wehmut zu ­verharren, machte er das was er am besten konnte, ein ­süsses Dessert, das aussah wie das Stück ­Baumstamm aus seiner Kindheit: Er strich einen Bisquitboden mit einer Mocca- ­Buttercreme ein, rollte die Patisserie zusammen und verzierte die äussere Cremeschicht mit einem rillenartigen Muster, um die Borke ­nachzuahmen. Er schnitt den vorderen Teil schräg ab und setzte ihn seitlich an, um einen abgeschnittenen Aststumpf nachzubilden. Darauf setzte er Pilze aus Marzipan. Voilà.

Im benachbarten Saint-Louis findet man den Klassiker bei «Paul» an der Avenue du Général de Gaulle: Créme au beurre café dans un bisquit imbibé au café, saupoudré d’éclats de nougatine. Zu geniessen, bevor einem der nächste Diät­vorsatz den Start ins neue Jahr verdirbt.

(c) Basler Zeitung

#chronos (1975)

Ichbarry_manilow-mandy_s_6 geh meilenweit für Camel Filter.» 1975 war der Kölner Dieter Scholz das blonde Fotomodell, das durch die Serengeti trampte und später gestand: «Ich glaube, die von Camel wissen bis heute nicht, dass sie damals einen Nichtraucher fotografiert haben.» Nach der erfolgreichen ­Ächtung der Raucher müssen die Süchtigen heute wieder meilenweit bis zur nächsten Raucher­toilette hetzen.

1975 wurde der amtierende schwedische König Carl XVI. Gustaf per Verfassungsänderung zum royalen Grüssaugust degradiert. Die Steuerzahler unterhalten den Milliardär, der sein Amt als «zu schwierig für ein Mädchen» einschätzt, mit jährlich vierzehn Millionen Euro. Zum halben Preis hätten die Schweden damals einen Spanier haben können, Juan Carlos, der 1975 den blutrünstigen Diktator General Franco ablöste, der im Alter von 83 Jahren verstorben war.

Ausgerechnet im Internationalen Jahr der Frau schlug die britische Königin Elizabeth II. einen «geilen Köter» (Anwalt) zum Ritter. Gemeint ist Charlie Chaplin, der süchtig nach minderjährigen Mädchen war und eines davon schwängerte. Eine seiner zahlreichen Ex-Frauen sagte vor Gericht, seine sexuellen Wünsche seien «unnatürlich, pervers, entartet und schamlos» gewesen.

1975 flog Jack Nicholson unter der Regie von Milos Forman über das Kuckucksnest und löste eine öffentliche Debatte über Lobotomie aus, ein Verfahren, bei dem Neurochirurgen psychisch Kranken die Nervenbahnen zwischen Thalamus und Frontallappen durchtrennen.

Krank von der Liebe war der schüchterne Ryan O’Neal in Stanley Kubricks «Barry Lyndon». Seine Angebetete versteckte ihr Halsband unter ihrem Busen und versuchte Barry auf die Sprünge zu ­helfen: «Ich habe mein ­Halsband irgendwo versteckt. Du kannst überall suchen, wo du willst. Ich werde sehr wenig von dir halten, wenn du es nicht findest.»

Etwas ganz anderes musste Robert Shaw im Oscar-prämierten «Weissen Hai (Jaws)» finden: «Wenn wir einen Hai suchen, werden wir ihn kaum an Land finden.» – «Werden die 3000 Dollar in bar oder per Check ausgezahlt?»

1975 trat die von der Generalversammlung der Vereinigten Nationen beschlossene Konvention über das Verbot der Entwicklung, Herstellung und Lagerung biologischer Waffen in Kraft. Genützt hat es nichts.

Das gilt auch für das Inkrafttreten des Wa­­shingtoner Artenschutzübereinkommens, das den internationalen Handel mit gefährdeten Tieren und Pflanzen verbieten sollte. Da Umsetzung und Vollzug den einzelnen Mitgliedstaaten obliegen, gilt auch hier: ausser Spesen wenig gewesen.

Auch in Helsinki war das Nachtleben auf­regender als die Sitzungen der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE). Diese brachte immerhin eine Schlussakte zu Papier. Die unterzeichnenden Staaten ­«verpflichteten» sich in einer «Absichtserklärung» zur Unverletzlichkeit der Grenzen, zur friedlichen Beilegungen von Streitfällen, zur ­Wahrung der Menschenrechte und zur Informationsfreiheit. Noch mehr Papier.

Papiermangel herrschte hingegen in der DDR. 1975 musste deshalb der Druck der Sonntags­zeitungen eingestellt werden. Engpässe gab es auch bei der Produktion von Hygieneartikeln. «Sans-Papiers» hatte damals noch eine ganz andere Bedeutung.

1975 erreichte Barry Manilow mit seinem Ohrwurm «Mandy» Platz 1 der US-Charts: «Ich lasse mein Leben Revue passieren, die Bilder rauschen an mir vorbei wie eiskalter Regen.» Das ahnten auch die Zeugen Jehovas. Sie hatten nach jahrelangem Bibelstudium und mathematischen Berechnungen herausgefunden, dass die Welt 1975 untergeht. Falls Sie heute diese Kolumne lesen, könnte das ein Hinweis auf einen Rechenfehler sein.

#chronos (1877)

MTE1ODA0OTcxMTcyMTM2NDYx«Eine erstaunliche Erfindung. Aber wer sollte sie jemals benutzen wollen?», fragte US-Präsident Rutherford B. Hayes (1822–1893), als man ihm das erste Telefon präsentierte. Ein Jahr zuvor hatte bereits Western Union in einer internen Mitteilung festgehalten: «Das Telefon hat zu viele ernsthaft zu bedenkende Mängel für ein Kommunikationsmittel. Das Gerät ist von Natur aus von keinem Wert für uns.» Rutherford B. Hayes war der erste Präsident, der ein Telefon benutzte und trotzdem Zeit hatte, mit seiner Frau Lucy acht Kinder zu zeugen.

Modernisierungen gab es auch im fernen Japan. Als der Tenno, der Himmlische Herrscher und Kaiser, seine Macht erneuern wollte, schaffte er das Shogunat ab und strich die bisher geltenden Vorrechte der Samurai. Er verbot den traditionellen Haarknoten, das Tragen von Schwertern und hob die staatlichen Bezüge auf. In der Provinz Satsuma rebellierten darauf die Samurai und lösten eine Reihe weiterer Aufstände aus, die allesamt niedergeschlagen wurden.

Kriegerische Aufstände gab es auch auf dem Balkan. Unmittelbar nach den militärischen Auseinandersetzungen zwischen dem Fürstentum Serbien und dem Osmanischen Reich startete das Russische Kaiserreich auf bulgarischem Boden einen Krieg gegen die Türken. Als die russischen Truppen nur noch 60 Kilometer vor Istanbul standen, schritten die europäischen Mächte ein und erzwangen am Verhandlungstisch den Frieden.

Zu Verhandlungen kam es auch zwischen den Nez-Percé-Indianern und der amerikanischen Armee, die das vertraglich garantierte Reservatsgebiet um 90 Pozent reduzieren wollte. Man hatte Gold gefunden. Der legendäre Chief Joseph weigerte sich, das neue Bonsai-Reservat zu beziehen, und floh mit seinem Stamm nach Norden, Richtung kanadischer Grenze. Auf seiner viermonatigen Flucht siegte der «indianische Napoleon» in zahlreichen Schlachten und musste dennoch einen Tagesritt kurz vor der Grenze kapitulieren: «Ich bin müde. Mein Herz ist krank und traurig (…). Wenn der weisse Mann in Frieden mit den Indianern leben will, so kann er das. Gebt allen Menschen das gleiche Gesetz (…). Alle Menschen wurden vom grossen Geist erschaffen und alle sind Brüder.»

1877 schlüpften in Parma die ersten Nudeln aus den Barilla-Produktionsmaschinen. Pietro Barilla senior hatte das Unternehmen gegründet, das heute mit über 8000 Mitarbeitern rund drei Milliarden Umsatz macht. Noch heute ist Barilla zu 80 Prozent in der Hand der Familie Barilla. Ein Shitstorm fegte über die Nudelkönige, als CEO Guido Barilla in einem Interview mit einem italienischen Radiosender sagte: «Wir werden keine Werbung mit Homosexuellen schalten, weil wir die traditionelle Familie unterstützen. Wenn das Homosexuellen nicht gefällt, können sie Pasta eines anderen Herstellers essen.» Als die Boykottaufrufe die Nudel­maschinen ins Stottern brachten, entschuldige sich Barilla und änderte seine Nudelwerbung.

1877 kündigte Thomas Alva Edison ein Gerät zur Aufnahme und Wiedergabe von Tönen an, er nannte es Phonograph. Vom ihm soll das Zitat stammen: «Genie ist ein Prozent Inspiration und 99 Prozent Transpiration.»

1877 gewann Spencer William Gore, der Bruder des Bischofs von Birmingham, die erste Wimbledon Championship. Etwa zweihundert Zuschauer verfolgten seinen Sieg über William Cecil Marshall, der meistens an der Grundlinie stand und sich von Volleys überlisten liess. Ein Politiker meinte, einer Gesellschaft, die man damit unterhalten könne, dass zwei Menschen ein Ball hin- und herschlagen, sei eigentlich alles zuzutrauen.

#chronos (1984)

 

1984-book9«Gib mir deine Mütze.» «Wieso?»

«Weil ich mich übergeben muss.»

Harrison Ford griff zum zweiten Mal zu Fedora und Peitsche, um den «Tempel des Todes» zu betreten. Das reale Vorbild war der amerikanische Archäologe Hiram Bingham, der 1911 die seit dem 16. Jahrhundert bekannte Ruinenstadt Machu Picchu erforschte.

13 Jahre nach Erfindung der E-Mail durch Ray Tomlinson sandte Laura Breeden über das ­wissenschaftlichen Computernetzwerk CSNET, dem Vorläufer des Internets, die erste Mail nach Deutschland. Heute werden täglich 166 Milliarden Mails pro Tag verschickt. Obwohl CSNET die E-Mail lediglich für den wissenschaftlichen Austausch eingeführt hatte, trug das unkontrollierbare Benutzerverhalten dazu bei, dass heute 3,8 Milliarden E-Mail-Konten aktiviert sind.

1984 prägte IBM mit der Lancierung des IBM Personal Computers/AT nicht nur den Begriff «PC» für Computer, sondern auch den Standard für ein ganzes Jahrzehnt. Innovativer war jedoch Apples Macintosh, der bereits eine grafische Benutzeroberfläche bot und mit 128 KB Arbeitsspeicher und 9-Zoll-Monitor auf den Markt kam. Er kostete rund viertausend Dollar, der Preis von 180 Aktien zu 22 Dollar. Wer damals 180 Apple Aktien erwarb, hat heute den 266-fachen Wert im Depot, über eine Million ­Dollar. Sofern er nicht ­verkauft hat.

Aufbruchstimmung gab es auch bei der Hardware. Der US-Amerikaner Chuck Hull erfand den 3-D-Drucker, der allerdings fast 20 Jahre brauchte, bis er massentauglich wurde. Auch softwaremässig gab es «Fortschritte»: Der Chaos Computer Club drang in das BTX-System der Deutschen Bundespost ein, überwies sich 135 000 DM auf das eigene Konto und meldete anschliessend den Vorfall, um auf die Schwachstellen des Systems hinzuweisen. Das geschieht auch heute noch, nur melden die Täter anschliessend den Vorfall nicht und die ­Banken entschädigen die Opfer diskret. So viel zu den Vorteilen der bargeldlosen Verkehrs.

1984 liessen uns weniger die Prophezeiung des Nostradamus erschaudern, sondern die Visionen von George Orwell, der bereits 1949 den omnipräsenten Überwachungsstaat in seinem Roman «1984» beschrieben hatte. Orwell hatte in seinem Science-Fiction-Roman nicht voraussehen können, dass eines Tages Milliarden von Menschen zu Staatssicherheitsoffizieren in eigener Sache werden würden und detailbesessen Uhrzeit, Ort und Zusammensetzung ihres Frühstücks auf allen sozialen Medien posten würden. Durch die narzisstische Individualisierung der Gesellschaft sank auch die Duldungsschwelle für abweichende Meinungen. George Orwell schrieb dazu: «Falls Freiheit überhaupt etwas bedeutet, dann bedeutet sie das Recht darauf, den Leuten das zu sagen, was sie nicht hören wollen.»

Südwestlich von Kairo wurden die Überreste einer 32 Millionen Jahre Aegyptopithecus zeuxis gefunden, ein Vorfahre von Mensch und Affe. Eine echte Knacknuss für die Theologen in den Rhetorikseminaren. Italien revidierte Teile der Lateranverträge mit dem Vatikan und schrieb den religiösen Pluralismus fest. Religion war nun eher Privatsache wie Kuchen backen oder Klavier spielen.

Prince kam mit «Purple Rain» in die Hitparaden, «It’s time we all reach out for something new», es ist Zeit, sich nach etwas Neuem umzusehen. Science-Fiction, manchmal eine Form von religiösem Aberglauben, wurde noch populärer. Arnold Schwarzenegger, ein moderner Engel in Gestalt eines Cyborgs, landete auf der Erde, um die ahnungslose Serviererin Sarah Connor vor den Mächten der Finsternis zu retten. Er versprach wie die meisten Propheten vor ihm: «I’ll be back.»

Interview mit Francisco Sionil Jose (91), Philippinen

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Inhalt, Roman, Gagamba, der Spinnenmann, dt.

Ein Erdbeben erschüttert Manila und hinterlässt eine Spur der Verwüstung. Doch nur ein Haus stürzt komplett in sich zusammen: Das „Camarin“, ein Nobelrestaurant, das auch als Nachtklub und Bordell fungiert, im Stadtteil Ermita. Alle Besucher und Menschen, die sich in dessen Umgebung aufhalten, werden verschüttet, nur drei überleben. Doch nicht nur ihre Geschichten erzählt F. Sionil José in diesem Roman. Auch denen, die sterben werden, widmet er einzelne Kapitel: Dem Besitzer des „Camarin“ ebenso wie Gagamba, dem „Spinnenmann“, der vor dem Etablissement Lose verkauft, dem jungen landflüchtigen Paar, dem Kellner, dem US-amerikanischen Touristen, dem japanischen Geschäftsmann, dem Menschenrechtler, dem Regimegewinnler, dem Senator, dem Immobilienmakler, dem Major und dem Pater. Der Tagesablauf mit Rück- und Vorblenden jedes einzelnen wird hier beschrieben. Ein Tag als Sinnbild für ein ganzes Leben oder besser für verschiedene ganze Leben. Ein Bordell/Nobelrestaurant als Mikrokosmos der philippinischen Gesellschaft. Und „ein Erdbeben als Metapher für die notwendige Erschütterung [derselben], um zu einem neuen Aufbruch zu kommen“.

Philippine News 2016

FB phils

 


Pressespiegel 2015 – 2016 


Ausführliche Berichte habe ich für Weltwoche und Basler Zeitung geschrieben.

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Ich töte dich, Basler Zeitung vom 30. Dezember 2016

 
Das ist eine Revolution, Weltwoche vom 24. November 2016,

Interview. 90 Tage Anarchie, Weltwoche vom 29. September 2016

 
Der Dirty Harry der Philippinen, Basler Zeitung vom 8. Mai 2016

Die Faust Gottes, Weltwoche vom 12. Mai 2016

 
Gott wird weinen, Weltwoche vom 21. Dezember 2015

 
Machtloser Moralist, Weltwoche vom 8. September 2016

Roman »Pacific Avenue« Reise auf die Philippinen 1521 mit Magellan, 2015 zu meiner philippinischen Familie

Mein Interview mit Francisco Sionil Jose (91), dem Grand Old Man der philippinischen Literatur

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Erschienen in der Weltwoche am 24. November 2016


01.12.2016

#Aids Epidemie auf den Philippinen.

»The Tokio Times« hatte vor sechs Wochen den Philippinen eine Aids Epidemie prophezeiht, weil es unter Duterte angeblich ein Straftatbestand ist, wenn man einem der vier Millionen Drogensüchtigen eine saubere Spritzen aushändigt. Nun schlägt die NYC Behörde, die National Youth Commission, Alarm: Die Neuerkrankungen hätten epidemische Ausmasse erreicht, 62 Prozent der Betroffenen seien zwischen 15 und 24. Allein in diesem Jahr sollen über 55.000 neue Erkrankungen von Aerzten gemeldet worden sein.

Die Regierung behauptet, die Epidemie sei auf ungeschützten Sexualverkehr zurückzuführen, aber den gab es wohl auch schon vor Dutertes Amtseinsetzung.


30.11.2016

#Zamboanga City. Bei einem Bombenanschlag wurden sieben Männer von #Dutertes Security Guard und zwei Soldaten verletzt. Gemäss #PhilippineStar soll es eine Warnung an Duterte gewesen sein. Hinter dem Anschlag steht die Terrorgruppe „Maud“, die sich dem IS angeschlossen hat. Der Süden der Philippinen gilt als Rückzugsgebiet für IS Terroristen die sich aus dem Nahen Osten zurückziehen.


29.11.2016

Drug-Abuse-Treatment-Rehabilitation-CenterFlip-Flop-Präsident Rodrigo Duterte eröffnet heute ein Rehab Zentrum für 10.000 Drogensüchtige in Fort Magsaysay in Nueva Ecija. Gemäss seinen Angaben leben drei bis 4 Millionen Drogenabhängige auf den Inseln, je nach Laune, ob manisch oder depressiv, variieren die Zahlen.

Gleichzeitig kündigt er für morgen eine weitere Liste mit den 10.000 Namen von Senatoren, Abgeordneten, Polizeibeamten etc. an, die im Drogenhandel tätig sind. Er behält sich vor, bei zu erwartenden Unruhen, das Kriegsrecht light auszurufen.

Während er in seinem Drogenkrieg null Erbarmen fordert, fordert er gleichzeit die zahlreichen Demonstranten, die gegen das Begräbnis des Diktators Marcos auf dem Heldenfriedhof protestieren, dazu auf, zu vergeben.

Heute morgen höre ich, dass selbst in den Dörfern nun Listen mit mutmasslichen Drogensüchtigen und Drogendealern im Umlauf sind. Jeder kann jeden denunzieren, ob wahr oder nicht wahr, wird nicht überprüft. Man ist dann auf der Liste und in Lebensgefahr.  Die Listen hängen seit heute Morgen am Aushang der Gemeinden. Duterte hat allen Drogensüchtigen angeraten, in den Häusern zu bleiben, Drogensüchtige, die sich auf der Strasse erblicken lassen, würden erschossen.

Es ist mittlerweile merkwürdig still geworden bei einigen Duterte Anhängern. Selbst der ehemalige Präsident Ramos, der Duterte zur Kandidatur ermuntert hatte, kritisiert ihn nun öffentlich.


23.11.2016

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Ronald dela Rosa, Director General of the Philippine National Police, während der Senatsanhörung. Inhaftierte Drogenbarone, die unter dem Zeugenschutzprogramm stehen, nennen vor dem Senatsausschuss die Namen der Polizeigenerale, Polizeidirektoren und Senatoren, die auf den Lohnlisten der mexikanischen und chinesischen Drogenkartelle stehen. Dela Rosa  bricht in Tränen aus, als er die Namen hört und sagt, jetzt stünde er alleine da, er könne keinem mehr trauen. Er könne jetzt verstehen, wieso das Volk das Vertrauen in die Polizei völlig verloren habe. Wie stark die Drogensyndikate den gesamten Staatsapparat unterwandert haben, hat selbst ihn, der wegen seiner Aehnlichkeit mit Hollywood Star Dwayne Douglas Johnson »the rock« genannt wird, zusammenbrechen lassen. Die Wut gegen diese unglaubliche Korruption, hat den psychisch gestörten (bipolare Störung gemäss eigenen Angaben) Nationalsozialisten Rodrigo Duterte an die Macht gebracht, weil er versprochen hatte, alle Kriminellen zu erschiessen. Die Zustimmung für seine gesetzlose Blutrache gegen alle Kriminelle zieht sich durch alle sozialen Schichten, auch Universitätsprofessoren und Bischöfe unterstützen ihn… Es ist unwahrscheinlich dass Duterte den Ablauf seiner 6jährigen Präsidentschaft überlebt, dann bleibt der Narkostaat ein Narkostaat der Superlative.


8. November 2016

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Der oberste Gerichtshof hat die Bestattung des Diktators Ferdinand Marcos erlaubt. Der 1989 im US-Exil (Marcos und Ronald Reagan waren beste Freunde) Verstorbene, »wartet« seit 27 Jahren einbalsamiert in einem Glassarg auf ein Begräbnis auf dem Heldenfriedhof. Er war 1965 zum Präsidenten gewählt worden, hatte 1972 das Kriegsrecht ausgerufen und über 30.000 Kritiker interniert, etliche von ihnen gefoltert und ermordet. Auf seiner Flucht hatte er über 3 Milliarden Dollar im Handgepäck, Volksvermögen, das die Nachkommen bis heute nicht zurückgegeben haben. Duterte nennt den Diktator den besten philipinischen Präsidenten aller Zeiten. Ein Diktator auf dem Heldenfriedhof, das kostet Duterte eine Menge Anhänger wie auch bereits sein Bruch mit den USA und seine Neuorientierung Richtung China und Russland. Dem Flip-Flop-Präsidenten stehen nach einem Wahlsieg von Clinton schwierige Zeiten bevor. Als ob er mit den Drogensyndikaten und den auf Rache sinnenden Oligarchenclans nicht schon genügend Feinde hätte, die auf seinen baldigen Sturz hinarbeiten. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass er das Ende seiner 6jährigen Amtszeit erleben wird, auch wenn nächstes Jahr das Kriegsrecht ausrufen sollte.


6. November 2015

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Wenn Idioten Urlaub machen…

Ein Paar segelte auf einer Privatyacht in einer Bucht im Westen von Mindanao und hisste die deutsche Nationalflagge… Die Partnerin wurde erschossen, der Mann entführt.

Mindanao gehört zum Aktionsgebiet der Sabu Sayyaf Terroristen, die sich dem IS angeschlossen haben. Sie sind ein reine kriminelle Organisation, die seit Jahren westliche Touristen entführt, monatelang im Dschungel gefangenhält, gegen Lösegeld freilässt oder enthauptet. Zurzeit sind über ein Dutzend westlicher Touristen in Geiselhaft. Da Deutschland bzw. der deutsche Steuerzahler, jeweils Lösegeld bezahlt, sind deutsche Touristen besonders beliebt… 


30. Oktober 2016

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22. Oktober 2016

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In China prahlte Duterte gestern: »USA, you lost«, schwadronierte über ein »Triumphirat mit China, Russland und den Philippinen gegen die Westliche Welt«, und erklärte feierlich die Trennung von den USA, auf militärischem und wirtschaftlichem Gebiet.« Grosser Applaus von den chinesischen Zuhörern, Irritation in den USA.

65% der Filipinos haben gemäss einer Umfrage von letzter Woche grosses Vertrauen in die USA, nur 35% in China. Die chinesische Minderheit auf den Philippinen ist nicht sonderlich beliebt, weil sie tüchtiger, vermögender und einflussreicher ist als die Filipinos. Die zwei reichsten Männer der Insel sind Chinesen, in der Wirtschaft geben sie den Ton an. Francisco Sionil Jose riet in einer Kolumne die Chinesen »wie Termiten auszumerzen«.

Nach Dutertes China Rede, ergoss sich ein Shitstorm in den sozialen Medien, sie kritisierten u.a., dass Duterte als Sieg feiert, dass China den Philippinen das Recht gewährt, in philippinischen Gewässern zu fischen…

Einige Senatoren erinnerten daran, dass ihr »Flip-flop« Präsident nicht ohne Einwilligung des Senats die Beziehungen zum Ausland ändern könne, einige Minister versuchten sich in Haarspalterei, eine Trennung sei keine Scheidung, die USA verlangten Aufklärung.

Unter einer US Präsidentin Clinton dürften die Tage des Flip-Flop Präsidenten gezählt sein. Er wird früher oder später das Kriegsrecht ausrufen, um den Senat zu umgehen. Mit dem Diktator (und Ronald Regan Freund) Ferdinand Marcos, dem Idol von Duterte, hatten die USA nie Probleme, mit Duterte mittlerweile ein ganz Grosses.


21. Oktober 2016

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Duterte hat in China offiziell die millitärische und wirtschaftliche Trennung von den USA verkündet. Er will zusammen mit China und Putin ein Triumphirat gegen die westliche Welt bilden. In einer Umfrage vor einigen Tagen sagten 65% der Filipinos sie würden den USA mehr trauen, 35% sagten, sie würden China mehr trauen. Stirnrunzeln auf den Philippinen, unter Präsidentin Clinton werden die USA wohl nicht tatenlos zusehen. Die Philippinen sind der wichtigste Standort für die Abhörstationen der National Security Agency (NSA) im pazifischen Raum. Sie brauchen die Drohnenlandeplätze in Mindanao, um den IS, der dort ein Kalifat ausrufen will, zu stoppen.


12. Oktober 2015

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Der Oberste Gerichtshof mag sich auch nicht entscheiden, ob der Diktator Ferdinand Marcos auf dem Heldenfriedhof begraben werden darf oder nicht. Entscheid aufgeschoben. Marcosclan organisiert Demos. Marcos „wartet“ seit 1989 in einem Glassarg auf eine Bestattung.


11.10.2016

Duterte & der Clan des Diktators Ferdinand Marcos

Wie „rappler“ heute meldet, hat Duterte anlässlich eines öffentlichen Vortrages in Illocos gesagt, er habe kaum Donatoren gehabt um seinen Wahlkampf zu finanzieren, Imee Marcos, die Tochter des Diktators Ferdinand Marcos, habe ihm Geld gegeben und sie habe sich dieses Geld sogar borgen müssen. Geht es noch dreister?

Der Marcos Clan hatte seinerzeit mehrere Milliarden Dollar im Handgepäck als ihn 1986 die gewaltfreie People Revolution aus dem Land drängte und er mit Hilfe der USA ins Exil flog…

Duterte hat die Donatorin Imee Marcos vorsätzlich der Wahlkommission verschwiegen, was ein gravierender Verstoss gegen die Wahlregeln ist.

Bereits Dutertes Vater arbeitete im Kabinett des Diktators. Duterte sagte mehrmals, der Diktator Marcos sei der beste philippinische Präsident aller Zeiten gewesen.

Er wollte dem Marcos Clan auch gestatten, die Leiche des Diktators, die seit 1989 in einem Glassarg auf ihre Beisetzung „wartet“, auf dem Heldenfriedhof zu begraben. Volksproteste haben dies bisher verhindert.

Duterte ist viel stärker mit dem Marcos Clan verbandelt als angenommen, er wünschte sich ursprünglich auch Bobong Marcos, den Sohn des Diktators, als Vizepräsidenten.

In den sozialen Medien ist die Enttäuschung gross.


8. Oktober 2016

hqdefaultDuterte erzielt in der neuen Umfrage erneut historische Höchsstwerte. Die Zustimmung erfasst alle sozialen Schichten.

Die Soziologin Nicole Curato, erklärt CNN Philippines wieso auch in der soeben erschienenen Umfrage, die Zustimmung für Dutertes Drogenpolitik historische Höchstwerte erreicht. Sinngemäss sagt sie: »Was ich gerade dabei bin zu lernen, ist, dass die Leute Duterte unqualifizierten Support geben, weil sie ihre grundsätzliche Denkweise geändert haben: Wir befinden uns im Krieg. Das ist ein Krieg.«

Wenn Soldaten in einen notwendigen Krieg ziehen ist es nicht patriotisch, sie zu kritisieren, es wäre respektlos. »Das ist der Paradigmenwechsel in den Philippinen. Die Polizeioffiziere riskieren ihr Leben und du beginnst, sie zu kritisieren? Das wirst du nicht tun.«

Dr. Nicole Curato arbeitet am Institute for Governance and Policy Analysis an der Universität von Canberra / Philippinen.

 


 

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https://news.vice.com/video/crystal-meth-and-cartels-in-the-philippines-the-shabu-trap

Sehenswerte Doku über die »Hauptstadt von Crystal Meth«. 90% der Polizeiangestellten sind im Drogenhandel involviert. 


9. September 2016

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Die ASEAN Staaten haben beschlossen, dass die Philippinen den Vorsitz für die nächste Konferenz im 2017 übernehmen werden. Indonesien teilte mit, dass sie den philippinischen »War on Drugs« übernehmen werden. Die Philippinen sind nicht wegen Duterte nicht so isoliert, wie es manche westliche Medien glauben machen wollen. Aus einem einfachen Grund: Die Mehrheit der umiegenden Staaten hält nicht viel von Menschenrechten und betreibt eine rabiate Kriminalitätsbekämpfung.


8. September 2016

Seit Dutertes Amtsamtritt am 1. Juli sind zwischen 2000 (CNN Philippines) und 2500 (The Philippine Star) mutmassliche Drogendealer und -süchtige aussergerichtlich erschossen worden. Gemäss General Ronald dela Rosa, Direktor der Philippine National Police (PNP), wurden knapp 800 bei Polizeieinsätzen erschossen, weil sich die mutmasslichen Täter einer Verhaftung entziehen wollten. Die anderen Toten gehen auf das Konto von rivalisierenden Drogenkartellen und anonymen Zivilisten, die mit ausdrücklicher Billigung des Präsidenten, mutmassliche Drogendealer und Süchtige erschiessen. Oder private Rechnungen begleichen.

Die Vorbereitungen für die Beisetzung des Diktators Ferdinand Marcos wurden nach Protesten vorläufig eingestellt.


18. August 2016, der 46. Tag

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Gemäss Philippine Star hat General Ronald dela Rosa, der Direktor der Philippine National Police (PNP) gemeldet, dass seit Dutertes Amtsamtritt am 1. Juli 2016 die Kriminalitätsrate auf 49% gesunken sei. Er sei optimistisch, dass die drogenbasierte Kriminalität wie versprochen innerhalb von 3 bis 6 Monaten ausgemerzt sei. Nun würde man die Anti-Crime-Kampagne ausdehnen und sich die illegale Glückspielbetetreiber und die Steuerhinterzieher unter den Oligarchen vornehmen. Dela Rosa, der wegen seiner imposanten Körperfülle auch »The Rock« genannt wird, gilt auf den Philippinen nebst Duterte als der populärste Mann des Landes. Gemäss dem Sender ABS-CBN soll dela Rosa in einem Interview gesagt haben, der Islamische Staat plane im Auftrag der Drogensyndicate seine Ermordung und ein Attentat auf Duterte.


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17. August 2016, der 45. Tag

In Manila haben einige tausend Menschen gegen die Bestattung des früheren Diktators Ferdinand Marcos auf dem Heldenfriedhof (Libingan ng mga Bayani) der Philippinen demonstriert. Darunter sind auch viele überlebende Folteropfer und Angehörige von Ermordeten.

Marcos liegt seit seinem Tod im Jahre 1989 in einem Glassarg aufbewahrt. Seine Familie kämpft seit 26 Jahren für ein Staatsbegräbnis. Duterte versprach während des Wahlkampfes im Herbst 2015, die ehrenhafte Bestattung auf dem Heldenfriedhof zu gestatten. Hingegen verzichtet Duterte darauf, die Milliarden Pesos, die Ferdinand Marcos auf seiner Flucht mitgenommen hat, von der Familie zurückzufordern. Die National Historical Commission of the Philippines (NHCP) begründet in einer 26seitigen Dokumentation, wieso man von diesem Begräbnis absehen soll. Sie weist minitutiös nach, und belegt dies mit Originaldokumenten, dass Ferdinand Marcos Heldentaten während des zweiten Weltkrieges frei erfunden sind. Er soll weder die »US Medal of Honor, den Silver Star, noch den Order of the Purple Heart« erhalten haben. Auch seine angebliche Führungsfunktionen sei frei erfunden. Duterte hatte während des Wahlkampfes keinen Hehl daraus gemacht, dass er den Diktator für den besten philippinischen Präsidenten aller Zeiten hält. Amnesty International schätzt die Zahl der unter Marcos in Lager Internierten, auf 70.000, 34.000 sollen gefoltert worden sein, 3240 ermordet.


9. August 2016, der 41. Tag

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Duterte warnt vor einer Staatskrise. Maria Lourdes Sereno, die oberste Richterin der Philippinen,  hat die von Duterte an den Pranger gestellten 7 Richter aufgerufen, sich nicht ohne Haftbefehl den Behörden zu stellen. Sie bezweifelt ihre Vergehen und die Rechtsmässigkeit von Dutertes Aktionen. Duterte warf Sereno vor, eine Verfassungskrise hinaufzubeschwören und warnte den Obersten Gerichtshof, er würde notfalls das Kriegsrecht (Dutertes Rede auf CNN Philippines) ausrufen. Er wiederholte, dass es seine Pflicht sei, der Oeffentlichkeit die Namen jener zu nennen, die dem Land Schaden zufügen.

PNP Chief Ronald Dela Rosa, der oberste Polizeichef, ist optimistisch, dass er die Drogenkriminalität auf den Philippinen innerhalb von drei bis sechs Monaten ausmerzen kann, wie von Duterte im Wahlkmapf versprochen.

Duterte droht, nun auch noch die Namen der grössten Steuerhinterzieher öffentlich zu machen.

Rosales, der frühere Erzbischof von Manila, unterstützt öffentlich Dutertes Krieg gegen Drogen. Unterstützung erhält Duterte auch von Joel Tabora, dem Universitätspräsidenten von Davao. Er sagt: »Falls „Digong“ (Duterte), den Krieg gegen die Drogen nicht gewinnt, wird das keine spätere Administration mehr schaffen und die Philippenen werden von den Drogenkartellen kontrolliert werden.

Quellen: Rappler, Manila Times, CNN Philippines, Inquirer, Philstar.


7. August 2016, der 39. Tag

duterte-nib-08062016Rodrigo Duterte hielt im Militärcamp Lapu-Lapu in Cebu-City eine Rede, die als »Breaking News« durch alle philippinischen Medien ging: Er machte seine Drohung wahr und nannte die Namen von über 159 Kongressabgeordneten, Richtern, Polizeibeamten, Generälen, die mit den Drogenkartellen kooperieren und sich am Drogenhandel bereichern. Die Liste ist nur die Spitze des Eisberges und deutet das Ausmass von Korruption und Kriminalität an, die das Land zu einem Narco Staat gemacht haben. Duterte kündigte weitere Listen an und befahl den Genannten, sich innerhalb von 24 Stunden bei ihren Vorgesetzen zu melden: Richter haben sich direkt beim Obersten Gerichtshof einzufinden, Narco-Politikern und Militärs würden innerhalb von 24 Stunden die Befehlsmacht entzogen. Einmal mehr demonstriert Duterte, dass er kein Mann von leeren Drohungen ist.  ABS-CBN News und andere Medien publizierten die vollständige Namensliste. Wer sich nicht freiwillig stellt, ist zum Abschuss freigegeben.

Duterte äusserte sich auch zu Terrorgruppe Abu Sayyaf, die IS Terroristen aus Syrien beherbergt. Er sagte, es würde nie Friedensverhandlungen mit Terroristen geben, sein Befehl laute: Vernichtet sie bis auf den letzten Mann. Abu Sayyaf ist eine hochkriminelle Terrororganisation, die seit den 90er Jahren vor allem mit Bombenanschlägen, Kidnapping und Enthauptung von Touristen von sich reden macht. Duterte nannte den Kampf gegen den Terror im Süden der Philippinen die grösste Herausforderung für das nächste Jahrzehnt.

Die finnische Sicherheitsfirma F-Secure teilte mit, chinesische Hacker hätten Trojaner in philippinische Behördenrechner eingeschleust (The Philippine Star).

Trump ist es gelungen, auch die Philippinen zu verärgern. In einer weiteren Tirade zählte er die Philippinen zu den Terrornationen. Er listete die Heimatländer jener Migranten auf, die sich als Trojanische Pferde unter die Migrantenströme mischten, um Anschläge zu verüben. Zu den Terrornationen zählte er nebst den Maghreb Staaten und dem Nahen Osten auch die Philippinen. Communications Secretary Martin Andanar widersprach vehement und erinnerte Trump daran, dass Trump seine Liebe für die Philippinen geäussert hatte, als er in Businessviertel Makati seinen luxuriösen Wolkenkratzer realisierte: »I havbe always loved the Philippines, I think it is just a special place (Phil Star Global).


Samstag, 6. August 2016, der 38. Tag

f-ppine-poll-a-20160426-870x580»Falls du nicht sterben willst, hoffe nicht auf die Priester oder die Menschenrechtsorganisationen. Sie können den Tod nicht aufhalten.«

Nachdem Duterte in der letzten Umfrage von Pulse Asia eine Zustimmung (»Big Trust«) von 91% erhalten hat, legt er einen Zacken zu. In einem Interview mit »The Philippine Star« droht er den in den Drogenhandel involvierten Provinzgouverneuren und Majors: »Ich werde euch alle töten. Habt ihr gesehen, was ihr dem Land angetan habt? Denkt ihr, ich würde euch jemals vergeben? Mein Befehl lautet: Schiessen und töten. Ich schere mich nicht um Menschenrechte. Glaubt mir, es ist mir egal, was die sagen werden, dieser Krieg ist gegen Drogen. Schiessen und töten wird gelten bis zum letzten Tag meiner Präsidentschaft (2022).«

Erneut kündigt er neue Todeslisten mit involvierten Politikern an. Er würde sie öffentlich demütigen und die Ehre ihrer Familien zerstören. Sie könnten sich entweder freiwillig stellen oder sterben. Der Entscheid liege bei ihnen.

Auf Nachfrage des Reporters von »The Star«, präzisierte Duterte: »Shoot to kill is to shoot and kill him. Do not waste the bullet.« Schiessen und töten bedeutet schiesse und töte ihn. Vergeude keine Patrone.« Er bekräftigt, dass er nicht aufhören werde, bis der letzte Drogenbaron, der letzte Drogenfinancier und der letzte Dealer sich ergeben haben, hinter Gitter sitzen oder unter der Erde liegen. Er sagte, dass sei genau das, was er im Wahlkampf versprochen habe und wofür er gewählt worden sei. Er sei sehr wütend, dies sei keine Krise, sondern ein Krieg. Und fügt hinzu: »Wieso sollten diese Leute (Drogenhändler) leben?«

Mittlerweile gilt die »Kill List« des »The Philippine Daily Inquirer’s« als verbindlich für alle übrigen Medien. Die Zeitung nennt 465 aussergerichtliche Erschiessungen von mutmasslichen Drogenhändlern zwischen dem 1. Juli und dem 1. August. (Zum Vergleich: In den sechs Monaten vor seinem Wahlsieg waren es monatlich rund 11 Tote). Seit Dutertes Amtsamtritt wurden offiziell auch 5418 mutmassliche Drogenhändler verhaftet, über eine halbe Million (565.847) sollen sich freiwillig ergeben haben, aus Angst, aussergerichtlich erschossen zu werden.

Präsidentensprecher Ernesto Abella bestätigte, dass die Shoot-to-kill order in Abstimmung mit den verantwortlichen Behördenstellen erfolgt sei, um Recht und Ordnung im Land wiederherzustellen. Erneut garantierte er allen Polizeibeamten und Militärs, die Drogendealer aussergerichtlich erschiessen, den vollen Schutz des Präsidenten, präzisierte jedoch, dass diese Erschiessungen nur erfolgen dürften, wenn sich ein mutmasslicher Drogendealer der Verhaftung widersetze. Er bestritt, dass die Regierung (wie seinerzeit in Davao City) Todesschwadronen losgeschickt habe, das mache keinen Sinn, da sie ja die Möglichkeit hätten, auf »legalem« Weg die Todeslisten abzuarbeiten. Er bestritt jedoch nicht, dass Zivilisten und rivalisierende Drogengangs die Situation ausnutzten, um offene Rechnungen zu begleichen.

Duterte droht nun auch den Firmen, die das Arbeitsrecht missachten: »Stop Contractualization or I will kill you.« Mit »Contractuals« sind Temporärarbeiter gemeint, Ungelernte, Auszubildende, Projektarbeiter und von Arbeitsfirmen ausgeliehene Zeitarbeiter ohne Vertragssicherheit. Diese haben wesentlich tiefere Löhne, teilweise 200 Pesos Tagespauschale (ca. 4 Dollar) und kaum eine Chance, eine Ausbildung zu machen, weil sie jeweils nach spätestens 6 Monaten wieder entlassen werden. Die Beendigung der »Contractualization« war ein zentrales Wahlversprechen von Duterte.

Drohungen stösst er auch gegen die milliardenschweren »Oligarchen« aus, die das Land zerstören. Anlass war der Fall des Geschäftsmannes und früheren Handelsministers Roberto Ongpin, der sich mit Hilfe der frühreren Regierung bereichert hatte (The Manila Times). Duterte versprach, alle Oligarchen zu zerstören, die in Regierungsgeschäfte eingebettet sind.

Auch die ausländichen Minenbetreiber geraten unter Beschuss. Die goldenen Zeiten sind vorbei. Sieben Nickelminen wurden wegen Nichteinhaltung der Umweltauflagen stillgelegt. Umweltministerin Gina Lopez will nun gegen weitere Bergbauunternehmen vorgehen. Duterte sagte, das Land sei nicht auf die 40 Milliarden Pesos angewiesen, die jährlich von diesen Firmen an Steuern bezahlt werden. Wenn ein Bergbauunternehmen ohne Lizenz arbeite, werde er notfalls das Militär schicken, um die Miene zu schliessen. In typischer Duterte Manier drohte er, sie alle »ins Loch zu stecken« und sie zu begraben.

Widerstand gegen Dutertes Anti-Crime-Strategie leisten nicht nur verschiedene Menschenrechtsorganisationen sondern auch innenpolitische Rivalen, angeführt von der abgewählten Justizministerin De Lima, die zu den härtesten Kritikern gehört. Ihre Motivation ist undurchsichtig, läuft gegen sie doch ein Strafverfahren, weil sie als Justizministerin zusammen mit ihrem Kader den im Bilibit Gefängnis inhaftierten Drogenbaronen die Möglichkeit gegeben hatte, ihre Drogengeschäfte weiterzuführen. Sie hatte zugelassen, die »Zellen« der Druglords in Hightech Luxussuiten umzubauen. Die Drogensyndikate sollen Millionen Dollar dafür bezahlt haben, Bilibit ist unter De Limas Ministerium das Hauptquartier des nationalen Drogenhandels geworden, der von chinesischen und mexikanischen Drogensyndicaten dominiert werden.

Ueberraschend wurden am Mittwoch um 5 Uhr morgens geschätzte 400 uniformierte Sicherheitsbeamte des Manila International Airport Authority (MIAA) auf Drogen getestet. Duterte hat zum Ziel, im Laufe seiner Amtszeit sämtliche Staatsangestellten auf Drogen zu testen.

Zwei Monate, nachdem Duterte einen Medienboykott erlassen hatte, hielt er wieder eine Pressekonferenz ab und stand den Journalisten Red und Antwort. Der Anlass wurde live von CNN Philippines übertragen. Im Anschluss forderte er die Journalisten auf, ihn zu kritisieren. Er sei nur ein Diener des Landes.

Auch im Strassenverkehr weht ein neuer Wind: Geschwindigkeitsbegrenzungen werden nicht nur erlassen, sondern Uebertretungen auch umgehend sanktioniert. Fahrer, die unterwegs ihr Mobile benützen, werden gebüsst. Wer grundlos hupt, was eigentlich alle tun, wird bestraft.

Duterte schickt sich an, ein weiteres Wahlversprechen einzulösen: Kostenlosws WiFi an allen öffentlichen Plätzen.

Ein weiteres Wahlversprechen soll erfüllt werden: Die Beerdigung des blutrünstigen Diktators Ferdinand Marcos auf dem Soldatenfriedhof, mit allen militärischen Ehren. Duterte nannte während des Wahlkampfes den Diktator den besten philippinischen Präsidenten der Geschichte. Ferdinand Marcos war der demokratisch gewählte 10. Präsident der Philippinen. 1972 verhängte er das Kriegsrecht und regierte fortan als Diktator bis ihn 1986 ein Volksaufstand ins Ausland vertrieb.  In seinem Handgepäck: Millionen frisch gedruckter Pesos, Gold, Schmuck, Milliarden an gestohlenem Volksvermögen.  Es war der damalige Bundesrat Kurt Furgler, der die Schweizerische Kreditanstalt anwies, alle Marcos Konten sofort zu sperren. Für damalige Verhältnisse ein revolutionärer Akt. Die NZZ beklagte einen »Handstreich«, der »Ruf des Landes sei in Gefahr« beklagte ein prominenter Banker. Schliesslich musste die SKA das eingefrorene Volksvermögen an die spätere rechtmässige Regierung zurückerstatten. Seit 1989 liegt der Diktator nun in einem gekühlten Glassarg. Der Marcos Clan hat sich durchgesetzt. Das Begräbnis dürfte heftige Proteste nach sich ziehen, hatte Diktator Marcos während seiner Amtszeit ca. 30.000 Journalisten, Intellektuelle und politische Gegner interniert, teilweise gefoltert und ermordet. 


Montag, 1. August 2016, der 33. Tag

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Nach 33 Tagen im Amt, wurden 363 mutmassliche Dorgenhändler erschossen und über 4300 verhaftet. Seitdem sind die Gefängnisse auf den Philippinen noch überfüllter, als sie es eh schon waren. Die Bilder zeigen Häftlinge im Quezon City Jail, das seinerzeit für 800 Gefangene angelegt war. Zurzeit leben dort 3800 Häftlinge. Für jeden Gefangenen steht ein Tagesbudget von 50 Pesos (ca. 1.10 Dollar) zur Verfügung und 5 Pesos (ca. 11 cents) für medizinische Betreuung. Quezon City, bis 1976 die Hauptstadt der Philippinen, hat mit 16.000 Einwohnern pro m2 eine ähnliche Dichte wie Monaco. Die Stadt ist heute Teil von »Metro Manila« mit über 12 Millionen Einwohnern. Die Philippinen gelten als älteste Demokratie Südostasiens. Die präsidentielle Demokratie gewährt dem Präsidenten weitreichende exekutive Befugnisse.

Der Oberste Gerichtshof verbietet das Einsammeln von Strassenkindern nach 22.00 Uhr. Die gilt für Manila.

Vice-Präsidentin Roberto will nicht, dass man illegale Wohnbarracken aufhebt, solange für die Insassen keine andere Bleibe gefunden worden ist.

Die Verwaltung ist angewiesen, Firmenregistrierungen zu beschleunigen. Bisher waren 16 Schritte in 29 Tagen erforderlich, ab jetzt braucht es nur noch 6 Schritte in 8 Tagen.


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An seiner ersten SONA (State of the Nation Adress) kündigte Duterte u.a. tiefere Steuern, verbesserte Verkehrsverbindungen, schnelleres Internet und kostenloses Wi-Fi an. Ab 1. August gibt es landesweit zwei Notfallnummern: 911 für medizinische Notfälle und 8888 um sich zu beschweren. Die Leitungen sind 24 Stunden am Tag besetzt. Nachdem seine Rede anlässlich seiner Vereidigung die kürzeste in der Geschichte war, war seine Sona die längste überhaupt. Sie wurde von den Medien mit Enttäuschung aufgenommen, da Duterte nichts Neues erzählte und viele Fragen offen liess. Zu den aussergerichtlichen Erschiessungen sagte er »We will not stop«, die Menschenrechte dürften nicht dafür missbraucht werden, Kriminelle zu schützen, die das Land zerstören. Duterte verlangte mehr Vollmachten.

Die aussergerichtlichen Erschiessungen von mutmasslichen Drogenhändlern erreicht neue Höchstwerte. Seit dem 1. Juli 341 erschossene Drogenhändler und süchtige Kleindealer. Duterte bekräftigt erneut, dass infolge der enormen Beschaffungskriminalität, jeder erschossene süchtige Kleindealer die Deliktzahlen um ein Vielfaches senkt. China übergibt den Philippinen während der Aseanopol Konferenz in Kuala Lumpur (Malaysia) eine Liste mit den grössten Drogenhändlern und -produzenten des Landes. Die drei mächtigsten Drogenbarone der Philippinen sind die Chinesen Peter Lim, Peter Co und Herbert Colangco, zwei von ihnen sitzen im im Bilibid Gefängnis. Das unter der früheren Justizministerin de Lima zu einem »Fünfstern Hotel« umgebaute Bilibid Gefängnis war – wie jetzt publik wird – die Kommandozentrale des philippinischen Drogenhandels. Eine religiöse Sekte, die im Gefängnis eine Kapelle betrieb, versorgte die zahlungskräftigen Insassen mit den gewünschten Artikeln. Vier »Tempeldienerinnen« standen als Prostituierte für 4000 bis 5000 Pesos (80 bis 100 Franken) zur Verfügung. Mittlerweile wurde das gesamte Gefängnispersonal entlassen, die Armee hat die Kontrolle über Bilibid übernommen.

Der am 25. Juli von Duterte einseitig verkündete Waffenstillstand mit der NPA haben die kommunistischen Rebellen ignoriert und fünf Menschen erschossen. Das anschliessende Ultimatum ist heute Samstag um 11.00 europäischer Zeit abgelaufen. Duterte hat die Armed Forces of the Philippines (AFP) in höchste Alarmbereitschaft versetzt. Die kommunistischen Rebellen nennen sich »New Peoples Armys (NPA) und sind der militärische Arm der Kommunistischen Partei der Philippinen (CPP).

Gleichzeitig hat Duterte verkündet, es gebe mit der Terrororganisation Abu Sayyaf, die mittlerweile Soldaten des IS in ihren Camps aufnimmt, keine Gespräche.

Der nächste Konfliktherd betrifft den Streit um die von China beanspruchten Inseln und Atolle im südchinesischen, bzw. westphilippinischen Meer. US-Aussenminister John Kerry traf in Manila ein. An den Gesprächen waren auch vier ehemalige philippische Präsidenten anwesend: Ramos, Estrada, Arroyo und Aquino. Der Schiedshof in Den Haag hatte vor einigen Wochen Chinas Ansprüche zu 80% zurückgewiesen. Duterte hat in Japan neue bewaffnete Patrouillenbote bestellt, Stückpreis 11,7 Billionen Yen. Liefertermin: 2018. 

Ex-Präsident Fidel Valdez Ramos soll die Gespräche mit China führen. Der 88jährige ehemalige General und Präsident war während des Vietnamkrieges Chef des Stabes des philippinischen Truppenkontingentes  („Philippine Civil Action Group“).

Der 63jährige Musiker und Songwriter Freddie Pascual Aguilar soll das Ressort „Culture and Art“ übernehmen. Er will westliche Einflüsse von der philippinischen Kultur fernhalten. Er war in den 70er Jahren der erste philippinische Musiker, der westlich geprägte Musik mit Tagalog verband und dank diesem Fusion Sound seinen ersten internationalen Hit landete: Anak (Kind). Der Song wurde von diversen Musikern gecovert. Freddie Aguilar schrieb auch den Wahlkampfsong für Duterte und durfte ihn nach der Vereidigung im Palast singen. Auf Facebook gibt er gerne Tips, wie man in drei Tagen Krebs und andere Krankheiten heilen kann…

Manny Pacquiao hatte vor der Wahl versprochen, nicht mehr zu boxen und sich ganz seiner Aufgabe als Senator zu widmen. Der notorische Wendehals, religiöse Extremist und Schwulenhasser (worse than animals) hat sein Wahlversprechen schon wieder gebrochen und organisiert seinen nächsten Kampf.

Duterte will sich nicht an die internationalen Klimavereinbarungen halten.


23. Juli 2016

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Die aussergerichtlichen Erschiessungen von Drogenhändlern erreichen mit einem Durchschnitt von 12 Toten pro Tag einen neuen Höchststand. Auch Dutertes Popularität verzeichnet Höchststände: 91% haben laut letzter Umfrage »grosses Vertrauen« in ihn, »big trust« (Pulse Asia). Duterte macht chinesische Drogenbarone für das nationale Drogenelend verantwortlich. Er verlangt von China Listen. China sagt Kooperation zu. Meco Tan, einer der »Top Drug Lord« auf Dutertes Killing List, wurde gestern aussergerichtlich erschossen. Er betrieb in Manila grosse Christal Meth Fabriken.

Zum Entsetzen seiner Bodyguards hat sich Duterte angewöhnt, auf seinem Motorrad durch Manila zu fahren, um Misstände zu erkennen und umgehend beheben zu lassen. Er verfügt schriftlich eine Neuregelung: Er will nicht mehr wie üblich mit »His Excellency« angesprochen werden und hohe Staatsbeamte sollen auch nicht mehr mit dem Zusatz »honorable« angeschrieben werden. (In der EU wird der Saufbold Juncker mit »His Excellency« angesprochen.)

In seinem Editorial für die Manila Times erklärt Francisco S. Tatad wieso er seine negative Meinung über Duterte geändert hat. Er schreibt, Duterte müsse sich überlegen, ob er nicht besser eine Revolutionsregierung ausrufe. Sollte der Senat die Wiedereinführung der Todesstrafe blockieren, wird Duterte das wohl tun.

Die Finanzmärkte sind Pro-Duterte, die Börse boomt.

Inselstreit: Chinesen protestieren gegen Filipinos, Filipinos gegen Chinesen, philippinische Fischerboote werden von bewaffneten Schiffen der Küstenwache abgefangen und zurückgedrängt. Ein weiterer amerikanischer Flugzeugträger erreicht den Hafen von Manila und beschädigt die Docks.


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20.06.2016

Duterte hat Truppen nach Muntinlupa City geschickt, um die Kontrolle über die »New Bilibid Prison« zu übernehmen: 320 Soldaten der »National Police-Special Action Force«. Unter der Führung der ehemaligen Justizministerin de Lima, war das Gefängnis zum Hauptquartier des nationalen Drogenhandels geworden, hier sitzen alle grossen Drogenbarone des Landes ihre »Strafe« ab. Ihre »Zellen« bestanden aus möblierten Deluxe Suiten mit Küche, Schlafzimmer, Büros, Badezimmer, Musikstudio und Privatkino. Aguirre, der neue Verantwortliche der Bilibid Prison sagte ANC, die Druglords hätten ihm 100 Millionen Pesos für die Fortsetzung der Kooperation geboten und falls er ablehne, würden sie ein Kopfgeld von 50 Millionen Pesos ausrufen. Der Narco Staat Philippinen steht den südamerikanischen Narco Staaten ins nichts nach. Das erklärt auch die ungebrochene Begeisterung der Mehrheit der Filipinos für ihren verehrten »Punisher«.

Ausreisesperren für die Familie des früheren Innenministers Binay, der Duterte während des Wahlkampfes den Gang zum Psychiater empfohlen hatte. Binay steht im dringenden Verdacht, Gelder für den Wohnungsbau veruntreut zu haben. Auch dem früheren Präsidenten Aquino III. droht möglicherweise ein Strafverfahren wegen Veruntreuung von Hilfsgeldern. Und der ehemaligen Justizministerin Lima wegen Protektion der Drogensyndicate.

Die Philippinen weisen Chinas Bedingungen für Verhandlungen zurück. Diverse Scharmützel zwischen chinesischen Kriegsschiffen und philippinischen Fischern.


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Malaysia, Vietnam und Japan unterstützen die Philippinen im Streit um die Spratly Inseln. Japan und die USA schicken Kriegsschiffe, gemeinsame Manöver geplant.

Diverse phil. Organisationen rufen zum Boykott chinesischer Waren auf. Die ersten drei Zahlen 690 des Strichcodes weisen auf Produkte made in China hin. Die Info macht die Runde in den sozialen Medien.

Seit Dutertes Amtsantritt werden täglich im Schnitt 7,38 mutmassliche Drogenhändler aussergerichtlich erschossen, von Polizeibeamten, Zivilisten oder mittlerweile auch von konkurrienden Drogenkartellen. Zum Vergleich: Von 1. Januar bis zum Amtsantritt von Duterte am 10. Mai wurden durchschnittlich 3,3 Drogendealer erschossen.

Mittlerweile haben sich über 65.000 drogensüchtige Dealer der Polizei gestellt, aus Angst, erschossen zu werden. Aber es gibt keine freien Rehab Plätze mehr.

Duterte fordert die Anwälte auf, keine Drogenhändler als Klienten zu akzeptieren.

Duterte will alle Staatsbeamten, insbesondere Polizeibeamte, Gefängnisbeamte, aber auch alle Senatoren und Kongressbeamte auf Drogen untersuchen lassen. Widerstand im Kongress.

Die Senatorin und ehemalige Justizministerin Leila de Lima steht ihm Verdacht, für das Drogensyndicat gearbeitet zu haben. Unter ihrer Führung wurde das Bilibit Gefängnis, in dem alle verhafteten Drogenbarone einsitzen, zu einem Luxusknast umgebaut, in dem die Druglords wohnen wie in luxuriösen Fünfsternsuiten. Von hier aus soll der nationale Drogenhandel organisiert worden sein. Im Internet tauchen Videos auf, die sie singend an einer Geburtstagsparty eines Drogenbarons zeigen. Vor Gericht wird sich wohl auch der frühere Vicepräsident Binai verantworten müssen, der bei Bauvorhaben im Finanzviertel Makati Millionenbeträge in die eigene Tasche steckte.

Streit um die Beisetzung des 1989 verstorbenen Diktators Ferdinand Marcos. Duterte will ihn auf dem Soldatenfriedhof beisetzen, zahlreiche Proteste dauern an. Duterte hält den Diktator, der über 20.000 Lehrer, Journalisten und politische Gegner internieren (und teilweise foltern und ermorden liess) für den grössten phil. Präsidenten aller Zeiten…

Duterte sagt der Vermüllung den Kampf an. Strassenkantinen und Strassenhändler haben die Fahrbahnen freizuhalten. Ueberall müssen die Müllberge beseitigt werden.

Mit Angelina King, die erste Transgender Frau im philippinischen Kongress, erzählt ihre Story in den Medien.

Die Ereignisse seit dem 10. Mai zeigen, wie stark die Drogensyndicate mit den milliardenschweren OIigarchen in der Regierung verbandelt waren und gemeinsam den Narco-Staat regierten. Nur so ist die Wahl des »Punishers« und »Dirty Harry« Rodrigo Duterte verständlich, er geniesst zurzeit weltweit die höchste Zustimmung für einen Staatspräsidenten. Die Zustimmung erhält er aus allen sozialen Schichten gleichmässig. Er wird wie ein von Gott gesandter Messias verehrt. Das Magazin People Asia widmet ihm eine Sonderausgabe. Phil. Aktienindex erreicht Höchstände. 

Hackerattacke legt zahlreiche Regierungsserver lahm.


14.06.2016

Säbelrassen im Westphilippinischen Meer. China reagiert heftig auf den Entscheid des Internationalen Gerichtshofs (Den Haag) zugunsten der Philippinen und nennt das südchinesische Meer eine »Wiege des Krieges«. Dessen ungeachtet haben die USA Kriegsschiffe und einen Flugzeugträger ins südchinesischee Meer entsandt. Duterte ist bemüht um Deeskalation und verordnet, dass man das Westphilippinische Meer nun wieder das Südchinesische Meer nennen müsse (sein Vorgänger hatte die Umbenennung durchgesetzt). Duterte sagt, man müsse in der Stunde des Sieges Demut und Bescheidenheit zeigen. Einige Stunden später sagt er, die Philippinen würden zwar nicht in den Krieg ziehen, aber sie würden keinen Zentimeter weichen. Den Haag habe entschieden. Die Inselgruppe gehört den Philippinen.

Bündnis mit MNLF und Terrorgruppe MILF. Duterte geht ein Bündnis mit der Nationalen Befreiungsfront der Moros ein (MNLF), die seit den 70er Jahren im Süden der Philippinen für einen eigenständigen muslimischen Staat »Bangsamoro« kämpft. Die ehemalige Guerillatruppe vertritt die Interessen der Volksgruppe der Moros. Mitglieder, die den Friedensvertrag mit Manila als Kapitulation betrachteten, haben sich darauf abgespaltet und neu als Moro Islamic Liberation Front (MILF) organisiert. Die MILF ist eine kriminelle, islamistische Bewegung mit ähnlicher Ausrichtung wie Abu Sayyaf, die sich als Teil des Kalifats des IS bezeichnen. Gemeinsam mit der philippinischen Armee wollen sie den Drogenhandel im Süden bekämpfen.

Die 5 Generäle, die Duterte geoutet hat, erhielten von Drogenbaron Co (er sitzt im Drogenknast Bilibit und setzte ein Kopfgeld auf Duterte aus) umgerechnet 560.000 Schweizer Franken im Monat, also rund 7 Millionen im Jahr für die Protektion der Drogensyndikate. Für jeden Polizeigeneral. Das durchschnittliche Einkommen beträgt rund 1000 Franken im Monat.

Dass aussergerichtliche Töten geht unvermindert weiter. Duterte hatte im Wahlkampf gedroht, er werde tausende erschiessen, falls er Präsident würde. Falls ihm die Drogensyndikate oder die entmachteten Oligarchenfamilien keine Killer ins Haus schicken, dürften es bis Ende Jahr schätzungsweise über 1000 aussgerichtliche Tötungen sein (In Davao City, wo Duterte 22 Jahre lang Mayor war, waren es über 10.000 aussergerichtliche Erschiessungen). Dessen ungeachtet erzielt Duterte bei der letzten Umfrage des renommierten Meinungsforschungsinstitut Social Weather Stations (SWS) Höchstwerte: 84% der landesweit befragten 1200 Erwachsenen gaben an, sie würden Duterte »sehr vertrauen«, nur gerade 5% gaben an, sie würden Duterte »wenig vertrauen«. Das ergibt gemäss SWS eine Zustimmung von 79%. Diese ungebrochene Zustimmung ist nur verständlich, wenn man das Ausmass von Kriminalität und Korruption kennt, die die Philippinen zum Narcostaat gemacht haben. Im persönlichen Gespräch äussern Filipinos und Filipinas, dass es nun eine blutige Säuberung brauche, damit sie dann wieder in Frieden leben könnten.

Der achtfache Boxweltmeister  und Wendehals Manny Pacquiao, der im Mai in den Senat gewählt worden war, nachdem er die Beendigung seiner Boxkarriere verkündet hatte, macht jetzt einen Rücktritt vom Rücktritt und will wieder boxen. Der Wendehals, der nach Lust und Laune die Partei wechselt, war als Kongressabgeordneter gerade mal an 4 von 170 Sitzungen anwesend. Als Senator hat der »Volksvertreter« gleich die erste Sitzung geschwänzt. Trotzdem wird der grösste Steuerzahler der Philippinen wie ein Halbgott verehrt. Daran hat auch seine Aeusserung nichts geändert, wonach Homosexuelle »worse than animals«, schlimmer als Tiere seien, und dass sie gemäss Bibel den Tod verdienen. In dieser Hinsicht sind alle religiösen Extremisten, egal ob muslimisch oder christlich, Brüder und Schwestern im Geiste.

Börse steigt weiter. Investoren vertrauen Dutertes Anti-Crime-Strategie.


woody-island-paracels-south-china-sea13.07.2016

Der chinesische Präsident Xi Jinping hat der Armee den Befehl gegeben, sich auf einen Kampf vorzubereiten, »Prepare for combat«. China ignoriert die Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag zugunsten der Philippinen und wird auch weiterhin die umstrittenen Inseln zu vorgelagerten Militärstützpunkten ausbauen.  Die geostrategische Bedeutung dieser philippinischen Inselgruppe hatte ich in meinem Weltwoche Artikel vom 21.12.2015 dargelegt. Mehr als die Hälfte der weltweiten Containerschiffe würde durch eine Eskalation im Südchinesischen Meer betroffen und auch Europa und den Welthandel im Allgemeinen tangieren.

Die täglichen Erschiessungen von mutmasslichen (!) Drogenbaronen, Drogenhändlern und drogensüchtigen Kleindealern geht trotz erneuter Proteste von #HumanRights und #AmenstyInternational unvermindert weiter. Mittlerweile haben sich laut Regierungsquellen bereits über 25.000 drogensüchtige Kleindealer auf Polizeidienststellen gemeldet und Rehabvereinbarungen unterschrieben, weil sie (zurecht) fürchten, erschossen zu werden. Mehrere Kolumnisten und Senatoren schreiben, die Situation sei ausser Kontrolle geraten.

Die philippinische Armee meldet 40 erschossene Abu Sayyaf Terroristen und erlaubt der indonesischen Armee auch auf philippinischem Staatsgebiet, Terroristen zu jagen.

Duterte kündigt die öffentliche Demütigung und Entlassung von zwei Dutzend Bürgermeistern / Stadtpräsidenten an (Narco Mayors), die in den Drogenhandel verwickelt sind. Er sagt, wenn sie sich nicht freiwillig melden, würden sie erschossen. Er sagt, er habe auch Listen über Polizeibeamte, die von den Drogenkartellen bezahlt werden. Die Listen stammen von der Vorgängerregierung, die in sechs Jahren Kenntnis hatte, aber nichts unternommen hat. War Ex-Präsident Aquino III. der Godfather der Philippinen?

Ein Direktor der Philippine National Police gibt bekannt, dass LGBTs in Polizeidiensten willkommen sind, weil sie erfahrungsgemäss effizienter arbeiten und talentierter sind.


09.07.2016

Duterte gilt nach wie vor als »Präsident des armen Mannes«, er verkauft die Präsidentenflotte, lehnt auch sonst alle Insignen seiner präsidialen Macht ab, öffnet den Präsidentpalast für die Menschen aus den Slums, bewirtet sie kostenlos, fliegt Economy, will landesweit die in Davao City erprobte moderne 911-Notfallnummer einführen, kostenlose Gesundheitsdienste, will die Pensionen erhöhen, die vermüllten Flüsse säubern, Umweltschutzstandards einführen, tritt abends in Badeschlappen und Tshirt aus seinem bescheiden Haus und unterhält sich mit Leuten, die sich auf der Strasse aufhalten. Einstimmig berichten mir Filipinos und Filipinas dass der »Wechsel« bereits in den Strassen sichtbar sei: weniger Leute auf den Strassen, keine Kinder mehr nach 22.00 Uhr, kaum noch Betrunkene im öffentlichen Raum, mehr Ruhe, höheres Sicherheitsgefühl.

Duterte wird als von Gott gesandt verehrt, Nostradamus soll ihn vorausgesagt haben, auf den abergläubischen Philippinen ist alles möglich. Der 16. Präsident der Philippinen wird auch mit dem 16. Präsidenten der USA verglichen, auch Abraham Lincoln sei einst ein »einfacher Anwalt« gewesen…

Wie von Duterte angekündigt, hat er fünf Generäle der philippinischen Nationalpolizei öffentlich blossgestellt und gedemütigt. Sie stehen im Verdacht, die Drogenkartelle protegiert zu haben. Bei einem Monatslohn von umgerechnet 1000 Franken, besassen sie Millionenvermögen, zahlreiche Immobilien und Luxuskarossen. Es zeichnet sich langsam ab, dass die zahlreichen aussgerichtlichen Tötunten von mutmasslichen Drogenbarone auch teilweise das Werk von Polizeioffizieren sein könnten, die belastende Zeugen ausschalten. Diskutiert wird auch die jahrelange Protegierung der im Drogenhandel verwickelten Polizeielite durch die früheren Präsidenten (!). In Central Luzon waren über 100 Polizeibeamte in Drogengeschäft verwickelt. Es zeigt sich in aller Deutlichkeit, dass die Philippinen längst ein Narco Staat sind. Seit dem Wahlsieg am 10. Mai (vor 23 Tagen) wurden bereits 145 (CNN) mutmassliche Drogenbarone/Drogenhänlder bei Schiessereien erschossen. Trotz Protesten von Human Rights und Amnesty International gehen die aussergerichtlichten Tötungen weiter. In Einzelgesprächen mit Filipinos und Filipinas wird deutlich, dass die Mehrheit diese »Disciplina Duterte« gutheisst (»Anders ist das Problem nicht mehr zu lösen«).

Thema in den Medien, aber auch in der Bevölkerung, ist Dutertes irritierende Unberechenbarkeit. Praktisch jeden Tag vollzieht er eine radikale 180 Gradwende. Ein Wahlkampf war seinerzeit eine mögliche biopolare Störung Dutertes, ein manisch-depressives Verhaltensmuster, Dauerthema. Mitbewerber Binai empfahl ihm eine freiwillige Einweisung in die Psychiatrie.

Duterte, der aus dem südlichen, muslimisch geprägten Mindanao stammt, hat einen arbeitsfreien muslimischen Feiertag für das ganze Land eingeführt. Vor zehn Tagen hatte er – von den internationalen Medien unbemerkt – gesagt, es gebe nur einen Gott, Allah.

In Mindanao hat der Krieg gegen einige Hundert Abu Sayyaf Terroristen begonnen, die Dörfer angreifen. Der IS will hier fussfassen und ein Kalifat errichten. Bevor die Spanier 1521 mit Magellan in Mactan an Land gingen, waren die Philippinen muslimisch. Duterte drohte ihnen mit der Vernichtung, wenn sie nicht umgehend und bedignungslos ihre Waffen niederlegen. Heute morgen sagt er, die Abu Sayyaf Terroristen, seien keine Kriminellen. Abu Sayyaf hat sich auf die Entführung von Touristen spezialisiert um Lösegeld zu erpressen. Wenn die Regierungen nicht zahlen, werden die Geiseln enthauptet, sie seien wegen der Perspektivlosigkeit in Mindanao radikalisiert worden. Diesmal sind die Filipinos anderer Meinung. Ich auch.

Weiterhin ergeben sich Hunderte von süchtigen Kleindealern den Polizeidienststellen, aus Angst, als Dealer erschossen zu werden. Täglich werden neue Polizisten positiv auf Drogen im Urin getestet. 

Das nationale Hauptquartier der Drogenbarone ist ausgerechnet das Hochsicherheitsgefängnis Bilibit. Duterte will die Drogenbarone nach dem Vorbild von Alcatraz auf einer kleinen philippinischen Insel draussen im Meer einbuchten, wo es keinen Handyempfang gibt.


06.07.2016

Duterte macht seine Drohung wahr: Er nennt fünf Polizeichefs im Rang eines Generals. Sie sollen Mitglieder der Drogensyndikate sein oder als Schutzpatrone dieser kriminellen Clans fungiert haben. Ein sechster ist bereits rechtzeitig zurückgetreten. Weitere Ninjas wurden entdeckt, das sind Polizeibeamte, die beschlagnahmte Drogen weiterverkaufen, weitere Polizisten wurden positiv auf Drogen getestet.

In einer anderer Sache sieht sich Duterte genötigt eine Richtigstellung, bzw. einen Rückzieher zu machen: Er sagt, Zivilisten sei nur dann erlaubt, Drogenhändler zu erschiessen, wenn sie in Lebensgefahr sind. Er habe mit der Ausrufung von Kopfgeld und Medaillen lediglich unterstreichen wollen, dass er diese Zivilisten schützen würde.

Duterte will die Armee gegen die Abu Sayaff Terrororganisation in Mindanao einsetzen. 

In der Zwischenzeit werden täglich weitere (mutmassliche) Drogenhändler bei Schiessereien mit der Polizei erschossen.

Filipinos und Filipinas berichten mir, dass es in den Strassen bereits merklich ruhiger und sicherer geworden sei.

Man fragt sich immer wieder: Wie konnten die Drogensyndikate in den letzten 30 Jahren die Philippinen zu einem Narcostaat machen. Wieso haben frühere Präsidenten nichts dagegen unternommen? Es wird der Verdacht geäussert, dass nicht nur Teile der Polizeielite, sondern auch Teile des politischen Etablishments im Dienste der Drogenkartelle standen.


03.07.2016

»Eure Stunden sind gezählt« (Your hours are numbered) rief Präsident Rodrigo Duterte (71) am Freitag, als er vor 500 Zuhörern und Journalisten seine Anti-Crime-Strategie erläuterte. Er forderte den bewaffneten Flügel der Kommunistischen Partei (NPA) dazu auf, mit dem Töten von Drogenhändlern zu beginnen. Die NPA verfügt über 4000 aktive Mitglieder und erschiesst regelmässig Polizisten, Militärs und US-amerikanische Soldaten. Sie pflegt Kontakte zur islamistischen Moro Islamic Liberation Front (MILF), einige Terroristen haben sich abgespalten und die hochkriminelle ABB gegründet, die mit Entführungen, Erpressungen, Auftragsmorden von sich reden macht.

In einer Rede rief Duterte in Manila Zivilisten erneut dazu auf, Drogenabhängige zu töten, um die Beschaffungskriminalität zu stoppen. Er drohte erneut den Polizisten, die im Drogenhandel involviert sind, mit dem baldigen Tod und liess bei 300 Polizeibeamten Urinproben auf Drogen testen.

Die mittlerweile weit über tausend Drogenabhängige, die sich freiwillig für Dutertes Rehabprogramm auf Polizeiposten gemeldet haben, übergaben den Behörden Listen mit den Namen der Dealer und Produzenten. Diese Listen wurden nun an alle örtlichen Polizeidienststellen geschickt mit dem Befehl, alle Beschuldigten innerhalb von drei Monaten zu eliminieren. Wer das Soll nicht erfülle, werde nach drei Monaten ersetzt.

Als Major von Davao City hatte Duterte in seinen 24 Dienstjahren über 1000 mutmassliche Kriminelle von Todesschwadronen töten lassen und dies abwechselnd bestätigt und wieder verneint. In seiner Vereidigungsrede hatte er noch versprochen, als Präsident die Gesetze zu respektieren, schliesslich wisse er als Anwalt und langjähriger Staatsanwalt sehr genau was rechtens und was nicht rechtens ist.


02.07.2016

Der demokratisch gewählte sozialistische Präsident Duterte hat mit der Umsetzung seiner Wahlversprechen begonnen: Disciplina Duterte (Zero Tolerance). Seit seiner Vereidigung vor 2 Tagen sind weitere 12 (mutmassliche) Drogenbarone bei Feuergefechten eschossen worden, in den letzten 48 Stunden haben sich über 700 Drogenabhängige auf Polizeiposten gemeldet und eine Rehab Vereinbarung unterschrieben. Alle Rehab Zentren sind bereits ausgebucht.  

Anlässlich einer 42minütigen Rede wurde er gefragt, wie er mit Drogensüchtigen verfahren wolle, die man weder therapieren noch einsperren könne. Er antwortete, er glaube, dass es besser sei, wenn diese Drogensüchtigen tot seien, da sie sonst Verbrechen begehen, um ihre Drogensucht zu finanzieren. Duterte sagte weiter, dass die Philippine Drug Enforcement Agency (PDEA) die Zahl der Drogensüchtigen auf 3 Millionen beziffert.

Er sagte, dass vielen Drogensüchtigen, die zwischen 6 und 12 Monaten in der Rehab therapiert habe, nicht mehr geholfen werden könne, weil ihr Gehirn bereits zu beschädigt sei von den Drogen. Er habe zur Genüge die Drogensüchtigen von Cebu gewarnt, sie sollten den Drogenkonsum einstellen, sie nehmen weiter Drogen, also bitten sie um ihren eigenen Tod, nicht ich.

Den im Drogenhandel verwickelten Polizeibeamten rief er zu: Fahrt zur Hölle, Fahrt zum Himmel, verschwindet irgendwohin.« Er riet Drogenhändler erneut, sich eine andere Beschäftigung zu suchen, da er sie töten würde. Das Land könne nicht prosperieren, solange dieses nationale Drogenproblem und die damit verbundene Kriminalität bestehe.

Er drohte erneut korrupten Staatsbeamten und kündigte eine 24-Stunden-Hotline an, über die man korrupte Staatsangestellte melden könne


01.07.2016

Wenige Stunden vor der Vereidigung kapitulierten mehre hundert (!) Drogendealer auf Polizeidienststellen. Unmittelbar nach der Vereidigung traf der sozialistisch-muslimische Präsident Duterte diverse Vertreter linker Gruppierungen zum Gespräch. Duterte kündigt einen rauen Ritt an, ab heute gilt Disciplina Duterte.


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Rodrigo Duterte ist heute offiziell als 16. Präsident der Philippinen vereidigt worden. 

#Duterte hat heute den Eid geschworen. Seine Rede beschränkte sich nicht auf fünf Minuten wie mehrmals angekündigt. In einer rethorisch geschliffenen Ansprache sagte er, er sei von den Filipinos und Filipinas gewählt worden, um ihnen zu dienen. Er sei nicht gewählt, um Freunden zu dienen, er sei nicht gewählt, um irgendwelchen politischen Eliten zu dienen. Er sagte weiter, dass ihm als Anwalt und langjähriger Staatsanwalt die Regeln des demokratischen Rechtsstaates vertraut seien und dass er diese respektieren würde. Die Hauptprobelem sah er im Zusammenbruch von Recht und Ordnung, an der enormen Korruption und Kriminalität die jeglichen wirtschaftlichen Fortschritt verhinderten. Er versprach, sich bei der rigurosen Bekämpfung der Kriminalität an die Gesetze zu halten, doch seine Aufgabe sei nicht der Schutz von Kriminellen, sondern der Schutz der Wehrlosen, der Hoffnungslosen, der Armen. Seine Rede wurde gegen Ende nach fast jedem zweiten Satz mit frenetischem Applaus unterbrochen. Am Ende sagte er, die Menschen hätten das Vertrauen in die Institutionen verloren. Er sei gewählt worden, um dieses Vertrauen wieder herzustellen.

Anmerkung: Vielleicht sollte sich die abgeschottete Elite in Brüssel diese Rede anhören. »Gewählt, um dem Volk zu dienen«.


26.6.2016

If you cannot go to (Syria), join up and go to the Philippines“, sagt ein Vertreter des Islamischen Staates in einem 20minütigen Video, das vor ein paar Tagen in den sozialen Medien aufgeschalten wurde. Da die militärische Niederlage des IS in Irak und Syrien absehbar ist, sucht der IS Ausweichsländer, um sich neu zu formieren. ABS-CBN meldet, dass der Islamische Staat einen der meist gesuchten Terroristen Südostasiens zum Anführer des zukünftigen Kalifats auf den Philippinen ernannt hat. Sie erhalten Zulauf aus Indonesien und Malaysia.

Im 16. Jahrhundert waren die Philippinen noch muslimisch bis dann die Spanier mit Ferdinand Magellan (der auf der Insel Mactan/Cebu den Tod fand) das Christentum auf die Inseln brachten und von hier aus die Christianisierung Südostasiens begannen.

Heute ist der Islam nur noch im Westen von Mindanao und auf Sulu, Jolo und Basilan verbreitet. Ungefähr vier Millionen Filipinos sind Muslime, aber nur noch ca. eine Million praktiziert den Glauben. Etliche sind nach Malaysia ausgewandert. Geblieben ist die Terrorgruppe Abu Sayyaf, die sich als Arm von Al-Qaida bezeichnete und neuerdings als Teil des Islamischen Staates.

Die »Kidnap gang« (CNN Philippines) Abu Sayyaf gehört zu den weltweit brutalsten islamistischen Terrororganisationen überhaupt und ist seit 1991 für unzählige Entführungen von Touristen, Lösegelderpressungen, Raub, Enthauptungen, Bombenanschlägen auf Kaufhäuser, Granatenangriffen und Ermordung von Polizisten und Soldaten verantwortlich.

1995 kamen sie weltweit in die Schlagzeilen, als sie mit 200 Terroristen, die christliche Stadt Ipil (Mindanao) zerstörten, sieben Banken ausraubten, 53 Einwohner töteten und etliche als Geiseln nahmen, mit ihnen in den Dschungel flüchteten und sie dort auf brutalste Art und Weise abschlachteten.

Anlässlich des Besuches von Papst Johannes Paul II. am Weltjugendtag in Manila, wurde gerade rechtzeitig ein Attentatsplan aufgedeckt. Geplant war die Sprengung von elf Verkehrsflugzeugen und der Einsatz von zwanzig Selbstmordattentätern, die während der Ansprache des Papstes unter freiem Himmel aktiv werden sollten. Seitdem haben sie immer wieder Touristen aus Ressorts entführt, getötet und haben ihre Bombenanschläge bis in die Hauptstadt Manila getragen. Seit 1991 haben sie mehrere tausend Menschen ermordet. Vor wenigen Tagen liessen sie (gegen Bezahlung eines hohen Lösegeldes) die Filipina Marites Flor frei, sie war monatelang mit ihrem Freund, dem Kanadier Robert Hall im Dschungel gefangengehalten worden. Robert Hall wurde enthauptet. Zurzeit wird um die Freilassung eines Kandiers gefeilscht.

Die USA bekämpfen sie mit Drohnenangriffen und schalten einen Führer nach dem andern aus. Obwohl Abu Sayyaf nur wenige Hundert Mitglieder hat, ist es der philippinischen Armee in 25 Jahren nicht gelungen, die Terrorgruppe zu eliminieren. Der neugewählte Präsident Duterte (Dirty Harry) hat sich nun in einer Rede direkt an Abu Sayyaf gewendet und angekündigt, er würde sich bald, aber noch nicht jetzt, um sie kümmern. Er werde von ihnen die bedingungslose und sofortige Kapitulation befehlen und sie, im Verweigerungsfall, mit vier Bataillon bekämpfen und ausrotten.


25.6.2016

#Philippinen #WildWest #Selbstjustiz #Duterte

CNN Philippines schreibt, dass seit dem Wahlsieg von Rodrigo Duterte täglich im Schnitt fünf Drogenbarone und Grossdealer bei Feuergefechten mit der Polizei erschossen werden. Nicht mitgezählt sind die sogenannten, »extra-judicial killings« also die Akte von »Selbstjustiz«. Allein gestern wurden in einer einzigen Provinz drei Menschen von Unbekannten erschossen, die den Herumstehenden zuriefen, die Getöteten seien Drogenhändler. Die zuständigen Polizeibehörden konnten diesen Verdacht nicht bestätigen… (Bild: Ein 73jähriger Farmer, der von seinem Enkel beweint wird. Sie waren auf dem Weg zum Saatgut zu kaufen.)

Nachdem weitere Drogenbarone ein Kopfgeld auf Präsident Duterte ausgesetzt haben, hat Duterte nun seinerseits ein Kopfgeld von 150 Millionen Pesos ausgesetzt, der jenen Druglord tötet, der zu seiner Ermordnung aufgerufen hat.

In Quezon City haben sich über 700 drogensüchtige Kleinhändler den Polizeibehörden gestellt, weil sie fürchten, bei ihrer Verhaftung erschossen zu werden und weil sie Dutertes kostenloses Rehab Angebot annehmen wollen. Duterte hat in seinen 22 Amtsjahren in Davao City die modernsten und fortschrittlichesten Rehab Center der Philippinen eingerichtet.


25.6.2016

#Philippinen #AKW #China #Eisenbahn #Familienplanung

Duterte will das stillgelegte Atomkraftwerk Bataan, das nie einen Watt Strom produziert hat, in Betrieb nehmen. Nach Fukushima sollte das AKW endgültig stillgelegt und zur warnenden Touristenattraktion umfunktioniert werden, die Brennstäbe wurden entfernt. Bataan war 1976 in der Zeit der Oelkrise und der Diktatur des berüchtigten Ferdinand Marcos für 2,3 Milliarden Dollar gebaut und 1984 fertiggestellt worden, nur gerade 60 Kilomter von der Millionenmetropole Metro Manila (32,7 Mio Einwohner) entfernt. Corazon Aquino, die Nachfolgerin von Marcos, legte das AKW auf Eis, wegen erheblicher Erdbebengefahr, Taifunen und hohen Vulkanaktivitäten.

Duterte begann Gespräche mit chinesischen Geschäftsleuten. Sie wollen die Philippinen mit einem Schienennetz verbinden.

Wirtschaftsführer wollen Duterte unterstützen.

Duterte will Familienplanung forcieren, Sexualaufklärung und Empfehlung für max. drei Kidner.

Duterte kündigt härtere Zeiten für Minenbetreiber an, die die Rohstoffe des Landes schürfen


23.6.2016

#Philippinen #WildWest #ZeroTolerance #Panik in der Drogenszene

#Bodycount: 60 (+2) erschossene Drogenbarone seit dem 10 Mai.

Vor 5 Tagen wurden Jeffrey »Jaguar« Diaz, der Drogenkönig von Cebu/Central Visayas und sein Chauffeur erschossen.  Alvaro Direcho Alvaro, alias »Barok«, der dritte Mann, konnte fliehen. Gestern meldete er sich überraschend in Begleitung seiner Mama (!) und seiner Ehefrau und gab öffentlich seine Kapitulation bekannt. Er hatte Angst, in den nächsten Tagen ebenfalls erschossen zu werden. Dank ihm dürften weitere Grosshändler in den nächsten Tagen und Wochen in ernsthafte Schwierigkeiten geraten.

Auch kleinere Drogenhändler melden sich mittlerweile in allen Provinzen, geben ihre Drogen ab und bitten, nicht erschossen zu werden. Bei einer Polizeidienststellen waren es über 300 Drogenabhängige.

Präsident Duterte drohte 35 Bürgermeistern sie zu erschiessen, wenn sie sich nicht unverzüglich von den Drogensyndikaten loslösten. Drei Polizeigeneralen drohte er, sie am 30. Juni öffentlich zu denunzieren und zu demütigen, falls sie bis dann nicht zurückgetreten sind.

Ein Dutzend Drogenbarone, die im berüchtigten Drogenknast »New Bilibit« einsitzen, schrieben gestern einen Brief an Präsident Duterte, und beteuerten, dass sie nicht beteiligt seien am Kopfgeld, das Mithäftling Peter Co, auf ihn ausgesetzt habe.

Duterte hatte im Wahlkampf versprochen, die Philippinen in drei bis sechs Monaten von der Kriminalität zu säubern, wie er das in seiner 22jährigen Amtszeit als Major von Davao City erfolgreich getan hatte. Allerdings waren dabei über 1000 Menschen aussergerichtlich erschossen worden…

Der Papst verurteilt anlässlich des »Anti-death-penalty« Kongresses in Norwegen erneut die Todesstrafe in einer weltweit verbreiteten Videobotschaft. Duterte sagt, die Todesstrafe sei Vergeltung und nicht Abschreckung: »Do not destroy my country because i will kill you, do not destroy my children, because I will kill you.«


22.6.2016

#Philippinen #WildWest #Bodycount: 58 (+7) Drogenbarone erschossen seit 10. Mai (The Philippine Star)

President Duterte hat 400 Wirtschaftsführer zu einem zweitägigen Workshop mit allen Regierungsmitgliedern eingeladen. Sie erstellten eine Liste mit den 10 grössten Anliegen: Empfohlen wurden Steuersenkungen für Arme und Unternehmen und die Einführung einer nationalen Personen ID. Duterte versprach alle Vorschläge sorgfältig zu prüfen und betonte, dass die rasche Beseitigung von Korruption, Kriminalität und Drogenhandel Voraussetzung für eine blühende Wirtschaft sind, ansonsten würden die Philippinen zu einem Narco Staat verkommen. Er versprach, bei allen Aktionen die Menschenrechte zu respektieren. Der gelernte Anwalt Duterte war jahrelang Staatsanwalt und 22 Jahre Mayor von Davao City. Den Vorwurf, er würde würde nur Bekannte und alte Schulkameraden in die Regierung aufnehmen, konterte er wie folgt: »Die Leute, die ich kenne, sind aus Davao. Ich bin nie von der politischen Elite in Manila eingeladen worden.« Er sagte, er sei bloss ein »probinsiyano«, ein Hinterwäldler.


 

21.6.2016

#Philippinen #WildWest #Bodycount: 51 (+9) Drogenbarone erschossen seit 10. Mai (The Philippine Star)

Vorgestern 8 (mutmassliche) Drogenbarone erschossen, gestern 9. PNP Chef Ronald Bato de la Rosa verschickt Listen mit den Namen mutmasslicher Drogenbarone und -händler und setzt seine 160.000 Polizeibeamten unter Druck: Wer drei Monate nach dem historischen Wahlsieg von Präsident Duterte keine Erfolge vorweisen kann, wird entlassen.


20.6.2016

#Philippine #WildWest #CultureOfDeath #Alcatraz

42 erschossene Drogenbarone seit #Dutertes Wahlsieg am 10. Mai. Gestern wurden gleich 8 Drogenbarone bei Schiessereien mit der Polizei erschossen.
Ronald »Bato« de la Rosa, neuer Chef der Philippine National Police (PNP) und somit von 160.000 Polizeibeamten, droht allen Polizeioffizieren, die in den Drogenhandel verwickelt sind, in einem Radiointerview: »I will kill you.«

38 Polizeistationen aus Manila und 1706 Dörfer haben Listen mit mutmasslichen Drogendealer an die PNP Zentrale geschickt.
Laut einer Online Umfrage von »viralize« befürworten 93% der Menschen die Wiedereinführung der Todesstrafe für Drogendealer, Pädophile und Vergewaltiger, 5% sind für eine Gefangeninsel nach dem Muster »Alcatraz« und 2% für 40 Jahre Zuchthaus.

Einer von Dutertes Leibwächtern (29) ist vor seinem Haus von drei jungen Männern mit Kopfschüssen niedergestreckt worden. Sein Cousin, der im Haushalt mithilft, wurde ebenfalls erschossen, ein Nachbar verwundet. Die drei Killer hatten ihn auf Motorrädern verfolgt.

In einem Pastoralbrief der in allen Kirchen der Philippinen verlesen wird, warnen die Bischöfe vor der »Kultur des Todes«, sie hatten während des Wahlkampfes vor Duterte gewarnt, der über sie sagte: »Diese Hursensöhne sind die heuchlerischte Institution des Landes.«


19.6.2016

#Philippinen #Strassenküchen für Arme
#Duterte hat die Planung zahlreicher öffentlicher und unentgeltlicher Küchen begonnen, um Strassenkinder und Erwachsene ohne Wohnsitz zu ernähren. Gemäss UNO sind 25% der Kinder auf den Philippinen unterernährt. Duterte hatte im Wahlkampf versprochen, dass unter ihm kein einziger Filipino mehr hungrig ins Bett gehen würde. Die ersten Strassenküchen werden vom Department of Social Welfare and Development in Metro Manila errichtet.

Die Diözesen der katholischen Kirche auf den Philippinen gehören zu den reichsten der Welt. Nicht von ungefähr hatte Duterte im Wahlkampf als „heuchlerische Hurensöhne“ bezeichnet.


18.6.2016

50 Hinrichtungen pro Monat geplant. #Philippinen

Seit Dutertes Wahlsieg werden täglich Drogenbarone erschossen, andere tauchen unter oder haben sich bereits nach Südamerika abgesetzt. Duterte will nun jeden Monat 50 verurteilte Drogendealer öffentlich hängen.

Peter Co, der mächstigste Drogenbaron der Philippinen, sitzt im berüchtigten Bilibit Drogenknast und und führt von dort aus seine Drogengeschäfte weiter. Sein »Zelle« ist eine mit allem Komfort ausgerüstete Fünfstern Suite mit Badezimmer, Kino, Büro, eigener Küche, Wohnzimmer etc.. Das gesamte korrupte Gefängnispersonal soll ausgewechselt werden, drei höhere Polizeioffiziere wurden aufgefordert, freiwillig zu gehen, ansonsten würden sie öffentlicht blossgestellt.

Nachdem Duterte ein Kopfgeld auf alle Drogenhändler ausgerufen hat, legt er einen Zacken zu und erlaubt nun auch Zivilisten mutmassliche (!) Drogenhändler zu verhaften und, falls diese Widerstand leisten, zu erschiessen. Für jeden Erschossenen soll der Zivilist eine Medaille erhalten.

Darauf hat nun Peter Co ein Kopfgeld auf Duterte und den neuen Chef der Philippine National Police (PNP), Ronald Bato dela Rosa, ausgerufen. 50 Millionen Pesos pro Kopf. Ungefähr eine Million Schweizer Franken.

Gestern wurde der zweitgrösste Drogenbaron der Philippinen verhaftet: »Jaguar«, der König von Cebu. Als er auf dem Polizeiposten in Cebu ankam, war er tot. Genickschuss. Thomas Osmena, der Major von Cebu, ist der härteste Umsetzer von Dutertes neuer Anti-Crime Strategie: Disciplina Duterte.

In Manila wurden mittlerweile mehrere hundert minderjährige Kinder, Betrunkene und Männer mit nacktem Oberkörper verhaftet, die sich nach 22.00 Uhr noch auf der Strasse aufhielten. Eine Mutter klagte einem Fernsehsender, sie hätten ihre Tochter verhaftet, obwohl sie lediglich den Abfall auf die Strasse hinausgetragen habe.


12.06.2016

#Disciplina #Duterte #Philippinen

Die Einwohner der 12-Millionen-Metropole Manila erhalten seit einigen Tagen eine Kostprobe vom Alltag auf den Philippinen in den nächsten sechs Jahren unter ihrem neu gewählten Präsidenten Rodrigo Duterte (Dirty Harry).

Kinder unter 10 Jahren, die sich nach 22.00 Uhr auf den Strassen aufhalten, werden von bewaffneten Polizisten verhaftet und aufs Revier gebracht, in einigen Quartieren werden auch die Eltern verhaftet. Wer im öffentlichen Raum trinkt, raucht oder mit nacktem Oberkörper rumläuft (Temperturen tagsüber ca. 33 Grad), wird verhaftet und muss auf dem Polizeiposten 40 Pushups absolvieren. Dies gilt als grosse Schmach, zumal auch auf den Philippinen, wie überall in Asien, der »Gesichtsverlust« zu den grössten Demütigungen zählt.

Wer nach 22.00 Uhr bei offenem Musik hört, wird verhaftet, fertig Karaoke.

Diese »Crackdowns« zwecks Kriminalitätsbekämpfung nennt man nun OPLAN RODY.


10.06.16

War Lapu-Lapu gar kein Held?

Präsident Rodrigo Duterte will Lapu-Lapu zum Nationalhelden machen. 1521 soll er Ferdinand Magellan mit seinem Speer getötet haben. Der prominente Historiker Dr. Danilo Madrid Gerona widerspricht nun diese Woche: Lapu-Lapu sei mitnichten der erste Filipino gewesen, der die spanischen Kolonisatoren bekämpfte. Als die »Battle of Mactan« stattfand, sei Lapu-Lapu bereits 70jährig gewesen (ein »viejo«) und hätte gar keine Schlacht leiten können. Das bestätigten 18 der 27 überlebenden Spanier, die das Massaker überlebten.

Die Schlacht wird u.a. in meinem Roman »Pacific Avenue« beschrieben, gemäss den Aufzeichnungen des jungen Abenteurers Pigafetta, der Magellan auf seiner Weltumsegelung begleitete. Offenbar hat Pigafetta, der eigentlich Schrifsteller werden wollte, ein bisschen ausgeschmückt.


06.06.16

Wahlbetrug. Der Verdacht erhärtet sich: Mit sehr grosser Wahrscheinlichkeit wurden bei den Wahlen zum Videpräsidenten, ca. eine Viertelmillion Stimmen von Bongbong Marcos der mit knappen Vorsprung gewählten Leni Robredo zugerechnet. Der abtretende Präsident Aquino hatte versprochen, alles Mögliche zu unternehmen, um den Sohn des Diktators Ferdinand Marcos zu verhindern und seine Parteifreundin Robredo zum Sieg zu verhelfen.


04.06.16 / Tag 4

Der »Gregor Samsa« der Philippinen? fragt ein Kolumnist aus Manila.

»Fuck you UN, you cant even solve the Middle East carnage… couldnt even lift a finger in Arica…shut up all of you!!!«

Der nationalistische Sozialist #Duterte verspricht per 1. Juli in den präsidialen Modus zu wechseln (bisher galt der 1. Juni…), sexistische Sprüche gehörten allerdings zur Meinungsvielfalt und bis zum 1. Juli werde er noch seine Freiheiten geniessen und teilt nochmals kräftig aus: Die katholische Bischöfe nennt er erneut: korrupte und heuchlerische »Son of a bitch« und beschuldigt sie, seit Jahrzehnten pädophile Priester zu schützen, er selber sei als Jugendlicher von einem solchen »son of a bitch« missbraucht worden…  die korrupte katholische Kirche würde sich auch von Politikern Luxuskarossen schenken lassen und Entwicklungsgelder (!) für persönliche Bedürfnisse missbrauchen, es sei ihm auch egal, ob die Kirche ihn weiter bekämpfe, auch die Boykottdrohung der Medien sei ihm egal, er könne auch ohne Kirche und Medien seine Präsidentschaft ausüben, er sei von 16,6 Mio. Menchen gewählt worden.

Mittlerweile »beweisen« ;-) die diversen Onlinemedien, dass Nostramus den »Erlöser Duterte« in seinen Prophezeihungen angekündigt hat… In den sozialen Medien ist der Tenor: Besser ein grobschlächtiger, sexistischer Präsident ohne Manieren, als diese korrupten Heuchler in feinen Anzüge.

Sein Lieblingsausdrücke bleiben also mindestens bis Ende Juni: »Fuck you, son of a bitch, shut up, hypocrit«.


03.06.16 / Tag 3 / 100

#Idiots, do not fuck with me (Duterte an der Pressekonferenz).

Der zum #Despot mutierende #Duterte wird scharf kritisiert, weil er erneut bekräftigt, dass die Ermordung »korrupter Journalisten« legitim sei. Einige Medienhäuser wollen ab jetzt seine Pressekonferenzen boykottieren.
Duterte wechselt nach Amtsamtritt offenbar nicht wie erwartet in den präsidialen Modus, sondern spricht weiterhin wie ein Zuhälter und verkündet eine groteske Massnahme nach der andern. »Der Mann gehört in die Psychiatrie«, hatte Jejomar Binay, einer der unterlegenen Präsidentschaftsbewerber gewarnt. Er hat wohl Recht.


02.6.16 / Tag 2 / 100

#Duterte tritt in die Fussstapfen von #Diktator #FerdinandMarcos

Demonstranten ziehen mit Särgen vor den Präsidentenpalast. Jeder Sarg symbolisiert einen erschossenen Journalisten. Menschenrechtsorganisationen, Journalistenverbände und das Zentrum für internationales Recht protestieren. Duterte hatte gestern verkündet, dass „korrupte Journalisten“ nicht sicher seien vor Attentaten und dass diese „Hurensöhne“ den Tod verdienten. Wenige Tage vor Amtsamtritt hatte er noch versprochen, die Pressefreiheit zu respektieren, selbst wenn einige Medien ihn kritisieren würden.

Für Empörung sorgt auch Dutertes Aussage, der blutrünstige Diktator Ferdinand Marcos, sei der beste Staatspräsident aller Zeiten gewesen. Dutertes Vater Vicente war seinerzeit Staatssekretär unter Ferdinand Marcos. Bongbong Marcos, der Sohn des Diktators, will nicht einsehen, dass sein Vater damals mit der Internierung von 30.000 Journalisten und unzähligen Folterungen, Unrecht getan hat. Duterte bekräftigt öffentlich seine Freundschaft mit Bongbong Marcos und verspricht, dass der Leichnam von Ferdinand Marcos, nach jahrzehntelangen Streitereien, auf dem Soldatenfriedhof kremiert werden darf.

Kabinettsmitglied Taguiwalo, die unter dem Ferdinand Marcos gefoltert und jahrelang in den berüchtigen Gefängnissen des Diktators festsass, interniert wurde, wendet sich nun gegen Duterte.

Der Füher des Kongresses kündigt an, die Wiedereinführung der Todesstrafe durch Erhängen zu verhindern. Duterte wiederum kündigt für diesen Fall an, die Verfassung ausser Kraft zu setzen und den Kongress zu schliessen.


01.06.16

Tag 1/100 „dead or alive“

Der neugewählte philippinische Staatspräsident Rodrigo Duterte (»I am a leftist« / Ich bin ein Linker), sagt an seiner ersten Pressekonferenz: „Kill drug lords and get a reward“ (Töte Drogenbarone und erhalte eine Belohnung), er habe ein Budget für die ersten 100 Leichen. „Wer sich ergibt, wird überleben, wer kämpfen will, wird sterben.“ Neu bietet Duterte dem neuen Direktor des „National Bureau of Investigation (NBI)“ drei Millionen Pesos, falls er in den eigenen Reihen einen Agenten aufspürt, der mit den Drogensyndicaten zusammenarbeitet. „If you have an agent involved, I want you to kill him personally. I want you to do the killing.“ Duterte will, dass sein neuer Direktor korrupte Agenten eigenhändig erschiesst.

Nach einer Tirade gegen korrupte Richter, die er alle ersetzen will, teilt er mit, dass auch Journalisten nicht mehr sicher vor aussergerichtlichen Hinrichtungen seien. Viele seien korrupt, verbreiten Unwahrheiten und verdienten den Tod.

Seit 1992 sind auf den Philippinen gemäss CNN Quellen (The Commitee to Protect Journalists) 77 Journalisten ermordet worden, die meisten im südlichen Mindanao, wo Duterte 22 Jahre lang Major von Davao City war.

Duterte wiederholt seine Absicht, sich von den USA zu lösen und ohne den Westen Gespräche mit China aufzunehmen. Er sagt, zuerst kämen die nationalen Interessen der Philippinen, er wolle auch den Nationalhelden Lapu-Lapu (der philippinische Wilhelm Tell, der Magelland 1521 tötete) wieder ins Bewusstsein der Nation bringen.

Die monatelangen Wartezeiten bei öffentlichen Aemtern sollen auf 72 Stunden begrenzt werden. Beamte, die das nicht einhalten, müssen sich rechtfertigen.


31.5.16

Inauguration in Manila. Der unkonventionelle Rodrigo Duterte bleibt der feierlichen Einführung in das Amt des philippinischen Staatspräsidenten fern.

Drei IT Spezialisten gestehen Wahlbetrug im Auftrag der Partei des scheidenden Präsidenten Acquino. Profitiert haben Dutertes Gegner, Roxas II und Leni Robert. 

Förderalismus. Geplant sind 12 „Kantone“ nach Schweizer Modell.

Fischer findet einen blauen Hummer. Sehr sehr selten. Die blaue Farbe ist auf einen Gendefekt zurückzuführen.

Todesstrafe. Ausgerechnet in Davao Oriental hat ein 51jähriger Mann die zweijährige Tochter des Nachbarn grausam vergewaltigt und ermordet. Der Täter wurde verhaftet und wird vor Gericht gestellt. Sollte er für schuldig befunden werden, will Duterte ihn öffentlich hängen und Presse und Fernsehen dazu einladen.

Drogentest für alle Polizeibeamten.

Duterte verkauft die Präsidentenyacht und die Luxuslimousinen.

Der Diktator Ferdinand Marcos, der seinerzeit rund 30.000 Journalisten und Kritiker in Lagern internierte und Folterungen und aussergerichtliche Tötungen erlaubte, soll nun nach 26 Jahren auf dem Soldatenfriedhof der Philippinen beigesetzt werden. Duterte sagte, Marcos sei vielleicht kein Held gewesen, aber er sei ein Soldat der Philippinen gewesen. Somit endet die jahrzehntelange Auseinandersetzung zwischen dem Marcos Clan und den jeweiligen philippinischen Staatspräsidenten.


30.5.16

»Kill season on drug suspect« titelt »The Philippine Star« heute morgen. Im Auftrag der Polizei jagen Kopfgeldjäger Drogenbarone. In den letzten 7 Tagen wurden 14 von ihnen bei Strassengefechten erschossen. Für jeden toten Drogenbaron gibts 5.000 Pesos, umgerechnet 100 Schweizer Franken (Monatslohn: 300 Franken), für jeden verletzten (mutmasslichen) Drogendealer gibts 500 Pesos, also rund 10 Franken. Morgen tritt der gewählte neue philippinische Präsident Rodrigo Duterte (»Dirty Harry«) offiziell sein Amt an. Er hatte im Wahlkampf versprochen, die Kriminalität innerhalb von drei bis 6 Monaten zu eliminieren, so wie er es in seinen 22 Amtsjahren als Major von Davao City getan hatte. Die Todesschwadronen von Davao hatten über 1000 mutmassliche Krimninelle erschossen.


29.5.16

Bongbong Marcos, der Sohn des Diktators Ferdinand Marcos, vermutet Wahlbetrug und verlangt eine Nachzählung. Er hatte für das Amt des Vice-Präsidenten kandidiert und war nur Zweiter geworden. 

Seit Dutertes Wahlsieg berichten die Medien täglich über erschossene Drogendealer. Die Polizeistationen der einzelnen Provinzen spüren den Druck des zukünftigen Präsidenten und wollen ihre Loyalität beweisen.


28.5.16

No-Show. Der eigenwillige Rodrigo Duterte will nicht an den Feierlichkeiten zu seiner Amtseinsetzung teilnehmen.

Seine Arbeitszeit soll jeweils von 13.00 bis 12.00 am nächsten Tag dauern. Den Präsidentenpalast will er nur im Notfall aufsuchen.

Fernsehanstalten zerbrechen sich den Kopf darüber, wie sie bei Live Uebertragungen Dutertes Vulgärsprache zensurieren sollen. Denn ihnen drohen für jedes vergessene BEEB Geldstrafen.


27.5.16

#Philippinen #Duterte erklärt seinen #Humor #Sarkasmus #bipolare Störung

Rodrigo Duterte verspricht, nach Amtsamtritt in der Nacht auf den 1. Juli, sein loses Mundwerk unter Kontrolle zu halten. Er hatte den Papst einen „Hurensohn“, die philippinischen Bischöfe „heuchlerische Hurensöhne“, den Geschäftsführer von Human Rights einen „naiven Idioten“ genannt etc.

In einem Gespräch mit ABS-CBN sagt er heute morgen, man müsse nicht alles so ernst nehmen, was er sage. Wenn etwas völlig absurd klinge, müsse man davon ausgehen, dass es ein Scherz sei, er sei halt „bipolar“, neige zu Sarkasmus und scherze gerne. Auch dass er bipolar sei, erklärte er weniger später als „just kidding“. Für Westler ist der philippinische Humor schwer verständlich. Als Duterte sagte, er habe als Bürgermeister von Davao City nicht 700 Kriminelle ohne Gerichtsverfahren getötet, sondern 1700, ist das der typische Humor, das gilt auch für seine Ankündigung, er würde Schwerkriminelle, die zwei Verbrechen begannen habe, zweimal hängen.

Aehnlich wie bei Donald Trump, mit dem er ansonsten keine Aehnlichkeiten hat, verstand es der bis anhin unbekannte Duterte aus dem südlichen Zipfel der Philippinen, mit absurden und schockierenden Meldungen jeden Tag zu überraschen und die Titelseiten der Medien zu besetzen. An der Todesstrafe für Drogenbarone, Kinderschänder und Vergewaltiger hält er jedoch fest. Aber selbstverständlich erst nach einem regulären Gerichtsverfahren, er sei schliesslich Anwalt und Staatsanwalt gewesen. Eine Wiedereinführung der Todesstrafe müsste von der Kongressmehrheit genehmigt werden.


26.5.16

Aufgrund diverser Attentatspläne gegen Rodrigo Duterte, der mit 16,6 Millionen Stimmen zum neuen Präsidenten der Philippinen gewählt wurde, hat „Dirty Harry“ nun doch eingewilligt, sich von einer Security schützen zu lassen.

Wie es sich für einen bekennden Womanizer („Ich kann mir ein Leben ohne Viagra nicht mehr vorstellen“) gehört, hat er die ehemalige Miss-Philippine-Earth Kandidatin Sofia Loren Deliu in sein Security Team aufgenommen. Die Absolventin der Philippine National Police Academy hat einen Bachelor in Tourismusmanagment und war zuvor Chefin einer SWAT Einheit (Special Weapons and Tactics). (ABS-CBN News)


25.5.16

Dutertes Zero-Toleranz Ankündigung zeigt bereits Wirkung: Die ersten Drogenbarone haben sich nach Mexico abgesetzt, korrupte Polizeibeamte und Regierungsbeamte kündigen, weil Duterte sie nach dem 1. Juli öffentlich blosstellen und verhaften lassen will. Im berüchtigten Gefängnis Bilibid wurden sämtliche Gefängniswächter ausgetauscht. Alle Armee- und Polizeispitzen wurden bereits ausgewechselt. In allen Provinzen werden in vorauseilendem Gehorsam Drogenlabors ausgehoben und Drogenproduzenten verhaftet. In wenigen Tagen scheint die Drohung Dutertes, Drogenbarone öffentlich zu hängen, mehr zu bewirken, als die Politik seiner Vorgänger in den letzten 24 Jahren. Ob er nach seinem Amtsamtritt in der Nacht zum 1. Juli seine Drohungen wahr macht, ist umstritten.

Duterte sagt Inquirer.net, seine Inaugurationsrede würde nur gerade fünf Minuten dauern und dafür brauche er keine Vorbereitung. Es wird erwartet, dass er den Drogenbarone den Tarif durchgibt, der ab 1.7.16 landesweit gilt.

Duterte erlaubt die öffentliche Kremation von Diktator Ferdinand Marcos auf dem Heldenfriedhof. Seine Begründung: Marcos sei ein Soldat der Philippinen gewesen.

Duterte verbietet den USA in Davao City einen Landeplatz für Drohnen einzurichten. Die USA bekämpfen im Süden der Philippinen die Abu Sayyaf Terroristen mit Drohnenangriffen.

Duterte droht den philippinischen Telcos. Entweder strengen sie sich an um ein flächendeckendes und schnelles Internet zu installieren, oder er lässt ausländische Konkurrenz ins Land.


24.5.16

Duterte bietet der Ex-Präsidentin Gloria Arroyo Begnadigung an, diese lehnt mit der Begründung ab, dies wäre ein Schuldeingeständnis.

Duterte nennt katholische Geistliche „Hurensöhne“, beschuldigt (auch sie) der Korruption und macht sie für Ueberpopulation verantwortlich. Er plädiert für freien Zugang zu Verhütungsmittel, Beratungsstellen für Familienplanung und empfiehlt die Drei-Kind-Familie. Während des Wahlkampfes hat die Katholische Kirche mit ihrem mächtigen Medienimperium von einer Wahl Dutertes abgeraten.


23.5.16

Jose Maria Joma Sison, er Gründer der kommunistischen Partei der Philippinen wird nach jahrelangem Exil zurückkehren.


22.5.16

Duterte will alle politischen Gefangenen freilassen und Friedensgespräche mit den Rebellen im Süden aufnehmen.


21.5.16

Duterte will Marijuana für medizinische Zwecke erlauben.


Ich bin mit einer Filipina verheiratet und verfolge seit 2009 täglich: CNN Philippines, Esquire Philippines, Philippine Daily Inquirer, Manila Times, TV5 und Rappler.  


 

#chronos (1900)

Lumieres_cinematograph_poster«Speak softly and carry a big stick; you will go far», «Sprich sanft und trage einen grossen ­Knüppel, dann wirst du weit kommen», schrieb Theodore Roosevelt (1858–1919), der 26. Präsident der Vereinigten Staaten, an Henry W. ­Sprague. Den Spruch wiederholte er fortan in ­seinen öffentlichen Reden. Mit dem «Big Stick» meinte Roosevelt die amerikanische Kriegs­marine, die seine «freundliche Expansionspolitik» im Atlantischen und Pazifischen Ozean «argumentativ» unterstützen sollte. Die Karikaturisten ­nahmen den «Big Stick» dankbar auf und zeigten Roosevelt mit einem dicken Knüppel, der über den Ozean schreitet, Spielzeugschiffe hinter sich herziehend. Nach Ende seiner Präsidentschaft im Jahre 1909 blieb er dem «Big Stick» treu und machte es sich zum Hobby, in Afrika Elefanten und andere Grosstiere abzuschiessen.

Wie ein «Big Stick» in Träumen zu deuten ist, legte Sigmund Freud (1856–1939), der Vater der Psychoanalyse, in seinem 1900 erschienen ­Standardwerk «Traumdeutung» vor: «Der Traum ist der königliche Weg zu unserer Seele.» In ­seiner psychoanalytischen Theorie bezeichnete er Träume als wichtige Informationsquelle für ­verdrängte Ängste und Wünsche und hielt Traumbilder für Symbole, die man deuten könne. Unter Neurologen ist die Bedeutung von Träumen heute sehr umstritten, man hält sie für neuronale und kognitive Prozesse, die das Gehirn vom ­angesammeltem Tagesmüll befreien. Die Beschäftigung mit Träumen erübrige sich deshalb.

Grosses Interesse fand 1900 die Weltausstellung in Paris, es war nach 1855 bereits die fünfte ­Weltausstellung und mit über 75 000 Ausstellern war sie zehnmal so gross wie die ­vorherigen. «Bilanz eines Jahrhunderts» war das Motto, es war die Zeit der Belle Epoque, der schönen Epoche, der kriegsfreien Jahre zwischen der Beendigung des Deutsch-Französischen ­Krieges 1871 und dem Beginn des Ersten Weltkrieges. Fünfzig Millionen Besucher feierten das vergangene Jahrhundert, die Epoche der Beschleunigung und die Jahrzehnte atemberaubender Innovationen.

Eine der grossen Sensationen an der Welt­ausstellung war die «Rue de l’Avenir», die Strasse der Zukunft, ein «Beförderungsmittel zur Überwindung einer Höhendistanz, bei dem sich ­bewegende Treppenstufen bilden». Es war eine Rolltreppe, die eine Länge von 3,5 Kilometern hatte und in einer halben Stunde rund um das Ausstellungsgelände führte. Obwohl die Roll­treppe bereits ein paar Jahre zuvor von amerikanischen Tüftlern erfunden und patentiert worden war, schaffte dieser mobile Gehsteig erst dank ­dieser Weltausstellung den wirtschaftlichen Durchbruch.

Eine weitere Attraktion waren die Gross­projektionen der Brüder Lumière. Die genialen Erfinder begeisterten mit Städtepanoramen im 360-Grad-Winkel, mit Projektionen an der Decke, doch die beiden Pioniere, denen vor fünf Jahren ein Film von 50 Sekunden Länge gelungen war, hielten nicht ihren Cinématographen für ihre bedeutendste Leistung, sondern die Entwicklung des Autochrome, eines Verfahrens für die ­Farbfotografie.

Gezaubert hat 1900 auch L. Frank Baum. Mit «Der Zauberer von Oz» gelang ihm ein Klassiker der Kinderliteratur, der für die Heranwachsenden in den USA genauso prägend war wie in Europa die Märchen der Brüder Grimm. Noch 86 Jahre später beschäftigte der Zauberer die Gerichte. In Tennessee entschied ein Bundesrichter, dass L. Frank Baums Werk ein antichristliches Werk sei, das gegen die Verfassung verstosse, weil ­freundliche Hexen in der Geschichte auftauchten. «Toto, ich habe das Gefühl, dass wir nicht mehr in Kansas sind.»

Der Tabubrecher aus Basel, Interview

persoenlich2016interview

Interview mit Matthyas Ackeret, Wirtschaftsmagazin „Persönlich“. Oktober 2016. Zum Lesen: Klick auf Bild.

Text auf: http://bit.ly/2eRYrUg

#chronos (1953)

il_fullxfull.434687029_owqiIn den US-Kinos lief der Western «Law And Order» an. Ein Schauspieler namens Ronald Reagan spielte den Marshal Frame Johnson, der sich mit seiner geliebten Jeannie auf eine Ranch in der Nähe von Cottonwood zurückziehen will. Doch zuvor muss er dieses gottverdammte Tombstone säubern. 28 Jahre nach Drehschluss hatte er als 40. Präsident der Vereinigten Staaten immer noch ein paar Dialogzeilen in Erinnerung. Er nannte die polnische Führung «eine Bande verderbter, verlauster Pennbrüder».

«Der Tod eines einzelnen Mannes ist eine Tragödie, der Tod von Millionen nur eine Statistik», war das Motto von Josef Stalin, dem Idol von Che Guevara. Unter Stalin wurden mehrere Millionen Menschen in Schau- und Geheimprozessen zu Zwangsarbeit verurteilt, in Arbeitslager deportiert oder gleich ermordet. Nach seinem Tod 1953 folgte Nikita Chrusch­t­schow als erster Sekretär der KPdSU. Er begann mit der Entstalinisierung der Sowjetunion, überzeugte aber nicht einmal die eigenen Familienmitglieder. Sein Sohn Sergej lebt heute als Politikwissenschaftler und Buchautor in den USA und besitzt die amerikanische Staats­bürgerschaft. Sein Enkel Nikita wiederum lebt als Journalist im heutigen Russland und kritisiert den «abtrünnigen» Vater.

Rebelliert wurde auch im sozialistischen «Arbeiter-und-Bauernstaat». Wilde Streiks und Demonstrationen erschütterten die DDR. Die Menschen protestierten gegen den Sozialismus, gegen unmenschliche Arbeitsnormen, Repression gegen die Kirchen und politische Unfreiheit. Als sich der Volksaufstand auf das ganze Land ausbreitete, schritten die in der DDR stationierten sowjetischen Truppen ein und walzten mit ihren Panzern die «Ungeziefer» blutig nieder. Das Langzeitmotto der DDR war: «Von der Sowjetunion lernen heisst siegen lernen.»

Auf Kuba stürmte der Rechtsanwalt Fidel Castro mit einer kleinen Guerillatruppe die Moncada-Kaserne von Santiago de Cuba. Kurz zuvor hatte er vergebens versucht, auf dem Rechtsweg den Diktator Fulgencio Batista wegen Verfassungsbruchs einzuklagen. Er berief sich deshalb auf das in der Verfassung garantierte Wiederstandsrecht. Der Angriff scheiterte, aber es war der Auftakt zur Kubanischen Revolution und zum Untergang des Diktators, dessen Geheimdienste Tausende von Menschen entführt, gefoltert und, zur Abschreckung der Bevölkerung, aus fahrenden Autos geworfen hatten.

In der Londoner Westminster Abbey wurde Elizabeth Alexandra Mary zur Königin des Vereinigten Königreiches von Grossbritannien und Nordirland gekrönt. Trotz aller Skandale der Royals lieben die Briten ihre Queen Elizabeth II, die sich ihre gelegentlichen Auftritte in der­Öffentlichkeit mit 13 Millionen vergüten lässt. Im Gegensatz zu den Vermögen von König Bhumibol Adulyadej von Thailand (25 Milliarden) und Fürst Albert II. von Monaco (1,5 Milliarden) nagt die Grossmutter von Prinz William mit bescheidenen 500 Millionen am royalen Hungertuch. Sie investiert mit Vorliebe in Immobilien, Schmuck, Pferde und Obstplantagen.

Im gleichen Jahr erschienen winzig kleine Comicstrips mit der Figur «Bazooka Joe». In diese Strips wickelte der amerikanische Hersteller Topps Company seinen rosaroten zuckersüssen Kaugummi, der die Kinder begeisterte. Schöpfer der Figur war der Cartoonist Wesley Morse, «the greatest pretty girl artist on broadway», der mit erotischen Pin-up-girls und den Pornocomics «Tijuana­bibles» Kultstatus erlangt hatte. Als man ihn fragte, wieso Bazooka Joe eigentlich diese schwarze Augenklappe trägt, antwortete er: «Keine Ahnung.»

© Basler Zeitung; 28.10.2016

Interview «Ich lebe jetzt» Basler Zeitung 24.09.16

 

Interview als PDF

Tagestehema: Gottlose Sonne. Der Basler Schriftsteller hat ein grossartiges Buch geschrieben über Glauben, Aberglauben und Atheismus. Seite 2

Der Schriftsteller Claude Cueni über Werden, Vergehen, Glaube, Aberglaube, Atheismus, Rotwein und die Liebe

Von Michael Bahnerth

Allschwil. Jede Geburt ist der Anfang eines Sterbens, bei Claude Cueni (60) ganz besonders. Im Grunde sollte er schon tot sein. Cueni hatte vor sieben Jahren Leukämie und ist seit der Knochenmarktransplantation in Behandlung. Die Spenderzellen, die ihn von der Leukämie heilten, stiessen 60 Prozent seiner Lunge ab. Er nennt es Bürgerkrieg in mir drin. Im Moment ist gerade Waffenstillstand, aber niemand weiss, wie lange. Das halbe Jahr im Krankenhaus verbrachte der Mann, der als unglückliches Kind ins Leben stolperte, dann Bohemien wurde, später Drehbuchautor, dann Schriftsteller, der später seine erste Frau an den Krebs verlor und sie in seinem Garten vergrub, damit er sie jeden Tag sehen konnte, und der seiner ersten Frau beinahe gefolgt wäre, mit Schreiben. «Script Avenue» heisst seine Lebensbeichte. So lange ich schreibe, sterbe ich nicht, sagt er. Und so schreibt er. Immer um sein Leben. Und zuletzt «Godless Sun».

BaZ:

Warum begannen Sie mit Schreiben? Einfach, weil Sie es konnten? Oder als Therapie?

Claude Cueni: Ich habe bereits als Knirps am Laufmeter Geschichten erfunden und als ich dann schreiben konnte, habe ich sie aufgeschrieben. Zuerst auf Französisch. Am Anfang überbordet die Fantasie und es braucht die Einsicht, dass es auch handwerkliches Können braucht, damit die Musik spielt. In der Pubertät beschleunigt sich dann der Schreibprozess, man wird risikofreudiger, unvernünftiger, frecher. Ich habe fast zehn Jahre lang für den Papierkorb gearbeitet, bis sich ein Verlag meiner erbarmte. Mein erster Roman wurde von den Feuilletons gelobt, aber es war pubertärer Schwachsinn. Heute habe ich immer noch den Ehrgeiz, mein Handwerk zu verbessern, ich lese deshalb die Feedbacks der Leserinnen und Leser sehr sorgfältig.

Ob das alles eine Therapie war? Die vielen Bücher, die ich in den ­letzten sieben Jahren geschrieben habe, waren sicher ein Akt der ­Verzweiflung.

In Ihrem neuen Buch «Godless Sun» entwerfen Sie das Konzept des Atheismus als Religion. Warum wurden Sie Atheist?

Wir werden doch alle als Atheisten geboren. Religiosität wird uns als Kleinkinder verabreicht wie eine Schluckimpfung. Aber spätestens im Schulunterricht erkennen viele Teenager, dass Religion allen Naturwissenschaften widerspricht und eine Form des Aberglaubens ist. Bei religiösen Menschen beschränkt sich der Aberglauben selten nur auf die Religion. Sie glauben auch an die Kraft von Ritualen, Amuletten und haben am Freitag, dem 13., ein mulmiges Gefühl. An einem Freitag, dem 13., bin ich übrigens geboren. Jetzt denkt bestimmt einer: Aha, siehst du!

Glauben Sie an sich selbst?

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass ich für jedes lösbare Problem eine Lösung finde, ich vertraue meiner Kreativität auch in praktischen Dingen. «Debroulliard» ist das passende Wort.

Glauben Sie an Schicksal?

Nein, sicher nicht. Der Glauben an ein Schicksal kann tröstlich sein, weil es uns von jeder Schuld freispricht, aber es ist auch die Weigerung, Verantwortung zu übernehmen.

Glauben Sie an Zufälle?

Die Welt ist voller Zufälle. Der Mensch neigt dazu, in dieser chaotischen Welt eine Ordnung zu suchen und wünscht sich in seiner Hilflosigkeit eine allmächtige Kraft. Es ist nicht einfach zu akzeptieren, dass wir nicht mehr Bedeutung haben als ein Regenwurm und als Häufchen Kompost enden.

Warum glauben Sie nicht?

Sigmund Freud beschrieb Religion als Versuch, die Sinneswelt, in die wir gestellt sind, mit der Wunschwelt zu bewältigen. Für ihn war Religion eine Kindheitsneurose. In meinem Roman «Godless Sun» bezeichnet die Hauptfigur Religion «als grösste Betrugsgeschichte der Menschheit». Ich bin ein Freund der Naturwissenschaften. Wissen statt Glauben, Fakten statt Meinungen. Religion ist in den Industriegesellschaften ein Auslaufmodell. Die Menschen verlieren den Glauben, aber nicht den Aberglauben. Esoterisch angehauchte Patchwork- Religionen und dynamische Freikirchen mit poppigen Bühnenshows liegen im Trend, die Menschen lesen Ernährungsbibeln und treffen sich mit Gleichgesinnten in Fresstempeln oder betreiben einen exzessiven Fitnesskult: Verliebt in die eigene Magersucht. Gemeinsam haben all diese neuen Ersatzreligionen den Wunsch, Teil einer Gemeinschaft zu sein, die sich über ihre Symbole, Rituale, Accessoires und Insiderwissen definiert und sich mit sprachlichen Eigenkreationen bewusst von Aussenstehenden abgrenzt. Das stärkste verbindende Element ist die gemeinsam praktizierte Intoleranz gegenüber Skeptikern.

Benutzen Sie gelegentlich das Wort «göttlich»?

Sie meinen im Sinne von «gross- artig»? Also, wenn meine Frau ihre Frühlingsrollen serviert, sage ich nach dem Essen manchmal «Fucking good», weil sie dann so tut, als würde sie dieser Ausdruck schockieren, aber «göttlich»? Nein.

Können Sie lieben?

Ich kann mich für andere Menschen zurückstellen, ich hatte damit nie ein Problem, da ich nie der Meinung war, dass mein Leben wertvoller ist als das Leben anderer Menschen. Ich habs auch lieber, wenn ich jemandem ein Geschenk machen kann als umgekehrt. Wer sich zugunsten von anderen zurückstellen kann, liebt. Wer das nicht schafft, liebt nur sich selbst.

Die Möglichkeit des Sterbens ist Ihnen ein naher Begleiter. Was bedeutet das für Ihr Leben?

Müssen Sie mich daran erinnern? Mein Zustand hat sich auf einem ­tiefen Niveau stabilisiert, ich bin sehr zufrieden und der Hämatalogie des Basler Unispitals unendlich dankbar. Aber ich lebe natürlich weiter unter dem Damoklesschwert und habe immer wieder mal ein paar stressige Tage. Aber mit der Zeit hat man mehr Erfahrung, um plötzlich auftretende Entzündungen einzuordnen, man wird gelassener, aber auch gleichgültiger.

Warum wollen Sie leben?

Da wären wir wieder bei den Frühlingsrollen. Puede ka-bang gummaua nang lumpia bukas? Ich kann nicht wirklich Tagalog, aber ich kann meine Frau in Tagalog fragen, ob sie heute Frühlingsrollen macht. Aber im Ernst: Ich liebe den Gesang meiner philippinischen Nachtigall, ihre Lebensfreude und ihren smarten Humor, ich liebe die langen Gespräche mit meinem Sohn, unseren Humor und unsere Vertrautheit, und ich liebe es, Neues zu lernen. «Zwar weiss ich viel», sagt Wagner zu Faust, «doch möcht ich alles wissen.»

Was finden Sie im Rotwein?

Ich liebe Rotwein und auch die Historie dazu, Château Pape Clement, Château Palmer, das sind doch sehr verblüffende Geschichten, die uns auch einiges über die Weltgeschichte erzählen. Als Drehbuchautor habe ich mir früher nach jedem verkauften Krimidrehbuch eine Kiste Bordeaux gekauft. Da ich in den letzten zehn Jahren zuerst meine Frau gepflegt und dann an Leukämie erkrankt bin, hatte ich keine Möglichkeit, diese Weine zu trinken. Jetzt sind sie alle über 15 Jahre alt. Wäre ich gesund geblieben, wären all diese Flaschen längst im Glascontainer. Neuerdings trinke ich am Wochenende die jeweils beste Flasche, die ich im Keller habe. Ich warte nicht mehr auf besondere Gelegenheiten. Ich lebe jetzt.

Sie spielen am Computer Panzerschlachten. Weshalb?

1989 schrieb ich das Computergame für eine Handels- und Kriegssimulation zum Zweiten Punischen Krieg. Ich hatte 756 historische Städte mit den Bevölkerungszahlen und Anbau- flächen nach den Studien von Professor Beloch integriert. Programmiert hat es Andy Seebeck, der Vater der interaktiven TV-Telefonie-Games, die Grafiken waren von Ingo Mesche, dem Vater des Moorhuhns. Ich war stets Gamedesigner und kein Spieler, aber ich schaue mir immer wieder mal an, was an neuen Hex-Grid-Spielen für das iPad auf den Markt kommt und wie die Algorithmen funktionieren. Rundenbasierte Games sind schachähnliche Strategiespiele.

Welches Übel der Zeit halten Sie für das schlimmste?

Die Schwäche der westlichen Regierungen. Sie lassen ihre Bevölkerung im Stich. Man empfiehlt den Frauen, nachts nicht mehr alleine rauszu- gehen, einen Pfefferspray zu kaufen und eine Armlänge Abstand zu halten. Man schränkt also die Bewegungsfreiheit von Steuerzahlerinnen ein, damit eine Minderheit von jungen Abenteuermigranten, die ihren Sexualtrieb nicht unter Kontrolle haben, weiterhin eine maximale Bewegungsfreiheit haben. Ironischerweise kommen die Opfer mit ihren Steuerzahlungen für den Unterhalt der Täter auf.

Wohlstand macht träge. Wir werden in Europa von einer Generation regiert, die noch nie eine echte politische Krise meistern musste. Können Sie sich einen Winston Churchill vorstellen, der das britische Parlament fluchtartig Richtung Klo verlässt, weil ein Abgeordneter Tacheles redet? Wenn ein Staat, der seit 1848 erfolgreich funktioniert, nicht fähig ist, mit zwei pubertierenden Jungs innert eines Tages fertig zu werden, wie will er dann die Migrationskrise über- stehen? Das Berliner Institut für Bevölkerungsentwicklung hat Zahlen vorgelegt: In den nächsten 13 Jahren werden in den Herkunftsländern der Migranten zusätzlich 100 Millionen Menschen leben. Von der jetzigen Bevölkerung wollen bereits 25 Prozent nach Westeuropa. Wie soll das gehen? Es ist unsere humanitäre Pflicht, Menschen aus Kriegsgebieten aufzunehmen, aber das sind lediglich zehn Prozent der Migranten. Die übrigen sind Wirtschaftsmigranten auf der Suche nach einem besseren Leben. Das ist verständlich, aber nicht realisierbar. Erschwerend kommt hinzu, dass wir Antisemitismus, Frauenverachtung, religiösen Extremismus und ethnische Konflikte importieren. Das erträgt weder das Sozialsystem noch die Gesellschaft. Die politische Mitte wird nach rechts verschoben. Peter Scholl-Latour schrieb einmal: Wer halb Kalkutta bei sich aufnimmt, rettet nicht Kalkutta, sondern wird selber zu Kalkutta.

Die Idee war zuerst, dass Sie ein Interview mit sich selbst führen. Sie taten das, Ihr Sohn fand es Scheisse. Weshalb?

Mein Sohn würde nie einen solchen Ausdruck benützen. Ich habe die Idee in meiner SMS «big shit» genannt, wobei «shit» nicht so stark nach «Scheisse» riecht. Mein Sohn fand die Idee einfach peinlich und ich ­vertraue seinen pragmatischen ­Einschätzungen.

Sie schlafen kaum wegen der Krankheit. Träumen Sie noch?

Jede Nacht. Da ich ununterbrochen mit meinen Figuren und Geschichten beschäftigt bin, setzt das Gehirn während des Schlafs die Puzzles zusammen. Ich sehe viele Szenen als fertige Filmsequenzen, höre Dialoge, spreche mit meinen Figuren. Meine Frau macht sich dann am Morgen über mich lustig und imitiert mich. Aber netterweise weckt sie mich nachts nie auf. Denn sie weiss, ich arbeite.

Sie sagen immer wieder, sie möchten Reisen und das Schreiben ein wenig beiseitelegen. Glauben Sie, Sie ­ schaffen das?

Weder meine Frau noch mein Sohn glauben das. Aber ich hatte seit Mai ernsthaft im Sinn. eine Schreibpause einzulegen, aber jetzt sind aus ein paar Ideen die ersten 50 Seiten eines neuen Romans entstanden, nichts Historisches, nichts Politisches, nichts Autobiografisches, was ganz Neues. Manchmal denke ich, ich habe mich selber versklavt. Aber es ist schwierig, nach 40 Jahren Dauerschreiben den Stecker zu ziehen. Ich wüsste nicht einmal, wo er ist.

Claude Cueni: «Godless Sun». Roman. Offizin, Zürich. 376 S., Fr. 31.90.

© Basler Zeitung; 24.09.2016

IM FOKUS Claude Cueni, Schriftsteller

Sonntagsblick

 

von RENÉ LÜCHINGER

© Sonntagsblick; 18.09.2016

Glanz im Schatten

Zwei Jahre lang hat der TV-Journalist Michael Perricone auf diesen Film hingearbeitet, zweimal «Script Avenue», die Biografie dieses Mannes gelesen. Er weiss: In der Geschichte des Schriftstellers Claude Cueni (60) stecken Grenzerfahrungen aus dem Reich zwischen Leben und Tod, Glanz und Schatten der menschlichen Existenz, Dramatik für zwei Fernsehfilme, zwei Biografien, zwei Leben.

In seiner 640 Seiten dicken Niederschrift spricht Cueni von seiner Mutter, einer «katholischen Taliban», die ihm die «jugendlichen Faxen mit Weihwasser austreibt», als sei er, wie er nüchtern zu Protokoll gibt, vom Teufel besessen.

Der Sohn koppelt sich ab von diesem irdischen Jammertal, flüchtet, wie er es nennt, in sein «Kino im Kopf». Er versucht, leichtfüssig zu leben, wird schriftstellernder Bohémien. Und holt sich zunächst Inspirationen dafür: als Gelegenheitsarbeiter, als Kellner, als Briefträger, als Magaziner, als Werbetexter. Frühe Erfolge stellen sich ein, der Schriftsteller heiratet seine Jugendliebe Annemarie, Sohn Clovis ist unterwegs.

Cuenis Leben im Sonnenschein kippt ins Finstere. Dem gesunden Frühchen Clovis pumpen sie im Brutkasten Sauerstoff ins Hirn – und aus dem Säugling wird ein schwerer Spastiker, der, um je laufen zu lernen, fünf Stunden am Tag trainieren muss. Aus dem Bohémien wird ein Vollzeit-Betreuer und Hochleistungs-Schreiber: Geld für die notwendige Pflege des Kindes muss eingespielt werden. Der Druck fördert die Schaffenskraft; mit Urgewalt brauen sich historische Fantasiewelten im Kopf des Autors zusammen.

Es entsteht eine historische Trilogie über Gaius Julius Cäsar, über den Mathematiker John Law, der in Frankreich das Papiergeld einführte, und über die Machenschaften des Vatikans in der Finanzkrise – drei Romane über die Dreifaltigkeit von Politik, Wissenschaft und Religion, ausgebreitet auf 1400 Seiten. Sie werden in Dutzende Sprachen übersetzt.

Als Cuenis Sohn irgendwann seine Prothesen in den Müll wirft, leuchtet wieder ein wenig Sonne durch die Schatten.

Doch nichts ist von Dauer. Annemarie erkrankt, stirbt nach langem Leiden an Krebs. Alle Fotos von sich hat sie verbrannt, ein einziges von Claude und ihr bleibt erhalten.

Cueni flieht, um zu vergessen, mit dem Sohn nach Hongkong, lernt die Philippinerin Dina Ariba kennen. Die Liebe entflammt, er will sie in die Schweiz kommen lassen, die Sonne soll nun ewig scheinen… Aber das Leben spielt nicht mit. In seiner Biografie notiert Cueni trocken: «Erkrankung an akuter Leukämie. Isolierstation. Bestrahlung. Hirnblutung, Koma. Knochenmark-Transplantation. Sechzigprozentige Abstossung der Lunge.»

Dina sagt, in ihrer Heimat laufen nur Männer vor dem Schicksal davon. Sie wird die Frau eines Todkranken. Im Angesicht des nahenden Endes drängt ihn der Sohn, seine Geschichte aufzuschreiben, als wohl letzten Bestseller. An der Buchvernissage von «Script Avenue» schlägt Perricone dem Autor vor, die bewegende Story in bewegte Bilder zu übersetzen. Doch der Protagonist winkt ab. Das Kortison hat sein Gesicht verändert. So aufgedunsen will er nicht auf die Mattscheibe.

Die Geschichte könnte der düstere Plot eines Bestsellerautors sein – aber nichts ist erfunden. Für einmal ist es das Kino des Lebens. Und der Film ist real. Der Streifen des TV-Journalisten, «Selbstmitleid ist Zeitverschwendung», wird heute um 21.40 Uhr auf SRF 1 ausgestrahlt.

«Dieser Autor ist kein schreibendes Ego»

Der Hauptdarsteller dieser Geschichte, Claude Cueni, empfängt mit kräftigem Händedruck. Danach bittet er den Besucher höflich, die Hände zu desinfizieren.

Er bewegt sich ein wenig verlangsamt – wer genau hinhört, kann das leise Scheppern des Atmens hören – und nimmt Platz inmitten seiner Welt: zur Rechten in Lebensgrösse eine Figur des Mathematik-Genies John Law, zur Linken ein Kardinal aus derselben historischen Trilogie. In seiner Basler Wohnung verschmelzen Fantasie und Wirklichkeit; Bindeglied ist der lebende Claude Cueni. Ein schreibendes Ego – wie so viele – ist er nicht. Für Selbstinszenierungen ist ihm die verbleibende Zeit zu kostbar.

Vielleicht hat er darum wieder, vielleicht ein letztes Mal, in die Tasten gegriffen. Das Werk handelt von einem Groschenheft-Autor, einem Atheisten, der alle Religionen für Varianten des Aberglaubens hält. Aus der Perspektive des Freidenkers schreibt er ein Buch über den Ursprung der Religionen und gerät dadurch in Konflikt mit religiösen Fanatikern.

Diese Kunstfigur könnte Cueni selber sein. Er ist Atheist wie sein Romanheld. Und er lebt in der Jetztzeit, in der radikale Muslime weltweit ihr zorniges Haupt erheben. Es gilt also keine Zeit zu verlieren, schon gar nicht für Cueni. Deshalb musste dieses Buch jetzt in die Buchläden. Es heisst «Godless Sun» – es könnte die Überschrift seines eigenen Lebens sein.

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Der Titel seines neusten Buches «Godless Sun» (Gottlose Sonne) könnte die Überschrift von Cuenis eigenem Leben sein.

Das einzige Bild, das Cueni von seiner Jugendliebe Annemarie geblieben ist. Alle anderen vernichtete sie, bevor sie 2008 an Krebs starb.

Dina Ariba, Claude Cuenis zweite Frau, am Tag, als sie den Schweizer Pass erhielt.

Sein Sohn Clovis, Jurist und nebenamtlicher Strafrichter, mit Gattin Jessie.

 

 

#chronos (1855)

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Napoleon III. überlebte im April 1855 ein Attentat und weihte einen Monat später die erste Pariser Weltausstellung ein. Es war eine patriotische Leistungsschau, die Erfindungen vorführte, die ganz im Zeichen der Industrialisierung und der Beschleunigung standen. Über fünf Millionen Menschen besuchten die 23 000 Aussteller aus 36 Nationen. Der Amerikaner Samuel Colt, der Erfinder eines wasserfesten Transatlantikkabels, präsentierte einen Revolver mit Drehzylinder, Singer holte mit seiner Nähmaschine den ersten Preis, der Belgier Adolphe Sax blies in ein merkwürdiges Instrument, das auf den Namen «Saxofon» hörte, während Edward Loysel de Santais an seinem hydraulischen, drei Meter hohen Druckbrühapparat 2000 Espressi pro Stunde ausschenkte.

Doch die für die Zukunft gewichtigste Erfindung waren nicht neuartige Dampfmaschinen, Fahrstühle, Klimaanlagen, sprechende Puppen oder die Einführung der Bordeaux-Klassifizierung, nein, eines der wichtigsten Geräte des Industriezeitalters war die Kontrolluhr.

Mit der Industrialisierung gerieten die Fabrikarbeiter unter das Diktat der Zeitmessung. Hatte man bisher eine sehr lockere Auffassung von Zeit, disziplinierte die Stechuhr die Menschen. «Zeit ist Geld», hatte Benjamin Franklin bereits 1748 in seinem Buch «Ratschläge für junge Kaufleute» gepredigt. 1753 hatte der Graf von Rumford die «ganz unglaubliche Bummelei» in Verwaltung und Produktion beklagt und für Arbeitszeitkontrollen plädiert. Ohne exakte Zeitmessung konnten keine Produktionsziele und Zeiträume geplant und laufend überprüft werden.

Die Kontroll- oder Stechuhr wurde zum «Herzschlag des Kapitalismus» (Karl Marx); sie gab an den Fliessbändern den Takt an. Die neue Pünktlichkeit wurde zur neuen Tugend. Sie bedeutete mehr Effizienz, Gewinnmaximierung und schaffte einen entscheidenden Vorteil gegenüber Ländern ohne Zeitdisziplin.

Weiterhin nach dem Stand der Sonne richtete sich David Livingstone, der als erster Europäer die Victoriafälle erreichte. Der neu gegründete Daily Telegraph berichtete ausführlich darüber, aber Schlagzeilen machte auch der für alle Seiten zermürbende Krimkrieg, der auch als Geburtsstunde der Kriegsfotografie gilt. Erstmals wurden den Menschen zu Hause keine kriegsverherrlichenden Gemälde präsentiert, sondern die brutale Realität des Krieges vor Augen geführt.

Mit Gustave Courbet hielt der Realismus auch in der Malerei Einzug. Einige seiner Gemälde wurden von der Jury, die für die Weltausstellung die Auswahl traf, abgelehnt, worauf Gustave Courbet kurzerhand mit privaten Mitteln den Pavillon du Réalisme aus dem Boden stampfte, in dem abgelehnte Verfechter des neuen Realismus ausstellen konnten. Berühmt und berüchtigt wurde er neun Jahre später mit seinem fotorealistischen Skandalbild einer nackten Frau mit gespreizten Schenkeln, wobei er sich auf die behaarte Vulva im Grossformat konzentrierte: «Der Ursprung der Welt» (L’Origine du monde) hängt heute im Musée d’Orsay. Als man Courbet später doch noch das Kreuz der Ehrenlegion anbot (zusammen mit Honoré Daumier) lehnten beide ab, weil sie die Ansicht vertraten, dass der Staat keinen Einfluss auf künstlerische Belange nehmen sollte.

Höchste Anerkennung erhielt der Mathematiker und Astronom Urbain Leverrier, der am 19. Februar 1855 der Pariser Akademie der Wissenschaften die erste Wettervorhersage vortrug. Seine Prognose basierte auf telegrafisch eingeholten Wetterinformationen aus aller Welt und gilt als Geburtsstunde der Meteodienste. Denn seine Prognose war – richtig.

#chronos (1957)

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«Wissen Sie, was heute für ein Tag ist, Colonel?»

«Ich habe leider den Überblick verloren.»

In dem mit sieben Oscars ausgezeichneten Kriegsfilm von David Lean spielten William ­Holden und Alec Guiness die Hauptrollen. Der Film war umstritten. Die einen kritisierten die Darstellung bedingungsloser Pflichterfüllung, die anderen glaubten, feine Ironie zu erkennen («Wie stirbt man nach Vorschrift?»). Der Militärmarsch, den die Kriegsgefangenen pfiffen, wurde weltweit ein Hit und in Werbung und Coverversionen mit ironischen Texten verballhornt.

1957 erklärt US-Präsident Dwight D. Eisen­hower vor dem Kongress seine Eisenhower-­Doktrin, wonach Amerika alle Länder im Nahen Osten gegen kommunistische Expansionsgelüste verteidigen müsse. Die Staatschefs von Ägypten, Jordanien, Syrien und Saudi-Arabien lehnten diese Einmischung ab und beschlossen eine «Aktive Neutralität».

Ärger hatte Eisenhower auch im eigenen Land. Als Orval Faubus, der Gouverneur von Arkansas, trotz offizieller Aufhebung der ­Rassentrennung durch den obersten Gerichtshof, neun schwarze Schüler am Betreten der Highschool in Little Rock hinderte, und dafür sogar Nationalgardisten aufbot, schickte Eisenhower die 101. Luftlande­division und entzog dem ­Gouverneur sämtliche Polizei- und ­Armeeeinheiten.

In Algerien wüteten die französischen Fremdenlegionäre mit systematischen Entführungen, Folterungen und abscheulichen Exekutionen und brachten sogar die französische Öffentlichkeit gegen sich auf. Jean-Jacques Servan-Schreiber, ein ehemaliger Leutnant der französischen Armee, hatte als Chefredakteur von

L’Express die Zustände in ­zahlreichen Artikeln und in seinem Buch «Lieutenant en Algérie» kritisiert. Gegen ihn wurde von einem Pariser ­Militärgericht ein Verfahren eröffnet. Einmal mehr sollte nicht der Verursacher, sondern der Überbringer der Nachricht bestraft werden.

Um Gerechtigkeit ging es auch in Sidney Lumets Justizdrama «12 Angry Men» (zu Deutsch «Die zwölf Geschworenen») mit Henry Fonda und Lee J. Cobb in den Hauptrollen. Obwohl als Kammerspiel inszeniert, wurde der Film wegen seiner psychologischen Feinzeichnung ein Welterfolg und gilt heute nicht nur als Klassiker, sondern auch als Beispiel für das Verhalten von Individuen im einem gruppendynamischen Prozess.

Auch in der Deutschen Demokratischen ­Republik (DDR) gab es gruppendynamische ­Prozesse. Immer mehr Menschen flohen aus dem sozialistischen Paradies. Um den Verlust wertvoller Arbeitskräfte zu verhindern, wurde «Republikflucht» unter Strafe gestellt. Doch die Jugend­lichen wollten lieber im kapitalistischen Westen in spitzen Lederstiefeletten und schwarzen Leder­jacken Rock’n’Roll tanzen statt «Auferstanden aus Ruinen» (Nationalhymne) singen.

In Westdeutschland (BRD) fanden die Wahlen zum 3. Deutschen Bundestag statt. Konrad ­Adenauer machte die weit verbreite Altersarmut zum Wahlkampfthema. Nach dem Zweiten ­Weltkrieg war die Kapitalbasis der Renten­versicherung zerronnen, die Löhne dank des ­Wirtschaftswunders gestiegen, die Kluft zwischen Berufstätigen und Rentnern immer grösser ­geworden. Adenauer gewann die Wahlen mit dem Versprechen, die «dynamische Leistungsrente» einzuführen. Kaum wiedergewählt, vergass er die versprochene Rentenerhöhung: «Was ­interessiert mich mein Geschwätz von gestern?» Kommt uns das bekannt vor?

Oscarwürdiger war der Song, den Doris Day in Alfred Hitchcocks Thriller «Der Mann, der zu viel wusste» sang. Das Lied ging um die Welt und wurde die Erkennungsmelodie der TV-Show von Doris Day: «Whatever will be, will be (que sera, sera)».

© Basler Zeitung; 30.09.2016

 

Neunzig Tage Anarchie

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© Die Weltwoche; 29.09.2016; Ausgaben-Nr. 39 Als PDF anschauen

Mit drastischen Mitteln sorgt der neue philippinische Präsident Rodrigo Duterte  in seinem von Korruption und Drogen verseuchten Land für Ordnung. Die Begeisterung für «Rody»  zieht sich durch alle sozialen Schichten. Von Claude Cueni

Man hat ihn nicht ernst genommen, den Major aus dem vernachlässigten Süden der Philippinen, als er seine Kandidatur für die philippinische Präsidentschaftswahl anmeldete. Doch Rodrigo «Rody» Duterte stahl den 129 Mitbewerbern vom ersten Tag an die Show. Auf dem Hochglanzmagazin Esquire Philippines posierte er wie ein südamerikanischer Revolutionär mit einem Schnellfeuergewehr im dichten Dschungel. «How to be a man» war der Titel. Im Interview erklärte der Jurist und ehemalige Staatsanwalt, dass er als Präsident genau das tun werde, was ihm in seinen 22 Amtsjahren als Bürgermeister von Davao City gelungen ist: Mit Hilfe von Todesschwadronen hat er die kriminellste Stadt der Philippinen zur sichersten des Landes gemacht. Er hat nichts verheimlicht: «Falls ich Präsident werde, töte ich nicht 500, sondern 100 000. Und die korrupten Politiker in Manila werde ich auch töten und ihre Leichen in die Manila Bay werfen, um die Fische zu füttern, so dass die Fische fett werden.»

Jeden Tag schockierte er die Medien mit sexistischen Sprüchen, Beleidigungen von Würdenträgern und Details zu seiner Anti-Kriminalität-Strategie. Die Financial Times nannte ihn «Dirty Harry», Al-Dschasira «The Punisher», aber auf den Philippinen wurde «Rody» Kult, er gilt als Rächer der Armen, der die korrupten Clans aus dem Malacañang-Palast vertrieben hat und nun im Dirty-Harry-Stil aufräumt. Fernsehsender melden, Nostradamus habe die Ankunft eines Erlösers prophezeit: Duterte. Sogar in japanischen Comics wird er als Actionheld verehrt.

Analystin Lourdes Tiquia nennt Dutertes Wahlsieg die einzige Alternative zum unglaublich korrupten Establishment. Carlos Conde von Human Rights Watch in the Philippines sieht Dutertes Wahl als Folge des totalen Zusammenbruchs von Recht und Ordnung.

«Disciplina Duterte»

Seit Dutertes Amtsantritt am 1. Juli wurden bereits über 3000 mutmassliche Kriminelle aussergerichtlich erschossen. (In den hundert Tagen zuvor waren es 36.) Die neue Regierung meldet eine Reduktion der Kriminalitätsrate um 49 Prozent. 720 000 Drogendealer und -süchtige haben sich freiwillig gestellt, aus Angst, erschossen zu werden. Ronald dela Rosa, Generaldirektor der Philippine National Police (PNP), sagt, dass seine 160 000 Polizeibeamten seit Dutertes Amtsantritt insgesamt 850 000 Hausdurchsuchungen durchgeführt und 15 700 Drogenhändler verhaftet haben. Dabei seien 1466 Personen getötet worden. Die übrigen 1490 Toten seien das Werk von Bürgerwehren und rivalisierenden Drogengangs.

Die unglaublich hohe Zahl an Verhaftungen von Bürgermeistern, Gouverneuren, Polizeioffizieren, Richtern und Staatsanwälten zeigt, wie verfault das gesamte Staatswesen ist; vom einfachsten Polizisten bis zum obersten Richter scheint alles auf der Lohnliste der mexikanischen und chinesischen Drogensyndikate zu stehen. Selbst Leila de Lima, die Justizministerin der abgewählten Regierung Aquino III., war Teil der Drogenmafia und warnte jeweils vor bevorstehenden Polizeieinsätzen. Sie tanzte auf den Partys der Drug Lords und liess den Drogenknast New Bilibid in eine luxuriöse Kommandozentrale des philippinischen Drogenhandels umbauen. Hinter den Zuchthausmauern war «Roxas Boulevard»: Es gab dort Drogen, Alkohol, ein Casino, einen Nachtklub, Hahnenkämpfe, eine Sauna und ein Bordell. Leila de Lima kassierte insgesamt umgerechnet 1,4 Millionen Franken, 60 000 im Monat. Dafür müsste ein Polizist, der 300 Franken im Monat verdient, sechzehn Jahre lang arbeiten. Fünf verhaftete Polizeigeneräle (Monatseinkommen: 1000 Franken) erhielten für ihre Komplizenschaft je 7 Millionen Franken im Jahr. Über 100 000 Staatsbeamte sind am Drogenhandel beteiligt. Sie wohnen in luxuriösen Villen, die von Bodyguards bewacht werden. Hinter den Palästen vegetieren Menschen im Elend. Laut Unicef zählen die Philippinen zu den zehn Ländern weltweit, die die höchste Anzahl fehlernährter Kinder unter fünf Jahren haben. 22 Millionen Menschen sind täglich von Hunger betroffen, fast die Hälfte der 110 Millionen Einwohner verdient weniger als einen Dollar pro Tag. Das Drogenproblem hat epidemische Ausmasse erreicht, 3,7 Millionen Süchtige beschaffen sich täglich mit Raubüberfällen und Morden das Geld für Shabu, einen billigen Verschnitt von Crystal Meth.

Die Menschen sind traumatisiert. Sie hatten die Wahl zwischen Pest und Cholera, sie haben einen «Punisher» gewählt, der tut, was er sagt: «Diese Hurensöhne zerstören unsere Kinder, falls ihr einen kennt, geht hin und tötet ihn, es wäre zu schmerzhaft, wenn es die Eltern tun müssten.» Selbst als der 71-Jährige Zivilisten eine licence to kill erteilte und das staatliche Gewaltmonopol teilweise an den Mob der Strasse abtrat, wurde Duterte weiterhin wie ein Popstar gefeiert. Seine 16,6 Millionen Wähler nehmen das Abrutschen in die Anarchie bewusst in Kauf, weil sie glauben, dass dies nur vorübergehend sein wird. Sie sagen, man spüre abends in den Strassen bereits die «Disciplina Duterte», es sei merklich ruhiger und friedlicher geworden. In den sozialen Medien wird jeder erschossene Drogenbaron gefeiert. Jedes «Fuck you», jedes «Son of a Bitch», jedes «I kill you» wird unzählige Male gelikt und geteilt, die User fordern mittlerweile die Todesstrafe für Drogenhändler und beschimpfen die Moralisten aus dem Westen: «Hatten die USA, die Uno oder die EU in den letzten 50 Jahren jemals Mitleid mit der hungernden Bevölkerung?» Die Begeisterung für «Rody» zieht sich durch alle sozialen Schichten. In der letzten Umfrage von Pulse Asia gaben 91 Prozent der Befragten an, grosses Vertrauen in ihren neuen Präsidenten zu haben.

180-Grad-Pirouetten

Duterte redet oft über das Kriegsrecht und nennt den Diktator Ferdinand Marcos den besten philippinischen Präsidenten aller Zeiten. Er beteuert immer wieder, dass er nicht Diktator werden will, beteuert es so oft, dass langsam der Eindruck entsteht, er prüfe die Stimmung im Volke. Manchmal droht er damit, manchmal besänftigt er. Die permanente Meinungsänderung ist die einzige Konstante.

Während des Wahlkampfes hat Duterte freimütig gestanden, er leide unter einer bipolaren Störung. Der damalige Vizepräsident Binay hatte ihm nach jeder verbalen Entgleisung empfohlen, sich in die Psychiatrie einweisen zu lassen. Verteidigungsminister Delfin Lorenzana und Aussenminister Perfecto Yasay haben mittlerweile alle Hände voll zu tun, um die 180- Grad-Pirouetten ihres Präsidenten zu erklären. Aber wie soll man einen Mann kontrollieren, der sich selbst nicht unter Kontrolle hat?

Wer unter einer bipolaren Störung leidet, hat zahlreiche Gesichter:

1 _ Duterte der Antichrist, macht die katholischen Bischöfe, diese «heuchlerischen Hurensöhne», für die Überbevölkerung und die damit verbundene Massenarmut verantwortlich. Er propagiert Sexualaufklärung und die Dreikindfamilie.

2 _ Duterte der Umerzieher, zieht Karaoke- Anlagen nach 22 Uhr den Stecker und sammelt minderjährige Kinder, Betrunkene und Männer mit nacktem Oberkörper ein. Wer grundlos hupt, was eigentlich alle tun, wird bestraft.

3 _ Duterte der Reformer, plant ein föderalistisches Staatsmodell nach Schweizer Vorbild und die Inbetriebnahme des stillgelegten Atomkraftwerkes Bataan, das nie eine Wattstunde Strom produziert hat. In Metro Manila gibt es die ersten kostenlosen Strassenküchen für Arme.

4 _ Duterte der Nationalist, Lapu-Lapu, der Wilhelm Tell der Philippinen, soll wieder ein nationaler Held werden, ausländische Kultureinflüsse sollen gestoppt, Dialekte gefördert und Songs wieder auf Tagalog gesungen werden.

5 _ Duterte der Sozialist, im O-Ton: «Stop contractualization or I will kill you.» Wen will er eigentlich nicht töten? Mit «contractuals» sind ungelernte Temporärarbeiter ohne Arbeitsverträge und mit Tagespauschalen von vier Dollar gemeint.

6 _ Duterte der Anti-Amerikaner. Er fordert die 107 US-Soldaten in Zamboanga City auf, das Land zu verlassen, und bestellt sein neues Kriegsmaterial in China, Japan und Russland.

Die USA werden nicht mehr lange tatenlos zusehen. Die Philippinen sind der wichtigste Standort für die Abhörstationen der National Security Agency (NSA) im pazifischen Raum. Sie brauchen die Drohnenlandeplätze in Mindanao, um den IS, der dort ein Kalifat ausrufen will, zu stoppen.

Vor wenigen Tagen besuchte Duterte Camp Tecson in Bulacan und übergab den Militärs eine explosive Liste mit den Namen von über tausend verdächtigen, ranghohen Staatsangestellten. Er deutete an, dass er möglicherweise seine sechsjährige Amtszeit nicht überleben werde. Die milliardenschweren Familienclans sind teilweise mit den Drogenbaronen verbandelt, die wiederum mit den Bombenlegern und Auftragskillern der Sayyaf-Terroristen zusammenarbeiten, die wiederum ihre Bestände mit zurückkehrenden IS-Kämpfern aufstocken.

Einer von Dutertes Leibwächtern wurde bereits mit Kopfschüssen niedergestreckt. In Dutertes Heimatstadt Davao riss eine Bombe im letzten Monat 15 Menschen in den Tod. Auf dem Awang-Flughafen wurden Vizebürgermeister Abdul Wahab Safal und seine Leibwächter verhaftet. Sie stehen im Dienst der Drogenkartelle und hatten eine Bombe im Gepäck. High Noon für einen Nationalsozialisten?

© Die Weltwoche; 29.09.2016; Ausgaben-Nr. 39

Michel Perricone, Autor der SRF Doku über Claude Cueni

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Michael Perricone, Autor der SRF Doku »Selbstmitleid ist Zeitverschwendung«, 22 min.

Claude Cueni hat als Schweizer Schriftsteller international Erfolg mit seinen historischen Romanen über Henker, Räuber und Römer. Der heute 60jährige erfindet Geschichten seit einem Kirchenbesuch in früher Kindheit. Seine grösste Geschichte aber ist die seines eigenen Lebens.

Link auf bebilderten Beitrag SRF / mit Filmtrailer

http://www.srf.ch/sendungen/dok/schicksal-pfeiff-drauf

 

Zum Autor

Ironie? Schicksal? Einfach purer Zufall, würde Claude Cueni sagen und die Sache nicht weiter deuten. Jedenfalls nahm ich nach einer Operation im Spitalbett liegend seine Autobiographie «Script Avenue» zur Hand, die ich mir vor längerer Zeit besorgt hatte. Zwar wusste ich, dass der Cueni mal ziemlich krank war, aber dass er sein Leben selber im Spitalbett liegend niederschrieb, buchstäblich auf den Tod wartend, das wusste ich nicht.

Und dann diese Offenbarung: so kraftvoll, witzig, selbst- und schonungslos haben wohl nur wenige Autoren ihre Lebensgeschichte niedergeschrieben. Die 640 Seiten haben mir meinen zweitägigen Spitalaufenthalt zum Erlebnis gemacht. Ich kontaktiere Cuenis Verlegerin Gabriella Bauman-von Arx und lerne einige Monate später den Schriftsteller kennen.

 

Sarkastisch und scheu

Wie alle muss ich mir, zu Besuch bei Cueni in Allschwil/BL, zuerst die Hände desinfizieren. Zwar ist er auf einem zuversichtlichen Weg der Genesung, aber noch ist sein Körper nach den Anti-Leukämitherapien und der Knochenmark-Transplantation äusserst schwach und anfällig. Ich lerne einen bescheidenen Mann kennen, dessen klare Ansichten über das Leben und die Welt scharf mit seinem zurückhaltenden Auftreten kontrastieren. Für mich macht das den Menschen und Autoren Cueni nur noch interessanter. Kraftvolle Sprache, Sarkasmus und schonungslose Offenheit im Buch – scheu und eher schüchtern als reales Gegenüber.

Und Cueni sagt zu, ohne Wenn und Aber. Ohne Wenn und Aber heisst, dass er alles mitmacht, was ihm gesundheitlich möglich ist. Cueni hat nur noch einen Teil seiner Lunge, ist deshalb schnell erschöpft, was ihn immer wieder ärgert. Ohne Wenn und Aber heisst, dass er mit mir «zurück» reist nach Boncourt/JU in jene Kirche, die ihn zum Geschichtenerzählen inspirierte – eine Reise, die viele unschöne Erinnerungen weckt. Ohne Wenn und Aber heisst auch, dass er mir kaum einen Wunsch ausschlägt, mich machen lässt und mir grosses Vertrauen entgegen bringt.

 

Etwas tun fürs Glück

Vertrauen auch, was meine filmische Vision für diesen «Reporter» betraf. Ein Autor lebt von seiner Phantasie, seinen Ideen, seinen Texten – all das lässt sich schlecht filmen, lässt sich nicht einfach so in Bildern erzählen. Deshalb habe ich mir eine besondere Form ausgedacht, um Cuenis Schöpfungskraft als Autor – seine «Script Avenue», wie er es nennt –, visuell darzustellen. Ohne zu wissen, was auf ihn zukommt, hat sich Claude Cueni auch diesen mehrstündigen Dreharbeiten «unterzogen».

Ich habe einen beeindruckend starken Menschen erlebt, der weiss, was er in seinem Leben will. In unseren vielen Gesprächen hat Claude etwas immer wieder betont: Das Leben ist nicht gerecht. Wenn man das akzeptiert und etwas für sein eigenes Glück tut, dann können trotzdem Träume wahr werden.

Diesen Gedanken habe ich, analog zu Cuenis Buch «Script Avenue», zum Leitmotiv dieser filmischen Biographie gemacht.

Film von Michael Perricone, Schweizer Fernsehen, SRF, Sonntag, 18. September, 21.40 Uhr

#chronos (1930)

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Was hat Joe Cocker mit Ricola zu tun? Im Jahre 1930 gründete der Bäckermeister Emil ­Richterich in Laufen (BL) die Confiseriefabrik Richterich & Compagnie und entwickelte die ­ersten Bonbons, die er vorerst nur in der Region verkaufte. Heute verschickt die Ricola AG in der dritten Generation ihre Produkte in über 50 Länder. Ein besonderes Kompliment erhielten die Kräuterbonbons von Joe Cocker: «Meine Stimme ist nach fünf Minuten ruiniert, wie willst du anschliessend noch fünfunddreissig Konzerte geben?» Der Mann mit der Reibeisenstimme gestand, er würde seine Stimme mit Ricola- ­Kräuterbonbons kurieren, «With A Little Help From My Friends» erlangte damit eine ganz neue Bedeutung.

1930 erschien im Kino «Im Westen nichts Neues», eine Verfilmung des Antikriegsromans von Erich Maria Remarque. Das Buch schildert die Schrecken des Ersten Weltkrieges aus der Sicht eines jungen Soldaten. Da viele Kinos damals noch nicht für den Tonfilm eingerichtet waren, kam der Streifen sowohl als Stummfilm als auch als Tonfilm in die Filmtheater. Louis Wolheim («Seine Fresse ist sein Kapital») spielte den harten Kerl Katczinsky. Nach Abschluss der Dreharbeiten verstarb der 50-­jährige Wolheim infolge einer brachialen Abmagerungskur, die er für seinen nächsten Film begonnen hatte.

Während noch die Wunden des Ersten Weltkrieges aufgearbeitet wurden, zerbrach im September 1930 Deutschlands Grosse ­Koalition und die National­sozialistische Deutsche ­Arbeiterpartei (NSDAP) wurde zweitstärkste Partei. Sie hatte ihren Stimmenanteil von 810 000 (1928) schlag­artig auf 6,4 Millionen gesteigert. Nach der Hyperinflation und der Weltwirtschaftskrise der 20er-Jahre hatten ­verfassungsfeindliche Parteien wie die NSDAP und KPD die Wähler radikalisiert und den Weg für Adolf Hitler freigemacht.

Sigmund Freud schrieb in seinem 1930 erschienen Klassiker «Das Unbehagen in der ­Kultur»: «Die Menschen haben es jetzt in der Beherrschung der Naturkräfte so weit gebracht, dass sie es mit deren Hilfe jetzt leicht haben, einander bis auf den letzten Mann auszurotten».

1930 übernahm Haile Selassie («Macht der Dreifaltigkeit») die Herrschaft über Äthiopien. Er nannte sich ganz unbescheiden König der Könige und hielt sich für den 225. Nachfolger von König Salomon. Da ihm der Machterhalt wichtiger war als die Anliegen der Bevölkerung, kam es in den 70er-Jahren infolge einer Nahrungsmittel­knappheit zu gewaltsamen Protesten. Sie ­endeten mit einem Militärputsch. Der spätere Diktator Mengistu Haile Mariam, der «Schlächter von Addis», liess den Leichnam Selassies unter einer Toilette einmauern.

Die Entdeckung des Zwergplaneten Pluto ­inspirierte den Zeichner Norman Ferguson. Er nannte den tolpatschigen Hund, den er gerade für die Disney Studios entwickelte, «Pluto». Sein erster Auftritt hatte der virtuos animierte Pluto 1930 in der Micky-Maus-Episode «The Chain Gang», in der er als Spürhund die Fährte eines entflohenen Sträflings aufnehmen muss. Der ­einzige Dialog, den Pluto jemals sprach, war: «Kiss me.»

Mercedes-Benz brachte den luxuriösen ­«Grossen Mercedes» auf den Markt, den Typ 770, den sich kaum jemand leisten konnte. In acht Jahren wurden gerade mal 117 Fahrzeuge ­produziert. Gekauft wurde die repräsentative Staatskarosse von Reichspräsident Hindenburg, dem japanischen Kaiser Hirohito, Adolf Hitler und den Vertretern der «Kirche der Armen»: Papst Pius XI. und Papst Pius XII. Weniger Erfolg hatte der britische Automobilhersteller Bentley. Die Entwicklungskosten für seine Luxuskarosse trieben ihn in den Ruin.

© Basler Zeitung; 16.09.2016

Im siebten Jahr der Nachspielzeit

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Wie geht es dem Basler Autor Claude Cueni, dessen Leben von Krankheit und Tod geprägt ist? SRF-„Reporter“ sucht Antworten. © Tele; 14.09.2016; Nr. 38; Seiten 12 – 14

Text: Miriam Zollinger, Fotograf: Sebastian Magnani

Leider kann ich Sie nicht mit dem Auto abholen, da ich nicht mehr Auto fahre – den Fussgängern zuliebe …“ Die Begegnung mit einem, der so viel erlitten hat, ruft gemischte Gefühle hervor. Zum ersten, aber nicht letzten Mal nimmt ihnen Claude Cueni mit feinem Witz die Spitze.

Die Türe unten öffnet sich surrend, bevor die Klingel gedrückt ist, die obere steht bereits offen. Zuerst Hände desinfizieren, dann ins geräumige Wohnzimmer, das trotz dunklen Möbeln sehr hell ist, und am schweren Holztisch auf ebenso schweren Stühlen Platz nehmen. iPhone, iPad und Notebook liegen neben ihm, werden vom Schriftsteller aber konsequent ignoriert, als sie sich während des Gesprächs bemerkbar machen.

„Ich trinke mein Magnesium“, informiert Cueni über den Inhalt eines gelben Wässerchens, offeriert zum Glück aber andere Getränke, rührt die Amaretti und Biberli auf dem Teller in der Tischmitte selber nicht an. Sie wären mehr Zvieri als Znüni für ihn: Sein Tag beginnt in der Nacht, er ist seit 2.30 Uhr auf den Beinen. Nervenschmerzen. Immerhin, die Spasmen, die ihn heimzusuchen pflegten, sind Vergangenheit.

Wenn er früher, von Krämpfen geschüttelt – er fuchtelt zur Verdeutlichung mit verdrehten Armen in der Luft herum – an der Hand von Dina, seiner zweiten Frau, in der Stube umherging, habe er jeweils zu den antiken Götterfiguren, die auf der Vitrine beim Esstisch thronen, hochgeschaut und habe sie angerufen: „Ihr Arschlöcher, konntet ihr euch nichts Besseres einfallen lassen?“ Man entwickelt so eine Art Galgenhumor. „Hauptsache, es hilft.“ Er versucht die schmerzhafte Erinnerung wegzulachen.

Nun will er wissen, wie der „Reporter“-Dok gefällt, für den er nochmals in die Vergangenheit reiste: die harte Kindheit und Jugend, die Behinderung des Sohns, der Krebstod der ersten Frau, die eigene Erkrankung. Erinnerungen, die er sich im autobiographischen Roman „Script Avenue“ von der Seele schrieb. Die er aufschrieb, um darüber das Sterben zu vergessen. Muss schmerzhaft gewesen sein, nicht? „Für mich war es abgeschlossen mit dem Buch, vergleichbar mit einer 90-Grad-Wäsche und anschliessendem Tumblern.“ Nein, er habe keine Ressentiments, wenn er an jene denke, die ihm als Kind das Leben schwermachten. „Abgesehen vom Tod meiner Frau, der natürlich nicht, das wühlt mich immer noch auf.“ Er hält kurz inne.

„Nachspielzeit“, nennt er sportlich sein Leben nach der Leukämie, sie läuft bereits im siebten Jahr. Doch zweieinhalb Jahre nach der Knochenmarktransplantation trat eine chronische Abstossreaktion auf, 60 Prozent der Lunge starben ab. Die Behandlung hinterlässt Spuren. „Das Cortison bläst mich auf, der Bauch ist nicht vom Essen. Aber es sind nur noch 12 Pillen pro Tag.“ Was blieb: die grosse Müdigkeit. „Die Batterien füllen sich nicht mehr. Ich lebe immer noch unter dem Damoklesschwert, aber keiner weiss, ob’s runterfällt, deshalb fokussiere ich auf andere Sachen.“ Etwa was seine Frau zum Mittagessen koche. Langes Lächeln.

Ja, er hat Bekannte und auch Freunde verloren, sie mit seinem Leiden überfordert. „Man stirbt, bevor man tot ist“, beschreibt der 60-jährige Basler seine Isolation. „Heute fühle ich mich mehr angezogen von Menschen, die Ähnliches wie ich erlebt haben. Man weiss, wovon der andere spricht.“ Dass nicht alle mit Krankheit und Tod umgehen können, verstehe er natürlich, das sei bei uns nicht mehr so selbstverständlich wie früher, in der Welt seiner historischen Romane. „Dabei muss man ja nicht grosse philosophische Diskurse führen, sondern einfach da sein. Wie ein Hund.“

Drei Mal hat er in den letzten Jahren gedacht, es sei endgültig fertig. „Das ist etwas, das dich nicht mehr richtig ins Leben zurückfinden lässt. Man ist wie einer, der den Koffer gepackt hat und wartet.“ Aber, Cueni strahlt, es gehe ihm besser, er habe Freude, nun wieder ohne Mundschutz ins Kino sitzen zu können. „Und Drämmli faare oder in Coop goo – wunderbar.“

Gerade heute habe er in seiner Euphorie einen Flug gebucht, nach Edinburgh, wo einer seiner historischen Helden lebte. „Ich habe mir immer vorgenommen, wenn ich das überlebe und wieder fliegen darf, das Haus von John Law zu besuchen.“ Und Ende Jahr geht’s vielleicht endlich auf die Philippinen, sofern es die politische Situation erlaubt. Über die Heimat seiner Frau sinniert er länger, dann fällt ihm noch etwas ein. Ja, gern würde er auch Kuba bereisen, wegen der Musik. Er sei auch neugierig aufs Essen, auf die Menschen und natürlich fasziniert von der Kulisse. „Gibt es einen besseren Beweis für eine gescheiterte Nation?“

Dieser Tage erscheint nun „Godless Sun“, sein Roman über Aberglauben und Religion. Es sei sein bester, fand der chinesische Übersetzer. In kürzester Zeit ist der Trailer zum Buch über 16 553 Mal geteilt worden, schmunzelt Claude Cueni. „Sie sehen, ich habe auch Glück im Leben.“

Als der Roman fertig war, hat er Frau und Sohn zwar den ganzen Sommer hindurch erklärt, warum er jetzt keine Bücher mehr schreibt („ich möchte mehr reisen“), und trotzdem ist jetzt plötzlich wieder etwas entstanden, auf bislang 50 Seiten. „Ich wollte wirklich nicht.“ Ein Thema, das sich nicht aufdrängte, das noch keiner behandelt habe. Mehr verrät er nicht.

Aber auch ohne den Inhalt zu kennen, sind die 50 Seiten insofern bemerkenswert, als er den angefangenen Roman zur Seite gelegt hat und nun pausiert. Schreiben, um das Sterben zu vergessen, scheint im Moment nicht mehr an erster Stelle zu stehen.

„Schriftsteller neigen dazu, sich zu überschätzen, sind Egoisten und Narzissten.“ Das findet er grauenhaft, „denn ich bin in der Meinung aufgewachsen, dass ich nichts Besonderes bin und habe das stark verinnerlicht“. Prägten ihn Kindheit und Jugend also noch mehr als die Krankheit? Er überlegt. „Die Jugend hat mich gelehrt, dass das Leben nie gerecht ist.“ Und dass man etwas leisten muss, wenn man etwas erreichen will. Die Krankheit, die liess ihn gelassener werden. „Man kann sich nicht jahrelang ängstigen, das ist sinnlos, aber zum Teil ist diese Gelassenheit nahe an der Gleichgültigkeit.“ Er nehme die Realität so zur Kenntnis, wie sie ist.

Wenn man so eine Diagnose wie er erhält, kann man nicht sagen: „Das ist keine Leukämie, ich habe gestern wohl eine schlechte Pizza gegessen.“ Seither legt er den Fokus auf Fakten. „Meinungen interessieren mich nicht mehr. Wer überall beliebt sein will, muss am Morgen im Bett bleiben.“ Apropos: Bald komme seine Frau mit einer Kollegin von der Arbeit, ob man zum Essen bleiben wolle? Bei Tisch werde viel geredet, wie unter Filipinas üblich. Viel verstehe er zwar nicht, schwierige Sprache, dieses Tagalog, aber ein paar Sätze könne er schon, liefert sogleich eine Kostprobe und übersetzt: „Dina, ich liebe dich. Gibt es Frühlingsrollen heute?“

Wie gesagt: Claude Cueni legt im siebten Jahr seiner Nachspielzeit den Fokus auf andere Sachen.

„Man kann nicht einfach sagen, das ist keine Leukämie, ich habe gestern wohl eine schlechte Pizza gegessen.“

Cueni schrieb 14 Romane und über 50 Drehbücher. „Ich kann nichts anderes.“

Für „Script Avenue“ erhielt Claude Cueni den Golden Glory 2014 („meine erste Auszeichnung nach 40 Jahren Schreiben“). „Godless Sun“ ist sein neuster Roman.

„Reporter“

„Script Avenue – Selbstmitleid ist Zeitverschwendung“, SO, 18. 9., 21.40 Uhr, SRF 1.

Obama: Machtloser Moralist

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Der philippinische Präsident Rodrigo Duterte reagiert heftig auf die Kritik von US-Präsident Obama. Er weiss, dass Amerika ihn nicht ignorieren kann.

Ich habe ein Drecksmaul», sagt der philippinische Präsident Rodrigo Duterte, «aber ich gebe euch eine saubere Regierung.» Seit seinem Amtsantritt am 1. Juli sind bereits über 2000 mutmassliche Drogendealer und -konsumenten aussergerichtlich erschossen worden. Mittlerweile erschiessen sich Mitglieder der rivalisierenden chinesischen und mexikanischen Drogensyndikate gegenseitig, Zivilisten begleichen offene Rechnungen und heften den Erschossenen Pappkartons mit der Aufschrift «Drogendealer» an die Brust, Menschenrechtsorganisationen protestieren.

Nulltoleranzstrategie

US-Präsident Obama wollte Duterte am Rande des Asean-Gipfels an die Menschenrechte erinnern. Duterte sagte einem Reporter, er sei Präsident eines souveränen Staates: «Wir sind schon lange keine Kolonie mehr. Ich bin niemandem Rechenschaft schuldig ausser dem philippinischem Volk.» Dann folgte ein zorniges «Putang ina», und Obama war nun in die Galerie der «Hurensöhne» aufgenommen und in bester Gesellschaft mit den katholischen Bischöfen, dem Papst, dem Uno-Generalsekretär und diversen Botschaftern. Dem Philippine Star diktierte «Dirty Harry» (Financial Times): «Ich schere mich nicht um Menschenrechte. Glaubt mir, es ist mir egal, was die sagen, dieser Krieg ist gegen Drogen. Schiessen und töten wird gelten bis zum letzten Tag meiner Präsidentschaft (2022).»

Obama, schwer beleidigt, verzichtet nun auf ein Treffen mit Duterte, obwohl er sich weder in China noch in Laos um die Einhaltung der Menschenrechte geschert hat. Doch Duterte weiss, dass die USA ihn nicht ignorieren können. Die Philippinen sind der wichtigste Standort für die Abhörstationen der National Security Agency (NSA) im pazifischen Raum. Die USA brauchen den Inselstaat, um Chinas Expansionsgelüste einzudämmen. Obwohl die Philippinen mit Peking wegen der Spratly-Inseln im Dauerclinch liegen, versucht Duterte eine Annäherung an China, ein Treffen mit Putin ist in Planung. Er wird sich nicht einschüchtern lassen. Unbeirrt verfolgt er eine blutrote Version von Rudolph Giulianis Nulltoleranzstrategie.

Die Menschen sind von der Gewalt in den Strassen traumatisiert und verehren ihren «Digong» wie einen von Gott gesandten Messias, selbst Nostradamus soll Dutertes Ankunft prophezeit haben. Die letzte Umfrage von Pulse Asia (August) ergab eine Zustimmung für Duterte von 91 Prozent («Big Trust»). Teddy Locsin, Starmoderator beim philippinischen Medienkonglomerat ABS-CBN, sagt: «Das Land ist in Anarchie versunken. Nur noch ein Cäsar kann das Problem lösen.» Er heisst Duterte, und sein Lieblingswort ist «son of a bitch».

© Die Weltwoche; 08.09.2016; Ausgaben-Nr. 36


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Alle meine Beiträge über die Philippinen 2016 auf https://www.cueni.ch/philippine-news-2016/

#chronos (1973)

intensivundgelassenElvis Presley brach am 14. Januar 1973 mit ­seinem legendären Konzert «Aloha from Hawaii» (Honolulu) sämtliche Rekorde: Erstmals in der Geschichte wurde der Auftritt eines Solokünstlers live via Satellit in über 40 Länder übertragen. In einigen Ländern lag die Einschaltquote bei über 70 Prozent, auf den Philippinen gar bei 90 Prozent. Mit gegen 1,5 Milliarden Zuschauer lockte der unangefochtene «King of Rock ’n’ Roll» mehr Zuschauer vor den Fernseher als seinerzeit Neil Armstrong auf dem Mond.

Vom Thron gestossen wurden in diesem Jahr zahlreiche Despoten und Diktatoren: In Ruanda putschte das Militär und übernahm die Macht, in Afghanistan putschte Mohammed Daoud Khan und rief die Republik aus, in Griechenland wurde Diktator Georgios Papadopoulos durch einen Militärputsch gestürzt, in Thailand wurde die Militärregierung nach Massenprotesten zum Rücktritt gezwungen und in Chile fiel der demokratisch gewählte sozialistische Präsident Salvador Allende einem Militärputsch zum Opfer. Mithilfe der USA gelangte Augusto Pinochet an die Spitze einer Militärjunta und versetzte fortan die Bevölkerung mit Folterungen, Verschleppungen und zahlreichen Morden in Angst und Schrecken.

Auch der Nahe Osten kam nicht zur Ruhe: Völlig überraschend griffen Ägypten und Syrien ausgerechnet am höchsten jüdischen Feiertag (Jom Kippur) Israel an und lösten damit den vierten arabisch-israelischen Krieg seit der Gründung des Staates Israel aus. Nach anfänglichen Erfolgen gegen das unvorbereitete Israel erlitt die arabische Allianz bereits nach 19 Tagen eine endgültige Niederlage. Eine Folge davon war der israelisch-ägyptische Friedensvertrag und die Anerkennung des jüdischen Staates durch Ägypten.

Um den Westen unter Druck zu setzen, erhöhte die Opec den Ölpreis von rund drei US-Dollar pro Barrel auf über fünf Dollar. Der Westen erlebte seine erste grosse Ölkrise. Sieben arabische Staaten verhängten zudem einen Lieferboykott gegen die USA und die Niederlande. In einigen Ländern wurde ein ­Sonntagsfahrverbot für Pkws angeordnet, die Autobahnen wurden am Wochenende zu Fussgängerzonen.

Kuba-Auto-Import-Verbot-Neuwagen-aufgehoben-Oldtimer-US-Cars-08Auch auf Kuba kam der Verkehr etwas zum Erliegen, obwohl Fidel Castro ein paar Truppen in den Nahen Osten geschickt hatte, um die arabischen Armeen zu unterstützen. Dass auf Kubas Strassen eher wenig Fahrzeuge verkehrten, lag nicht an einem Sonntagsfahrverbot, sondern daran, dass die USA das Embargo gegen Kuba weiterführten und der einst florierende Import amerikanischer Autos unterbunden war. So ­wurden die Oldies auf den Strassen Kubas nicht nur beliebte Kunstsujets, sondern auch Sinnbild für das Scheitern eines sozialistisch-autoritären Einparteiensystems. Fidel Castro prophezeite, dass die USA erst mit Kuba verhandeln würden, wenn ein Schwarzer Präsident und ein Südamerikaner Papst würde.

Dass man mit Kapitalismuskritik auch Multimillionär werden kann, bewies die britische Rockband Pink Floyd mit ihrer neuen LP «The Dark Side Of The Moon». Das legendäre Konzeptalbum verkaufte sich mittlerweile über 50 Millionen Mal, hielt sich 14 Jahre lang in den US Billboard-Charts und gilt heute als Jahrhundertwurf. «Money, it’s a crime. Share it fairly but don’t take a slice of my pie» (Geld ist ein Verbrechen, verteile es gerecht, aber Hände weg von meinem Anteil).

In der deutschen Fussball-Bundesliga ­missachtete Eintracht Braunschweig das bisher geltende Verbot von Leibchenwerbung und lief mit dem Jägermeister-Hirsch auf dem Trikot ins Stadion ein. «Ich trinke Jägermeister, weil mein Mami voll davon ist.»

© Basler Zeitung; 02.09.2016

#chronos (1956)

Unknown-11956 erschien im Magazin Fantastic Universe die Shortstory des schreibsüchtigen und drogenabhängigen Philip K. Dick. Sein «Minority Report» wurde 46 Jahre später von Steven Spielberg verfilmt. Manchmal sind die Erben tüchtiger als der Autor. Philip K. Dick war Atheist: «Die Realität ist das, was übrigbleibt, wenn man aufhört zu glauben.»

«Ich würde sogar die Sonne angreifen, wenn sie mir etwas zuleide täte!», sagte Kapitän Ahab als die Schiffsbesatzung seine Besessenheit kritisierte, den weissen Hai aufzuspüren und zu töten. John Huston verfilmte «Mobby Dick» nach dem gleichnamigen Roman von Herman Melville. Die Besetzung des Bösewichts mit dem liebenswürdigen Gregory Peck hielt die Kritik für eine krasse Fehlleistung, der Film floppte, heute wird er nur gerade für die aussergewöhnliche Licht- und Farbstimmung gelobt.

Erfolgreicher war der 21-jährige Elvis Presley, der nach seinem Wechsel vom regionalen SUN-Musiklabel zum nationalen RCA Label mit seinem Debütalbum gleich auf Platz 1 der Charts landete. Mit seinem erotischen Hüftschwung sorgte die «singende Tolle» für tumultartige Begeisterungsstürme und einen enormen Medienhype. Elternverbände, Religions­gemeinschaften und Lehrerorganisationen machten «Elvis the Pelvis» («Elvis, das Becken») für den Zerfall der Moral verantwortlich. Die TV Sender buchten ihn weiterhin, filmten seine Shows aber nur noch von der Hüfte aufwärts.

VictrolaZehn Jahre nach Kriegsende wurde Adolf Hitler auch noch vom Amtsgericht Berchtesgaden für tot erklärt, fand in Wien wieder der Opernball statt, warfen die USA ihre erste Wasserstoffbombe über den Marshall-Inseln ab, wurde in London Europas erstes Atomkraftwerk eingeweiht und in der wieder boomenden Bundesrepublik warb man Gastarbeiter aus Italien an, um den Mangel an Arbeitskräften zu kompensieren. Da die Arbeitsmigranten aus dem gleichen Kulturkreis kamen und die Regeln des demokratischen Rechtsstaates respektierten, war die Integration einfach und für beide Seiten ein Gewinn.

1956 plädierte Parteichef Nikita Chruschtschow am XX. Parteitag der KPdSU für eine friedliche Koexistenz zwischen Kapitalismus und Sozialismus, er kritisierte auch seinen ­georgischstämmigen Vorgänger Josef Stalin und bezeichnete ihn als «brutalen Despoten». Er verlangte im Zuge der Entstalinisierung den Personenkult zu beenden. Die Georgier fühlten sich in ihrem Nationalstolz verletzt, waren sie doch ein Leben lang stolz darauf gewesen, dass ein Georgier Russland regierte und die Welt in Atem hielt. Zornig stürmten sie die Tifliser Radiostation und das Telegrafenamt. Wie üblich sandte die Sowjetunion Panzer, die den Aufstand blutig niederwalzten.

hrushchev_503109506Ein halbes Jahr später proklamierte Ungarns Ministerpräsident die Neutralität und kündigte die Mitgliedschaft im Warschauer Pakt. Die Sowjetunion schickte erneut ihre Panzer. Über 2500 Ungarn verloren ihr Leben.

Beinahe vergessen: Am 29. Juni heiratete Marilyn Monroe den Schriftsteller Arthur Miller. Die Medien malten sich aus, wie grossartig die genetische Veranlagung des Babys sein würde angesichts seiner Eltern, dem Sexsymbol der 60er-Jahre und der Intelligenzbestie der Literatur. Doch Arthur Miller fragte: «Was ist, wenn das Baby den Verstand der Mutter und das Aussehen des Vaters hat?» Nachdem die meistfotografierte Frau ihrer Zeit heimlich die Tagebücher ihres Mannes gelesen hatte, trennten sie sich. Arthur Miller hatte sie als tablettensüchtige, unberechenbare und hilflose Kindfrau beschrieben, für die er nur noch Mitleid empfand.

#chronos (1943)

LittleprinceTrotz des unfassbaren Leids, das Millionen von Menschen während des Zweiten Weltkriegs (1939 – 1945) erfahren mussten, nahm das zivile Leben abseits der Kampfzonen ihren gewohnten Lauf. Während Millionen auf den Schlachtfeldern und im Bombenhagel starben, erblickten Janis Joplin, George Harrison, Mick Jagger, Robert De Niro, Catherine Deneuve und Jim Morrison das Licht der Welt, in New York erschien die Erstausgabe von Antoine de Saint-Exupérys »Der Kleine Prinz«.

Die Anti-Hitler-Koalition traf sich in der marokkanischen Stadt Casablanca zu einer geheimen Sitzung. US-Präsident Franklin D. Roosevelt und der britische Premierminister Winston Churchill einigten sich nach zehn Tagen auf das primäre Kriegsziel: Die bedingungslose Kapitulation Deutschlands, Italiens und Japans. Gemeinsam mit ihren Stabschefs entwickelten sie den Plan, den weltweit tobenden Krieg auf das europäische Festland zu verlagern. Gleichzeitig beschlossen sie die Verstärkung der Luftangriffe auf deutsche Städte. Amerikanische und britische Piloten warfen nun rund um die Uhr Bomben über Deutschland ab.

 

Hitlers Reichspropagandaminister Joseph Goebbels forderte im Berliner Sportpalast die Intensivierung des »Totalen Kriegs«. Zwei Mitglieder der Widerstandsgruppe »Weisse Rose« wurden hingerichtet, es waren die Geschwister Sophie und Hans Scholl.

Nachdem Hitlers SS im Vorjahr bereits eine halbe Million Juden aus Warschau ins Vernichtungslager Treblinka verschleppt hatte, versuchte sie die restlichen Bewohner zu deportieren. Nach wochenlangem Widerstand ging das Warschauer Ghetto in Flammen auf.

jan14-2-imgIn Stalingrad wurde Hitlers 6. Armee von Stalins Truppen vernichtet. Der Ausgang der Schlacht gilt als Wendepunkt des deutsch-sowjetischen Krieges. Im Pazifik standen sich Amerikaner und Japaner gegenüber. Im Juli landeten die Allierten auf Sizilien, Pius XII, der schweigende Stellvertreter, erhielt den Beinamen »Hitlers Pope«. Der Faschist und Diktator Mussolini (Duce del Fascismo), Ministerpräsident des Königreichs Italien, wurde von rivalisierenden Faschisten gestürzt und verschwand vorübergehend von der Bildfläche.

Durch einen Zufall entdeckt der Schweizer Chemiker Dr. Albert Hofman in den Labors des Schweizer Pharmaunternehmens Sandoz die Wirkung von Lysergsäurediäthylamid. Er hatte zufällig die Substanz durch die Haut aufgenommen und erlebte auf der Velofahrt nach Hause die halluzinogene Wirkung des LSD. In der Hippie Aera geriet das »saumässig gefährliche« (Hofmann) LSD als »bewusstseinserweiternde Droge« in Verruf. In seinem Werk »LSD – Mein Sorgenkind« schrieb er: „Dieser Bewußtseinszustand, der unter günstigen Bedingungen durch LSD, oder durch ein anderes Halluzinogen aus der Gruppe der mexikanischen sakralen Drogen, hervorgerufen werden kann, ist verwandt mit der spontanen religiösen Erleuchtung, mit der unio mystica.« Albert Hofman erlangte als Mister LSD Weltruhm und starb 102jährig im Baselbieter Leimental.

tintinactuel12_22012004»Ich möchte Herrn Tim sprechen!« Mit diesen Worten trat der zerstreute und fast taube Professor Tryphon Tournesol erstmals 1943 auf. Mit erstaunlicher Hartnäckigkeit versuchte er, Tim ein Tauchgerät in Form eines Haies zu verkaufen. Lesen konnten die Fans von »Tintin et Milou« diese Szenen im Vorabdruck von Hergés Album »Le Trésor de Rackham Le Rouge« (»Der Schatz Rackhams des Roten«) in der Brüsseler Tageszeitung »Le Soir«.

And one more thing: 1943 sagte Thomas Watson, Vorstandsvorsitzender von IBM: »ich denke, es gibt weltweit einen Markt für vielleicht fünf Computer.«

(c) 2016 Basler Zeitung

#chronos (1902)

1902GMCWer 1902 die Aufmerksamkeit des männlichen Geschlechts auf sich ziehen wollte, trug immer noch das Sans-Ventre-Korsett, das Ohne-Bauch-Korsett, das seitlich betrachtet, die berühmte S-Form zeigte. Die Feministin Anne de Rochechouart de Mortemart (1847–1933) hielt nichts von solchen Selbstkasteiungen. Sie war nicht nur die erste Französin, die den Führerschein machte, sondern auch gleich der erste Mensch, der einen Strafzettel wegen erhöhter Geschwindigkeit erhielt. Ob die Urnichte der Champagnerkönigin «Veuve Clicquot» ein Glas zu viel hatte, ist nicht überliefert. Auf jeden Fall hatte sie mit 40 km/h eine krasse ­Übertretung begangen. Die laufend verbesserten Leistungen der Automobile machten es den ­Fahrern zu­- nehmend schwer, das Tempo der «pferdelosen Wagen», wie sie damals noch hiessen, richtig einzuschätzen. Auf der Rennbahn lag der Rekord bereits bei über 100 km/h.

In Erwartung einer Beschleunigung auch bei normalen Strassenfahrzeugen entwickelte der deutsche Ingenieur Schulze einen Wirbelstrom-­Tachometer und meldete diesen 1902 beim ­Kaiserlichen Patentamt in Berlin an. Erste Entwürfe für ein solches Instrument hatte bereits Leonardo da Vinci gezeichnet, die ersten Tachos wurden jedoch erst 1817 von Diedrich Uhlhorn für Textilmaschinen eingesetzt, ab 1844 für Eisenbahnen. Schulze war jedoch der Erste, der einen Tachometer für ­Strassenfahrzeuge erfand und patentieren liess. Wie so oft leiden geniale Erfinder unter einer gewissen ­Inselbegabung, die sich nicht auf andere Lebensbereiche erstreckt. Mangels Fähigkeiten im unternehmerischen Bereich sah sich Schulze gezwungen, die Kommerzialisierung (und die Früchte) seiner Erfindung einem andern zu überlassen.

Bei Arbeiterunruhen in Batumi, einer Hafenstadt am Schwarzen Meer, wurde der 22-jähriger Russe Jossif Wissarionowitsch Dschugaschwili verhaftet. Zehn Jahre später sollte dieser Georgier den Kampfnamen «Der Stählerne» annehmen, es war der Diktator und Massenmörder Josef Stalin.

1902 hatte das Goldene Zeitalter der ­Antarktis-Forschung bereits begonnen, eine Expedition jagte die nächste, die Polarforscher entdeckten neue Inseln und gewannen ­geografische und naturwissenschaftliche Erkenntnisse. Besonders dramatisch verlief die erste deutsche Antarktisexpedition unter der Führung des unerschrockenen Geologie­professor Erich von Drygalski. Das Forschungsschiff blieb ganze 14 Monate im Eis stecken. Erich von Drygalski überflog mit einem ­Fesselballon die Unglücksstelle und brachte eine der ersten Luftaufnahmen der Antarktis mit nach Hause. Sein Bericht über die zweijährige Expedition umfasste zwanzig Bände und zwei ­Atlanten.

Neuland beschritt 1902 auch der Filmpionier Georges Méliès mit der Pariser Uraufführung seines 16-minüten Science-Fiction-Films «Die Reise zum Mond». Basierend auf den Romanen von Jules Verne und H. G. Wells erschuf er einen Klassiker der Filmgeschichte.

Mit der Vergangenheit hatte sich hingegen der Pfarrerssohn Theodor Mommsen (1817–1903) ein Leben lang beschäftigt. Der bedeutendste Historiker der Altertumswissenschaften erhielt 1902 für sein Jahrhundertwerk «Römische Geschichte» den Nobelpreis für Literatur. Er hielt wenig von Cicero, den er «der Partei der materiellen Interessen» zuordnete und schrieb, was man auch über einige Politiker der ­Gegenwart schreiben könnte: «Als Staatsmann ohne Einsicht, Ansicht und Absicht hat er nacheinander als Demokrat, als Aristokrat und als Werkzeug der Monarchen figuriert und ist nie mehr gewesen als ein kurzsichtiger Egoist.»

© Basler Zeitung; 22.07.2016

Facebook, Amazon und Meinungsfreiheit

Unknown

Dr. Udo Ulfkotte arbeitete 17 Jahre lang für die FAZ (Aussenpolitik). Zwischen 1986 und 1998 lebte er überwiegend in islamischen Staaten (Irak, Iran, Afghanistan, Saudi-Arabien, Oman, Emirate, Ägypten, Jordanien), schrieb Länderanlysen, Investitionsführer und war Referent der Bundesakademie für Sicherheitspolitik. Zusammen mit Peter Scholl-Latour schrieb er »Propheten des Terrors«.

Nun hat er zusammen mit einem ehemaligen Polizeibeamten ein Buch mit dem Titel »Grenzenlos kriminell« geschrieben. Ich kenne weder dieses Buch noch seine anderen Sachbücher. Gemäss Inhaltsverzeichnis kritisiert er unter anderem die Unterdrückung von Straftaten von Migranten. Ironischerweise hat ihn Facebook zuerst für einen Tag gesperrt und nach der erneuten Präsentation seines neuen Buches vollständig gelöscht. Neuanmeldung nicht mehr möglich… Das hat meine Neugierde geweckt… Aber auch Amazon meldet nun »Titel nicht lieferbar« Egal wie gut oder schlecht dieses Buch sein mag: Falls es keinen Straftatbestand erfüllt, sollten Promotion und Verkauf nicht verhindert werden. 


Artikel 5 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland:


(1) Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.

(2) Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre.

(3) Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung.

#chronos (1927)

MexicoCity16Dec1927«Wer zur Hölle will Schauspieler reden hören?», fragte H. M. Warner von den Warner Brothers, als man ihm 1927 die Vorteile des Tonfilmes erklärte. Im Januar startete Fritz Langs Stummfilm ­«Metropolis» und floppte trotz Starbesetzung. Das in Schwarz-Weiss gedrehte Science-Fiction-Movie gilt heute als Klassiker der Filmgeschichte. Neun Monate später läutete der kommerziell äusserst erfolgreiche Film «The Jazz Singer» das Zeitalter des Tonfilms ein. Sam Warner hatte die ­Produktion gegen den erbitterten Widerstand ­seines Bruders durchgesetzt. Bereits drei Jahre später hatte der Tonfilm den mit den typischen Zwischentiteln angereicherten Stummfilm ­abgelöst.

Abgelöst wurde auch die ungarische Währung Korona, die als Folge des Ersten Weltkrieges ­inflationsbedingt massiv an Wert verloren hatte. Die Neue Währung Pengo hielt gerade mal neunzehn Jahre. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die durch eine erneute Hyperinflation zerstörte Währung durch den Forint ersetzt. Für vierhundert Quadrilliarden Pengo, also 400.000.000.000.000.000.000.000.000.000 Pengo, erhielt man einen einzigen Forint.

In Berlin crashte die Börse, als die Deutsche Reichsbank gegen die überhöhten Aktienkurse vorging. Der Aktienindex brach innerhalb von Stunden um 31,9 Prozent ein. Bereits zwei Jahre nach diesem schwarzen Börsenfreitag krachte auch die New Yorker Börse und löste die Weltwirtschaftskrise aus. Der amerikanische «Black Friday» war jedoch infolge der Zeitverschiebung in den USA ein «Black Thursday».

Für mehr Optimismus sorgte Charles Lindbergh, der alleine in seiner eigens für ihn konstruierten «Spirit of St. Louis» in einem Nonstopflug von New York nach Paris flog. Damit holte er sich den vom Hotelbesitzer Raymond ­Orteig ausgesetzten Preis von 25 000 Dollar für den ersten Alleinflug über den Atlantik. Seine ­einmotorige Maschine hatte der unbekannte ­Flugzeughersteller «Ryan Airlines» in nur gerade zwei Monaten entwickelt und zusammengebaut. Überschattet wurde Lindberghs Pioniertat durch die Entführung seines zweijährigen Sohnes Charles III., der trotz Bezahlung des Lösegeldes von 50 000 Dollar zweieinhalb Monate später ermordet aufgefunden wurde. Der Täter, ein ­vorbestrafter illegaler Immigrant, der bereits zweimal des Landes verwiesen worden war, wurde gefasst und neun Jahre später hingerichtet. Schuldig oder nicht schuldig, war das Thema diverser späteren Verfilmungen.

Grosses Aufsehen erregte auch die Hinrichtung zweier aus Italien eingewanderter Arbeiter, die sich in den USA der Anarchistischen Arbeiterbewegung angeschlossen hatten und wegen einem doppelten Raubmord angeklagt worden waren. Auch dieses Gerichtsverfahren war umstritten und fand eine dramaturgische ­Aufarbeitung in Giuliano Montaldos Film «Sacco und Vanzetti». Im Jahr 1977 wurden die beiden Italiener durch den Gouverneur von Massachusetts rehabilitiert.

Mehr Glück hatte der Immigrant und Elektro­ingenieur Edward Lasker, der als ­Schachmeister und Verfasser von Klassikern der Schachliteratur Berühmtheit erlangte. Weniger bekannt ist, dass der Tüftler 1927 die erste elektrische Muttermilchpumpe zum Patent anmeldete.

Wie alle gesellschaftlichen Entwicklungen fand auch die zunehmende Emanzipierung der Frau ihren Niederschlag in der Mode. Die ­unpraktischen grossen Hüte waren durch eng am «Bubikopf» anliegende Topf-Hüte ersetzt worden. Kleider, die den Körper einschnürten, waren nun verpönt, sportliche Lockerheit war angesagt, geradlinige Silhouetten, die nicht ­verhüllten, was man insgeheim zeigen wollte.

© Basler Zeitung; 08.07.2016

#chronos (1990)

1101900813_400Nachdem die Berliner Mauer am Abend des 9. Novembers 1989 am Freiheitsdrang der DDR-Bürger zerbrochen war, trat am 1. Juli 1990 die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion ­zwischen den beiden ungleichen Staaten in Kraft. Mit der Unterzeichnung des Deutsch-Deutschen Staatsvertrags war die Deutsche Demokratische Republik nach 28 Jahren nur noch Geschichte. Zu einem historischen Augenblick gehören auch prägnante Quotes. Oft kolportiert wird ein ­angebliches Zitat von Willi Brandt: «Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört.» Es gibt jedoch keine einzige Tonaufzeichnung, die die Urheberschaft des früheren Bundeskanzlers belegen könnte.

Trennen, was nicht zusammengehört, war ­hingegen das Motto der baltischen Staaten ­Estland, Lettland und Litauen, die 1940 von der Sowjetunion annektiert worden waren. Im ­Frühjahr 1990 erklärten sie nacheinander ihre Unabhängigkeit.

Zusammenführen, was nicht zusammen­gehört, war wiederum das Bestreben des ­Diktators Saddam Hussein, als er seine Truppen in Kuwait einmarschieren liess. Es war der Beginn des Zweiten Golfkrieges. Eine Koalition, angeführt von den USA und legitimiert durch die Resolution 678 des UN-Sicherheitsrates, startete die Offensive zur Befreiung Kuwaits. Der Krieg, in dem auch neue Taktiken und Waffen zum Einsatz kamen, wurde auch an der Informationsfront geführt: Handverlesene Journalisten (embedded journalists) wurden kämpfenden Militäreinheiten zugewiesen, täglich gebrieft und kontrolliert. Mit dem Kriegsreporter und ­Pulitzerpreisträger Peter Arnett, der vom Dach des Hotels Raschid aus berichtete, inszenierte CNN den Krieg als 24-Stunden-Liveshow. Sein erster Satz war: «Der Himmel über Bagdad ist erleuchtet.»

Roger Waters (Pink Floyd) gab anlässlich des Mauerfalls auf dem Potsdamer Platz das bis anhin grösste Konzert in der Geschichte der Rockmusik. Eine Viertelmillion Zuschauer besuchten das Open-Air-Konzert und sangen «We dont need no thought control». «The Wall» wurde weltweit per Satellit übertragen.

In der Charta von Paris wurde der Kalte Krieg formell beigelegt. Die 34 KSZE-Staaten bekannten sich zur Demokratie als Regierungsform und zur Achtung der Menschenrechte. Das Zentralkomitee der KPdSU gab das Machtmonopol der Partei auf, Michail Gorbatschow wurde zum neuen Präsidenten gewählt, in Moskau wurde das erste ­russische McDonald’s-Restaurant eröffnet. ­Gorbatschows Satz: «Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben», wurde seitdem oft zitiert, manchmal gilt auch: «Wer zu früh kommt, den bestraft das Leben.»

«Es wird keine Fortsetzung des Paten geben», wiederholte Francis Ford Coppola gebetsmühlenartig, wenn ihn Fans und Journalisten mit der Frage nach einem «Der Pate III» löcherten. Doch ein Blick auf sein tiefrotes Bankkonto liess ihn erschauern. Es erging ihm wohl wie Don Michael Corleone: «Grade als ich dabei war auszusteigen, ziehen sie mich wieder rein!» Das Drehbuch basierte erneut auf dem Roman von Mario Puzo. Der Film war in den 80er-Jahren angesiedelt und thematisierte die Skandale des Vatikans und die Neuausrichtung des Mafiabusiness: «Ich brauche keine Schläger. Ich brauche Anwälte!» Der Film wurde für sieben Oscars nominiert, erhielt aber lediglich eine goldene Himbeere für die schlechteste Nebendarstellerin. Geschmäht wurde ­überraschend Sofia Coppola, die Tochter des Regisseurs. Sie liess sich davon nicht unterkriegen und wurde eine erfolgreiche Regisseurin und Drehbuchautorin («Lost in Translation»).

Bob: «Schon lange verheiratet?»

Charlotte: «Danke. Zwei Jahre.»

Bob: «Ich endlose 25.»

© Basler Zeitung; 24.06.2016

Die ersten 50 Chronos Folgen erscheinen im Februar 2016 im Münster Verlag

Lieber Herr Afshar

es ist uns egal

Fahrad Afshar, Präsident der Koordination Islamischer Organisationen Schweiz (KIOS) kommentiert das Attentat in Orlando: «Der Islam toleriert generell keinen Austausch von Zärtlichkeiten und Intimitäten in der Öffentlichkeit, weder hetero- noch homosexuelle». Rechtfertigt er indirekt das Massaker?

Lieber Herr Afshar, religiöse und beliebig interpretierbare Schriften aus dem 6. Jahrhundert stehen bei uns nicht über der Verfassung. Bei uns ist Religion Privatsache wie Kuchenbacken oder Marathonlaufen. Es geht Sie überhaups nichts an, wenn ihre Nachbarin eine Lesbe, ihr Briefträger ein Homosexueller oder die Pizza von einem Ladyboy ausgeliefert wird.

Wenn Ihnen das nicht gefällt, müssen sie es trotzdem ertragen. Wenn Sie es nicht ertragen, steht es Ihnen frei, in eins der ca. 50 muslimischen Länder auszuwandern, die in den letzten 100 Jahren kein einziges Patent von Bedeutung angemeldet haben, weil sie an ihrer rückständigen und fortschrittsfeindlichen Religion gescheitert sind.

Ihre Anhänger migrieren in eine bessere Welt, aber diese Welt bietet eben gerade deshalb eine bessere Zukunft, weil wir nach blutigen Auseinandersetzungen eine säkularisierte Gesellschaft erschaffen haben, die Freiheitsrechte garantiert. Dazu gehört auch, dass sich Homosexuelle auf den Strassen küssen. Wir sind stolz auf unsere Freiheitsrechte! Wenn sich zwei Homosexuelle oder Lesben auf der Strasse küssen, ist das gelebte Freiheit.


Nachtrag: Auch für Herr Afshar gilt die Meinungsfreiheit. Sie gilt auch für mich. Weil er seine Aussage im Zusammenhang mit den Morden in Orlando macht, rechtfertigt er indirekt dieses Massaker und giesst Oel ins Feuer. Sat 1/NRW berichtete am 16. Januar 2016 über den Versuch zweier Nordafrikaner in Dortmund zwei Transvestiten zu steinigen. Genau deshalb sind die WORTE von Herrn Afshar verantwortungslos. Er weiss genau, dass er damit religiöse Fanatiker zu TATEN animiert. Jede Gesellschaft verliert, was sie nicht verteidigt.

#chronos (1906)

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Es begann um 05.12 Uhr in der Früh und dauerte nur gerade 43 Sekunden. Genug, um die beiden ­Erdplatten, auf denen San Francisco gebaut ist, um sechs Meter zu verschieben. Ganze Stadtteile stürzten ein und begruben die schlafende ­Bevölkerung auf einer Fläche von 13 Quadrat­kilometern unter den Trümmern. Nach dem Beben der Stärke 8,3 brachen überall Feuer aus, die von geborstenen Gasleitungen genährt wurden. Die Löscharbeiten waren schwierig, weil auch die Wasserleitungen zerstört waren und ­etliche Hausbesitzer ihre Häuser mutwillig ­abfackelten, da die Versicherungen bei Feuer, aber nicht bei Erdbeben Schadenersatz leisteten. ­Hunderte von Plünderern wurden ohne Vorwarnung erschossen.

Für das Automobil bedeutete das Jahrhundertbeben den Durchbruch. Galt das Auto bisher eher als Statussymbol der Reichen, bewiesen die Lkw-Konvois, die den Überlebenden Hilfe ­brachten, ihre Schnelligkeit und Robustheit unter Extrembedingungen.

Das Drama, das mittels Telegrafie, Print­medien und Fotografie weltweit verbreitet wurde, sorgte für globales Entsetzen. Wie schon nach dem Grossen Beben von Lissabon (1755) entbrannte eine Diskussion über die Theodizee, die der schottische Philosoph David Hume (1711–1776) damals wie folgt beantwortet hatte: «Will Gott Böses verhindern, kann es aber nicht? Dann ist er impotent. Kann er es, aber will es nicht. Dann ist er bösartig.»

In Frankreich wurde im gleichen Jahr ein Gesetz in Kraft gesetzt, dass Kirche und Staat vollständig trennt. ­Religion war nun Privatsache wie Kuchen backen oder ­Fussball spielen.

Ein anderer Erlass bewirkte die Rehabilitierung des jüdischen Offiziers Alfred Dreyfus. Der französische Artillerie-Hauptmann war von einem Pariser Kriegsgericht wegen angebliche Landesverrats verurteilt worden. Antisemi­tische, klerikale und monarchistische Printmedien ­diffamierten jeden, der die Rechtmässigkeit in Zweifel zog. Nachdem der Schriftsteller Emile Zola in seinem Artikel «J’accuse..!» Kritik geübt hatte, musste dieser gar aus dem Land fliehen. 1906 hob das Oberste Berufungsgericht das Urteil auf, Dreyfus wurde rehabilitiert.

Amerikanische Infanteristen besetzten die Republik Kuba und gliederten sie in das ­Verwaltungsgebiet der USA ein. Wenig zimperlich waren auch die Engländer in ­Britisch-Indien. Sie erwirkten mit dem Segen Chinas die totale Entmündigung Tibets. England erhielt das Exklusivrecht, in Tibet Handel zu ­treiben, Telefonleitungen und Strassen zu bauen und Militärstützpunkte zu errichten.

Wieso sind eigentlich Schafhaare im ­Gegensatz zu menschlichen Haaren dauerhaft gelockt? Um der Sache auf den Grund zu gehen, erlernte Karl Nessler (1872–1951) den Barbierberuf, tingelte durch Europa und verliebte sich in Paris in die schöne Katharina. Er bat jedoch nicht um ihre Hand, sondern um drei Strähnen ihres Haares. Nach drei Versuchen hatte er mit seinem selbst gebastelten Hitzestab nicht nur ihre ­Kopfhaut versengt, sondern die «Dauerwelle» erfunden. Sie heiratete ihn trotzdem. Mit seinem patentierten Lockenwickler wurde er vermögend und residierte später an der Londoner Oxford Street. Bei Ausbruch des Krieges wurde er als feindlicher Ausländer enteignet und interniert. Nach Kriegsende schaffte er in New York ein ­fulminantes Comeback mit 500 Mitarbeitern. Er verkaufte seine Firma und investierte den Erlös in Kupferaktien. Der Börsencrash von 1929 kam einer zweiten Enteignung gleich. Nach diesem Unglück kam auch noch Pech dazu: Sein Haus brannte nieder und mit ihm all seine ­Aufzeichnungen und Lizenzverträge.

Clint Eastwood wird 86

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»The Good, the Bad and the Ugly« ist mein Lieblingswestern.

Die für mich bewegendste Szene ist jene, die mit Ennio Morricones »Story of a soldier« unterlegt ist. In meinem Roman »Der Bankier Gottes« habe ich ihm eine Hommage gewidmet. Nachstehend die beiden kurzen Textstellen.


 SIZILIEN Seite 140 / Der Mafiosi Furio wirft den sterbenden Programmierer Bohne zum Auto raus.

Die Straße endete abrupt in einem abgestorbenen Olivenhain. Die Türen von Furios Auto waren weit geöffnet. Furio saß quer auf dem Fahrersitz. Zu seinen Füßen im Staub lag Frank Bohne. Er krümmte sich, stöhnte und presste die Hände gegen die heftig blutende Wunde. Aus dem CD-Spieler drang »The Story of a Soldier«. Ein Trauermarsch.

»Ich muss immer weinen, wenn ich das Stück höre«, sagte Furio leise. Er schaute über die Felder. Irgendwo musste das Meer sein.

»Die Musik stammt von Ennio Morricone. Hast du ›The Good, the Bad and the Ugly‹ gesehen? Von 1966. Mein Jahrgang. Ich habe alle Filme gesehen, die 1966 in die Kinos kamen. Aber nur bei diesem Film musste ich weinen. Nur bei dieser Szene. Immer wenn die Musik einsetzt. Sie ist so traurig.«

»Ich brauche einen Arzt«, wimmerte Bohne. Tränen rannen ihm über die Wangen.

»Pass auf, jetzt kommt der Chor.« Furio sang leise mit:

»Blue grass and cotton. Burnt and forgotten. All hope seems gone. So soldier march on to die

Furio seufzte: »Das stammt aus dem amerikanischen Bürgerkrieg. Im Film müssen die Gefangenen die Musik spielen. Und immer, wenn sie diese Nummer spielen, wissen wir, drüben in der Holzbaracke foltert der Captain wieder einen Gefangenen. Dann gibt’s ein paar harte Schnitte. Faust ins Gesicht, Blut spritzt. Schnitt. Dann draußen der Chor in den grauen Uniformen, abgemagert, verzweifelt, und sie spielen mit Gefühl den Trauermarsch. Dann wieder Cut.«

»Meine Mutter …«, keuchte Bohne, doch die Tränen erstickten seine Stimme, und der Weinkrampf, der ihn übermannte, verstärkte die Schmerzen. Frisches Blut rann über seine Hände.

»Was soll ich deiner Mutter sagen? Wie du gestorben bist? Meinst du, das wird ihr gefallen? Keine Mutter will das hören. Ich bin sicher, du magst nicht mal Oliven.«


Seite 422

Die Mafiosi Furio und Francesco mit dem entführten Albertini

»Kennen Sie die Filme von Sergio Leone?«

»Ja.« Albertini schüttelte genervt den Kopf. Was soll die Frage?

»›The Good, the Bad and the Ugly‹, 1966. Mein Geburtsjahr. Ich habe alles gesehen, was damals in die Kinos kam.«

Francesco atmete tief durch und schaute durch das Panoramafenster in den Garten hinaus. Er kannte Furios Part auswendig.

»Es gibt da eine Szene im Strafgefangenenlager der Nordstaatler. Die gefangenen Südstaatler müssen draußen Musik spielen, ›The Story of a Soldier‹, während drinnen in der Holzbaracke Duco gefoltert wird.«

»Geht’s nicht etwas kürzer?«, unterbrach ihn Francesco.

»Writing is re-writing, ich finde, die Szene wird jedes Mal besser.« Furio wandte sich wieder Albertini zu, der sich allmählich unwohl fühlte.

»Eli Wallach wird in der Holzhütte zusammengeschlagen, gefoltert, der arme Kerl verliert sogar einen Zahn … und am Ende, und genau darauf will ich hinaus, gesteht er doch alles. Gesteht, wo der Goldschatz vergraben liegt. Und da fragt sich der Zuschauer, wieso zum Teufel hat der arme Kerl nicht früher gestanden? Dann hätte er noch all seine Zähne, hm?«

Furio grinste breit. Francesco zuckte die Schultern. Er gab Furio recht. Das war eine neue Wendung. Eine eindeutige Verbesserung.

»Aber dann holen sie Clint Eastwood rein«, sagte Francesco und setzte die Erzählung fort, »weil Eli Wallach gesagt hat, der Goldschatz ist auf dem Friedhof begraben, aber nur der Blonde weiß, in welchem Grab. Und es gibt Tausende von Gräbern da draußen. Also holen sie den Blonden rein. Clint Eastwood. Er sieht das Blut am Boden. Und erneut beginnt die Musik zu spielen …«

»Ja, und jetzt machen wir uns Sorgen«, brummte Francesco wie zu sich selbst.

Furio fuhr fort: »Und Clint Eastwood sagt: Wollen Sie mir die gleiche Behandlung zukommen lassen … Dabei wäre es schöner, wenn er sagen würde: Spielt die Musik für mich? Stellen Sie sich das mal vor. Clint Eastwood kommt rein. Die Musik beginnt zu spielen und er fragt: Spielt die Musik für mich?«

Schweigen.

Furio nahm einen Schluck Wasser und wischte sich die Lippen ab.

Nach einer Weile sagte Luigi: »Ich habe den Film gesehen, ich kenne die Musik, ich erinnere mich an die Szene. Worauf wollen Sie hinaus?«

»Wir werden dir sehr wehtun, Luigi. Und dann wirst du uns alles erzählen.«

Luigi wollte aufspringen, aber er sah, dass Furio bereits seine Waffe auf ihn gerichtet hatte.

»Nicht bewegen«, sagte Furio, »wir wollen damit sagen … nein, wir wollen dir die Chance geben, uns alles zu erzählen, bevor du einen Zahn verlierst. Am Ende wirst du uns eh alles erzählen.«

»Am Ende quasseln sie alle, sie reden sich um den Verstand, weinen, flehen, wimmern, während ihnen das Blut wie Ketchup aus dem Mund läuft«, ereiferte sich Francesco.

»Ich mach’s nicht gerne, ich bin ein Hygiene-Freak, nicht wahr, Francesco?«

Francesco schaute Albertini freundlich an, als wolle er sagen: Mach es uns doch nicht so schwer.


#chronos (1901)

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«Geh’ über die Niagarafälle in einem Fass» war die plötzliche Eingebung, die Annie Taylor während der Pan-American Weltausstellung in Buffalo hatte. Seit dem frühen Tod ihres Ehemannes auf den Schlachtfeldern des Amerikanischen Bürgerkriegs tingelte die mittlerweile 61-jährige Schullehrerin ruhelos und verarmt durch die Staaten. Nach einem Probelauf mit einer Katze fand sie einen Sponsor und stürzte sich in einem mit ­Korken versiegelten Fass aus 53 Metern Höhe die Niagara Fälle hinunter. Da ihr Ruhm nur von ­kurzer Dauer war, versuchte sich die «Queen of the Mist» als Hellseherin, sah aber nicht voraus, dass ihr Sponsor mit ihrem ganzen Hab und Gut abtauchen würde.

Die Pan-American-Exposition inspirierte auch den Anarchisten Leon Czolgosz. Er lauerte dem US-Präsidenten William McKinley auf dem Messegelände auf und erschoss ihn kaltblütig. McKinley erlag acht Tage später den Schussverletzungen und Theodore Roosevelt wurde zum neuen ­Präsidenten vereidigt. Czolgosz starb zwei Monate später auf dem elektrischen Stuhl.

Eines natürlichen Todes starb im Alter von 82 Jahren die britische Monarchin Queen Victoria, Kaiserin von Indien und Ururgrossmutter der ­jetzigen englischen Königin Elisabeth II. Als ­Victorias Ehemann, ihr vergötterter Cousin Albert, an Typhus starb, zog sie sich zurück, trug bis ans Ende ihrer Tage Trauerkleidung. Auf ihren Wunsch hin wurde die «Witwe von Windsor» mit ihrem Brautschleier und einem Alabasterabdruck von Alberts Hand zu Grabe getragen.

1901 kehrte der Schwarze Tod zurück. Aus Instanbul und Hamburg wurden ­Pestfälle gemeldet. Im ­gleichen Jahr starb Arnold Böcklin, der mit der «Toten­insel» eines der berühmtesten Gemälde des 19. Jahrhunderts gemalt hat. Er starb an einem Schlaganfall. Nur sechs seiner vierzehn Kinder erreichten das ­Erwachsenenalter.
Mit der Unterzeichnung des «Boxerprotokolls» wurde 1901 die Niederlage der chinesischen Qing-Dynastie besiegelt. Die Aufständischen hatten mit Angriffen auf Ausländer und chinesische Christen versucht, die europäischen Kolonial­herren und die USA aus dem Land zu treiben.

In Liverpool erhielt Frank Hornby ein Patent auf seinen Metallbaukasten «Meccano». Obwohl als Spielzeug deklariert, hatten nicht alle Kinder Freude an den gestanzten Blechteilen und ­Verstrebungen, die ihnen Kenntnisse in der ­Montagetechnik mittels Schrauben, Muttern und Rädern vermitteln sollten. Weil meistens die Väter ihre technischen Fähigkeiten demonstrierten, wurden aus den Buben später doch keine ­berühmten Ingenieure.

Berühmt wurden H. G. Wells mit «The First Men in the Moon», Arthur Schnitzler mit ­«Lieutenant Gustl» und Thomas Mann mit den «Buddenbrooks».
Den erstmals 1901 vergebenen Nobelpreis für Literatur erhielt jedoch der Franzose Sully ­Prudhomme. Der Physiker Wilhelm Röntgen erhielt die Auszeichnung für die Entdeckung der Röntgenstrahlen, der Mediziner Emil von Behring für seine Serumtherapie zur Behandlung der Diphtherie und Henry Dunant (Friedens­nobelpreis) für die Gründung des Internationalen Roten Kreuzes.

Nicht berücksichtigt wurde der Psycho­analytiker Sigmund Freund, der in den folgenden Jahren zwölfmal nominiert, aber nie auszeichnet wurde. Er publizierte 1901 sein Werk «Zur ­Psychopathologie des Alltagslebens», in dem er unter anderem den «freud’schen Versprecher» untersuchte, den er für einen «Mechanismus des Unterbewussten» hielt. Ein freud’scher Versprecher wäre zum Beispiel: Wenn Sie im Hochsommer ein Hotelzimmer mit defektem Ventilator betreten und seufzen: «Ich brauche jetzt dringend einen Vibrator».

© Basler Zeitung; 27.05.2016

Sun, fun and nothing to do

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Als Freischaffender müsste ich das bedingungslose Grundeinkommen grossartig finden. Jeden Monat ein kleiner Literaturpreis. Ich müsste dafür nicht einmal in die Tasten hauen. Man erhält eine Leistung ohne Gegenleistung. Geld aus dem Nichts. Nun ist es so, dass die Schweizer Bevölkerung nicht ausschliesslich aus Musikern, Dichtern, Malern und Philosophen besteht. Sonst gebe es ja kein Publikum…

Ein Blick auf die »sauglatten« Kampagnenfotos lässt erahnen, dass die Initianten die gewohnte Rundumversorgung von Hotel Mama nun mit Papa Staat fortsetzen wollen. Ein Bild zeigt einen lachenden jungen Mann auf einem Plastikauto, das für Dreijährige konzipiert ist, andere Bilder zeigen vergnügte Skifahrer auf einem Berg von Einräpplern. Sehen wir das Drama des verwöhnten Kindes? Oder ist es vielleicht ein Hinweis auf die »Weiterbildungen«, die dank dem bedingungslosen Grundeinkommen möglich sein werden? Wie wärs mit einem Weinkurs in den Rebbergen der Toskana?

Leider fehlt den Initianten die Erfahrung, dass zwei Wochen Toskana wesentlich mehr Spass machen, wenn man sich den Aufenthalt zuvor verdient hat. Bewegende Kunst entsteht nicht im Schlaraffenland. Es ist kein Zufall, dass Secondos die reifere Literatur schreiben.

Ich wage die Prognose, dass die »kreative Klasse« bei einer Annahme der Initiative langfristig nicht glücklich würde. Von der Gesellschaft nicht mehr gebraucht zu werden, kann auch deprimierend sein, ein Leben in Zuckerwatte ist nicht so sexy.  Wer sich von anderen aushalten lässt, verliert Würde und Selbstbewusstsein. Wenn Scheitern ausgeschlossen ist, verliert auch der Alltag seinen Reiz.

Wer Geld ohne Gegenleistung erhält, entwickelt mit der Zeit eine Frustration und eine Wut ausgerechnet gegen jene, die seine Utopie verwirklicht haben. Die nächste Forderung wäre eine Erhöhung des bedingungslosen Monatszahlungen, notfalls erhöht man die Mehrwertsteuer, wieso nicht gleich um 25 oder 50 Prozent? Kostet ja nichts, bezahlt der Staat. Wieso nicht gleich massive Steuererhöhungen für all jene, die weiterhin arbeiten? Ein Solidaritätsbeitrag für Coach Potatoes? Aber für Konzerte, Kinos und Sportveranstaltungen müssten die Pioniere für eine neue Wirtschaftsordnung Preisreduktionen erhalten. Schliesslich erhalten auch Rentner Rabatte. Und ist das bedingungslose Grundeinkommen nicht eine Form der Frühverrentnerung?

Ich halte die Initiative für eine Bankrotterklärung: Man will Geld, das man nicht verdient hat, man will das Geld der andern. Man will Geld von einer Gesellschaft, zu der man noch kaum etwas beigetragen hat. Wohlstandsverwahrlosung als Zukunftsmodell.

In Deutschland brechen 70 Prozent der jugendlichen Migranten ihre Berufsausbildung frühzeitig ab, weil die Tiefstlöhne bei Mc Donalds immer noch höher sind als die Lehrlingslöhne. In der Schweiz bleiben freie Stellen in der Landwirtschaft unbesetzt, obwohl 27.000 Migranten und Flüchtlinge im arbeitsfähigen Alter nicht arbeiten. Die Zahlungen der Sozialhilfe sind höher als die Löhne auf dem Bauernhof.

Werden 2500 Franken Jugendliche nicht dazu verführen, der Arbeitswelt fernzubleiben, bevor sie diese überhaupt betreten haben? Wieso soll ein Jugendlicher, der bisher 3000 verdiente, weiterarbeiten, wenn sein bisheriger Fulltimejob lediglich 500 mehr im Monat einbringt? Grundeinkommen plus Schwarzarbeit für 500 wären wohl naheliegend.

Der Slogan, dass alle gleichviel erhalten sollen, klingt nach ultimativer Gerechtigkeit. Das mag, falls überhaupt, für Gesunde gelten, aber ist es auch gerecht für weniger Gesunde?

Wahrscheinlich interessieren sich die vorwiegend jugendlichen Initianten nicht für Behinderte und Pflegebedürftige. Ist es mangelnde Empathie, Egoismus oder eine verminderte Wahrnehmung der Realität ausserhalb der »kreativen Klasse«?

Rudolf Strahm, ehemaliger Preisüberwacher und SP Nationalrat, schrieb vor einigen Wochen: »Nicht jeder hat den gleich hohen Sozialbedarf. Die 367’000 Ergänzungsleistungsbezüger der Schweiz benötigen das Zwei- und Dreifache des versprochenen Grundeinkommens von 2500 Franken pro Monat. Die über 100’000 Pflege- und Betreuungsbedürftigen in den Heimen kosten durchschnittlich 8700 Franken pro Monat. Da reicht das verheissene Grundeinkommen nirgends hin.«

Die Initianten interessieren sich nicht für Kollateralschäden, solange ihre Bedürfnisse befriedigt werden. Jeder, der in der Schweiz lebt, und jeder, der noch in die Schweiz kommt, soll Anrecht auf dieses bedingungslose Grundeinkommen haben. Die Schweiz wäre das einzige Land in der EU. Sie ist schon jetzt das attraktivste, sie wäre danach noch attraktiver. Wieviele Menschen leben in der EU? 508 Millionen?

Weltweit leben weit über eine Milliarde Menschen in Armut, verdienen weniger als einen Franken pro Tag. Mit dreihundert Franken im Monat kann man in der Dritten Welt ganze Grossfamilien in den unteren Mittelstand hieven. Millionen von jungen Männern würden aus sicheren Ländern aufbrechen, um ins Paradies zu gelangen. Man könnte es den Millionen Wirtschaftsmigranten nicht einmal verübeln, ich würde es auch versuchen. Aber wie viele Millionen würden es sein? Nicht einmal die Hälfte der 194 Länder bzw. Staaten, entsprechen unseren Vorstellungen von Freiheit und Demokratie. Also wäre theoretisch der halbe Erdball asylberechtigt, wenn er in seiner Heimat den Militärdienst verweigert. Schwer zu sagen, was sich die Initianten dabei gedacht haben. Mir fällt nichts ein.

Gut möglich, dass das bedingungslose Grundeinkommen eines Tages in einer vollroboterisierten Gesellschaft diskutiert werden muss. Aber zum jetzigen Zeitpunkt ist die Initiative eine Schnapsidee. »Sun, Fun and nothing to do« muss sich noch gedulden.

(c) 2016 Basler Zeitung

#chronos (1965)

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«If you’re going through hell, keep going», sagte der Mann, der zwei Weltkriege überlebte und als britischer Premierminister seinem Volk «Blut und Tränen» versprach. Winston Churchill starb im Alter von 91 Jahren. Er war eine der grossen ­Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts. Für sein historisch-biografisches Werk erhielt er den Nobelpreis für Literatur (1953), seine Lebens­weisheiten gehören heute zu den besten Zitaten seiner Zeit. Vielleicht mit Ausnahme von «No sports». Über die muslimische Welt äusserte er sich unterschiedlich: «Der Einfluss der Religion paralysiert die soziale Entwicklung. Es gibt in der Welt keine rückwärtsgewandtere Kraft.»

In Frankreich wurde General Charles de Gaulle («L’état, c’est moi»; das Zitat stammt ursprünglich vom Sonnenkönig Ludwig XIV.) erneut zum Staats­präsidenten gewählt. «Der Staat bin ich», ist auch heute noch eine sehr beliebte Selbsteinschätzung von weiblichen und männlichen Staatschefs, die gerne über die Köpfe der Parlamente hinweg ­entscheiden. Auf Kuba war es auch die Devise von Fidel Castro. 1965 wurde die Vereinigte Partei der Kubanischen Sozialistischen Revolution (PURSC) in die Kommunistische Partei Kubas (PCC) umbenannt. Den Alltag der Menschen hat es nicht ­wirklich verbessert.

Grossflächige Stromausfälle gab es nicht nur auf Kuba, sondern 1965 auch im Nordosten der USA und in Teilen Kanadas. Für dreissig Millionen Menschen dauerte die Nacht einen ganzen Tag. Neun Monate später wurde ein Babyboom registriert. Vielleicht wären staatlich ­verordnete Stromausfälle die Lösung für Europas ­Überalterung.

Stromausfälle gab es auch in der DDR, aber da 1965 die Antibabypille eingeführt wurde, blieb der Bevölkerungszuwachs bescheiden. Das mag auch daran liegen, dass immer mehr Menschen den «antifaschistischen ­Schutzwall» (Mauer) ­überwanden, um dem ­Diktat der «Abschnitt­sbevollmächtigten« zu ­entkommen. Eine mögliche Wiederaufforstung der Arbeiterklasse wurde also durch die Einführung der Pille eher behindert.

Während sich die DDR-Flüchtlinge, abgesehen von der Freiheitsliebe, keines Verbrechens ­schuldig gemacht hatten, lag der Fall bei Ronald Biggs etwas anders. Dem legendären Posträuber gelang es, mit einer Strickleiter die Gefängnismauern des Londoner Wandsworth-Gefängnisses zu überwinden und mit einem von Komplizen geparkten Möbelwagen eine filmreife Flucht ­hinzulegen. Er verbrachte die nächsten 30 Jahre in Rio und verdiente sein Geld mit Werbung für Alarmanlagen.

In den europäischen Kinos sorgte ein anderer Ganove für Aufsehen: Auric Goldfinger wollte die Goldbestände der USA in Ford Knox radioaktiv verseuchen, damit der Wert seines eigenen ­Golddepots in die Höhe schnellt. In diesem dritten Bond-Film musste Sean Connery das ­internationale Währungssystem retten, das damals noch an Gold gekoppelt war. Obwohl Goldfinger gegen Ende durch den Druckabfall im Flugzeug durch das zersplitterte Kabinen­fenster gesaugt wird, liegt der Unzenpreis nicht mehr bei 35, sondern mittlerweile bei rund 1280 Dollar.

Die Beatles setzten ihren kometenhaften ­Aufstieg fort und veröffentlichten mit «Help» ihr fünftes Album. Die gleichnamige Single erreichte weltweit die Chartspitzen. Ähnlich wie bei «With A Little Help From My Friends», das erst mit der archaischen Interpretation des stimmgewaltigen Joe Cocker dem Text gerecht wurde, erlangte «Help» erst mit der grossartigen Coverversion von Krokus die berührende Tiefe, die man bei der leichtfüssigen Beatles-Darbietung kaum ­wahrgenommen hatte.

When I was younger, so much younger than today, I never needed anybody’s help in any way.

Claude Cueni ist Schriftsteller und lebt in Basel.

www.cueni.ch

© Basler Zeitung; 13.05.2016

Faust Gottes


Sie nennen ihn liebevoll «Pacman», den kleinen Boxer mit dem grossen Kämpferherzen, den Aufsteiger aus den Slums von General Santos City im Süden der Philippinen. Als Emmanuel Dapidran Pacquiao (37) Mitte der achtziger Jahre mit dem Boxen begann, musste er Geld verdienen, um seine Familie zu ernähren. Er sammelte leere Flaschen im Müll. Für seinen ersten Fight erhielt er zwei Dollar.

Seitdem schreibt er Sportgeschichte. In acht Gewichtsklassen wurde er Weltmeister. Letztes Jahr verdiente er laut Forbes 160 Millionen Dollar und besass eine halbe Milliarde Vermögen. Das US-Magazin Time nahm ihn 2009 in das Ranking der hundert einflussreichsten Persönlichkeiten auf. Selbst Boxlegenden wie Muhammad Ali sind von seinem schnellen, aggressiven Stil begeistert, von seinem erbarmungslosen Nachsetzen, wenn der Gegner zu taumeln beginnt. «Pacman» prügelt sich wie ein Strassenkämpfer durch den Ring. Wenn er boxt, sitzt die Nation vor dem TV. Die Kriminalitätsrate sinkt dann auf nahezu null.

Am 9. April dieses Jahres besiegte er in der legendären MGM Grand Garden Arena von Las Vegas Timothy Bradley und verkündete anschliessend seinen Rücktritt vom Boxsport. Er wolle sich ab jetzt seiner Politkarriere widmen. Sie hatte 2010 begonnen, als er nach einer ersten, misslungenen Kandidatur mit 80 Prozent der Stimmen zum Regierungschef der südlichen Provinz Sarangani gewählt und Abgeordneter im Kongress geworden war.

«Anarchie der Familien»

Jetzt hat er die nächste Stufe der Karriereleiter erklommen. Vor drei Tagen wurde er in den Senat gewählt, in sechs Jahren darf er für das Amt des Staatspräsidenten kandidieren. Er hat gute Chancen, denn die geringe Institutionalisierung der Parteien führt oft zu spontanen Parteiwechseln. Die Wähler entscheiden sich nicht für Parteien, sondern für Celebrities oder für Mitglieder der elitären Grossfamilien, die seit Jahrhunderten Politik und Gesellschaft dominieren und oft auch Gatten und Kinder an den Schaltstellen der Macht platzieren.

Pacquiaos Ehefrau Jinkee ist bereits Vizegouverneurin der Provinz Sarangani, und niemand zweifelt daran, dass auch ihre fünf Kinder früher oder später politische Ämter bekleiden werden. Die «Anarchie der Familien» führt dazu, dass die reichen Clans ihren Nachwuchs gleich durchnummerieren, wie das bei Herrschern üblich ist (und bei Päpsten üblich war). Der amtierende Präsident Benigno Aquino III. «erbte den Thron» von seiner Mutter Corazon Aquino. Sie war die Ehefrau von Benigno Aquino Jr., der als Oppositionsführer erschossen worden war. Nicht ungewöhnlich für ein Land, das in den letzten zwölf Jahren während der Wahlkämpfe jeweils 120 bis 310 Tote zu beklagen hatte. Nicht umsonst nennt man die Philippinen den «Wilden Westen Asiens».

Pacquiao hat seine Politikkarriere minutiös geplant, mittlerweile behauptet er, Gott habe das entschieden. Der liebe Gott war nicht immer präsent im Leben dieses Mannes, der von klein auf erfahren musste, dass es angesichts der erbärmlichen Armut in seinem Land weder einen barmherzigen noch einen allmächtigen Gott geben konnte. Seinen kometenhaften Aufstieg feierte das Energiebündel mit ausgelassenen Partys, reichlich Alkohol und als rastloser Frauenheld.

Doch eines Tages war schlagartig Schluss, wie sein damaliger Trainer Freddie Roach dem britischen Guardian erzählte : «He doesn’t party any more, doesn’t drink anymore, doesn’t fuck around with girls no more.» Was war geschehen, dass Pacquiao plötzlich auf Partys, Alkohol und One-Night-Stands verzichtete?

Ob es unmittelbar nach einem besonders harten linken Haken in einem Boxkampf geschah, ist nicht bekannt – auf jeden Fall berichtet Pacquaio mit kindlicher Begeisterung, dass er zwei Engel erblickt habe – weiss, mit grossen Flügeln. Dann sei ihm auch noch der Chef persönlich erschienen, Gott. Pacquiao suchte keinen Neurologen auf, sondern legte den Rosenkranz seiner erzkatholischen Mama Dionisia beiseite und wurde evangelikaler Christ. Seitdem ist er per du mit dem Allmächtigen und beginnt angeblich zu zittern, wenn er seine Ankunft spürt. Pacquiao sagt, dass er jetzt viele Träume und Visionen habe, deshalb wolle er sich seit Beendigung seiner Boxkarriere nur noch nach den Befehlen Gottes richten.

So wie mancher Kettenraucher nach erfolgreichem Entzug militanter Nichtraucher wird, mutierte Lebemann Pacquiao zum ultrareligiösen Eiferer, zum militanten Prediger. Er ersetzte Trainerlegende Roach durch den Prediger Dudley Rutherford und zitiert seitdem in jedem Interview religiöse Kalendersprüche. Das ist beinahe schiefgegangen. Im Februar verpasste sich Pacquiao mit einer Bemerkung fast selbst einen K.-o.-Schlag. In einem Fernsehinterview behauptete er, dass Homosexuelle «schlimmer als Tiere» seien. Er erlebte darauf einen Shitstorm. In einer Umfrage danach verlor er vorübergehend 12 Prozentpunkte.

Pacquiao entschuldigte sich darauf eher halbherzig. Doch dann läutete er eine weitere Runde ein und sagte, er habe nur die Bibel zitiert: Homosexuelle verdienten gemäss der Bibel den Tod. 3. Mose 20,13. Punkt. Er habe nur die Wahrheit gesagt, die Wahrheit aus der Bibel, und er würde nur Gottes Befehl gehorchen.

Amerikanische Sportgrössen distanzierten sich von «Pacman». Hauptsponsor Nike nannte die Äusserungen «absolut widerwärtig» und kündigte mit sofortiger Wirkung die Zusammenarbeit: «Wir haben keine Beziehung mehr zu Manny Pacquiao.» Andere Sponsoren zogen nach. Für den grössten privaten Steuerzahler der Philippinen war dies freilich nur ein kleiner Parkschaden.

Religiöse Eiferer sind selten konsequent. Es ist nicht überliefert, ob Gott Pacquiao eingeflüstert hatte, Steuern zu hinterziehen. 2009 schuldete er dem Steueramt rund 300 Millionen Dollar, seine Konten wurden eingefroren, das Steuergericht verfügte einen Pfändungsbeschluss. Aber selbst als man ihn längst überführt hatte, stritt Pacquiao alles ab: «Der Herr ist mein Licht und mein Heil; vor wem sollte ich mich fürchten?» (Psalm 27,1)

Konvertiten aller Couleurs vereint die Vehemenz, mit der sie ihre neue, extremistische Ideologie vertreten. Es ist, als ob sie befürchteten, auch von diesem neuen Glauben wieder abzufallen. So wie Wahhabiten genau nach dem Leben des Propheten leben wollen, aber dennoch Mobiltelefone benützen und sich die Zähne bei Ungläubigen flicken lassen, so will auch Pacquiao die Bibel nicht als Patchwork aus geschichtlichen Ereignissen und historisierenden Mythen verstehen, sondern als genaue Anleitung für ein Leben im 21. Jahrhundert.

Gegen Sexualaufklärung

Was man von einem Senator Pacquiao in den nächsten sechs Jahren erwarten darf, darauf weist sein Leistungsausweis als Kongressabgeordneter hin. Obwohl die Philippinen gemäss Unicef zu jenen zehn Ländern gehören, die am meisten mangelernährte Kinder unter fünf Jahren aufweisen, opponierte Pacquiao gegen jegliche Form von Geburtenkontrolle und Sexualaufklärung: Die Überbevölkerung sei gottgewollt. Mit solchen Einsichten wurde er zum religiösen Maskottchen der kirchlichen Institutionen. Mit Genugtuung nahmen sie zur Kenntnis, dass Pacquiao die Kandidatur von Rodrigo Duterte für das Amt des neuen Staatspräsidenten nicht unterstützen wollte. Duterte hatte den Papst einen Hurensohn genannt. Doch wenige Tage vor dem Urnengang wechselte Pacquiao ins Lager des umstrittensten Kandidaten. Schliesslich will er ihn in sechs Jahren im Präsidentenamt beerben.

Einige Medien kritisieren, dass Pacquiao nicht die geringste Ahnung von den zu behandelnden Dossiers habe und sich mehr für seine Karriere als Sänger, Model, Schauspieler und Prediger interessiere. Ein Journalist schrieb, er finde das nicht so schlimm. Als Kongressabgeordneter sei «Pacman» an nur vier von 179 Sitzungen erschienen. Er hoffe, dass Pacquiao auch als Senator nicht öfter erscheinen werde.

Claude Cueni ist Schriftsteller und lebt in Basel. In seinem zuletzt erschienenen Roman «Pacific Avenue» beschreibt er zwei Reisen auf die Philippinen, eine im Jahre 1521 an Bord von Magellans «Trinidad» und eine im Jahre 2015 zu seiner philippinischen Verwandtschaft.

© Die Weltwoche; 12.05.2016; Ausgaben-Nr. 19; Seite 54

Der Dirty Harry der Philippinen

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Der Inselstaat wählt einen neuen Präsidenten: Er wird wohl Rodrigo Duterte heissen

Von Claude Cueni

Manila. Morgen Sonntag finden in der «ältesten Demokratie Südostasiens» Wahlen statt. Letzten Herbst hatten sich 130 Kandidaten für das Amt des philippinischen Staatspräsidenten beworben, vier sind noch im Rennen. In Führung liegt Rodrigo Duterte (71) mit 33 Prozent. 22 Jahre lang war er Bürgermeister von Davao City und hat in seinen sieben Amtszeiten die kriminellste Stadt der Philippinen in die sicherste Stadt des Landes verwandelt. Er lehnte die Nomination für den «World Mayor Prize» mit der Begründung ab, er habe nur seinen Job getan. Sein Lieblingsausdruck ist «Fuck you».

Wer ist dieser «tough-talking mayor», der in aufreizender Lässigkeit auftritt, an Wahlkampfveranstaltungen von Zehntausenden Menschen wie ein Rock- star gefeiert wird und sich mit einer MP auf dem Cover des Hochglanzmagazins Esquire Philippines abbilden lässt? Die Financial Times nennt ihn «Dirty Harry», Al Jazeera «The Punisher».

«Digong» nennen ihn die Filipinos, und sie glauben ihm, was er sagt, und was er sagt, lässt Demokraten erbleichen. Duterte verspricht den Menschen nicht weniger als die Befreiung der Philippinen von Korruption und Kriminalität innerhalb von sechs Monaten. In einem Fernsehinterview konfrontierte ihn die Moderatorin mit den Vorwürfen der Justizministerin, wonach er in Davao City für die Morde der Todesschwadronen verantwortlich sei.

«Ja», antwortete Duterte gelassen, «wir haben Davao gesäubert. Wenn einer in meine Stadt kommt und ein Kind vergewaltigt, erschiesse ich ihn.» Sollte er Präsident werden, wird er am ersten Tag eine Warnung an alle Kriminellen abgeben, «stop it, right now!», und anschliessend jeden öffentlich hängen, der weiter mit Drogen dealt. Süchtigen bietet er hingegen das modernste Rehab-Zentrum des Inselstaates an.

Die tägliche Korruption
Seinen ersten Konkurrenten, Vizepräsident Jejomar Binay, muss er nicht mehr fürchten. Binay ist in einen Korruptionsskandal verwickelt, er fiel auf 17 Prozent zurück. Korruption ist im korruptesten Land Asiens Lifestyle, «daily business». Der Clan steht über den Gesetzen, es herrscht die «Anarchie der Familien», Nachfahren werden wie Herrscher und Päpste durchnummeriert. Auch für den nächsten Konkurrenten, den früheren Innenminister Mar Roxas II. (58), hat Duterte nur Spott übrig. Roxas II., der steinreiche Enkel des ehemaligen Präsidenten Manuel Roxas (1946–1948), kauft Stimmen für 500 Pesos (circa 10 Franken) und im grossen Stil Facebook-Likes aus Russland und China. Acht Milliarden Dollar internationaler Hilfsgelder für die Opfer des Taifuns Yolanda (2013) sind in seinem Büro verschollen. Er liegt bei 22 Prozent.

Dutertes dritter Gegner ist eine Frau: die Senatorin Grace Poe (48). Sie erlebte einen Shitstorm, als sich ihre angeblich erfolgreiche Businesskarriere in den USA als Halbtagesjob in einer Montessori-Schule entpuppte. The Manila Times nannte sie «The Fake», die Fälschung. The Philippine Inquirer titelte: «Zero Performance». Jetzt sind Grace Poe Werte von 35 auf 21 Prozent gesunken und «Dirty Harry» zieht allen davon, obwohl er kein Fettnäpfchen auslässt. Er macht sexistische «Witze», nannte den Papst einen Hurensohn und den blutrünstigen Diktator Ferdinand Marcos (1965–1986) gar den «besten Präsidenten, den die Philippinen je hatten».

Die Politanalystin Lourdes Tiquia erklärt Dutertes überraschenden Erfolg damit, dass er es geschafft hat, sich als einzige Alternative zum unglaublich korrupten Establishment zu positionieren. Während die Oligarchen Roxas II. und Binay in luxuriösen Villen leben und ihre Wahlkampfhelfer gut bezahlen, arbeiten mittlerweile über eine halbe Million Filipinos ehrenamtlich für ihren «Digong» und drucken auf eigene Kosten Poster und T-Shirts. Duterte verspricht nicht Kontinuität, er verspricht den radikalen Wandel. Er lebt in einem bescheidenen Haus, tritt in kaputten Schuhen auf und verzichtet auf jede «Kostümierung». Freddie Aquilar, der philippinische Bob Dylan, hat ihm einen Wahlkampfsong gewidmet. Alles, was in der Film- und Musikbranche einen Namen hat, steht geschlossen hinter dem Mayor.

Carlos Conde von Human Rights Watch in the Philippines sieht Dutertes Popularität als Folge des totalen Zusammenbruchs von Recht und Ordnung und sorgt sich um die Menschenrechte. Dan Mariano, ein Politanalyst in Manila, schreibt, dass die unglaubliche Kriminalität die Menschen traumatisiere und dass Duterte auf diesem Gebiet einen aussergewöhnlichen Leistungsausweis habe. Nur ihm traut man zu, ein «game-changer» zu sein, einer, der das Spiel dreht.

Bewaffnete Konflikte
Auf den zukünftigen Präsidenten warten herkulische Aufgaben. Laut Unicef zählen die Philippinen zu den zehn Ländern weltweit, welche die höchste Anzahl an fehlernährten Kindern unter fünf Jahren haben. 22 Millionen Menschen sind täglich von Hunger betroffen. Das ist erstaunlich, denn eigentlich könnten die Philippinen mit einer BIP-Wachstumsrate von über sechs Prozent eine florierende Volkswirtschaft sein. Doch der Reichtum erfasst nicht die breiten Schichten: Fast die Hälfte der 110 Millionen Einwohner lebt unter der Armutsgrenze, die Überbevölkerung hat groteske Ausmasse erreicht. Zu allem Übel stemmt sich die katholische Kirche mit ihrem Medienimperium gegen jegliche Form von Geburtenkontrolle und Sexualaufklärung.

Eine weitere Baustelle sind die zahlreichen bewaffneten Konflikte auf der südlichen Insel Mindanao: Die kommunistische New People’s Army (NPA), der bewaffnete Arm der kommunistischen Partei der Philippinen (CPP), entführt seit 46 Jahren laufend Armeeangehörige und Polizisten. 13 Tage vor der Wahl begab sich «Dirty Harry» ins Rebellenlager und kam mit fünf entführten Polizisten zurück.

Ein permanentes Ärgernis sind auch die islamistischen Abu-Sayyaf-Terroristen, Verbündete des Islamischen Staates. Sie haben vor einigen Tagen eine kanadische Geisel geköpft. Seit 1991 hat Abu Sayyaf mehrere Tausend Menschen verletzt, entführt, getötet, enthauptet oder in die Luft gesprengt.

Auch aussenpolitisch wird der neue Präsident gefordert sein. Die Philippinen sind der wichtigste Standort für die Abhörstationen der National Security Agency (NSA) im pazifischen Raum. Obwohl die beiden Pachtverträge bereits 1991 gekündigt wurden, sind die USA immer noch stationiert. Sie haben ein Argument in der Höhe von 500 Millionen überwiesen. Auf den sich ab-zeichnenden Sieg Dutertes reagierten sie letzten Monat mit einer millionenschweren Medienkampagne gegen den «Donald Trump der Philippinen».

Auch die Chinesen sind mittlerweile hellhörig geworden. Duterte will die von China beanspruchten Spratly-Inseln im Alleingang zurückerobern. Die Marine soll ihn mit einer philippinischen Fahne auf der Insel absetzen. Der chinesische Marineadmiral Wang Kang Shang kommentierte, man könne phi­lippinische Fischer wegschicken, auch die philippinische Navy könne man wegschicken, aber nicht den Präsidenten der Philippinen. Darauf sei China nicht vorbereitet.

In den letzten Umfragen sämtlicher Institute und Online-Medien führt Duterte wenige Tage vor der Wahl immer noch mit grossem Abstand. Seine Gegner sind im Panikmodus und wechseln eilig ins Duterte-Lager. Teddy Locsin, Starmoderator beim News Chanel The World Tonight (ABS-CBN) sagt: «Das Land ist in Anarchie versunken. Nur noch ein Cäsar kann das Problem lösen.» Duterte sei der Einzige, der sich noch nie bereichert habe.

Aber auf den Philippinen fallen Entscheidungen nicht immer an der Urne. 1983 wurde Oppositionsführer Aquino II. auf dem Flughafen erschossen. In den letzten Tagen wurden der Stadtrat Heinrich Apostol, der Vizebürgermeister Ronaldo Lucas und einer von Dutertes Wahlkampfmanagern erschossen. Bei jeder Wahl in den letzten zwölf Jahren wurden durchschnittlich 120 bis 310 Menschen getötet. In Cebu gibts gemäss Cebu Daily NewsAuftragskiller für 45 Dollar.

Häufiger ist Wahlbetrug, wie man ihn der früheren Präsidentin Gloria Macapagal-Arroyo (2001–2010) nachträglich aufgrund von Telefon­mitschnitten nachgewiesen hat. Seit Montag melden Expats aus Kalifornien, Japan, Hongkong, Kuwait und Dubai programmierten Wahlbetrug. Kreuzt man auf dem Wahlzettel «Duterte» an und schiebt ihn in den Smartmatic-Automaten, steht auf der ausgedruckten Wahlquittung manchmal der Name «Roxas II.». Auf Nachfrage von CNN Philippines gestand die Wahlkampfkommission (Comelec), sie habe die Software und die Hardware der Wahlautomaten immer noch nicht zertifiziert, obwohl jugendliche Hacker bereits demonstriert hatten, wie einfach sich die Automaten manipulieren lassen. Der CEO der Comelec ist Andy D. Bautista, der ehemalige Wahlkampfmanager von Roxas II. Letzten Herbst hatte er Grace Poe und Duterte auf Drängen von Roxas II. von der Wahl ausgeschlossen und später nach Protesten wieder zugelassen.

Angriff in der Zielgeraden
Für den Fall, dass Roxas II. den Wahlsieg erschwindelt, drohen die Duterte-Wähler mit einer Neuauflage der gewaltfreien People Power Revolution (Edsa), die 1986 den Diktator Ferdinand Marcos (mit acht Milliarden im Handgepäck) ins Exil getrieben hat. Die kommunistische New People’s Ar- my (NPA) droht gar mit Revolution. Anonymus will alle Regierungsrechner lahmlegen, falls Präsident Aquino III., wie angekündigt, einen Wahlsieg Du- tertes nicht respektiert.

Am Montag gab es einen letzten Versuch, Duterte noch auf der Zielgeraden zu bodigen. Senator Trillanes IV. be.hauptete, Duterte habe ein Schwarzgeldkonto mit 221 Millionen Pesos. Die Anwälte beider Seiten trafen sich zum Showdown in den Räumlichkeiten der Bank of the Philippine Islands (BPI). Dutertes Kontostand betrug umgerechnet 325 Franken, auf dem Dollarkonto hatte er 5021 Dollar, eine Zahlung oder einen Kontostand von 221 Millionen Pesos hat es nie gegeben. Trillanes IV. gibt nicht auf. Er prophezeit bei einem Sieg Dutertes einen Militärputsch, weil der Major die Kommunisten in Min­danao an der Regierung beteiligen will. Fortsetzung folgt.

In Erwartung eines Duterte-Sieges brachte gestern eine verängstigte Dealerin Drogen im Wert von 1,7 Millionen Peso auf einen Polizeiposten in Dumaguete City (Negros Oriental). Sie hatte die Warnung des «Punishers» gehört: «Stop it, right now! Or I kill you.» Disiplina Duterte.

Claude Cueni ist Schriftsteller und lebt in Basel. In seinem zuletzt erschienenen Roman «Pacific Avenue» beschreibt er zwei Reisen auf die Philippinen, eine im Jahre 1521 an Bord von Magellans «Trinidad» und eine im Jahre 2015 zu seiner philippinischen ­Verwandtschaft.

Weitere Artikel über die Philippinen:

Weltwoche, Dezember 2015, »Gott wird weinen«

 

#chronos (1970)

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Die Arschkarte. 1970 entschied sich die Duden­redaktion, dieses feminine Substantiv in ihren mittlerweile zwei Milliarden Worte umfassenden Sprachkorpus aufzunehmen. Die «Arschkarte» wurde nach Einführung der Roten Karte im ­Fussball populär. Um Verwechslungen zu ­vermeiden, bewahrten die Schiedsrichter die Gelbe Karte in der Brusttasche, die Rote Karte in der Gesässtasche und zogen fortan nach grobem Foulspiel die «Arschkarte». Wenn heute jemand vom Pech verfolgt ist, sagt er: «Ich habe die ­Arschkarte gezogen.»

Die deutschen Fernsehzuschauer konnten ab 1970 die Tagesschauen von ARD und ZDF in Farbe empfangen. Was sie nun in Farbe sahen, war aber genauso unerfreulich wie das, was sie zuvor in Schwarz-Weiss gesehen hatten: US-Präsident Richard Nixon kündigte in einer Fernseh­ansprache den Angriff auf Kambodscha an, in Ohio wurden vier Anti-Vietnam-Demonstranten von Nationalgardisten erschossen, palästinen­sische Terroristen töteten neun israelische ­Schulkinder, Swissair-Flug 330 wurde Opfer eines Terroranschlags, in Deutschland wurde die ­Terrorgruppe Rote Armee Fraktion gegründet und die «marxistisch-leninistische demokratische Front zur Befreiung Palästinas» verübte ein ­Attentat auf Jordaniens König Hussein I. und bescherte dem Land einen verlustreichen ­Bürgerkrieg («Schwarzer September»).

Im friedlichen Teil der Welt begeisterte man sich nach drei depressiven Weinjahrgängen für den sensationellen 70er Bordeaux in Saint-Emilion und Pomerol. Der 1970er Château Pétrus gilt heute gar als Jahrhundertwein. Genauso erfolgreich war der Jahrgang der Film- und Musikproduktionen.

Alain Delon, André ­Bourvil, Yves Montand und Gian Maria Volonté waren die «Vier im roten Kreis». Mit dem epischen Gangsterfilm schuf Jean-Pierre Melville einen Klassiker, der sowohl in Europa als auch in Amerika begeisterte. Kultregisseur Michelangelo Antonioni drehte mit dem Roadmovie «Zabriskie Point» eine Hommage an die 68er-Bewegung, während Arnold Strong in den europäischen Kinos als «Herkules» sein Filmdebüt gab und ­später als Arnold Schwarzenegger Weltruhm erlangte.

1970 erhielt der Erfinder Douglas C. Engelbart ein Patent auf einen «X-Y-Positions-Anzeiger für Bildschirmsysteme», das heute der Einfachheit halber «Maus» genannt wird. Die Firma Apple lizenzierte in den 80er-Jahren diese «Maschine-Mensch-Schnittstelle» und brachte sie als Kugelmaus erstmals in ihrem Rechner «Lisa» auf den Markt. Trotz grosser Werbekampagne scheiterte der Rechner. Er war zu teuer.

Erfolgreichere Werbung betrieb Jägermeister: «Ich trinke Jägermeister, weil mir Roland tatsächlich nur seine Briefmarkensammlung gezeigt hat.» Gezeigt wurde eine hübsche, junge Frau mit einer offenen Flasche Jägermeister und einem Glas. Nachträglich für Ironie sorgt auch die VW- ­Werbung von 1970: «Es gibt noch Dinge, auf die man sich verlassen kann.»

Sex sells. Die britische Boulevardzeitung The Sun druckte erstmals ein Seite-drei-Girl auf der Frontseite und steigerte damit die Auflage um sage und schreibe 40 Prozent. Ob das den heute weltweit grassierenden Auflagenschwund der Printmedien stoppen könnte?

Nicht mehr aufzuhalten war die Trennung der «Fab Four» aus Liverpool. Zehn Jahre hatten ­ausgereicht, um eine der grössten Rockbands aller Zeiten zu werden und mit 200 Songs Musikgeschichte zu schreiben. Mit «Let It Be» brachten die zerstrittenen Pilzköpfe John Lennon und Paul McCartney ihre Abschieds-LP doch noch zustande.

For though they may be parted

There is still a chance that they will see

There will be an answer

Let it be

#chronos (1966)

 the-good-the-bad-and-the-ugly-il-buono-il-brutto-il-cattivo.9123 mao beattles-1966_3318771b frauenstimmrecht1920 simon-and-garfunkel-bookends 

«We’re mo­re po­pu­lar than Je­sus now.» Als John Len­non in ei­nem In­ter­view mit dem Lon­do­ner Eve­ning Stan­dard sag­te, sie sei­en nun po­pu­lä­rer als Je­sus, boy­kot­tier­ten Ra­dio­sta­tio­nen die ­Bea­tles Songs; re­li­gi­öse Fa­na­ti­ker ver­brann­ten öf­fent­lich ih­re Al­ben. Für die Pu­ber­tie­ren­den der 60er-Jah­re ein kla­res Kaufsi­gnal. Die Bea­tles do­mi­nier­ten gleich mit meh­re­ren Singles die in­ter­na­tio­na­len Charts.

Mit den «Vier Al­ten» mein­te Mao Ze­dong nicht die «Fab Four» aus Li­ver­pool, son­dern die Pfei­ler der «Gros­sen Pro­le­ta­ri­schen Kul­tur­re­vo­lu­ti­on»: al­te Denk­wei­sen, al­te Kul­tu­ren, al­te Ge­wohn­hei­ten, al­te Sit­ten. Al­les soll­te zer­schla­gen wer­den. Voll­stre­cker wa­ren die Ro­ten Gar­den, die ­Tau­sen­de von Men­schen tö­te­ten, Stadt­be­woh­ner ver­trie­ben, Woh­nun­gen plün­der­ten und fast 5000 his­to­ri­sche Stät­ten für im­mer zer­stör­ten. In Tei­len Chinas herrsch­te Bür­ger­krieg. Ein­mal mehr ­schei­ter­te der Ver­such, die Rea­li­tät ei­ner Ideo­lo­gie an­zu­pas­sen, die der Na­tur des ­Men­schen wi­der­spricht.

In der Schweiz er­hiel­ten nach den Kan­to­nen Neu­en­burg und Waadt auch die Bas­le­rin­nen das Stimm- und Wahl­recht. Dass die Schweiz als ei­nes der letz­ten eu­ro­päi­schen Län­der das Frau­en­stimm­recht ein­führ­te, lag we­ni­ger an den an­geb­lich «hin­ter­wäld­le­ri­schen Schwei­zern», son­dern ein­fach dar­an, dass in al­len üb­ri­gen Län­dern das Frau­en­stimm­recht nicht nach ei­ner de­mo­kra­ti­schen Volks­ab­stim­mung ein­ge­führt wur­de, son­dern von oben dik­tiert wor­den war.

Von oben dik­tiert wur­de auch, was auf den In­dex Li­brorum Pro­hi­bi­torum («Ver­zeich­nis der ver­bo­te­nen Bü­cher») kam. Das war ein Ver­zeich­nis der rö­mi­schen In­qui­si­ti­on aus dem Jah­re 1559, das fort­wäh­rend ­ak­tua­li­siert wur­de und zu­letzt 6000 ver­bo­te­ne Bü­cher ­auf­lis­te­te. 1966 wur­de der In­dex ein­ge­stellt, da Ka­tho­li­ken trotz der an­ge­droh­ten Ex­kom­mu­ni­zie­rung wei­ter­hin die ver­bo­te­nen Lie­bes­ge­schich­ten von Balzac und Du­mas la­sen.

Gros­ses ver­kün­de­te auch die UNO mit ih­rem Men­schen­rechts­pa­ket über bür­ger­li­che und po­li­ti­sche Rech­te so­wie über wirt­schaft­li­che, so­zia­le und kul­tu­rel­le Rech­te. Wahr­schein­lich ist das ei­ne oder an­de­re man­gel­haft über­setzt wor­den. An­ders ist nicht zu er­klä­ren, dass aus­ge­rech­net 2015 der sau­di­sche Bot­schaf­ter Fai­sal bin Hassan Trad zum Vor­sit­zen­den ei­ner Be­ra­ter­grup­pe des UN-Men­schen­rechts­rats ge­wählt wur­de.

Bad Guys wur­den auch im Ki­no po­pu­lär. In Ser­gi­os Leo­nes «Zwei glor­rei­che Ha­lun­ken», (Il buo­no, il brut­to, il cat­ti­vo) spiel­te Clint East­wood den wort­kar­gen Kopf­geld­jä­ger, den na­men­lo­sen De­spe­ra­do, der zum An­ti­hel­den des Jahr­zehnts wur­de. Nach Be­en­di­gung sei­ner Dol­lar-Tri­lo­gie woll­te Leo­ne sei­nen neu­en Star für die Hauptrol­le von «Spiel mir das Lied vom Tod» ver­pflich­ten. Die fi­nan­zi­el­len Er­war­tun­gen von Clint East­wood wa­ren aber so, dass sich Ser­gio Leo­ne nach ei­nem har­ten Re­de­du­ell für den da­mals kaum be­kann­ten Charles Bron­son ent­schied.

Ein 18-jäh­ri­ger Schü­ler er­schoss in Ari­zo­na sechs Frau­en. Bei sei­ner Fest­nah­me sag­te er, er ha­be be­rühmt wer­den wol­len. Wie hiess er schon wie­der?

Auf den Thea­ter­büh­nen be­schimpf­te Pe­ter Hand­ke sein Pu­bli­kum («Pu­bli­kums­be­schimp­fung»), wäh­rend Fried­rich Dür­ren­matts «Me­te­or» die Erdat­mo­sphä­re er­reich­te. Im US-Fern­se­hen star­te­te die TV-Se­rie «Star Trek» (Raum­schiff En­ter­pri­se), die bis 1969 erst­aus­ge­strahlt wur­de; in den in­ter­na­tio­na­len Charts er­schie­nen un­zäh­li­ge Ohr­wür­mer, die heu­te Klas­si­ker der Pop Ge­schich­te sind: «Paint It Black», «Pa­per­back Wri­ter», «Sum­mer In The Ci­ty», «The Last Train To Clarks­ville», «Mon­day Mon­day», «Rai­ny Day Wo­man», «The Sound of Si­lence»:

«Hel­lo dar­kness, my old fri­end

I’ve co­me to talk with you again.»

Panini sei Dank

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© Die Weltwoche; 14.04.2016

Es gibt einen ganz speziellen Grund, weshalb ich auch als Erwachsener hinter Panini-Alben her bin. 

Als ich kürzlich das neue Panini-Album «Uefa Euro 2016» kaufte, fragte die Kioskverkäuferin: «Bilder?» – «Keine Bilder», antwortete ich, «nur das leere Album.» Ich sah ihr förmlich an, wie sich ihre Schläfenarterien verengten und sie angestrengt darüber nachdachte, wer von uns beiden heute Morgen seine Pillen vergessen hat.

Normale Menschen besorgen sich ein Panini-Album und kaufen dann so lange Bilder, bis das Album voll ist. Manchmal verzweifeln die Schüler an fehlenden Bildchen und bieten für einen Ronaldo ein Date mit der grossen Schwester an. Aber ein Panini-Album ist wesentlich mehr, kann wesentlich mehr sein; das hängt natürlich vom Abstraktionsvermögen des Betrachters ab. Für mich waren Panini-Alben immer der ultimative Beweis dafür, wieso Hardcore-Sozialismus weder als Brettspiel noch in der realen Welt funktioniert: Panini, das ist die Jagd nach Trophäen, das Sammeln, der Wettlauf gegen die andern, der Wunsch, der Erste zu sein, der das Album bis auf den letzten Kicker vollgeklebt hat. Jagen und Sammeln sind (nach dem unstillbaren Fortpflanzungstrieb) zwei jener Urinstinkte, die den Menschen antreiben, seit er von den Bäumen runtergestiegen ist und den aufrechten Gang geprobt hat, um sich einen ersten Überblick über seine neuen Jagdgründe zu verschaffen. Würde der Staat jedem Bürger bedingungslos ein leeres Album und ein komplettes Set an Bildchen nach Hause liefern, wäre der Spass nur halb so gross. Man mag später den Hochzeitstag vergessen, aber das erste Panini-Album, das vergisst man nie.

Die Gebrüder Panini tricksen nicht

Ich besorgte mir 1970 mein erstes Panini-Album, «Mexico». Damals waren die Alben noch gratis, hinterlistige Marketingstrategen hatten gerade mal das «Anfixen» erfunden und dadurch manches Haushaltsbudget während der Weltmeisterschaften in Schieflage gebracht. Ich konnte mir keine Bildchen leisten, erhielt aber aus Mitleid von meinen Mitschülern dreimal Víctor Espárrago von Nacional Montevideo, weil es diesen schmalgesichtigen Uruguay-Stürmer in Panini-Form angeblich öfter gab als Fussballgott Pelé oder den Rechtsaussen (ist sportlich gemeint) Jairzinho. 1970 war nicht nur die Geburt des ersten WM-Panini-Albums, sondern auch die Geburt des Gerüchts, laut dem die Gebrüder Panini tricksen würden. Angeblich seien Superstars seltener als No-Name-Kicker. Das Gerücht hielt sich derart hartnäckig, dass die Mathematiker Sylvain Sardy und Yvan Velenik von der Universität Genf der Sache mit wissenschaftlichen Methoden auf den Grund gingen. Wenig überraschend war die Erkenntnis, dass es sich beim allerersten Bild nie um eine Doublette handelt. Mit jedem eingeklebten Sticker sinkt natürlich die Wahrscheinlichkeit, ein fehlendes Bild zu ergattern. Um zu testen, ob alle 640 (bis 660) Bilder mit derselben Regelmässigkeit auftauchen, kauften die Wissenschaftler zwölf Boxen à hundert Päckchen mit jeweils fünf Bildern, also insgesamt 6000 Sticker. Das Ergebnis war für Verschwörungstheoretiker eine herbe Enttäuschung: Jeder Spieler kam neun Mal vor. Die Panini-Gruppe, die heute mit rund tausend Mitarbeitern in über hundert Ländern einen Umsatz von zirka 800 Millionen Euro erzielt, trickst also nicht.

Tauschhandel dringend empfohlen

Da Verschwörungstheorien nebst Kochen und Fitness zu den neuen Ersatzreligionen des 21. Jahrhunderts gehören, hält sich das Gerücht dennoch weiterhin. Aber die Wissenschaft hatte es schon immer schwer gegen Gläubige und Abergläubische.

Für die ersten 550 Bildchen benötigt man gemäss den beiden Mathematikern 233 Tüten, für die nächsten neunzig Abziehbildchen weitere 233 Tüten. Das gilt auch für die allerletzten drei fehlenden Bildchen. Somit ist Tauschhandel dringend empfohlen.

Aber mit wem sollte ich meine drei Víctor Espárragos tauschen? Dafür kriegte ich höchstens einen Ersatzspieler aus der damaligen Sowjetunion. Aber mein eigentliches Problem war Julius Cäsar. Wegen einer Zwei in Latein (grosszügig aufgerundet) wurde mein mitleiderregendes Panini-Album zwischen Kartoffelschalen und Kaffeesatz versenkt, Mülltrennung hatte die Dudenredaktion noch nicht ins Wörterbuch aufgenommen. Trotz dieser gutgemeinten erzieherischen Massnahme endete mein «De bello Gallico» bei Bibracte. Ich interessierte mich darauf mehr für Frauenfussball, aber eher ausserhalb des Spielfeldes. 1990, Italien, da schlug ich richtig zu, nicht aus Trotz, sondern weil mein achtjähriger Sohn vom Fussballfieber besessen war. Wir gingen zum nächsten Kiosk, und er blickte voller Bewunderung zu mir hoch, als ich die Kioskfrau fragte: «Wie viele Boxen haben Sie an Lager? Drei? Wir nehmen alle drei.»

«Habe ich jetzt zwei Kinder?», fragte meine (2008 verstorbene Frau), als wir erhobenen Hauptes nach Hause zurückkamen. Ich erklärte ihr, dass wir all diese Bildchen brauchten, um unseren Sohn für das tägliche, mehrstündige Reha-Programm zu motivieren. Nach kurzer Zeit brauchte es bereits zwei Bilder für eine Reha-Stunde, und kurz bevor mein Sohn alles hinschmeissen wollte, kapitulierte ich und schmiss, wie damals Vercingetorix sein Schwert, ihm die letzte Box vor die Füsse. Als das Album voll war, gab es Schwierigkeiten mit der Motivation. Später lernte ich, dass Kinder, die fürs Malen bezahlt werden, rasch den Spass an der Sache verlieren, während Kinder, die ohne Bezahlung malen, die Freude am Malen behalten. Parallelen zur Kulturförderung sind rein zufällig.

1994 war mein Sohn schon ein bisschen aus dem Alter heraus, ich noch mittendrin – vermutete jedenfalls die Kioskfrau, denn ich kaufte immer noch bei jeder WM das neue Panini-Album. Aber ab 1994, «USA», wieder ohne Bildchen.

Es war ein Italiener aus Mailand, der schliesslich hinter mein dunkles Geheimnis kam. «Ist es Zufall», fragte er, «dass in Ihrem Vatikanthriller ‹Gehet hin und tötet› fast alle Kardinäle und Mafiosi die Spielernamen der italienischen Nationalmannschaft von 1990 haben?»

Ich gestand ihm, dass ich die Namen für meine Film- und Romanfiguren den Panini-Alben entnehme, jeweils zwei Spielernamen für einen Romannamen. Von Salvatore Schillaci (Juventus) nahm ich den Vornamen, von seinem damaligen Klubkollegen Roberto Baggio den Nachnamen; Luigi De Agostini gab dem Vertrauten des Papstes den Vornamen, Franco Baresi von der AC Milan einem Mafioso den Nachnamen, und so erhielten alle Figuren beim ersten gedanklichen Casting ihre Namenstaufe.

Das ist der wahre Grund, wieso ich heute noch Panini-Alben kaufe. Zu oft gab es in den Fernsehredaktionen Diskussionen, weil ihnen ein russischer oder schwedischer Name eher spanisch vorkam. In solchen Situationen fragte ich jeweils scheinheilig in die Runde, ob nicht ein Ronald Koeman 1990 für die holländische Nationalmannschaft gespielt habe, Koeman sei doch ziemlich holländisch wie auch de Boer oder de Goey.

Wie sage ich es der Kioskdame?

Natürlich müsste ich heute keine Panini-Alben mehr kaufen. Sucht man zum Beispiel nach philippinischen Vor- und Nachnamen, googelt man die Liste der Senatoren in Manila oder die der Angestellten der Stadtverwaltung von Bacolod oder abonniert gleich das E-Paper des Philippine Daily Inquirer. Zwei Personen ergeben jeweils einen Namen, das ist nach wie vor Standard. Da aber nicht alle Kulturen unsere Schriftzeichen haben, bleiben Panini-Alben weiterhin integraler Bestandteil einer seriös geführten Autorenbibliothek.

Das alles hätte ich gerne der Kioskdame erklärt, aber hinter mir drängten ein paar fiebrige Jungs, die dringend Bildchen kaufen mussten.

© Die Weltwoche; 14.04.2016

 

#chronos (1976)

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«Warum willst du den Job?»

«Ich kann nachts nicht schlafen», antwortete der «Taxi Driver» Travis Bickle (Robert De Niro) im gleichnamigen Film von Martin Scorsese. Der preisgekrönte und kontrovers diskutierte Film zeigte die psychische Deformation von «Gottes einsamstem Mann», das Abgleiten von Frustration in einen zerstörerischen Wahn: «Hört zu, ihr Wichser, ihr Scheissköpfe. Hier ist ein Mann, der sich nicht mehr alles gefallen lässt.»

Aufsehen erregte 1976 auch eine Studie der US-Regierung, wonach weltweit pro Kopf 12 330 Dollar für Rüstungsgüter und nur gerade mal 129 Dollar für Schulbildung ­ausgegeben ­werden.

Erkenntnisse anderer Art erlangte ein ­Unterausschuss des US-Senats in der Lockheed- Affäre: Angehörige der Geschäftsführer des ­Flugzeugbauers hatten insgesamt 22 Millionen Bestechungsgelder bezahlt, um den Verkauf von Militärflugzeugen «argumentativ» zu unterstützten. Die Millionenbeträge waren an «Volks­vertreter» nach Deutschland, Italien und Japan ­geflossen und hatten Rücktritte und Verur­teilungen zur Folge. In den Niederlanden wurde Prinz Bernhard gezwungen, alle öffentlichen ­Ämter abzugeben. Der Partylöwe bestritt stets, 1,1 Millionen Dollar Schmiergelder erhalten zu haben. Nach seinem Tod wurde es öffentlich: Er hatte doch.

«Das Dogma ist weniger wert als ein Kuhfladen», hatte der chinesische Diktator ­philosophiert, der 1976 von geschätzten 1,5 Millionen Menschen zu Grabe getragen wurde. Wie gross die Wunden sind, die der kommunistische Staatsgründer und Massenmörder Mao Zedong mehreren Generationen zugefügt hat, zeigte ein Ereignis im Jahre 2016: In der Provinz Hanan wurde eine gigantische Mao-Statue von 37 Metern Höhe errichtet. Bereits nach wenigen Tagen war sie zerstört. Von Vandalen sagten die einen, wegen einer fehlenden Baubewilligung sagte die Regierung.

1976 ereignete sich in den Produktionshallen der italienischen «Todesfabrik» (La Republica) Icmesa eine Explosion. Erst nach neun Tagen ­meldete die Eigentümerin Hoffmann-La Roche/Givaudan die Zusammensetzung der Giftwolke: Dioxin. Inzwischen waren in Seveso die Blätter der Bäume vergilbt und Haustiere gestorben. Über 600 Menschen wurden evakuiert, die Zahl der Missgeburten vervierfachte sich darauf. Die ­Ursachen des bisher grössten Giftgasunglücks der ­Nachkriegszeit waren mangelhafte Technik und unqualifizierte Hilfskräfte. Roche weigerte sich, Entschädigungen in Höhe von 300 Millionen zu bezahlen. Die ersten Todesopfer kommentierte der damalige Roche-Chef Adolf Jann so: «Die Frau, die leider gestorben ist, litt unter Asthma.» Erst nach einem Jahr zahlte Roche 30 Millionen in einen «Soforthilfefonds»: «Wir haben nicht die Absicht, die Schulden der ganzen Lombardei zu bezahlen.»

Ein ganz anderes Gift besang die Rockband Eagles auf ihrem fünften Album. War der Song «Hotel California» eine Metapher für die Drogensucht, ein Hotel, das scheinbar jeden Wunsch erfüllt und aus dem es kein Entrinnen mehr gibt?

«You can checkout any time you like, but you can never leave!» Songwriter Don Felder schrieb später in seiner Autobiografie, «Hotel ­California» sei immer das, was die Menschen darin sehen möchten.

1976 gründeten Steve Jobs, Steve Wozniak und Ronald Wayne mit einem Startkapital von 1300 Dollar die Garagenfirma Apple. Wayne stieg am nächsten Tag gleich wieder aus. Wer zu früh geht, den bestraft das Leben auch. Aber wieso «Apple»? Wozniak schrieb in seiner Auto­biografie, dass Jobs gerade eine Apfeldiät machte und der Name dann vor dem Konkurrenten Atari im Telefonbuch stehen würde.

»Schweiz entköppeln«

IMG_0967Das Theater Neumarkt rief zur nationalen „Ent-Köppelung“ auf, um mit Flüchen den bösen Geist des Julius Streicher aus der Seele von Weltwoche Chef Roger Köppel zu vertreiben. Wer ist Julius Streicher?

Julius Streicher (1885 – 1946) war ein furchtbarer Nazi, der selbst Mitgliedern der NSDAP zu rechtsextrem war. Das NSDAP-Mitglied war Herausgeber des antisemitischen Hetzblattes „Der Stürmer“ und leitete ab 1933 das „Zentralkomitee zur Abwehr der jüdischen Greuel- und Boykotthetze“, 1935 publizierte Streicher das Plakat „Todesstrafe für Rassenschande“. Nach Kriegsende wurde er wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zum Tod verurteilt und hingerichtet. Wer zwischen Streicher und Köppel keinen Unterschied sehen will, trivialisiert die grauenhaften Verbrechen der Nazis.

Einer, der sich wie Roger Köppel gerne exponiert und provoziert, bietet seinen Gegnern genügend Angriffsflächen für substanstielle Kritik. Es gehört jedoch zum Repertoire populistischer Kulturschaffender, jeden rechtskonservativen Journalisten mit Nazischurken gleichzusetzen. Ein „rechter Journalist“ ist stets einer, der rechts vom eigenen Standort steht. Wer sich einredet, er verfüge über die moralische Lufthoheit, braucht keine Argumente, er kann sich mit launischen Stammtischparolen begnügen und erntet im eigenen Umfeld stets Applaus.

Mit dem Wortspiel „ent-köppeln“ ist wahrscheinlich „ent-köpfeln“, bzw „ent-haupten“ gemeint. Die Besucher der Homepage werden eingeladen, ihr geliebtes Hassobjekt zu verfluchen. Zur Auswahl standen unter anderem folgende Flüche: Querschnittlähmung, Ebola, Verkehrsunfall. Die Initianten versprachen, den Wünschen der Abstimmungsteilnehmer nachzukommen… Ist das nun Satire, geschmacklose Satire oder bereits ein Fall für die Gerichte? Man stelle sich den Aufschrei bei vertauschten Rollen vor. Welchen historischen Vergleich würden die Initianten ziehen, wenn plötzlich Rechtsextreme zum Marsch auf das Theater Neumarkt in Zürich blasen würden?

Köppel-Bashing ist sehr beliebt, weil es absolut ungefährlich ist und die Initianten zu ernsthaften Kandidaten für kulturelle Auszeichnungen macht. Gefährlicher wäre eine Satire gegen Islamisten, die in Schweizer Innenstädten Hetzschriften (»Buch der einfachen Rechtswissenschaft“) verteilen, die zur Ermordung von Juden, Schwulen und Ungläubigen aufrufen. Aber was die Initianten antreibt ist eben nicht die Sorge um unseren demokratischen Rechtsstaat, sondern das Bemühen um Publicity ohne Leistung.

Es braucht gerade für Kulturschaffende wesentlich mehr Mut, diese Aktionen zu kritisieren, als mit einer selbstverliebten Herde zu blöcken, die jeden Kritiker in den eigenen Reihen als 1/16 Nazi diffamiert und exkommuniziert.

Wir alle lesen Artikel, die uns nerven, vielleicht nervt auch dieser Text, aber man muss ihn nicht zu Ende lesen und wenn man es dennoch tut, muss man ihn aushalten und dabei nicht vergessen, dass Andersdenkende, die sich innerhalb des demokratischen Spektrums artikulieren, keine Feinde sind, sondern einfach Leute, die, aus welchen Gründen auch immer, andere Ansichten vertreten.

Nachtrag: Uebrigens: 500.000 Likes (oder Flüche) gibts für einige hundert Dollar. Sollte für ein subventioniertes Theater kein Problem sein.

© 2016 Blick

#chronos (1948)

Bildschirmfoto 2016-03-11 um 04.15.32«Falls andere das können, kannst du es auch.» Bill Rosenberg (1916–2002), Sohn jüdischer Einwanderer, hatte nach dem Krieg Fabrikarbeiter in Boston mit Snacks und Kaffee beliefert. Als er 1948 bereits zweihundert Catering-Fahrzeuge im Einsatz hatte, eröffnete er die Imbissbude «Open Kettle» (Offene Kanne). Er servierte Donuts mit bunten Fett-Zucker-Glasuren, aber nicht in den üblichen fünf Variationen, sondern in 52 ­verschiedenen Ausführungen. Zwei Jahre später nannte er seinen Betrieb «Dunkin’ Donuts». Heute arbeiten 120 000 Mitarbeiter in 55 Ländern für das Franchise-Unternehmen und Homer Simpson schwärmt immer wieder: «Mmmm, donuts.»

Ein bekennender Donuts-Liebhaber, der sich sogar mit Donuts ablichten liess, war auch US-Präsident Harry S. Truman, der 1948 in seinem Amt ­bestätigt wurde. Er hatte zuvor die Rassen­trennung in den Streitkräften aufgehoben und den Marshallplan unterschrieben, der 5,3 Milliarden Dollar für den Wiederaufbau Europas ­freimachte. Mit den Geldern sollten aber auch neue Absatzmärkte geschaffen und die kommunistische Expansion eingedämmt werden.

Eine halbe Milliarde ging an Deutschland, das im Zuge der Währungsreform die Reichsmark durch die D-Mark ersetzte. Eine Folge davon war die Strafblockade Westberlins durch die ­Sowjetunion. Die Alliierten errichteten eine ­Luftbrücke und versorgten die Berliner aus der Luft. Nebst Nahrungsmitteln brachten die «Rosinenbomber» auch die erste Nummer des Wochenmagazins Stern und die erste Nummer der Masturbationsvorlage Quick unter die Leute. Die Sekretärin des Chefredaktors war Traudl Junge. Kurz vor ihrem Tod diktierte sie ihre ­Memoiren. Der Titel war: «Bis zur letzten Stunde. Hitlers Sekretärin erzählt ihr Leben».

Die neuen Grenz­ziehungen nach dem Zweiten Weltkrieg schafften die Grundlage für zahlreiche neue Kriege. Der UN-Teilungsplan konnte die jüdisch-arabischen Spannungen erwartungs­gemäss nicht entschärfen. Kurz vor Beendigung des britischen Mandats verlas Ben-Gurion am 14. Mai 1948 die israelische Unabhängigkeits­erklärung. Bereits am nächsten Tag griff eine ­arabische Allianz, bestehend aus Ägypten, Syrien, Libanon, ­Jordanien und dem Irak, den neuen Staat an. Sie ­wiesen den UN-Teilungsplan zurück, ­bestritten das Existenzrecht Israels und wollten die neuen Nachbarn vernichten.

Nicht minder kriegerisch ging es in ­Griechenland zu. Hier tobte ein Bürgerkrieg ­zwischen Regierungstruppen und kommunistischen Rebellen, die von der Sowjetunion ­unterstützt wurden. Auch Asien kam nicht zur Ruhe. In China marschiert Maos Volksbefreiungsarmee in die Mandschurei ein; Korea wurde in zwei Staaten aufgespalten: Im Norden terrorisierte fortan die totalitäre «demokratische» ­Volksrepublik ihre Bürger, im Süden wurde die Republik Korea (Südkorea) ausgerufen. Auch die Aufteilung von Britisch-Indien in ein muslimisch dominiertes Pakistan und ein hinduistisch ­geprägtes Indien führte zu kriegerischen ­Auseinandersetzungen um den ehemaligen ­Fürstenstaat Kaschmir. Dabei kam der ­berühmteste Pazifist seiner Zeit ums Leben: der 78-jährige Anwalt, Asket, Revolutionär und «religiöse Atheist» Mahatma Gandhi fiel einem ­Attentat zum Opfer.

1948 brachte der deutsch-französische ­Regisseur Max Ophüls (1902–1990) den Film «Brief einer Unbekannten» in die US-Kinos. Der Film basierte auf der Novelle eines anderen ­Pazifisten: Stefan Zweig (1881–1942). Er war an der «Zerstörung seiner geistigen Heimat Europa» verzweifelt und hatte sich mit einer Überdosis Veronal sechs Jahre zuvor in Brasilien das Leben genommen.

#chronos (1948) Folge 35

#DunkinDonuts #Israel #rosinenbomber #StefanZweig #quick

Die ersten 50 chronos Folgen erscheinen Ende Jahr in Buchform

#chronos (1979)

chronos1979«Und sie bewegt sich doch!» 1979 setzte Papst Johannes Paul II. eine Kommission ein, um nach dreieinhalb Jahrhunderten die Rehabilitierung von Galileo Galilei (1564–1642) zu prüfen. Nach Jahren intensiver Forschung kamen die ­vatikanischen Ermittlungsbehörden zum Schluss, dass dem toskanischen Gelehrten Unrecht ­geschehen war und dass die Erde doch ziemlich rund ist. Einige Islamgelehrte wie Bandar ­al-Khaibari predigen heute noch, dass die Erde stillsteht. Wissenschaftliche Erkenntnisse müssen stets gegen die Religion erkämpft werden.

«1979» hatte auch für die islamische Welt eine grosse Bedeutung. Es entspricht dem Jahr 1400 des islamischen Kalenders. Gemäss Überlieferung beginnt dann die «Endzeit». Schah Mohammad Reza Pahlavi, der Schah von Persien, setzte sich in Begleitung von Kaiserin Farah Diba ins Ausland ab und überliess den Pfauenthron dem 77-jährigen Religionsführer Ayatollah ­Khomeini. Dieser hob die seit fünfzig Jahren ­geltende Säkularisierung wieder auf, führte die Scharia ein und entzog den Frauen alle Rechte, die sie einst im Zuge der «Weissen Revolution» erhalten hatten.

Auch in Nicaragua wurde ein Alleinherrscher gestürzt. Sandinistische Revolutionstruppen ­marschierten in der Hauptstadt Managua ein und beendeten die 35-jährige Diktatur des Somoza- Clans. Der letzte Somoza floh mit seinem ­Generalstab nach Florida. Die mit grotesker ­Brutalität ­regierende Somoza-Dynastie hatte fast die gesamte ­Wirtschaft des ­Landes unter ihre Kontrolle gebracht. ­Aufgrund ihrer ­antikommunistischen ­Haltung waren sie lange von den USA unterstützt und an der Macht gehalten worden.

Auch in Kambodscha wurde ein Diktator gestürzt: Pol Pot. Die vietnamesische Armee marschierte in Phnom Penh ein und beendete die Terrorherrschaft der ­maoistischen Roten Khmer, die beim Versuch, das Land in eine »blühende kommunistische Zukunft« zu führen, rund zwei Millionen ­Menschen umgebracht hatten. Viele flohen. Ein Frachtschiff nahm die ersten vietnamesischen Flüchtlinge auf und rettete über 11 000 von ihnen vor dem Ertrinken und dem Hungertod. Das Schiff hiess »Cap ­Anamur« und gab der Hilfsorganisation deutscher Notärzte den Namen.

Friedlicher endete die Abspaltung des ­nördlichen Juras vom Kanton Bern nach 165-jähriger Zugehörigkeit. Ganz so gewaltfrei verliefen die Geburtswehen des 26. Schweizer Kantons allerdings nicht: Der Separatist Christophe Bader hatte vor dem Berner Rathaus eine Bombe zünden wollen. Der Sprengsatz detonierte frühzeitig. Er wurde nicht in Stücke gerissen, sondern von der Wucht der Explosion getötet. Als seine Mutter in der Aufbewahrungshalle in Saignelégier vom «letzten Schweizer Terroristen» Abschied nahm, fragte sie den toten Sohn: «Warum hast du das getan? War das dein Leben wert?»

Sowjetische Truppen landeten in Kabul und setzten eine neue kommunistische Führung ein. Es war erst der Auftakt zu einem ­langjährigen Konflikt der das Vietnam der ­Sowjetunion ­werden sollte. Nach dem Abzug 1989 folgte bald einmal ein Bürgerkrieg und der Aufstieg der ­Taliban.

In den USA startete der erste Star-Trek-­Kinofilm: «Wieso arbeiten die Transporter der Enterprise nicht, Mr. Scott?» Marlon Brando ­brillierte in «Apocalypse Now» («Wie nennt man das, wenn Mörder Mörder anklagen?») und ­Ridley Scott inszenierte seinen ersten «Alien». Einer der bedeutendsten Surrealisten des 20. Jahrhunderts hatte das Monster erschaffen: der Schweizer H. R. Giger. Nach dem Oscar­gewinn (1980) erhielt er in der Heimat keine grosse Ausstellung mehr. Erfolg hat viele Neider.

© Basler Zeitung – Claude Cueni ist Schriftsteller und lebt in Basel.

#chronos (1958)

 

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«Spiel gut», riet der dänische Kunsttischler Ole Kirk Christiansen seinem Sohn Godtfred, als er ihm in den 30er-Jahren Holzbauklötze zum Spielen gab. Am 28. Juli 1958 meldete sein ­mittlerweile erwachsener Sohn das Steckprinzip für Spielbausteine zum Patent an. Als Markenname wählte er «Leg godt» (dt.: «Spiel gut»). ­Daraus wurde auf dem Patentamt das besser ­verständliche «Lego». Der Konzern erwirtschaftet heute einen Jahresumsatz von ca. 3,4 Milliarden Euro. Trotz einiger Produkteflops und Shitstorms von Gender-Expertinnen und Umweltaktivisten bewerfen auch heute noch Kinder ihre nicht erziehbaren Eltern mit Lego-Bausteinen und ­zwingen ihre Grosseltern, auf allen vieren nach vermissten Einzelstücken zu suchen.

Auf Spurensuche war auch Mount-Everest-Bezwinger Edmund Hillary, als er den Gipfel erreichte. Er hielt Ausschau nach Hinweisen auf eine eventuell frühere Ersteigung durch die vor 29 Jahren in Gipfelnähe verschollene ­Seilschaft von Mallory und Irvine. Er fand angeblich ­keinerlei Spuren. Einem Zweifler sagte er, dass es nicht darauf ankomme, wer als Erster oben war, sondern wer als Erster wieder unten war, lebendig.

Während auch in Europa während des «Kalten Krieges» Gefriertemperaturen erreicht wurden, erstarkte die Friedensbewegung und marschierte im weltweit ersten «Ostermarsch» auf das Gelände des Kernwaffen­forschungs-Zentrum in Aldermaston (Grossbritannien). Die ­«Campaign for Nuclear ­Disarmament» hatte dazu ­aufgerufen und dem britischen Künstler und Kriegsdienstverweigerer Gerald Herbert Holtom (1914 – 1985) den Auftrag erteilt, ein Logo zu entwerfen. Sein­ ­«Peace»-Zeichen wird heute weltweit als Friedenssymbol verwendet.

Weniger Probleme mit dem Kriegsdienst hatte Elvis Presley, der mit dem Truppentransportschiff General Randall in Bremer­hafen anlegte, um als Soldat einer ­Panzereinheit bei der in Deutschland stationierten US-Armee Wehrdienst zu leisten. Der damals grösste Star der Rock- und Popkultur wurde bei seiner Ankunft von kreischenden Fans frenetisch begrüsst.

Selfies waren noch nicht möglich. In Deutschland kam gerade das erste Autotelefon in den ­Verkauf, es kostete allerdings noch die Hälfte eines Neuwagens. Für Deutschland bedeutsamer war das neue Gleichstellungsgesetz, das Frauen fortan erlaubte, auch ohne die Zustimmung des Ehemannes einen Beruf auszuüben. Da Frauen nun weniger Zeit zum Kochen haben würden, brachte Knorr eine Fertigsuppe mit Champignons auf den Markt, «die wirklich den höchsten ­Anforderungen entspricht».

Den höchsten Anforderungen genügte auch der bisherige Ministerpräsident Charles de Gaulle, den die Franzosen mit grosser Mehrheit (78 Prozent) zum französischen Staats­präsidenten ­wählten. Charles de Gaulle bezeichnete sich selbst als Monarchist: «Je suis un ­monarchiste, la ­République n’est pas le régime qu’il faut à la France.»

«Einer allein fährt manchmal ohne Ziel herum. Zwei zusammen haben meistens ein Ziel» war eine Dialogzeile aus Alfred Hitchcocks ­«Vertigo» mit James Stewart und Kim Novak. Der Film wurde seinerzeit von Filmkritikern als «weit hergeholter Unsinn» bezeichnet und ist heute auf der S&S Liste als einer der besten Filme aller Zeiten aufgeführt. Jede Expertenschaft ist relativ.

Absolut sicher waren sich hingegen die ­Experten bei der Einschätzung eines 17-jährigen Brasilianers, der im WM-Finale gegen Schweden (2:5) zwei Tore zum Sieg beitrug. Nach 1283 Toren in 1364 Spielen sagte Fussballgott Pelé: «Ein Leben ohne Fussball kann ich mir nicht ­vorstellen. Ich hoffe, man kann auch im Himmel Fussball spielen…»

© Basler Zeitung 12.1.2016

#chronos (2008)

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Am 8. Januar 2008 rief der demokratische Senator Barack Obama anlässlich einer Rede im Bundesstaat New Hampshire zum ersten Mal: »Yes, we can!« Obwohl sein Wahlkampfmanager den Slogan »Change can believe in« festgelegt hatte, setzte sich der aus der Kinder TV Serie »Bob der Baumeister« entliehene Slogan durch. Drehbuchautor und Beatles Fan Keith Chapman (*1959) hatte den Zwischenruf am Ende des Songtextes »All you need ist love« genutzt. Der Slogan »Ja, wir können«, oder sinngemäss »Ja, wir schaffen es«, wurde darauf oft kopiert. Zuletzt von einer deutschen Physikerin, die tatsächlich glaubte, es gebe keine Obergrenzen.

»Yes, we can« muss sich auch Sotheby’s gedacht haben, als sie 2008 an einer Auktion die »Merda d’artista« des italienischen Konzeptkünstlers Piero Manzoni für 132.000 Dollar versteigerte. Der Künstler hatte 1961 neunzig nummerierte Dosen mit jeweils 30 Gramm seiner Fäkalien gefüllt und zum damaligen Goldkurs von 37 Dollar pro Unze verkauft. Piero Manzoni soll von seinem Vater, einem Dosenfabrikanten, dazu inspiriert worden sein als dieser beim Anblick seiner Kunstwerke sagte: »Deine Arbeit ist Scheisse.« Einer der Kunstsammler konnte nicht widerstehen und zerstörte die Dose, um Klarheit zu schaffen. Es war tatsächlich drinn, was draussen draufstand. Die zerstörte Dose wurde nicht wertlos, sondern zu einem neuen Kunstwerk: »Boîteouverte de Piero Manzoni«.

2008 lag der Unzenpreis für »das barbarische Relikt« nicht mehr bei 37 Dollar, sondern bei über 1000 US Dollar pro Feinunze Gold. Tage zuvor hatte die Investmentbank Lehman Brothers Insolvenz angemeldet und der US Börse den höchsten Tageseinbruch seit Bestehen des Aktienindexes beschert. Der Oelpreis stieg auf über 100 US Dollar (zurzeit unter 30). Die US Aufsichtsbehörde musste die vom Bankrott bedrohten Hypothekarbanken Fannie Mae und Freddie Mac retten.

Ein unglaublicher Fall von Inzest erschütterte die Weltöffentlichkeit: In Oesterreich war eine 40jährige Frau befreit worden, die von ihrem Vater 24 Jahre lang in einem Keller festgehalten und vergewaltigt worden war. Sie hatte während ihrer Gefangenschaft sieben Kinder geboren. Zwei Jahre zuvor hatte bereits der Fall der Oesterreicherin Natascha Kampusch ein weltweites Medienecho ausgelöst. Sie war als Zehnjährige entführt und acht Jahre lang festgehalten worden.

»Ich sterbe fast jeden Tag« spottete Fidel Castro in Anspielung an all die misslungenen Mordanschlägen, »das macht mir viel Spass und ich fühle mich dadurch nur gesünder«. Nach 49 Dienstjahren trat der am längsten regierende nichtmonarchische Herrscher des 20. Jahrhunderts von all seinen Aemtern zurück und übergab das Zepter seinem fünf Jahre jüngeren Bruder Raul. Er sollte das sozialistische Einparteiensystem weiterführen, obwohl seine Tauglichkeit längst von der Geschichte widerlegt worden war.

»I’m alone and I deserve to be all alone«, sagte der 56jährige Mickey Rourke in Darren Aronofskys Veteranen Drama »The Wrestler«. Der Film begeisterte 2008 die amerikanischen Kinozuschauer und bescherte dem Ex-Boxer (»Ich wollte wieder ein Mann sein«) einer seiner zahlreichen unerwarteten Comebacks auf der grossen Bühne. Bob Dylan schrieb über Mickey Rourke: »Er kann dein Herz mit einem einzigen Blick brechen.«

Die britische Sängerin Amy Macdonald erreichte mit ihrer Single »Mr Rock & Roll« die Chartsplazierungen im übrigen Europa. Sie besang die narzistische Selfie Generation: »So called Mr. Rock & Roll, Is dancing on his own again, Talking on his phone again«.

Realität versus Ideologie

Jugendliche-belaestigen-Frauen-in-Kairo-Archivbild-Manchmal muss man seine liebgewonnene Ideologie der Realiltät anpassen.

Als Muslima aufgewachsene Femen-Aktivistin Zana Ramadani: «Das Frauenbild, das uns in der Silvesternacht entgegenschlug, wird im gesamten islamischen Kulturkreis gelebt. In Mazedonien, wo ich herkomme, hätte unter Muslimen genau das Gleiche passieren können. Auch in Pakistan oder Bangladesch. In jedem islamischen Land hätte das passieren können und passiert dort auch täglich. Denn die Werte sind schuld an den Geschehnissen. Es sind die Werte des Islam.»

Die Zivilisastionsstufe einer Kultur ist an der Gleichberechtigung von Mann und Frau abzulesen.

#chronos (1954)

randNobelpreisträger Albert Einstein diente gläubigen Christen jahrzehntelang als Beweis, dass selbst die intelligentesten Menschen der Welt an einen Gott glauben. Doch 1954, ein Jahr vor seinem Tod, schrieb Einstein in einem Brief an den Philosophen Erich Gutkind: «Das Wort Gott ist für mich nichts als Ausdruck und Produkt menschlicher Schwächen, die Bibel eine Sammlung ehrwürdiger aber doch reichlich primitiver Legenden«, Religion sei eine «Inkarnation primitiven Aberglaubens». Sein Bekenntnis zum Atheismus wurde 2008 bei Bloomsbury für 207’600 Pfund versteigert und am 18. Oktober 2012 für drei Millionen und 100 Dollar weiterverkauft.

1954 klagte der Science-Fiction-Autor L. Ron Hubbard bei einem Autorentreffen in New York über die schlechte Bezahlung von SF-Autoren. Sein Kollege Harlan Ellison riet ihm, eine Religionsgemeinschaft zu gründen, um wenigstens Steuerbefreiung zu erlangen. Hubbard gründete die Firma «Scientology», nannte sie «Religionsgemeinschaft», seine späteren Mitarbeiter «Geistliche», sein Büro «Kirche» und schuf mit einer Science-Fiction-Story eine milliardenschwere Psychosekte, die labilen Jugendlichen mit überteuerten Kursen das Geld aus der Tasche zieht.

Wesentlich günstiger und unterhaltsamer war der Roman «Der Herr der Ringe», der 1954 in England unter dem Originaltitel «The Lord of the Rings» erschien. Autor John Ronald Reuel Tolkien verkaufte den grossen Klassiker der Fantasy-Literatur mittlerweile über 150 Millionen Mal.

Leider verlief auch das Jahr 1954, wie alle Jahre davor und danach, nicht ohne kriegerische Konflikte. Kaum hatte der Indochina-Krieg mit der Niederlage der Grande Nation geendet, begann Paris einen achtjährigen Kolonialkrieg gegen die algerische Widerstandsbewegung FLN. Die «französische Doktrin» der «schmutzigen Kriegsführung» erlaubte grausamste Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung und kostete rund einer Million Menschen das Leben.

Gemäss der Devise des römischen ­Schriftstellers Flavius Vegetius Renatus (ca. 390 n. Chr.), man müsse für den Krieg rüsten, wenn man den Frieden wolle, zündeten die USA nach «Ivy Mike» (1952), die zweite und bisher stärkste Wasserstoffbombe über dem Pazifik. Sie entsprach der 846-fachen Stärke der Hiroshima-Bombe, war aber noch nicht ausreichend, um den Planeten im Ernstfall gänzlich auszulöschen. Es wird weiter geforscht.

Der Kalte Krieg wurde auf allen Ebenen ­ausgetragen. US-Präsident Dwight D. Eisenhower unterschrieb den «Communist Control Act of 1954», der die Mitgliedschaft und Unterstützung der Kommunistischen Partei unter Strafe stellte. Da im gleichen Jahr mit der Fernsehnorm NTSC das Farbfernsehen eingeführt wurde, konnte man die McCarthy-Prozesse («Sind Sie oder waren Sie jemals…?») auch in Farbe mitverfolgen.

Zum beginnenden Übergewicht der amerikanischen Bevölkerung trug aber nicht nur das stundenlange Glotzen bei, sondern auch die Fastfood-Kette Burger King, die in Miami ihr erstes Schnellimbissrestaurant eröffnete.

Ein historischer Tag war der 11. April 1954. Der britische Programmierer William Tunstall-Pedoe hatte ermittelt, dass dieser Tag der langweiligste Tag des 20. Jahrhunderts gewesen sei, weil an diesem Datum die wenigsten bedeutenden Ereignisse stattgefunden hätten.

Aufregender war hingegen das erste Transistorradio von Texas Instruments, das kurz vor Weihnachten in die Läden kam. Der kleine Regency TR-1 brachte Elvis Presley mit dem alten Blue-Song «That’s All Right» in die Wohnzimmer. Es war der Beginn seiner Jahrhundertkarriere als Rock-’n’-Roll-Star.

Bild: 1954 präsentieren Wissenschaftler der RAND Corporation den Entwurf eines Home Computers, den sie für das Jahr 2004 prognostizieren

Wahlkampf auf den Philippinen

Weltwoche_duterte«Gott wird weinen»

Hier das Original PDF mit allen Bildern.

Claude Cueni

Auf den Philippinen, der ältesten Demokratie Südostasiens, stehen Wahlen an. Der Favorit für das Präsidentenamt rühmt sich, Teil von Todesschwadronen gewesen zu sein. Andere Kandidaten versprechen, mit Ausserirdischen zu kooperieren. Bericht aus einem Land, in dem Recht und Ordnung zusammengebrochen sind. Von Claude Cueni

Jose Larry Maquinana, 41, ist einer von aktuell 130 Kandidaten, die sich für das Amt des philippinischen Staatspräsidenten bewerben. Maquinana hält seine Wahlkampfreden in einem Hakenkreuz-Shirt und verspricht den knapp 100 Millionen Filipinos die stärkste Armee der Welt. Nicht minder irritierend ist Romeo John Ygonia, 51, der sich «Erzengel Luzifer» nennt und von einem mysteriösen Meister erkoren wurde, sein Land zu retten. Einer seiner Konkurrenten ist Allan Carreon, 43, Grillmeister bei der Fastfood-Kette «Wendy’s». Er verspricht, Kontakt zu Ausserirdischen aufzunehmen und sich von diesen beraten zu lassen. Psychiatrische Betreuung würde auch Arturo Pacheco Reyes, 65, brauchen, der sich als Nachkomme Moses sieht, der nun seine Landsleute ins gelobte Land führen wird. Hat ihn etwa Angela Merkel eingeladen?

Von den 130 Bewerbern hatten anfangs nur gerade vier ernsthafte Chancen: der amtierende Innenminister und Investmentbanker Mar Roxas II., Vizepräsident Jejomar Binay, Medienfachfrau Grace Poe und Rodrigo Roa Duterte, der seine Kandidatur erst in letzter Minute einreichte und laut Umfragen bereits in Führung liegt. Die Financial Times nennt ihn «Dirty Harry», Al-Dschasira spricht von ihm als «The Punisher». Duterte, 70, ist Rechtsanwalt und Politiker, arbeitete für Staatsanwaltschaft und Polizei, war 22 Jahre lang Bürgermeister von Davao City und verwandelte während seiner sieben Amtszeiten die kriminellste Stadt der Philippinen in die sicherste Stadt des Landes. Er war noch erfolgreicher als der New Yorker Bürgermeister Rudolph Giuliani III, der in seiner Amtszeit (1994–2001) mit seiner «zero tolerance»-Strategie die Kriminalität um 57 Prozent senkte. Duterte verspricht, die gesamten Philippinen von Korruption und Kriminalität zu befreien, mit Methoden, die Demokraten erbleichen lassen. Aber ist die älteste Demokratie Südostasiens überhaupt ein funktionierender Rechtsstaat?

Manndeckung bei Stimmabgabe

Die Stimmabgabe in den ländlichen Provinzen erinnert eher an die römische Antike, als die Kandidaten auf dem Forum ihre Tische aufstellten und den Bürgern ihre Stimme abkauften. Auf der Insel Negros kostet eine Stimme 250 Peso, also rund 5 Dollar. Der Captain des Barangay, der Gemeindepräsident, geht mit einem Kumpel von Haus zu Haus, verteilt Peso-Scheine und ringt jedem das Versprechen ab, für ihn zu stimmen. In den verarmten Provinzen mit ungenügender Strom- und Wasserversorgung nimmt man das Geld gerne an. Keiner würde es wagen, sein Versprechen am Wahltag zu brechen, bei der Stimmabgabe herrscht enge Manndeckung.

Eigentlich hätten die Filipinos gerne den abtretenden Präsidenten Benigno S.  Aquino III., behalten, aber das Gesetz verbietet eine zweite Amtszeit. Aquino III. ist der Sohn der vom Volk verehrten früheren Präsidentin Corazon Aquino II., die wiederum die Witwe des 1983 auf dem Flughafen erschossenen Oppositionsführers Benigno Aquino Jr. ist. Die Präsidentschaft des abtretenden Aquino III. lief unter dem Motto «Daang Matuwid» – der aufrechte Gang. Er hatte sich vorgenommen, während seiner Regierungszeit die Korruption zu bekämpfen. Gemäss einem früheren Finanzminister beträgt sie 50 Prozent des Staatshaushalts. Im Korruptionsindex von Transparency International belegen die Philippinen Rang 85. Zum Vergleich: Die Schweiz liegt auf Rang 5. Korruption ist auf den Philippinen Lifestyle, daily business. Der Familienclan steht über den Gesetzen, denn verlassen kann man sich nur auf die Familie. Symptomatisch war der «pork barrel»-Skandal im Jahr 2013, der zu landesweiten Demonstrationen führte. Viele Abgeordnete hatten Billionen Peso an Staatsmitteln Scheinorganisationen überwiesen, die wiederum die Billionen Peso diskret an die Abgeordneten zurücküberwiesen. Eine Filipina, die in einem Callcenter in Manila arbeitet, sagt: «Wir nennen unsere Abgeordneten ‹tongress men›: bestechliche Männer. Es ist denen egal, ob wir nichts zu essen haben. Niemand interessiert sich für uns.»

Aufgrund eines korrupten Staatsapparates, fehlender Rechtssicherheit und des Mangels an Sozialsystemen vertrauen Filipinos lieber dem Gesetz von «utang na loob», der gegenseitigen Dankbarkeitsschuld. «Tust du mir – oder der Cousine des Onkels meiner Schwägerin – einen Gefallen, ist es meine Pflicht, mich zu ‹revanchieren›.» So wäscht eine Hand die andere, wie das auch in Griechenland zum alltäglichen Durchwursteln gehört. Irgendwie ist jeder im Kommissionsgeschäft tätig. Selbst Polizeibeamte fühlen sich «utang na loob» mehr verpflichtet als dem Eid, den sie einst abgelegt haben.

Im November wurde publik, dass Flughafenangestellte in Manila beim Check-in Gewehrpatronen in die Koffer von Touristen schmuggeln und diese dann als Terrorverdächtige abführen. In einem Hinterzimmer kann man, ganz unbürokratisch, das Lösegeld entrichten. Ein Dauerärgernis sind auch die Zollbeamten, die sich immer wieder in den über siebzig Zentimeter grossen Balik-bayan-Boxen bedienen, die Expats nach Hause schicken.

Vor zwei Jahren wurden im Rahmen der Kampagne «Faule Eier in Uniform» 49 Polizisten der National Capital Region (NCR) gefeuert und 67 vom Dienst suspendiert. Vorgeworfen wurde ihnen Autodiebstahl, Erpressung von Drogendealern, Beschlagnahmung von Autos für den Privatgebrauch, Erpressung von Touristen, schwere Körperverletzung gegen Frauen und Kinder, Vergewaltigung, Totschlag und Auftragsmorde. Ein Killer in Uniform kostet gemäss einer Tageszeitung auf Cebu 45 Dollar. Nicht umsonst nennt man das Land den «Wilden Westen Asiens».

Die Philippinen sind heute ein verarmtes Drittweltland. Das war nicht immer so. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren die Philippinen nach Südkorea die zweitstärkste Wirtschaftsmacht Südostasiens, bis Ferdinand Marcos 1965 Präsident der Philippinen wurde und ab 1972 das Land als Diktator mit blutiger Hand zu regieren begann – worauf das Volk ihn 1986 zum Teufel jagte. Die USA flogen ihn nach Hawaii aus. Im Handgepäck hatte er 30 Milliarden Volksvermögen. Imelda kam als Witwe nach einigen Jahren zurück und lebt heute in Manila in einer der teuersten Attikawohnungen der Philippinen. Einem Reporter sagte sie: «Ich bin der Star und der Sklave der kleinen Leute, und es kostet mich weit mehr Arbeit und Zeit, mich für einen Besuch in den Elendsvierteln zurechtzumachen als für einen Staatsbesuch.»

Laut Unicef zählen die Philippinen zu den zehn Ländern weltweit, die die höchste Anzahl fehlernährter Kinder unter fünf Jahren haben. 22 Millionen Menschen sind täglich von Hunger betroffen, fast die Hälfte der Einwohner verdient weniger als einen Dollar pro Tag.

Feudale Strukturen

Das ist erstaunlich, denn eigentlich könnten die Philippinen mit einer BIP-Wachstumsrate von über 6 Prozent eine florierende Volkswirtschaft sein. Doch der Reichtum erfasst nicht die breiten Schichten: In der Landwirtschaft leben  45 Prozent der Menschen unter der Armutsgrenze. Der jährliche Vermögenszuwachs der vierzig reichsten Familien entspricht 76 Prozent des Bruttoinlandprodukts (im Vergleich zu Japan mit 3 Prozent). Es sind noch immer die feudalen Strukturen, die die spanischen Konquistadoren nach der Landung Magellans im Jahre 1521 installiert hatten, die das politische Bild prägen. Die Spanier hatten die Verwaltung der neuen philippinischen Kolonie lokalen Häuptlingen anvertraut und sie auf diese Weise in die Herrschaft eingebunden. (Mit Hilfe keltischer Fürsten hatte bereits Cäsar Gallien kolonialisiert.) Aus dieser einheimischen Spezies entstand die Principalía, eine einheimische Führungsschicht, verwöhnt mit Privilegien und Ländereien, die bis heute von Generation zu Generation weitervererbt werden. Als Geldeintreiber boten sich spanische Missionare an: Sie schwärmten in alle Landesteile aus, lernten die einheimischen Dialekte, predigten das Christentum und zogen Steuern ein.

Heidnische Christen

Heute regieren immer noch achtzehn weitverzweigte Familienclans mit spanischen Wurzeln die hundert Millionen Filipinos im fünftgrössten Inselstaat der Welt. Die Einheimischen begegnen diesem Umstand mit Gleichgültigkeit und wählen aus den Reihen der Principalía oft Schauspieler, Schlagersternchen, Sportler und sogar die Witwe Imelda Marcos und ihre Kinder in staatliche Ämter. Gemeinsam bilden sie die alten und neuen Kolonisatoren und geniessen den Schutz der mächtigen Bischöfe. Siebzig Prozent der Abgeordneten entstammen diesen Familiendynastien.

Aber wer vertritt die Menschen, die auf Müllhalden wie denen von Smokey Mountain oder Payatas leben? Tausende von minderjährigen scavengers (Aasfresser, Müllsammler) stochern mit Eisenhaken in den bis zu vierzig Meter hohen Müllbergen, um am Ende des Tages 50 Peso (ca. einen Dollar) verdient zu haben. Als eine kleine Filipina Papst Franziskus anlässlich seines Besuches weinend fragte, wieso Gott das alles zulasse, sagte er: «Lasst uns mit diesem Mädchen weinen.» Er hätte Thomas de Maizière zitieren können: «Ein Teil meiner Antwort würde dich nur verunsichern.»

Der wohl grösste Feind der Philippinen ist die katholische Kirche. Sie landete mit den spanischen Konquistadoren auf der Insel Mactan und startete hier die Christianisierung Südostasiens. Die meisten philippinischen Stämme (bis auf die Sippe des Nationalhelden Lapu-Lapu) nahmen die neue Religion achselzuckend an und beteten insgeheim weiterhin zu ihren Göttern, auch wenn diese nun andere Namen und Gesichter hatten. Ähnlich arrangierten sich auch die Kubaner nach dem Einfall der spanischen Konquistadoren. Die aus Afrika importierten Gottheiten wurden christlichen Heiligen zugeordnet. Nicht umsonst nennt man diese Christen «heidnische Christen», da ein Patchwork aus animistischen Religionen, Geistern, Aberglauben und Christentum ihren Alltag bestimmt. Die Religion ist, ähnlich wie im Nahen Osten, wo ein vorislamisches Religionsverständnis gelebt wird, der grösste Hemmschuh für Aufklärung und Innovationen. Zivilisatorische Fortschritte müssen stets gegen die Religion erkämpft werden. Wie viele Erfindungen der letzten 300 Jahre stammen aus nicht säkularisierten Ländern?

Es ist das Verdienst des abtretenden Präsidenten Aquino III., dass er sich gegen den erbitterten Widerstand der katholischen Bischofskonferenz durchsetzte und im drittgrössten katholischen Land der Welt das «Reproductive Health Law» einführte. Dieses erlaubt Sexualaufklärung an Schulen und den erleichterten Bezug von Verhütungsmitteln. Obwohl die Bischöfe wie üblich mit der Exkommunikation aller zustimmenden Kongressabgeordneten drohten, setzte sich die Regierung durch. Infolge Armut, religiöser Indoktrination und mangelhafter Bildung leiden die ländlichen Gegenden unter einer unkontrollierten Bevölkerungsexplosion. Arbeitslose Familien mit zehn Kindern sind keine Seltenheit. Die Kinder werden an Verwandte oder Nachbarn abgegeben, im schlimmsten Fall an die Sexindustrie ausgeliehen, oder sie fristen in den Städten ein armseliges Dasein als Strassenkinder ohne Zukunftsperspektive.

Für viele ausländische Investoren sind die Philippinen ein rotes Tuch: Sie dürfen lediglich 40 Prozent an einem Unternehmen halten und sind oft Nötigung oder Erpressung durch Polizeikräfte ausgesetzt. Geschichten von Polizeibeamten, die westliche Firmengebäude betreten und zwei Laptops, einen Flachbildschirm und vier iPhones einfordern, sind keine Seltenheit. Bis vor einigen Jahren exportierte das Land Reis. Nachdem die EU und die USA ihre eigene Reisproduktion subventionierten, brachen die Preise auf den Philippinen zusammen. Heute müssen die Philippinen teuren Reis importieren, und die Verursacher schicken «Entwicklungshilfe»; die Hälfte versickert wie üblich in den Taschen korrupter Politiker. Wenigstens der Tourismus könnte eine bedeutende Einnahmequelle sein, verfügen doch die Philippinen über paradiesische Sandstrände und Naturlandschaften von unglaublicher Schönheit. Aber Korruption und Kriminalität sind omnipräsent.

Wirtschaftliche Impulse kommen vorwiegend aus den Zentren in Manila und Cebu City, wo internationale Grosskonzerne für Arbeitsplätze sorgen. Allein der indische Branchengigant Aegis People Support beschäftigt in seinen Callcentern Tausende Filipinas. Im Zeitalter der Globalisierung gibt es immer ein Land, das noch billiger ist. Im Gegensatz zu den Inderinnen sprechen Filipinas das verständlichere amerikanische Englisch. Das kommt daher, dass sie die amerikanische Kultur lieben und konsumieren, sie wachsen mit US-Serien, US-Charts und Fastfood auf. Die Sympathie mag verblüffen, haben doch die Amerikaner während des Philippinisch-Amerikanischen Kriegs (1899–1902) rund eine Million Zivilisten getötet. Unter dem Kommando von 26 Generälen, die noch an den blutigen Indianerkriegen teilgenommen hatten, ermordeten sie 20 Prozent der philippinischen Bevölkerung. Oberbefehlshaber General Jacob H. Smith, ein Veteran des Wounded-Knee-Massakers, wollte die ganze Inselgruppe in eine «heulende Wildnis» verwandeln: «Ich wünsche keine Gefangenen. Ich wünsche, dass ihr tötet und niederbrennt; je mehr getötet und niedergebrannt wird, umso mehr wird es mich freuen.» No bad feelings. Diese Gleichgültigkeit gegenüber den Widrigkeiten des Schicksals prägt noch heute die philippinische Kultur, die wenig Interesse für Vergangenes zeigt: «Wieso soll ich mich für Geschichte interessieren, das ist ja schon vorbei.»

«Ich bin Teil der death squads»

Ohne die monatlichen Überweisungen der etwa zehn Millionen Menschen zählenden Diaspora könnten viele Grossfamilien nicht überleben. Während die Männer meistens auf See anheuern oder sich auf arabischen Ölfeldern verdingen, arbeiten die Frauen als Haushälterinnen in Asien, im Nahen Osten oder als Krankenschwestern in Europa und den USA. Die jährlichen Geldüberweisungen von knapp 20 Milliarden Dollar machen heute 9 Prozent des Bruttoinlandproduktes aus. Ein ehemaliger Chefarzt eines Schweizer Universitätsspitals sagt: «Filipinas gehören zu den zuverlässigsten Mitarbeiterinnen, man findet sie heute auch in Operationssälen und Führungspositionen. Bei den Patienten sind Filipinas äusserst beliebt.» Jene Filipinas, die in muslimischen Ländern wie Katar oder Saudi-Arabien arbeiten, nehmen sogar in Kauf, dass sie vom ganzen Clan jahrelang vergewaltigt werden und im Falle einer Anzeige auf dem Polizeiposten wegen ausserehelichen Verkehrs ins Gefängnis kommen. Glücklich sind jene, die in freie, säkularisierte Gesellschaften auswandern. Befragt man sie nach ihrem ersten Eindruck, erhält man stets ähnliche Antworten. Vier Genfer Filipinas, die einen Take-away-Stand betreiben, sagen: «Am Anfang war es ein Kulturschock. Hier ist alles sauber und geordnet. Es ist grossartig, wie ihr mit der Zeit umgeht, alles ist perfekt organisiert, hier fühlt man sich sicher.» Vielleicht sollte man ab und zu das eigene Land durch die Augen der Expats betrachten, um die Vorzüge eines funktionierenden demokratischen Rechtsstaates gebührend zu schätzen, denn «die gefährlichste Weltanschauung ist die Weltanschauung derer, die die Welt nie angeschaut haben» (Alexander von Humboldt).

Eine ewige Baustelle bleibt die Insel Mindanao im Süden der Philippinen. Sie ist seit dem 14. Jahrhundert muslimisch. Hier treibt ein chaotischer Haufen durchgeknallter philippinischer und indonesischer Terrorjunkies sein Unwesen. Sie nennen sich Abu Sayyaf, Moro National Liberation Front, Moro Islamic Liberation Front, Bangsamoro Islamic Freedom Fighters, legen Bomben in Warenhäusern, entführen Schmetterlingsjäger und Biologielehrer und solidarisieren sich abwechselnd mit al-Qaida und dem Islamischen Staat – und berufen sich stets auf den Koran. Immer mehr glauben, dass nur Rodrigo Roa Duterte all diese Probleme lösen kann. Wer also ist Duterte? In einem TV-Interview konfrontierte ihn die Moderatorin mit den Vorwürfen der Justizministerin Leila de Lima, die behauptet, er sei in Davao City für Hunderte von Morden der dortigen Todesschwadronen verantwortlich.

«Wie nahe stehen Sie den death squads?», fragte sie. «Ich bin Teil von ihnen», antwortete Duterte gelassen. Die Moderatorin hielt die Antwort für einen Scherz und fragte nach, ob es ihm ernst sei mit dem, was er da soeben gesagt habe. «Ja», sagte Duterte, «wir haben Davao gesäubert. Wenn einer in meine Stadt kommt und ein Kind vergewaltigt, erschiesse ich ihn.» – «Haben Sie selber Menschen getötet?» – «Ja», sagte er emotionslos, «wenn ich an der Reihe bin, dann gehe ich raus.» – «Sie kandidieren für das Amt des Staatspräsidenten. Falls Sie gewählt würden . . .» – «Dann würde ich nicht 500 töten, sondern 100 000. Und die korrupten Politiker in Manila werde ich auch töten und ihre Leichen in die Manila Bay werfen, um die Fische zu füttern, so dass die Fische fett werden. Gott wird weinen, falls ich Präsident werde.» Mit solchen Aussagen ist er Kult geworden. Man sagt, er sei ein «Mann mit Eiern», gradlinig, absolut unbestechlich, kompromisslos, ein «Dirty Harry» eben.

Zwei Freundinnen

Laut der letzten Umfrage des renommierten Meinungsforschungsinstituts SWS vom 28. November liegt Duterte mit 38 Prozent in allen Landesteilen und Einkommensschichten in Führung. Ein Konkurrent nach dem andern gerät ins Straucheln: Vizepräsident Jejomar Binay ist in einen Korruptionsskandal verstrickt, Grace Poe wurde nachträglich von der Wahlkommission ausgeschlossen, weil diese «plötzlich» Zweifel an ihrer reinrassigen Herkunft hatte. Dutertes letzter Konkurrent ist der vom amtierenden Präsidenten favorisierte Innenminister und Investmentbanker Mar Roxas II. Er liegt mit 15 Prozent weit abgeschlagen auf dem letzten Rang und schmiedet angeblich fleissig Intrigen. Kürzlich wurde Duterte vorgeworfen, er sei gleichzeitig mit zwei Frauen verheiratet und habe erst noch eine Freundin. Duterte antwortete, das sei nicht wahr, er habe zwei Freundinnen, und versprach: «I will not be like other presidents.»

Carlos Conde, Verantwortlicher für die Philippinen bei Human Rights Watch, bezeichnet Dutertes Popularität als Folge des Zusammenbruchs von Recht und Ordnung. Bei einer Wahl Dutertes fürchtet er einen Abbau der Menschenrechte. Dan Mariano, ein Politanalyst und Kolumnist in Manila, schreibt, dass die Kriminalität im Land am meisten Ängste schüre. Er traue dem «Punisher» zu, ein «game changer» zu sein. Über den weiteren Spielverlauf entscheiden die Philippinen am 9. Mai 2016.

Claude Cueni ist Schriftsteller und lebt in Basel. In seinem  im Herbst erschienenen Roman «Pacific Avenue» beschreibt er  zwei Reisen auf die Philippinen, eine im Jahre 1521 an Bord von Magellans «Trinidad» und eine im Jahre 2015 zu seiner  philippinischen Verwandtschaft (Wörterseh. 440 S., Fr. 36.90).

© Die Weltwoche; 17.12.2015

#chronos (1982)

Unknown-11982 hörte Lucky Luke mit dem Rauchen auf. Nachdem er seit 1946 in 30 Millionen Alben geraucht hatte, beugte er sich der Political Correctness und verwandelte den Wilden Westen in eine No Smoking Area. Von 1955 bis 1977 hatte übrigens Asterix-Sprechblasenkünstler René Goscinny die Storys getextet. Leider fiel er ausgerechnet bei einem Gesundheitscheck tot vom Fitnessvelo.

«Kompanieführer ruft Rambo! Melde dich Junge!» 1982 erschien der Klassiker des ­Faustrechts in den Kinos. Sylvester Stallone kämpfte sich als One-Man-Army durch British Columbia und übte Selbstjustiz. Am Ende erlitt er ein Burn-out und die Duden-Redaktion nahm «Rambo» ins Lexikon auf. Der Name geht auf eine Apfelsorte zurück, einige behaupten, es sei eine Verballhornung des rebellischen Dichters ­Rimbaud, der mit englischem Akzent gesprochen wie «Rambo» klingt.

Friedfertiger war ein grossartiger Ben Kingsley in der Rolle des indischen Unabhängigkeits­kämpfers und Pazifisten Mohandas Gandhi. Die mit beinahe 300 000 Statisten gedrehte Film­biografie von Richard Attenborough wurde mit acht Oscars ausgezeichnet.

1982 präsentierte Nokia mit dem «Mobira Senator» das erste Mobile der Welt. Es wog ­lediglich 9,8 Kilo und verlangte erst nach drei Stunden nach einer Steckdose. Das 1865 von einem Finnen gegründete Unternehmen produzierte ursprünglich Gummistiefel und Radmäntel für Rollstühle. Bis 2011 war Nokia Markt­führer für Mobiles, 2014 schluckte Microsoft das ­Unternehmen, verschluckte sich daran und stellte ein Jahr später die Handysparte von Nokia ein. Wer nach 1982 geboren ist, fragt sich, wie die Menschen früher ohne Handy ihr Leben gemeistert haben.

1982 besetzten 5000 argentinische Soldaten die Falklandinseln im ­Südatlantik und nahmen 79 britische Marine­soldaten gefangen. Die Inselgruppe, die seit ihrer ersten Besetzung im Jahre 1690 abwechselnd Franzosen, Spaniern und Briten gehörte, wurde seit dem 19. Jahrhundert sowohl von Argentinien als auch von England beansprucht. Die britische Premierministerin Margaret Thatcher sandte ­umgehend 36 Kriegsschiffe mit 5000 Mann ­Besatzung auf ihre 13 000 Kilometer entfernte Kronkolonie. Nach Luftangriffen und über 1000 Toten, ­kapitulierte Argentinien und überliess seine ­hunderttausend Schafe und Pinguine den Briten. Die nationale Schmach führte zum Sturz der ­Militärjunta und zur Wiederherstellung der Demokratie. In einem späteren Referendum ­sprachen sich 99,8 Prozent der 1672 wahl­berechtigten Insulaner für einen Verbleib bei ­England aus, doch seit 60 Milliarden Barrel Öl vermutet werden, steht einem erneuten ­militärischen Konflikt nichts mehr im Wege.

1982 kam der erste Commodore 64 auf den Markt und brachte den «Brotkasten» in die ­Kinderzimmer. Das Magazin Der Spiegel titelte: So schön kann hässlich sein. Noch hässlicher war das erste Computervirus Elk Cloner, das der 16-jährige Rich Skrenta in Umlauf brachte. Das Time Magazine wählte den Computer zur «Person of the year» und bildete eine anonymisierte Person vor einem PC ab.

«Hundert Jahre Einsamkeit». Gabriel García Márquez erhielt den Nobelpreis für Literatur. Der Kolumbianer prägte den Stil des «Magischen ­Realismus» und thematisierte die Einsamkeit des Individuums, aber auch die Isolation Latein­amerikas in seinen Werken.

Einsam war auch E.T., die Filmfigur, die von ihren ausserirdischen Kumpels auf der Erde ­vergessen wurde und sich unter der Leitung von Steven Spielberg nach ihrer drei Millionen ­Lichtjahre entfernten Heimat sehnte. Er hatte nur einen Wunsch: «Nach Hause telefonieren.»

Claude Cueni ist Schriftsteller und lebt in Basel.

www.cueni.ch

© Basler Zeitung; 18.12.2015

Textauszug, Roman: Pacific Avenue / Imelda Marcos

Tirona#ImeldaMarcos #PacificAvenue #Philippinen

Morgen (17.12.15) in der #Weltwoche: Mein 4seitiger Bericht über den Wahlkampf auf den Philippinen.

Die Witwe des philippinischen Diktators Ferdinand Marcos hat auch in der Pacific Avenue ihren Auftritt. Textauszug: Klick auf Bild.

Am 24. Dezember bringt Spiegel TV eine 50minuten Doku (2015) um 21.10. Die Serie heisst: Despot Housewives / Klepto Ladies: Imelda Marcos.

#chronos (1952)

4 R

4 R

1952 standen Marlon Brando und Anthony Quinn am Rio Grande und urinierten in den Fluss. Sie urinierten um die Wette. Wer am weitesten konnte, sollte die Rolle eines mexikanischen ­Bauern spielen. Marlon Brando gewann und spielte unter der Regie von Elia Kazan den ­mexikanischen Volkshelden Zapata.

Ein Kräftemessen ganz anderer Art spielte sich zwischen den USA und der Sowjetunion ab. Nach dem Tod des Diktators und Massenmörders Josef Stalin übernahm Nikita Chruschtschow die ­Führung und lieferte sich mit dem neu gewählten amerikanischen Präsidenten Dwight David ­Eisenhower einen «kalten Krieg», der in ein ­ruinöses Wettrüsten ausuferte. Gleichzeitig ­führten Nord- und Südkorea einen ­Stellvertreterkrieg mit den USA und China als Verbündeten. Die Menschen in Europa befürchteten einen dritten Weltkrieg.

Eisenhower zündete zur Einschüchterung auf dem Eniwetok-Atoll im Westpazifik die erste ­Wasserstoffbombe. Die freigesetzte Energie wurde auf 10,4 Millionen Tonnen konventionellen Sprengstoffs geschätzt – was einer ­Zerstörungskraft von mehr als 500 Hiroshima-­Bomben entsprach. Bereits fünf Jahre später konterte die Sowjetunion mit der Atombombe Zar, die eine um das ­Fünffache höhere ­Sprengleistung hatte. Ein Jahr später gestand Eisenhower: «Eine Welt unter Waffen verpulvert nicht nur Geld allein. Sie ­verpulvert auch den Schweiss ihrer Arbeiter, den Geist ihrer ­Wissenschaftler und die ­Hoffnung ihrer Kinder.»

Die Welt kam nicht zur Ruhe. Um die Verstaatlichung britischer Ölfirmen in Iran abzuwenden, gab Eisenhower den Befehl für einen Putsch und für die Einsetzung von Schah Mohammad Reza ­Pahlavi auf dem Pfauenthron. Auf Kuba putschte sich ­Fulgencio Batista an die Macht und regierte als ­Diktator. In Bolivien gelang Víctor Paz Estenssoro ein erfolgreicher Militärcoup. Im Nahen Osten stürzte das ägyptische Militär seinen König Faruq, in Jordanien ereilte König Talal das ­gleiche Schicksal. In Afrika formierten sich Unabhängigkeitsbewegungen gegen die britischen und französischen Kolonialherren.

Während in London eine Smog-Katastrophe mehrere Todesopfer forderte, wurde erstmals im Londoner West End die «Mausefalle» von Agatha Christie aufgeführt. Mit einer Laufzeit von ­mittlerweile 63 Jahren ist die »Mausefalle« das am längsten ununterbrochen gespielte ­Theaterstück der Welt.

Die Deutsche Demokratische Republik (DDR) zog eine fünf Kilometer breite Sperrzone entlang der Demarkationslinie zur Bundesrepublik Deutschland (BRD). Damit sollte verhindert ­werden, dass die Bürger das sozialistische ­Paradies verlassen, 12 000 Anwohner wurden umgesiedelt und die Telefonleitungen nach ­Westberlin zerschnitten. Im freien Westen lebten mittlerweile 9,6 Millionen Flüchtlinge.

In Deutschland erschien erstmals eine Tageszeitung mit grossen Lettern für Menschen mit verminderter Sehschärfe. Die Bild startete mit einer Auflage von 455 000 Exemplaren. Bereits vier Jahre später erreichte sie eine Auflage von 2,5 Millionen Exemplaren und kostete 10 Pfennig. Nach einer Steigerung auf ca. 4,5 Millionen im Jahr 1998, sank sie wieder auf 2 Millionen Exemplare.

In einer kleineren Schriftgrösse erschien Ernest Hemingways «Der alte Mann und das Meer». Er vertrat die Meinung, dass Glück eine gute Gesundheit und ein schlechtes Gedächtnis voraussetze. Und jungen Autoren gab er den ­Ratschlag, stehend an einem Pult zu schreiben. Dann würden ihnen von selbst nur noch kurze Sätze einfallen.

Und Doris Day sang «A guy is a guy»: He followed me down the street like I knew he would. Because a guy is a guy wherever he may be.

 

Claude Cueni ist Schriftsteller und lebt in Basel.

© Basler Zeitung; 04.12.2015

#chronos (2002)

 

images-1Am 1. Januar wurde das Euro-Bargeld in Umlauf gebracht, es war bereits 1999 als Buchgeld ­eingeführt worden. «Dieses Geld wird eine grosse Zukunft haben», sagte Helmut Kohl und ­beteuerte, dass «eine Überschuldung eines Euro-Teilnehmerstaates von vornherein ausgeschlossen» werden könne. Wilhelm Hankel, der vor dem Bundesverfassungsgericht gegen die Einführung des Euro geklagt hatte, meinte ­dagegen: «Der Euro wird zum Symbol der ­Wirtschaftskrise.» George Soros orakelte: «Der Euro ist dazu bestimmt, eine schwache Währung zu sein», und der damalige Fed-Chef, Alan Greenspan, sagte der International Herald Tribune: «Der Euro wird kommen, aber er wird keinen Bestand haben.» Seit seinem Höchststand im Jahre 2008 (1,6038), hat der Euro im Verhältnis zum Dollar um 67 Prozent an Wert verloren.

«Stirb an einem anderen Tag» («Die Another Day») empfahl hingegen Pierce Brosnan im 20. James-Bond-Film, als er in Nordkorea in geheimer Mission unterwegs war. Halle Berry war seine Partnerin. Als sie (wie damals Ursula Andress) im Bikini aus den Fluten stieg, sagte James: «Sex zum Dinner und Tod zum Frühstück, das wird mit mir nicht funktionieren.»

«Tod zum Frühstück» ereilte nach dem Platzen der Dotcom-Blase über 41 000 Unternehmen. Die weltweit drittgrösste Telefongesellschaft, WorldCom, beantragte beim Insolvenzgericht in New York Gläubigerschutz nach Chapter 11 und offenbarte einen der grössten Börsenskandale: Bilanzfälschungen in der Höhe von elf Milliarden. Dafür gabs für Firmengründer und CEO ­Bernard Ebbers 25 Jahre Gefängnis. Auch das mit über 6,5 Milliarden überschuldete Medienimperium Kirch Media musste die Bilanz deponieren.

Erfolgreicher waren die Genforscher. Sie entschlüsselten vollständig die Genome der Malariaerreger Plasmodium yoelii yoelii und das Genom der Stechmückenart Anopheles gambiae.

Die mit Al Qaida und den philippinischen Abu-Sayyaf-Terrormilizen verbündeten Islamisten der Jemaah-Islamiyah-Gruppe beriefen sich auf den Koran, als sie auf Bali einen Bombenanschlag auf mehrere Nachtclubs verübten und 202 «Ungläubige» töteten.

Tagelange Regenfälle verursachten die Jahrhundertflut, die sich über weite Teile Mitteleuropas ergoss. Umweltschützer sahen die Ursache in der Erderwärmung, Städteplaner in der zunehmenden Einengung der Flussläufe und Historiker verwiesen auf die Jahrhundertfluten in den Jahren 1342, 1501, 1787, die «sächsische Sintflut von 1845» und die Jahrhundertflut im Jahre 1954.

Im Februar heiratete der niederländische Kronprinz Willem-Alexander trotz Widerstand von Familie und Öffentlichkeit die Argentinierin Maxima Zorreguieta. Ihr Vater Jorge Zorreguieta hatte als Minister der Militärregierung von General Jorge Rafael Videla angehört, die für das Verschwinden von 30 000 Regimegegnern verantwortlich ist. Willem-Alexander war bereit, aus Liebe zu seiner Maxima auf die Thronfolge zu verzichten, und setzte sich durch. Standvermögen bewies er auch Jahre später in seiner ersten Thronrede. Er verkündete, was jeder Politiker in Europa längst weiss, aber nicht öffentlich zu sagen wagt: Um die Finanzkrise zu beenden, müssten in Zukunft alle selbst die Verantwortung für ihre Gesundheits- und Altersvorsorge übernehmen.

2002 starb der Regisseur und Drehbuchautor Billy Wilder im Alter von 96 Jahren an einer Lungenentzündung. Er hatte in 50 Jahren über sechzig Filme gedreht und dafür 21 Oscar Nominierungen und sechs Oscar-Auszeichnungen erhalten.

«Ist es erforderlich, dass ein Regisseur auch gut schreiben kann?»

«Nein, aber es hilft, wenn er lesen kann.»

© Basler Zeitung; 20.11.2015

Claude Cueni

#chronos (1969)

Unknown«Houston, Tranquility Base here. The eagle has landed.» Am 20. Juli 1969 landete «Apollo 11» auf dem Mond. Der Astronaut Edwin «Buzz» Aldrin wollte nicht als Erster den Mond betreten, er fürchtete die spätere Publizität. Er liess Neil ­Armstrong den Vortritt. Nach der Rückkehr behaupteten die üblichen Verschwörungstheoretiker, Stanley Kubrick habe die Landung in einem Studio gefakt, andere glaubten, eine UFO-­Landebasis entdeckt zu haben. «Buzz» sagte ­später: «Was danach kommt, nenne ich die ­Melancholie der erfüllten Aufgabe.» Er wurde Alkoholiker.

Verschwörungstheorien gab es auch nach dem tödlichen Autounfall auf einer Brücke in ­Chappaquiddick Island. Senator Edward Kennedy verfehlte nach einer Partynacht die Brücke und stürzte mit der 28-jährigen Sekretärin Mary Jo Kopechne in den Kanal. Er konnte sich retten, seine Begleiterin starb qualvoll. Richter Boyle bezichtigte Kennedy später der Lüge und ­verurteilte den «Löwen des US-Senats» (Obama) zu zwei Monaten Haft auf Bewährung, weil er sich unerlaubt vom Unfallort entfernt hatte.

Nebst Apollo-11- und Chappaquiddick-Büchern erschien auch der Bestseller «Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung – das Beispiel Summerhill». Seitdem erntet jeder ­Politiker Lachsalven, wenn er von roten Linien spricht. Staatsmännisch verkündete Red Lines haben nicht mehr Bestand als der Rasierschaum der Schiedsrichter.

In Mexiko-Stadt gab es am 26. Juni jedoch eine Fussballpartie zwischen Honduras und El Salvador, die auch mit zehn Dosen Rasierschaum nicht hätte gebändigt werden können. Sie ging mit ­gewalttätigen Auseinandersetzungen ausserhalb des ­Stadions in die Verlängerung. Unterstützt wurde das ­salvadorianische Team von der Luftwaffe, worauf auch Honduras Kampf­flieger ins Feld schickte. Nach vier Tagen endete die angeblich schönste Nebensache der Welt mit 2100 Toten und über 6000 Verletzten.

Am 15. März 1969 griff die Sowjetunion ­chinesische Truppen an und eroberte die Insel Zhenbao Dao. Bereits ein halbes Jahr früher ­startete die Sowjetunion mit ihren Verbündeten die grösste Militäroperation in Europa seit Ende des Zweiten Weltkrieges. Eine halbe Million ­Soldaten besetzten innerhalb weniger Stunden die Tschechoslowakei und beendeten den «Prager Frühling».

«Make Love Not War» war das Credo der ­jungen Generation, die weltweit gegen den ­Vietnamkrieg demonstrierte. Der Stellvertreterkrieg der beiden Grossmächte tötete oder ­verstümmelte über fünf Millionen Vietnamesen. Der grossflächige Einsatz des dioxinhaltigen ­Entlaubungsmittels «Agent Orange» verseuchte die Agrarflächen der Bevölkerung. Noch heute ­werden Kinder mit schwersten Missbildungen geboren. Eine Sammelklage von Geschädigten wurde 2005 in den USA mit der Begründung abgewiesen, dass es sich beim Einsatz von «Agent Orange» nicht um «chemische Kriegsführung» gehandelt habe und dass ­deshalb kein Verstoss gegen internationales Recht vorliege.

«All we are saying, is: give peace a chance», sagte John Lennon den Journalisten, die seiner Einladung zum «Bed-in» ins Queen Elizabeth Hotel in Montreal gefolgt waren. In Woodstock trafen sich Jugendliche zum legendären Festival. Für die Veranstalter war es zuerst ein finanzielles Desaster, später, dank Kinofilm und Alben, ein grosser finanzieller Erfolg. Die «Easy Riders» Peter Fonda und Dennis Hopper hatten mehr Bock auf LSD und fuhren auf ihren Scrambler-­Motorrädern durch Amerika: «Don’t bogart that joint, my ­friend, pass it over to me, roll another one, just like the other one.»

Claude Cueni ist Schriftsteller und lebt in Basel.

© Basler Zeitung; 06.11.2015

#chronos (1899)

March - April 1899

March – April 1899

1899 erschien eins der meistgelesenen ­Sachbücher des 20. Jahrhunderts, die ­«Traumdeutung» des Tiefenpsychologen Sigmund Freud (1856–1939). Er bezeichnete sich als Feind der Religion «in jeder Form und ­Verdünnung» und hielt Religiosität für eine ­«Kindheitsneurose». Er vertrat auch die Meinung, wonach «sich hinter jeder starken Frau ein ­tyrannischer Vater ­versteckt».

Emanzipation und Gleichberechtigung ­machten weitere Fortschritte: Im Deutschen Reich wurden erstmals Frauen zu den Staatsprüfungen der Medizin, Zahnmedizin und Pharmazie ­zugelassen und im Sing-Sing-Gefängnis setzte man Martha M. Place, auch sie die erste Frau, auf den elektrischen Stuhl.

In diesem Jahr wurden auch drei Männer geboren, die wenig von Gleichberechtigung ­hielten: Humphrey Bogart («Ein kluger Mann widerspricht nie einer Frau. Er wartet, bis sie es selbst tut.»), Ernest Hemingway («Man braucht zwei Jahre, um sprechen zu lernen, und fünfzig, um schweigen zu lernen») und Alfred Hitchcock: «Ich habe nie gesagt, dass ich Schauspieler für dumme Kühe halte, ich sagte bloss, man müsse sie so behandeln. Aber wichtiger ist, dass die Länge eines Film im direkten Verhältnis zum Fassungsvermögen der menschlichen Blase ist.»

Es ist nicht überliefert, ob die Firma Bayer AG angesichts dieser Weisheiten Aspirin beim Kaiserlichen Patentamt als Marke eintragen liess. Seitdem nennt man im Volksmund die Acetylsalicylsäure (ASS) Aspirin.

In den USA tobte der ­Kongress, weil die Regierung dem Erzfeind Spanien 7101 philippinische Inseln abkaufte. Es widersprach dem Selbstverständnis einer Nation, die durch Rebellion gegen das Mutterland ­entstanden war. Zwei Tage nach der «wohlwollenden Annexion» (US-Präsident ­William McKinley) riefen Revolutionäre die ­Philippinische Republik aus. Die USA schickten umgehend 26 Generäle, die sich während der Indianerkriege durch besondere Grausamkeiten ausgezeichnet hatten. Sie besetzten mit ihren ­Truppen die neue Kolonie. Oberbefehlshaber General Jacob H. Smith, ein Veteran des Wounded-­Knee-Massakers, wollte die ganze ­Inselgruppe in eine «heulende Wildnis» verwandeln: «Ich wünsche keine Gefangenen. Ich ­wünsche, dass ihr tötet und niederbrennt; je mehr getötet und niedergebrannt wird, umso mehr wird es mich freuen.» Er schlachtete über eine Million Zivilisten ab, 20 Prozent der gesamten philippinischen Bevölkerung endeten in Massengräbern. Erst Jahre später empörten sich die ­amerikanischen Medien und Smith kam vor Gericht. Nach Abzug der amerikanischen Truppen setzten die Japaner während des Zweiten ­Weltkrieges die Massaker auf den strategisch wichtigen Inseln fort.

Das britische Weltreich stand den Gräueltaten der amerikanischen Kolonisten in nichts nach. Das British Empire wollte als «führende Rasse (Cecil Rhodes)» die Pax Britannica weltweit durchsetzen. Im rohstoffreichen (Gold, ­Diamanten) Südafrika kämpften sie während des zweiten Burenkrieges erbitterte Schlachten und trieben in British India Millionen von Menschen in den Hungertod.

1899 beschleunigte sich der weltweite ­Informationsaustausch, AT&T kaufte American Bell und verschafft sich damit das Telefon­monopol in den USA. Guglielmo Marconi gelang die erste drahtlose telegrafische Verbindung über den Ärmelkanal. Charles H. Duell, der Beauftragte des US-Patentamtes, frohlockte: «Alles, was ­erfunden werden kann, ist erfunden worden.»

Jules Verne (1828–1905) widersprach ihm jedoch und schrieb: «Alles, was ein Mensch sich vorzustellen vermag, werden andere Menschen verwirklichen können.»

Claude Cueni ist Schriftsteller und lebt in Basel.

www.cueni.ch

 

 23. Oktober 2015 / Folge 26

#chronos (1944)

513EofHcYeL._SY450_„Der Stauffenberg, das war ein Kerl! Um den ist es beinahe schade. Welche Kaltblütigkeit, welche Intelligenz, welch eiserner Wille! Unbegreiflich, daß er sich mit dieser Garde von Trotteln umgab«, sagte Joseph Goebbels, Hitlers Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda, nach dem gescheiterten Hitler Attentat vom 20. Juli 1944.

Oberst von Stauffenberg hatte als glühender Nationalsozialist und Antisemit die ersten Kriegsjahre mitgetragen und seiner Schwester geschrieben: „Die Bevölkerung hier ist ein unglaublicher Pöbel, sehr viele Juden und sehr viel Mischvolk.“ Stauffenberg änderte seine Meinung später und schloss sich den Widerstandskämpfern an, um das NS-Regime zu beseitigen und dadurch den Krieg zu beenden. Er wurde einen Tag nach dem misslungenen Attentat standrechtlich erschossen.

Knapp zwei Monate zuvor, am 6. Juni, waren die Allierten in der Normandie gelandet und hatten mit der Invasion den Zusammenbruch des Deutschen Reiches eingeleitet. Das Unternehmen »Overlord« war die grösste Landeoperation der Geschichte.

Während im gleichen Monat Rom von den Faschisten befreit wurde und die Sowjetunion ihre Sommeroffensive startete, trafen sich im Mount Washington Hotel in New Hampshire 733 Delegierte aus 44 Ländern, um für das nächste Jahrhundert eine folgenreiche Entscheidung zu treffen. In Bretton Woods, am Fusse der White Mountains, wurde bereits ein neues internationales Währungssystem für die Nachkriegszeit beschlossen. Der Dollar sollte als weltweite Ankerwährung festgelegt werden und durch Gold gedeckt sein. Zur Durchsetzung der Beschlüsse wurden die Weltbank und der Internationale Währungsfonds (IWF) gegründet. Nach Bretton Wood waren die USA als neue Weltmacht gesetzt und das einstige Britische Imperium nur noch Geschichte.

Harry Dexter White, der Vater des Bretton Woods Systems, kam später als sowjetischer Spion vor Gericht. Er hatte fälschlicherweise angenommen, dass die beiden grossen Siegermächte nach dem Krieg weiterhin Verbündete sein würden. Und geplaudert. Mit einem Herzinfarkt rettete er sich vor der bevorstehenden Verurteilung.

Obwohl der Krieg auch im September noch tobte, teilten die späteren Siegermächte Deutschland bereits in Besatzungszonen ein und regelten im ersten Londoner Zonenprotokoll die Grenzen zwischen den sowjetischen und westlichen Einflussbereichen.

Während die Allierten im September deutschen Boden betraten, erreichte die Rote Armee im Oktober die deutsche Grenze. Die NSDAP mobilisierte noch alle waffenfähigen Männer im Alter von 16 bis 60 Jahren und opferte über 170.000 Menschen für einen bereits verlorenen Krieg. Von den 6 Millionen Volkssturmpflichtigen hatten sich die meisten freiwillig gemeldet…

Um die Widerstandskraft zu brechen, deckten die Allierten deutsche Städte mit einem Bombenteppich ein und machten viele davon dem Erdboden gleich.

Leider hat das Jahr 1944 kaum Erfreuliches zu bieten. Es widerlegt die christliche These, wonach gläubige Menschen ein anstädigeres Leben führen als Ungläubige. Ueber 90 Prozent der Nazis waren gläubige Christen…

Die Gottlosigkeit dieses Jahrzehnts widerspiegelt sich auch in Billy Wilders stilprägendem Film-Noir »Frau ohne Gewissen« (Double Idemnity) wider. Den Drehbuchautoren Raymond Chandler und Billy Wilder gelang das Kunststück, einen amoralischen Helden zu zeichnen, dem die Zuschauer willig folgen. Der Film begann mit der legendären Dialogzeile: „I killed him for money – and for a woman. I didn’t get the money. And I didn’t get the woman.“

 

 

#chronos (1972)

Unknown«Mein Na­me ist Moe Green! Ich hab schon den Ers­ten um­ge­bracht, als du noch in den Win­deln lagst!» Die ers­te Fol­ge der Tri­lo­gie «The God­fa­ther» kam 1972 in die Ki­nos. Pa­ra­mount hat­te dem Schrift­stel­ler Ma­rio Pu­zo die Film­rech­te an sei­nem gleich­na­mi­gen Ro­man für 12 500 US-­Dol­lar ab­ge­kauft und den da­mals 31-jäh­ri­gen Fran­cis Ford Cop­po­la mit ei­nem Bud­get von sechs Mil­lio­nen be­traut. Der Film wur­de mit Mar­lon Bran­do in der Hauptrol­le ein Mei­len­stein der Film­ge­schich­te und spiel­te bis heu­te über ei­ne Vier­tel­mil­li­ar­de ein. Ei­ni­ge mein­ten, der Film sei «der bes­te Wer­be­spot für die Ma­fia, der je ge­dreht wur­de». Als kürz­lich der Sarg des Ma­fia­bos­ses ­Vit­to­rio Ca­sa­mo­ni­ca in ei­ner gol­de­nen Kut­sche durch die Stras­sen Roms ge­führt wur­de, er­schall­te der So­undtrack «The God­fa­ther» und em­pör­te die ita­lie­ni­sche Pres­se.

Einen «Bloo­dy Sun­day» er­leb­ten auch 13 un­be­waff­ne­te Zi­vi­lis­ten, die bei ei­ner De­mons­tra­ti­on in Nordir­land von bri­ti­schen Fall­schirm­jä­gern er­schos­sen wur­den. Blu­tig gin­gen auch die ­Olym­pi­schen Som­mer­spie­le in Mün­chen zu En­de. Mit­glie­der der pa­läs­ti­nen­si­schen Ter­ro­r­or­ga­ni­sa­ti­on «Schwar­zer Sep­tem­ber» hat­ten elf is­rae­li­sche Sport­ler des Olym­pia-Teams als Gei­seln ge­nom­men und die Frei­las­sung von 232 Pa­läs­ti­nen­sern ge­for­dert. Bei der ver­such­ten Gei­sel­be­frei­ung ka­men al­le Gei­seln, fünf Ter­ro­ris­ten und ein ­Po­li­zist ums Le­ben.

Un­blu­tig en­de­te die ­Ent­füh­rung ei­nes Jum­bo-Jets von Frank­furt in den Süd­je­men. Die ara­bi­schen Ter­ro­ris­ten er­hiel­ten fünf Mil­lio­nen Dol­lar Lö­se­geld und ­ani­mier­ten wei­te­re Ter­ror­grup­pen zu Flug­zeu­gent­füh­run­gen. In Deutsch­land wur­den mit An­dre­as Baa­der und Ul­ri­ke Mein­hof der Kopf der «Ro­ten Ar­mee Frak­ti­on» ver­haf­tet.

Doch das männ­li­che Ge­schlecht in­ter­es­sier­te sich mehr für das Ma­ga­zin ­Play­boy, das erst­mals in ei­ner deut­schen Aus­ga­be auf den Markt kam, ob­wohl be­reits die ame­ri­ka­ni­sche Aus­ga­be nicht sehr text­las­tig war.

In den USA be­herrsch­ten Vi­et­nam­krieg und Wa­ter­ga­te-Af­fä­re die Schlag­zei­len. In Wa­shing­ton wa­ren fünf Ein­bre­cher beim Ver­such ver­haf­tet wor­den, in das Haupt­quar­tier der De­mo­kra­ti­schen Par­tei ein­zu­bre­chen, um Ab­hör­wan­zen zu in­stal­lie­ren und Do­ku­men­te zu fo­to­gra­fie­ren. Den an­sch­lies­sen­den Ver­tu­schungs­ma­nö­vern und ­Jus­tiz­be­hin­de­run­gen durch die Ni­xon­re­gie­rung folg­ten wei­te­re Ent­hül­lun­gen: Il­le­ga­le Par­tei­spen­den, Ver­kauf von Bot­schaf­ter­pos­ten und Re­gie­rungs­be­schlüs­sen, Steu­er­hin­ter­zie­hun­gen des Prä­si­den­ten.

Die 70er-Jah­re wa­ren das se­xu­ell ­frei­zü­gigs­te Jahr­zehnt des 20. Jahr­hun­derts, bis Ai­ds 1981 der frei­en Lie­be ein En­de setz­te. Ero­tik do­mi­nier­te auch die US-Charts des Jah­res 1972: Chuck Ber­ry be­sang sein «Ding-A-Ling», die ­bri­ti­sche Rock­band The Sweet ih­ren «Litt­le Wil­ly», Neil Young war im­mer noch auf der Su­che nach ei­nem «He­art of Gold», wäh­rend Gil­bert ­O’Sul­li­van «Alo­ne Again» war.

Die «Gren­zen des Wachs­tums» war kein neu­er Best­sel­ler des da­mals po­pu­lä­ren Se­xon­kels und Best­sel­ler­au­tors Os­walt Kol­le über die erek­ti­le Dys­funk­ti­on, son­dern ein Sach­buch des ­re­nom­mier­ten «Club of Ro­me». Füh­ren­de ­Wis­sen­schaft­ler aus 30 Län­dern hat­ten ein ­düs­te­res Bild un­se­rer Zu­kunft pro­gno­s­ti­ziert: Die Re­vo­lu­ti­on von In­ter­net und Mo­bi­les hat­ten sie zwar nicht vor­aus­ge­se­hen, aber das Auf­brau­chen der welt­wei­ten Roh­stof­fe durch un­ge­zü­gel­tes Wirt­schafts­wachs­tum. Nebst Dür­ren bib­li­schen Aus­mas­ses, soll­te auch die west­li­che Au­to­mo­bil­in­dus­trie durch ja­pa­ni­sche Bil­li­gim­por­te zer­stört wer­den. Ein klei­ner Trost war im­mer­hin, dass wir im Jah­re 2010 eh kei­nen Trop­fen Erd­öl mehr ha­ben wür­den. Wann ha­ben Sie ei­gent­lich das letz­te Mal ge­tankt?

Clau­de Cue­ni ist Schrift­stel­ler und lebt in Ba­sel. www.cue­ni.ch

© Basler Zeitung, 25.9.15

Leben in der Nachspielzeit

Die Weltwoche – 17. September 2015
 

Eigentlich sollte ich längst tot sein. Mein Gesundheitszustand war hoffnungslos. Also habe ich  das Haus verkauft, viele Besitztümer verschenkt. Dass ich noch am Lebenbin, macht mich ratlos.  Von Claude Cueni

Im Januar werde ich sechzig, über dieses Datum ging meine Lebensplanung nie hinaus. Niemand hielt es für möglich, dass ich zuerst die Leukämie und dann noch die Folgen der Knochenmarktransplantation überlebe. Jetzt bin ich einigermassen ratlos, weil ich wider Erwarten noch am Leben bin. Ich habe keine Pläne, mein Koffer war schon gepackt.

Ich hatte mein Haus verkauft, meine DVD-Sammlung verschenkt, die meisten Zeitungsabonnemente gekündigt, ich hatte mit Exit und Lifecircle gesprochen – warten gehört nicht zu meiner Kernkompetenz. Ich hatte trotz negativer Erfahrungen fünfstellige Summen in die Dritte Welt geschickt, Hilfe zur Selbsthilfe und so, gebracht hat es gar nichts. Ich habe meine Autorenexemplare verschenkt, denn wenn das Totenhemd keine Taschen hat, kann man wohl auch keine Bücherboxen mitschleppen, und heutige Särge sind doch ziemlich schmal, und in den Krematorien empfehlen sie für Bücher die Entsorgung als Altpapier. Zum Altpapier schmiss ich auch mein gesamtes Archiv, 48 Plastikboxen mit jeweils zehn Hängemappen, Romananfänge, Short Storys, Exposés und all die Texte, die im Jenseits eh keiner mehr lesen will.

Erotikbildchen unter der Kellertreppe

Ich habe noch alte Jugendfreunde und -freundinnen besucht, ähnlich wie Bill Murray in Jim Jarmuschs «Broken Flowers», die meisten kamen zu mir auf einen Kaffee und desinfizierten sich vor Betreten der Wohnung die Hände mit Sterilium. Die meisten hatte ich seit der Pubertät nie mehr gesehen, und das ist doch schon eine Weile her, so hoffe ich wenigstens. Wir sprachen über Fussball, die FCB-Arena und Karli Odermatt, wir sprachen über die Comics von Hansrudi Wäscher, Sigurd, Falk und die Erotikbildchen unter der Kellertreppe; ich traf auch frühe Liebschaften, aber sie konnten sich kaum noch an das erinnern, was uns damals wirklich Spass gemacht hat. Die meisten waren mittlerweile geschieden, einige hatten erwachsene Kinder, andere noch einen Hund.

Die fremden Knochenmarkzellen, die mich von der Leukämie geheilt hatten, hatte meine Lunge mittlerweile bis auf vierzig Prozent Restvolumen abgestossen, die Haut war mit dem Gewebe darunter verklebt und hatte die Gelenke versteift. Ich kenne mich ein bisschen aus mit Aktienmärkten und Charttechniken, der Trend auf demComputerausdruck des Lungenlabors war eindeutig negativ.

Ich war mittlerweile ein Sanierungsfall. Punktionen von Knochenmark, Leber, Lunge und hohe Kortisondosen empfand ich inzwischen als Konkursverschleppung. Als Firma hätte ich längst Insolvenz angemeldet und die Bilanz deponiert.

Am Samstag sass ich über Mittag oft mit meiner Frau im «Chez Donati», wir assen Scaloppine in «Purgatorio del Padrone». Die Kellner dachten, ich sei jetzt ganz gross im Geschäft, hätte Erfolg mit meinen Büchern, aber wir besprachen die Zeit danach. Es gibt Lebenspartner, die sich in Erwartung des bevorstehenden Single-Daseins emotional zurücknehmen, aber man kann sich weder schützen, noch kann man auf Vorrat trauern. Meine Frau ersparte mir dieses Gefühl des frühzeitigen Verlassenwerdens. Swerte, der unerschütterliche Optimismus der Filipinas, grenzt an Realitätsverweigerung, aber meine philippinische Nachtigall war entgegen allen medizinischen Prognosen überzeugt, dass ich überlebe. Ich legte einen Ordner an und beschriftete ihn mit «Day After»; ich schrieb alle Briefe, die sie später würde schreiben müssen, ich überlegte, ob ich jeweils schreiben sollte: «Ich bin heute gestorben und bitte Sie deshalb . . .», und meine Frau würde später noch das Datum einsetzen. Ja, wir mussten herzhaft lachen, als sie den Ordner durchblätterte. Den Humor haben wir nie ganz verloren.

Und dann bin ich einfach nicht gestorben. Nein, den Krebs habe ich nicht besiegt, niemand besiegt den Krebs. Ich ärgere mich jedes Mal, wenn ich so etwas in denMedien lese, denn wenn ein Kranker seinen Krebs besiegen könnte, würde es bedeuten, dass jeder, der an Krebs stirbt, sich zu wenig angestrengt hat. Ich habe mich nicht angestrengt, ich war einfach beschäftigt, zuletzt mit der «Pacific Avenue», es ist auch nicht so, dass ich keine Zeit zum Sterben gehabt hätte, ich bin einfach nicht gestorben, that’s it. Ich habe nicht das Geringste dafür getan. Das Verdienst gebührt dem anonymen Knochenmarkspender und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Isolierstation und des Zellersatzambulatoriums der Hämatologie des Universitätsspitals Basel. Sie alle hielten mich am Leben, ermunterten mich, noch diese oder jene Strapaze zu ertragen, und teilten mir nach sechs Jahren Behandlung mit, dass sich die Organabstossungen endlich stabilisiert hätten, auf einem tiefen Niveau, aber damit könne man immer noch schreiben und am Wochenende einen Château Pape Clément entkorken. Das Damoklesschwert wollte jedoch keiner abhängen, theoretisch könnte es morgen wieder losgehen, aber sie gingen nicht davon aus. Ich würde weiterleben. Überleben ist wohl das Wichtigste im Leben.

Ich fuhr nach Hause, setzte mich im Keller auf einen Stapel Weinkisten. Die Bordeaux, die ich mir in den neunziger Jahren als gutverdienender Drehbuchautor und Game-Designer zugelegt hatte, hatte ich behalten und jeweils an Geburtstagen verschenkt. Aber chronisch Kranke haben chronisch wenig Freunde. Man stirbt in seinem Umfeld, bevor man gestorben ist. Ich nahm einen alten Château Palmer und setzte mich im Wohnzimmer in den schwarzen Sessel, in dem ich unzählige Nächte durchgestanden hatte. Eigentlich sollte ich bei all den Pillen, die ich nach wie vor einnehmen muss, keinen Wein trinken. Auf den Packungsbeilagen der Medikamente sind die Kontraindikationen aufgeführt. Ein Château Palmer ist nirgends erwähnt. Ich hatte schier vergessen, wie grossartig ein alter Bordeaux schmeckt. Wäre ich gesund geblieben, wären diese Weine nicht alt geworden.

Goodbye-Modus

Jetzt ist nach der «Script Avenue» noch die «Pacific Avenue» erschienen, und ich frage mich, was ich jetzt noch anfangen soll. Eine Verlängerung war nicht geplant, das Spiel war zu Ende, ich war seit Beendigung der «Script Avenue» im Goodbye-Modus. Manchmal denke ich, ich sollte den anonymen Knochenmarkspender aufsuchen, der mir das Leben gerettet hat, und ihm sagen: «Schau, das bin ich, mit deinem Knochenmark. Danke, dass du all die Unannehmlichkeiten auf dich genommen und gespendet hast, und komm, lass uns was trinken, erzähl mir von deinem Leben.» Aber in Europa müssen die Spender anonym bleiben, bei der Infusion wird sogar die Etikette auf dem Beutel abgedeckt. Falls Sie können, spenden Sie Knochenmark! Es gibt irgendwo da draussen einen Menschen, der Ihnen unendlich dankbar sein wird. Ich werde es immer sein. Und weiterschreiben.

Flüchtlingswellen in der Antike

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Flüchtlingswellen zur Zeit Cäsars (Auszug der Helvetier / Gallischer Krieg)

Das Gute an historischen Romanen: Sie haben nicht das Verfalldatum von zeitgenössischen Romanen. Mein Roman »Cäsar Druide« erlebte in den letzten 16 Jahren zahlreiche Neuauflagen (Heyne Verlag), u.a. in deutscher, spanischer und italienischer Sprache, erschien im letzten Jahr (leider) unter dem neuen Titel »Das Gold der Kelten«, was viele Leser zurecht verärgert, wenn sie zweimal das gleiche Buch gekauft haben.

Erzählt wird die Geschichten des jungen spastischen Druidenlehrlings, der in der Nordwestschweiz aufwächst und sich dem Zug der Helvetier anschliesst und Schreiber in Cäsars Kanzlei war. In einem Gutachten der Uni Basel wird bestätigt, dass der Abenteuerroman auf dem neusten Stand der Cäsarforschung basiert. Daran hat sich bis heute nichts geändert.

Wie in allen meinen Büchern ist auch »Cäsars Druide« ein Mutmacher, weil der Roman von einem jugendlichen Helden erzählt, der schwierige Lebenssituationen meistert und nie aufgibt.

https://www.cueni.ch/buecher/das-gold-der-kelten/

#chronos (1933)

News-Week_Feb_17_1933,_vol1_issue1«You will have the tallest, darkest leading man in Hollywood», versprach Regisseur Merian C. Cooper der Schauspielerin Fay Wray, falls sie die weibliche Rolle in «King Kong und die weisse Frau» ­annehmen würde. Der Film wurde ein Erfolg und war mit seiner revolutionären Stop-Motion-Tricktechnik wegweisend. Bei diesem Verfahren ­werden Standbilder in rascher Abfolge aneinandergereiht, um Bewegung zu simulieren. Revolutionär war auch die erstmalige Unterlegung von Dialogen mit Musik und der Einbau von realen Schauspielern in Miniaturmodellen.

Ausserhalb der Kinos betrat ein anderes ­Monster die Weltbühne: Im Januar 1933 wurde Adolf Hitler durch Reichspräsident Hindenburg zum Reichskanzler ernannt. Hitlers Machtübernahme beendete die Weimarer Republik und legte den Grundstein für das «Dritte Reich». In seiner ersten Ansprache forderte Hitler die rücksichtslose Germanisierung. Bereits im März wurde in Dachau das erste von über hundert Arbeits- und Vernichtungslagern eingerichtet. Damit begann die systematische Ausrottung von Millionen Juden, Sinti, Roma, Homosexuellen und ­Behinderten. Im Oktober erliess Hitler das «Schriftleitergesetz», das die Gleichschaltung der Presse einleitete und 1300 Journalisten vor die Tür setzte. Nachdem Deutschland auch noch aus dem Völkerbund ausgetreten war, unterzeichneten 88 deutsche Schriftsteller das «Gelöbnis treuester Gefolgschaft» zu Adolf Hitler …

In den USA löste der Demokrat Franklin D. Roosevelt den Republikaner Herbert Hoover ab, er versuchte mit einem «New Deal» die Folgen der Weltwirtschaftskrise zu lindern. Der «New Deal» ­leitete weitgreifende ­Wirtschafts- und Sozial­reformen ein, unter ­anderem ein Programm für unterernährte ­Schulkinder und ­für Sozialversicherungen.

«Sind Sie Seemann?»

«Seh ich vielleicht aus wie ein Cowboy?»

Das war der erste Dialog, den der Zeichner Elzie Crisler Segar seiner Comic-Figur Popeye in den Mund legte. 1933, vier Jahre später, ­produzierten die Fleischer Studios für Paramount Pictures die erste Folge von «Popeye the Sailor». Erst in diesen siebenminütigen Zeichentrick­filmen, die auch im Vorprogramm der meisten Kinos liefen, wurde der Spinat als Zaubertrank ­eingeführt. Schuld daran war der Basler Universitätsprofessor Gustav von Bunge, der 1890 den Eisengehalt von 100 Gramm Spinat mit 35 Milligramm angegeben hatte. 2007 enthüllte das British Medical Journal, dass sich der ­Professor um eine Dezimalstelle verhauen hatte. Somit hatten ganze Generationen von ­Heranwachsenden die vegetarische Variante des Waterboardings über sich ergehen zu lassen, ohne dass sich jemals Eisenwerte und Schulnoten ­verbessert hätten. Segar starb 1938, erst 44-jährig, an Leukämie. Mit seinem Tod verlor auch der pfeifenrauchende Matrose mit dem losen ­Mundwerk den subtilen Humor und verrohte zunehmend.

1933 erwarb Farny Wurlitzer das Patent für einen Musikbox-Mechanismus und brachte bald darauf die erste chromverzierte Jukebox im Art- déco-Stil auf den Markt. Für die Wirte war die Jukebox ein billiger Ersatz für die Livebands und eine zusätzliche Einnahmequelle. Als die US-­Regierung 1933 das Alkoholverbot aufhob, ­schossen Bars mit Musikboxen wie Pilze aus dem Boden. In den 50er-Jahren brachte der Rock ’n’ Roll den weltweiten Durchbruch und ­Kulturpäpste warnten wieder einmal vor der ­Versklavung des Menschen durch den Automaten. Erst mit dem Aufkommen der Diskotheken in den 70er-Jahren verlor die Jukebox an Attraktivität. 1974 musste der Marktführer, die Chicagoer ­Wurlitzer Company, die Produktion einstellen.

Claude Cueni ist Schriftsteller und lebt in Basel. www.cueni.ch

© Basler Zeitung, 11.9.2015

Buchvernissagen in ZH und BS

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Donnerstag, 17. September in Zürich: Orell Füssli, Kramhof, 20:15

Dienstag, 22. September in Basel: Thalia, Freie Strasse, 19:30

Türöffnung jeweils 15 Minuten vor Beginn. 

#chronos (2009)

Michael-Jackson

«You are not alone, I am here with you», sangen die untröstlichen Fans vor dem Anwesen des King of Pop. Der mit fast einer halben Milliarde ­verkaufter Tonträger erfolgreichste Entertainer aller Zeiten erlitt im Alter von 51 Jahren einen plötzlichen Herzstillstand. Michael Jacksons Privatarzt Conrad Murray (Monatslohn 150 000 Dollar) hatte ihm zum Einschlafen das Narkosemittel Propofol verabreicht. Er wurde wegen fahrlässiger Tötung zu vier Jahren Haft verurteilt.

«Yes, we can», war eine Dialogzeile aus der weltweit ausgestrahlten Kinderserie «Bob the Builder». US-Politstratege David Axelrod übernahm den Slogan für die Präsidentschaftskampagne von Barack Obama und begleitete damit den ersten Afroamerikaner ins Weisse Haus. Im gleichen Jahr erhielt Obama für «seine Stärkung der internationalen Diplomatie» den Friedensnobelpreis.

Während die UNO das Internationale Jahr der Aussöhnung verkündete, listete der «Fischer Atlas» für das Jahr 2009 achtunddreissig ­kriegerische Konflikte auf.

Unblutig, aber nicht minder desaströs waren die Auswirkungen der globalen Finanzkrise, die im Sommer 2007 als US-Immobilienkrise begonnen hatte. Nach dem Platzen weiterer Blasen ­meldeten immer mehr Unternehmen Insolvenz an; Banken, die ihren Top­shots jahrelang Boni in Millionenhöhe ausbezahlt hatten, ­mussten nun mit den Steuer­geldern des kleinen Mannes gerettet werden. Weltweit nahm die verantwortungslose Staatsverschuldung zu, die Weltwirtschaft geriet ins Straucheln, Japan rutschte in die schwerste Rezession der Nachkriegszeit und die Wall Street hatte den grössten Skandal ihrer Geschichte:

Seit den 70er-Jahren hatte der Finanz- und Börsenmakler Madoff mit absurden Traumrenditen Anleger geködert und mit dem frischen Geld neuer Anleger bezahlt. Tausende von Investoren mussten die Erfahrung machen, dass Renditen ab fünf Prozent möglicherweise mit einem etwas grösseren Risiko ­verbunden sind. Sie bezahlten diesen Lehrgang mit Verlusten von über 65 Milliarden Dollar. Madoffs ältester Sohn Mark erhängte sich 2010 in der Wohnung, sein jüngerer Bruder starb ein Jahr später an Krebs.

«Es gibt überhaupt nur zwei Dinge auf der Welt, die mir Spass machen – das Zweite ist der Film.» 2009 wurde der polnische Filmregisseur Roman Polanski aufgrund eines internationalen Haftbefehls bei seiner Einreise in die Schweiz verhaftet. Er war 1977 von einem Strafgericht in Los Angeles wegen «Vergewaltigung einer ­Minderjährigen unter Verwendung betäubender Mittel» angeklagt worden und war geflohen. Die internationale Kulturszene setzte sich für seine sofortige Freilassung ein. Nur gerade Regisseur Luc Besson erinnerte an die Prinzipien des ­Rechtsstaates: Rechtsgleichheit.

Als die 47-jährige Schottin Susan Boyle die Bühne der Castingshow «Britain’s Got Talent» betrat, wurde sie von Jury und Publikum wegen ihres Asperger-Syndroms verspottet. Doch als sie «I Dreamed a Dream» anstimmte, verschlug es selbst dem Berufszyniker Simon Cowell die Sprache: 150 Millionen Mal wurde der Clip auf Youtube angeschaut und Susan Boyle startete eine erfolgreiche internationale Karriere.

Was Hyperinflation und Währungsreformen bedeuten, konnte man 2009 in Zimbabwe beobachten. Nachdem bereits im Jahr zuvor beim Zimbabwe-Dollar Nummer 3 zehn Nullen gestrichen worden waren, erhielt man nach der erneuten Währungsreform für den Zimbabwe-Dollar Nummer 4 für eine Billion alte Dollars gerade noch einen einzigen neuen Zimbabwe-Dollar.

Jede Papierwährung findet eines Tages zu ihrem eigentlichen Wert: null (gemäss Voltaire).

Neuer Roman

pazific-anzeige

 

Gut zum Druck erteilt. Ab Freitag, den 18. September im Buchhandel. 

#chronos (1955)

cueni_jamesdean_1955_chornos«Wenn jemand sagt, er wolle über etwas nicht sprechen, so bedeutet das in der Regel, dass er an nichts anderes denken kann», schrieb Nobelpreisträger John Steinbeck in seinem Roman «Jenseits von Eden» (East of Eden). Der Weltklassiker wurde 1955 von Elia Kazan mit James Dean in der Hauptrolle verfilmt.

James Dean schloss noch im Herbst des ­gleichen Jahres eine Lebensversicherung ab, drehte einen Werbespot für Verkehrssicherheit («Fahrt vorsichtig!»), kaufte sich den legendären Renn­wagen Porsche 550 Spyder und prallte mit übersetzter Geschwindigkeit ungebremst in einen Ford, der ihm die Vorfahrt genommen hatte. Trotz Abenddämmerung hatte er die Scheinwerfer nicht eingeschaltet. Er starb auf dem Weg ins Krankenhaus 24-jährig.

Dass auch Rauchen tödlich enden kann, berichtete Reader’s Digest in einem Artikel über die Ursachen von Lungenkrebs. Marlboro verpasste ihren Zigaretten umgehend einen Filter, Designer Frank Gianninoto entwarf die rotweisse Verpackung und Leo Burnett erschuf den harten Marlboro Man im Wilden Westen. Durch die Emotionalisierung der Kampagne stieg der ­Verkauf bereits nach wenigen Monaten um das Fünfzig­fache. Vielleicht lag es auch daran, dass man der Marlboro das süchtig machende Ammonium beigemischt hatte. Heute ist Marlboro die meistverkaufte Zigarette und gehört zu den zehn wertvollsten Marken der Welt.

Bundeskanzler Konrad Adenauer war militanter Nichtraucher, denn «Raucher vernebeln nicht nur die Luft, sondern meist auch ihren eigenen Geist, so kann man dann leichter mit ihnen fertig werden …» Er reiste nach Moskau, um die letzten deutschen Kriegsgefangenen nach Hause zu holen.

Zehn Jahre nach Kriegsende waren Lebensmittel immer noch knapp, Fisch gab es jedoch in rauen Mengen. Die Firma Birds Eye zersägte kurzerhand gefrorenen Fisch in kinder­gerechte Portionen, panierte sie, briet sie kurz an und fror sie gleich wieder ein.

Heute assoziiert man Birds Eye nicht mehr mit Fischstäbchen, sondern mit dem weltberühmten The Bird’s Eye Jazz Club am Kohlenberg 20 in Basel.

Aufsehen erregte 1955 auch die Afroamerikanerin Rosa Parks, die sich in Alabama weigerte, ihren Sitzplatz im Bus einem weissen Fahrgast zu überlassen. Der anschliessende Aufruhr gilt als Geburtsstunde der schwarzen Bürgerrechts­bewegung. Das oberste Gericht gab ihr recht und beendete damit die Diskriminierung in öffentlichen Verkehrsmitteln.

1955 verfehlte der leidenschaftliche Jäger und Brauereibesitzer Hugh Beaver einen Goldregenpfeifer nur knapp und startete Recherchen über den schnellsten Vogel der Welt, um seinen Fehlschuss zu relativieren. Darauf schrieben die Zwillinge Ross und Norris McWhirter den ersten Sammelband der Rekorde, der seitdem jedes Jahr die Bestsellerlisten anführt. Einem Brauerei­besitzer haben wir also zu verdanken, dass wir heute wissen, dass der Weltrekord im Dauer­glotzen bei 87 Stunden und 43 Sekunden liegt und dass die Fingernägel von Chris Walton 6,02 Meter lang sind. Leider verschweigt das Buch, wie Chris «The Dutchess» die tägliche ­Körperpflege bewältigt.

Während in England die Eisenbahner streikten, knackte die Knutschkugel von VW die Millionengrenze und wurde erneut das meistverkaufte Auto des Jahres. Der VW 1200 hatte damals 30 PS und kostete 3950 D-Mark.

Während Shirley MacLaine wegen Hitchcock «Immer Ärger mit Harry» hatte, sorgte sich Carl Perkins um seine blauen Velourslederschuhe und schrieb den Rockklassiker «Blue Suede Shoes».

Well, it’s one for the money

Two for the show

Three to get ready

Now go, cat, go

Claude Cueni ist Schriftsteller und lebt in Basel.

© Basler Zeitung vom 14.8.2015

Vitus Huonder, Bischof der Pädophilen?

Der Blogbeitrag, auf den sich Blick und Blickamabend beziehen:

Das römisch-katholische Bistum Chur betrieb bis 1972 das katholische Internat Kollegium Maria Hilf. Danach ging es an den Kanton Schwyz über. Seit 2007 leitet Vitus Huonder als Bischof das Bistum Chur.

2014 erwähnte ich in meinem Roman „Script Avenue“ einen pädophilen Priester, der 1973 im Internat Schwyz auch als Präfekt zuständig war. Nach dem üblichen Entrüstungssturm teilte der damalige SVP Landammann und Regierungspräsident Walter Stählin der Presse mit, seine „Taskforce“ habe keine Fakten gefunden und würde den Fall deshalb ad acta legen, alles sei meiner Fantasie entsprungen. Stählin hatte keine Fakten, weil er die damaligen Mitschüler nicht befragen wollte. Das zeigt, dass Politiker manchmal auch dann lügen, wenn sie die „Wahrheit“ sagen.

Einige Wochen später besuchte mich der Bischofsvikar und Offizial der Diözese Chur, Kanonikus Msgr. Dr. med., Dr. iur.can  Joseph M. Bonnemain des Bistums Chur und wollte Näheres über die damaligen Vorfälle im Jahre 1973 im Internat Schwyz erfahren, weil der Kanton ihm die Namensliste der damaligen Mitschüler hartnäckig verweigerte…

Nach Rücksprache mit ehemaligen Mitschülern gab ich Dr. Bonnemain die Namen, Adressen und Telefonnummern jener Mitschüler, die bereit waren, als Zeitzeugen Auskunft zu geben. Ich zeigte ihm auch meinen damaligen Tagebucheintrag vom November 1973: „Das Glockengebimmel regt mich auf, der schwule Präfekt auch.“ Gemeint ist der pädophile Präfekt Costa, der ausgewählte Schüler immer wieder sexuell belästigte (mehr nicht). Er wurde wahrscheinlich noch zu einer Zeit eingestellt, als das Internat unter der Leitung des Bistums stand.

Herr Dr. Bonnemain war aufrichtig daran interessiert, die Fakten kennenzulernen, die ihm die Kantonsregierung hartnäckig vorenthielt. Wir sprachen auch ausführlich über ganz andere Themen, z.B. über die Art und Weise wie Menschen sterben, da ich meine Frau verloren hatte und er in Zürich Sterbende begleitet. Er hat mich in jeder Beziehung sehr stark beeindruckt und ich würde mir wünschen, dass es mehr Menschen wie Dr. Bonnemain in den Führungsspitzen der Katholischen Kirche gibt.

Er hat die Zeitzeugen später nicht kontaktiert. Vielleicht war er nach unserem Gespräch und der Durchsicht der Liste mit den Zeitzeugen bereits überzeugt, dass er es nicht mit einem Phantasten zu tun hatte.

Aber er muss selbstverständlich seinem Bischof Vitus Huonder davon berichtet haben. Ich hätte gerne gehört, dass Vito Huonder darauf die Pädophilen in den eigenen Reihen der „Gräueltat“ bezichtigt.


Antworten zu den am häufigsten gestellten Fragen:

Wurden Sie missbraucht?

Nein, ich, mein Kollege Dominique Hildebrand und andere, wurden wiederholt sexuell belästigt, aber nicht missbraucht. Ob andere missbraucht wurden, ist mir nicht bekannt.

Wieso habt ihr euch nicht bei der Internatsleitung beschwert?

Wir waren grossgewachsene, athletische Jugendliche in der Pubertät, während der pädophile Präfekt ein sehr schmächtiger Mann von vielleicht 1.55 war. Wir waren ihm physisch weit überlegen und deshalb nie in Gefahr. Da er uns jeweils von hinten an den Hintern griff, war es für eine Abwehr schon zu spät.

In der Pubertät ist es Ehrensache, dass man sich nicht ausgerechnet bei den Autoritäten beklagt, die man verachtet und verspottet. Wir rächten uns jedoch auf vielfältige und kreative Weise an ihm.

Vereinigung von Ehemaligen bestreiten die Vorkomnisse.

Die entsprechenden Leserbriefe, die dazu in der LNN zu lesen waren, stammen von Ehemaligen, die in den 60er Jahren in diesem Internat waren. Wie wollen die wissen, was sich 1973 hinter diesen Mauern abgespielt hat? Wir wollen sie den fehlbaren Präfekten gekannt haben? Sie argumentieren nach dem Motto: Was nicht sein darf, kann nicht sein.

Wieso hat die Taskforce des Kantons Schwyz keine Fakten gefunden?

Als langjähriger Verfasser von Krimi Drehbüchern, hätte ich alle ca. 70 Schüler angeschrieben, die seinerzeit mit mir diesen offenen Schlafsaal geteilt haben. In diesem Schlafsaal schlief auch der pädophile Präfekt, der abends ab und zu ausgewählte Schüler besuchte. Jedes Bett war auf drei Seiten mit Holz verkleidet und auf einer Längsseite mit einem Vorhang. Ich hätte den ca. 70 Ehemaligen einen anonymsierten Fragebogen zugeschickt und anschliessend Fakten gehabt. 

Die Taskforce hat keine Fakten gefunden, weil sie keine Fakten finden wollte. Das ist auch der Grund, wieso sie sich bis heute hartnäckig weigert, dem Bistum Chur die Liste der damaligen Schüler des Jahres 1973 auszuhändigen. Damit das Bistum Chur die damaligen Schüler nicht befragen kann. 

Ich habe später in wochenlanger Kleinarbeit Ehemalige ausfindig gemacht. Zum Teil hatte ich nach 40 Jahren ihre Namen vergessen. Den wichtisten Zeitzeugen stöberte ich in Marokko auf, er restauriert dort historische Gebäude. Ich gehe davon aus, dass auch er noch von den Medien befragt wird. Einen anderen fand ich in der frz. Schweiz.

Diente dieser Skandal 2014 nicht auch der Promotion ihres neuen Romans „Script Avenue“?

In der Tat werden in der Branche immer wieder kleine Skandale inzeniert, um Bücher, Filme oder Songs zu promoten. Bei der »Script Avenue« war es ein Zufall, der mir am ersten Tag willkommen war, aber bereits am darauf folgenden Tag mächtig ärgerte: Denn in der »Script Avenue» erzählte ich auf  650 Seiten das Leben eines Schweizer Forest Gump von 1956 bis 2010, also rund 50 Jahre Zeitgeschichte. Die Ereignisse im Internat Schwyz belegen nur wenige Monate bzw. nur gerade ca. drei von 650 Buchseiten. Und von diesen drei Buchseiten sind es wiederum nur wenige Zeilen die den »Skandal« ausgelöst haben (siehe Abdruck am Ende dieses Artikels). Als die Regierung in Schwyz beschloss, den Fall »mangels Fakten« ad acta zu legen, beschlossen Verlag und ich, es dabei bewenden zu lassen, damit der Roman als das wahrgenommen werden konnte, was er tatsächlich war: Ein eher philosophisches Werk über die Kürze des Lebens und die Vergänglichkeit aller Dinge, ein Schweizer Forest Gump Roman. 

Welche Bedeutung haben diese Ereignisse für die Ehemaligen heute?

Sie haben nicht die geringste Bedeutung. Wir haben für diese Ereignisse nur Spott übrig. Wieso wir das Ganze nach so vielen Jahren wieder aufwärmen? Wenn wir in den Medien – wie in diesen Tagen – einen Vitus Huonder hören, platzt dem einen oder anderen der Kragen und er erinnert sich an die Vorfälle im Jahre 1973 im Internat Schwyz. Diese Heuchelei ist für uns alle unerträglich.

Ist eine Anzeige gerechtfertigt?

Nein, es gilt Meinungsfreiheit ohne Wenn und Aber. Das gilt sowohl für den heuchlerischen Bischof als auch für seine Kritiker. Zur Meinungsfreiheit gehört, dass man Dinge sagen darf, die niemand hören will. Auch das gilt für beide Seiten. 


2014_05_Cueni_ScriptAvenue_001_Neu KopieDie damals beanstandeten Textstellen in Fettschrift.

Auszug aus dem Roman „Script Avenue“, 640 Seiten, Eine Schweizer Forest Gump Geschichte über 50 Jahre Zeitgeschichte.

Script Avenue

Die Ereignisse in Schwyz werden auf lediglich drei Seiten thematisiert. Auszug:


Die Mythen

Ich lebte von da an im Schatten einer monumentalen Bergpyramide, die von den Einheimischen Die Mythen genannt wurde. Wenn ihre Schädel unter dem Druck des warmen Föhnwindes zu explodieren drohten, sagten sie: Das sind die Mythen.

Am Fuß des Berges erstreckte sich auf einem grün bewachsenen Hügel ein langes Gebäude mit Kuppeln. Da das Gebäude isoliert in der Landschaft stand, hielt man es nicht gleich für eine Kirche. Das war nicht ganz falsch, denn in diesem Gebäude geschahen Dinge, die man in einer Kirche nicht tut.

Ich fand mich also wieder im katholischen Kollegium Maria Hilf des Bistums Chur, zugleich Internat und Gotteshaus. Hier wurden die schwarzen Schafe aus den verdorbenen Großstädten gesammelt, gezüchtigt, erniedrigt, gebrochen und nach einigen Jahren als zivilisierte Säugetiere in die Universitäten entlassen. Doch dieser religiöse Kerker war immer noch besser als der bisherige Gulag, ganz zu schweigen von Vilaincourt. Maria Hilf wurde ihrem Namen nicht gerecht. Die Internatsschule wurde von vier Dutzend Geistlichen geleitet. Sie züchtigten die gefallenen Engel aus Sodom & Gomorrha mit inquisitorischer Strenge, als wollten sie Gott beweisen, dass er in ihnen gute Feldweibel hatte. Vereinzelt kamen auch einige Bauernsöhne aus dem Dorf in die Anstalt. Sie mieden jedoch den Kontakt mit den Gescheiterten aus den Großstädten, denn sie verstanden sie nicht: Ihre forsche und flapsige Art war ihnen fremd. Sie kannten ihre Songs nicht und verstanden ihre Pointen nicht.

Als wollten meine Eltern mich zusätzlich bestrafen, veranlassten sie, dass ausgerechnet Onkel Arthur mich in dieses erzkatholische Zuchthaus brachte. Wir sprachen die ganze Fahrt über kein einziges Wort. Als wir schließlich ankamen, sagte er, dass er für die Internatskosten aufkommen werde, weil er noch was gutzumachen habe. Jetzt bezahlte ein pädophiler Kriegsverbrecher mein Wirtschaftsgymnasium. Ich tröstete mich damit, dass ich von nun an wenigstens meine Eltern nicht mehr sehen und hören würde. Ich hätte es aber vorgezogen, wenn man mir vor dem Eintritt den Schädel rasiert, die Füße in Ketten gelegt und einen quergestreiften schwarzweißen Pyjama angezogen hätte. Stattdessen wurde ich vor der Abfahrt zum ersten Mal in meinem Leben zu einem Friseur geschickt, der mich für teures Geld wie ein tuntiges Schulmädchen frisierte: gewellte Locken, über der Stirn war das Haar wie eine Perücke aus dem 18. Jahrhundert geföhnt, ein bisschen Chris Norman, als er noch bei Smokie sang und noch nicht den Crèmeschnitten verfallen war.

So wie er sahen die meisten Pop-Idole der 70er-Jahre aus. Tja, die Frauen wünschten sich damals feminine Männer, die ihre Joints teilten, einmal wöchentlich das Klo reinigten und beim Anblick von neugeborenen Meerschweinchen von Weinkrämpfen geschüttelt wurden. Die Männer wurden zu Softies dressiert, bis die Frauen zwanzig Jahre später ihre gezüchteten Pantoffelhelden nicht mehr ertrugen und sich wieder nach echten Machos mit maskulinem Kinn und mächtigem Brustkasten sehnten. Tja, als die Männer zu Frauen wurden, wurden die Frauen eben zu Männern.

Ich trug zu meiner peinlichen Frisur auch neue Kleider und sah aus wie ein Konfirmant aus Vilaincourt. Ich sollte damit einen guten Eindruck machen, der erste Eindruck sei eben wichtig, Kleider machen Leute und so. Ich kann dem ausnahmsweise zustimmen. Bei meinem Anblick war den anderen Schülern sofort klar, dass ich ein Großstadtspießer war, ein langweiliger Streber und möglicherweise sogar schwul, ich wurde gemieden. Bei der ersten Gelegenheit – also noch vor dem Frühgottesdienst – verkloppte ich den übelsten Spötter. Diese Taktik hatte ich von Onkel Arthur gelernt und aus unzähligen Knastfilmen, gleich am Anfang richtig reinhauen. Ich kaufte einem Schüler ein Paar Jeans und ein Black Sabbath-T-Shirt ab und machte allen klar, dass ich ein cooler Typ war und mit mir nicht zu spassen war.

Der Tag begann mit der Frühmesse. Beten, Frühstück und anschließend eine halbe Stunde zur religiösen Besinnung, die wir zum Austausch von Pornoheften nutzten. Tagsüber Schulunterricht.. Unsere Lehrer waren zum größten Teil Priester, Sie können sich vorstellen, wie aufregend die Evolutionsgeschichte dargestellt wurde. Wie konnte man die Erkenntnis, dass wir vom Affen abstammen, mit dem Glauben in Einklang bringen, dass wir nach Gottes Ebenbild designt worden sind? Es gab nur eine logische Erklärung. Dass Gott ein Affe war. Das hat mir später in Bangkok imponiert, als ich die Wandzeichnungen sah über die Entstehung der Welt. Ja, über Bangkok werde ich auch schreiben müssen. Leider.

Mein Vater war kein Affe, er konnte sogar Briefe schreiben. Als Abschiedsgruß sandte er mir einen netten Brief hinterher: Er stellte klar, dass ich meine Mutter krank gemacht hatte, und dass sie bereute, mich auf die Welt gebracht zu haben. Er hätte im Grunde auch nie Kinder haben wollen. Die bräuchte er nicht zum Glücklichsein, er bräuchte nur Gott und frische Luft. Die ehrenwerten Gottesmänner im Internat setzten noch einen drauf und erklärten uns, dass wir der Abschaum der Schweiz seien, den keine staatliche Schule mehr aufnehmen wollte. Mag sein, vielleicht hatten sie sogar Recht. Aber wir wurden auch vom Abschaum der Schweiz unterrichtet. Von katholischen Priestern, die aus nur vage bekannten Gründen hierher abgeschoben worden waren. Der eine soff wie ein Berserker und schlief während des Unterrichts über seinem Pult ein, andere fassten den Zöglingen beim kollektiven Waschen an den Hintern. Sie bestätigten erneut alle Klichees. Glauben Sie den Erfahrungen von Tausenden belästigter Jugendlicher in katholischen Anstalten, Sakristeien und in den Garderoben der Schweizer Gardisten im Vatikan: Pädophile Geistliche sind kein Klichee, sondern eine weit verbreitete Landplage. Vertrauen Sie nie Ihre Kinder einem katholischen Priester an!

In unserem Internat schliefen siebzig Jungs in einem riesigen Schlafsaal, Bett an Bett, nur mit Vorhängen getrennt. An Schlaf war nicht zu denken, man musste immer mit Überfällen und Racheakten rechnen. Einige Jungs wurden ganz übel drangenommen: Einer aus Graubünden wurde eines Nachts von vier Schülern im Schlaf überrascht und festgehalten, während ein Fünfter ihm eine Tube Senf in den After drückte. Ich glaube, es war sogar der extrascharfe Dijon der Firma Thomy. Es war also ratsam, bis nach Mitternacht wach zu bleiben, um Überfälle rechtzeitig zu bemerken. Für mich war das ein ziemlicher Stress, weil ich ja auf einem Ohr nichts mehr hörte und man mit nur einem Ohr schlecht wahrnehmen kann, aus welcher Richtung ein Geräusch kommt. Die Nächte waren überhaupt sehr unheimlich, denn siebzig Jungs stöhnten, schnarchten, murmelten im Traum oder masturbierten in der Dunkelheit. Das war ein bisschen Script Avenue in den Anfangsjahren.

Präfekt Castafiori (Name geändert) erschien jeweils gegen Mittag und starrte mich vorwurfsvoll an. Seine Lippen wurden dabei schmal wie ein Rasiermesser. Castafiori war das Morgenübel, das Nadelöhr vor den Waschtrögen, und jeder musste mit nacktem Oberkörper an ihm vorbei zu den langen Lavabos, die aussehen wie Kuhtränken. Hier putzt man sich die Zähne und wäscht sich den Nachtschweiß vom Körper. Castafiori spricht nie, er ist bloß ein weiterer schwarzer Sack mit kleinen, aufmerksamen Augen. Manchmal lächelt er verschmitzt, wenn seine Lieblinge an ihm vorbeigehen. Ich bin sicher, er atmet ihren Körpergeruch ein. Manchmal tätschelt er einem auf das Hinterteil und grinst schelmisch. Einige rächen sich an ihm und stülpen ihm nachts mit Sperma gefüllte Präservative über die Türfalle seines Zimmers. Nur wenige Schüler dürfen abends sein Zimmer betreten. Dort gibt es eine Menge Alkohol, in diesem Zimmer wird nie über Gott gesprochen, in diesem Zimmer gibt es gar keinen Gott.

Herr, wir haben gesündigt

Ich war einmal dabei, wir waren zu viert. (…)

Ende des Textauszuges. 


 

#chronos (1903)

 

great-train-robbery-1903-grangerNachdem die Eisenbahn die meisten Grossstädte miteinander vernetzt und das Leben beschleunigt hatte, begann der Siegeszug des motorisierten Individualverkehrs. Henry Ford gründete 1903 in Michigan mit 100 000 Dollar die Ford Motor ­Company, revolutionierte die Fliessbandtechnik und machte als Verfasser des antisemitischen Essays «The International Jew» von sich reden.

Im gleichen Jahr ratterte die berühmte ­Schauspielerin Anna Held mit ihrem futuristischen De-Dion-Bouton-Motordreirad durch ­Milwaukee und entflammte die Leidenschaft zweier Männer. Für ihr Motorrad. William Harley und Arthur Davidson zeichneten die erste ­Konstruktion eines eigenen 116-cm³-Motors und bezogen einen Schuppen hinter dem Haus. Vier Jahre später gründeten sie die «Harley-Davidson Motor Company of Milwaukee», die heute eine Marktkapitalisierung von 13 Milliarden hat.

In England setzten die beiden technikbesessenen Buben eines protestantischen Bischofs zum Höhenflug an. Zuerst flickten sie Fahrräder, ­verkauften die ersten Velos mit zwei gleich ­grossen Rädern, und entwickelten erste Flug­geräte. Die unverheirateten «Wright Brothers» gingen als Pioniere des ersten gesteuerten ­Motorflugzeugs in die Geschichte ein. Doch ­sieben konkurrierende Flugzeugpioniere bestritten diese Pionierleistung. Der Erfolg hat viele Väter, der Misserfolg bleibt ein Waisenkind.

Im russischen ­Kischinew mündete die von Armut und Arbeitslosigkeit geprägte Wirtschaftskrise in einen dreitägigen Massenpogrom von russischen Christen gegen Juden. Nach internationalen Protesten schritten die Behörden ein und ­Theodor Herzl organisierte in Basel den ersten Zionistischen ­Weltkongress.

In England wurde die «Women’s Social and Political Union» ­gegründet. In Berlin beschloss die internationale Währungskonferenz einen festen Wechselkurs zwischen Silber- und Goldwährungen.

Im Vatikan starb Papst Leo XIII. im Alter von 93 Jahren, nachdem er 86 päpstliche Rund­schreiben verschickt und mindestens so viele ­Fässer Vin Mariani genossen hatte. Das war ein berauschendes Getränk aus Rotwein und ­Extrakten des ­Coca-Strauches, dem historischen Vorläufer von Coca-Cola. Möglicherweise ­euphorisiert von ­diesem edlen Tropfen, verlieh ihm Papst Leo XIII., kraft seines Amtes, eine ­Goldmedaille, worauf Leo XIII. fortan die Etikette des Vin Mariani schmückte.

Edwin S. Porter drehte den ersten Western der Filmgeschichte, «The Great Train Robbery». In 14 realistischen Szenen erzählte Porter die Geschichte des Grossen Eisenbahnraubs und gilt seitdem als Pionier der Filmerzählung und ­Montagetechnik. In Farbe war natürlich nur das Filmplakat. Der Film hatte eine rekordverdächtige Länge von zwölf Minuten.

In der Schweiz wurde der erste Hooligan aktenkundig, ein Italiener namens Benito ­Mussolini, der im Polizeirapport als «notorischer, marxistischer Unruhestifter» bezeichnet wurde.

Dass die Auferstehung von den Toten ­durchaus möglich ist, bewies der 1893 ­verstorbene Sherlock Holmes, der in den ­Reichenballfällen den Tod fand und nach der ­Kündigung von 20 000 zornigen Abonnenten wieder zum Leben erweckt werden sollte. Obwohl Arthur Conan Doyle nicht nur Autor, sondern auch Arzt war, weigerte er sich, zu reanimieren: «Wenn ich ihn nicht töte, wird er mich ­umbringen!» Er stellte deshalb unerfüllbare ­Honorarforderungen, doch das Magazin erfüllte sie, und als selbst Doyles Mutter sich den ­Protesten anschloss, wachte Sherlock Holmes im Jahre 1903 in «The Return of Sherlock Holmes» wieder auf. «Elementary, my dear Watson.»

Claude Cueni ist Schriftsteller und lebt in Basel. www.cueni.ch © Basler Zeitung

Interview

cueni_interview_ostschweiz_2015

Erschienen in der Ostschweiz, 1.7.2015

#chronos (1950)

chronos_1950_cueni1950 kam der im Vorjahr in den USA in ­Schwarz-Weiss abgedrehte Spielfilm «All The King’s Men» in die Kinos des zerbombten ­Deutschlands. Der Film basierte auf dem Roman des Pulitzerpreisträgers Robert Penn Warren. Das Politdrama war ein Plädoyer gegen Diktatur und Terror. Der deutsche Titel war «Der Mann, der herrschen wollte».

Herrschen, aber gleich über den ganzen ­Planeten, wollte auch der erfolgreiche Science-Fiction-Autor L. Ron Hubbard. Er publizierte 1950 seine neue «Lehre und Technik zur ­Manipulation menschlichen Verhaltens» unter dem Titel ­«Dianetik». Er schrieb: «Dianetik ist eine ­Ingenieur-Wissenschaft, sie enthält daher keine Meinung über Religion, denn Wissenschaften basieren auf Naturgesetzen.» Vier Jahre später erkannte der notorische Hochstapler und ­praktizierende Satanist die wirtschaftlichen und steuerlichen Vorteile von Religionsgemein­schaften, benannte sein Hauptquartier in ­«Scientology-Kirche» um und bezeichnete fortan seine ­Aussendienstmitarbeiter als «Geistliche». Das Akquirieren von Kunden in Lebenskrisen bezeichnete er jedoch weiterhin als ­«herzustellende ­Produkte der Produktions­maschine Scientology».

Mit ganz anderen Problemen beschäftigte sich Doktor Ernst Gräfenberg in seiner Praxis. Er entdeckte eine erogene Zone in der Vagina der weiblichen Kundschaft und nannte sie «Gräfenberg-Zone», obwohl seine Kollegen nach aufopfernden Feld­versuchen bestritten, und teilweise immer noch bestreiten, dass es einen G-Punkt, ­G-Spot oder eine G-Zone gibt. Es wird weiter geforscht.

Forschungen anderer Art betrieb eine Couch-Potato im Ingenieurbüro der Firma Zenith Radio Corporation. Sie entwickelte 1950 das Gerät «Lazy Bones» (Faulpelz), die erste ­Fernbedienung, die noch über Kabel mit dem Fernseher verbunden war. Nachdem der Tüftler mehrmals über sein eigenes Kabel gestolpert war, wurde das Gerät aus dem Handel genommen und sechs Jahre später durch den kabellosen «Space Commander» ersetzt. Mit der inflatorischen Zunahme neuer TV-Kanäle kam Zapping in Mode, das ungeduldige Hin- und ­Herschalten mit verminderter Aufmerksamkeit. «Zapped» bedeutete übrigens im Wilden Westen abgeknallt, und so denken sich heute TV-­Programmentwickler alles mögliche aus, damit ihre Sendung nicht abgeknallt wird.

1494 teilte Papst Alexander VI. (Borgia) mit dem Vertrag von Tordesillas die Welt zwischen den beiden Seemächten Portugal und Spanien auf, 1950 teilten die Siegermächte die Welt erneut und starteten ein ruinöses Wettrüsten zwischen Ost und West. Es begann die Epoche des Kalten Krieges und der gegenseitigen Abschreckung. Auch Deutschland war nun in zwei deutsche Republiken aufgeteilt.

Während sich die demokratische ­Bundesrepublik Deutschland mit ihrer sozialen Marktwirtschaft in den nächsten Jahrzehnten zu einer der stärksten Volkswirtschaften der Welt entwickelte, scheiterte die realsozialistische ­Parteiendiktatur, die sich zum Marxismus-­Leninismus bekannte, wie üblich an der Realität und an der Natur des Menschen. 1990 wurde der Unrechtsstaat aufgelöst.

Der Kalte Krieg führte 1950 zum ersten ­Stellvertreterkrieg auf fremdem Boden. Das einst von Japan annektierte Kaiserreich Korea war nach Hitlers Niederlage von den USA und der Sowjetunion in Nord- und Südkorea aufgeteilt worden. Nachdem der Norden den Süden ­angegriffen hatte, griffen die USA und China in den Konflikt ein. Die USA erwogen erneut den ­Einsatz von Atombomben, die Welt befürchtete bereits den nächsten Weltkrieg.

Und Frank Sinatra sang: «I’ll Never Smile Again».

Claude Cueni ist Schriftsteller und lebt in Basel.

© Basler Zeitung; 17.07.2015

NZZ Rezension

dummy_giganten_klein2Welch wunderbarer Grössenwahn!

Wie immer beim Basler Schriftsteller Claude Cueni ist der Plot vom Feinsten. (…) Ein Roman, der in verschiedenen Strängen die Megalomanie des 19. Jahrhunderts auf den Punkt bringt, ein Text der in seinem Dukturs die Atemlosigkeit, die enorme Beschleunigung dieser Zeit simuliert.

NZZ 10.7.2015

 

#chronos (1940)

cueni_chronos1940»Niemand kauft einem irischen Einwanderer Frikadellen im Brot ab.« Mit diesen Worten beantwortete eine Bank das Kreditgesuch der Gebrüder Richard und Maurice McDonald, die soeben die Firma McDonald’s gegründet hatten. 1961 verkauften sie das Konzept an den Milkshake-Maschinen-Verkäufer Ray Kroc für 2,7 Millionen Dollar. Kroc entwickelte die Idee weiter und erfand die Quickservice-Systemgastronomie mit Franchise Teilnehmern. Heute ist McDonald’s die weltweit erfolgreichste Fast-Food-Kette. Obwohl Ernährungswissenschafter und Umweltorganiationen (»Eating up the Amazon«) den Konzern regelmässig an den Pranger stellen, ist das Maskottchen Ronald McDonald mittlerweile fast so bekannt wie der Weihnachtsmann.

1940 wurden in Delaware, der heute »legalen« amerikanischen Steuerfluchtoase, der erste Nylonstrumpf aus echter Kunstfaser verkauft. Alleine in Pittsburgh prügelten sich 40.000 Frauen um die heissbegehrten Nylonstrümpfe (»Nylon Riots«). Erfinder war der Chemiker Wallace Careothers, der eigentlich eine echte Kunstfaser für Zahnbürsten hatte entwickeln wollen. Wer sich keine Nylonstrümpfe leisten konnte, färbte sich die Beine beige und malte mit dem Schminkstift die Naht nach.

Hitlers Wehrmacht hatte ihren Blitzkrieg fortgesetzt und die unvorbereiteten neutralen Staaten Belgien, Luxenburg und die Niederlande unterworfen. Nach der Kapitulation Frankreichs begann sie einen unerbitterlichen Luftkrieg gegen den letzten verbliebenen Gegner: England. Hitler unterbreite anlässlich einer Reichtstagsrede ein Friedensangebot, um freie Resourcen für seinen geplanten Russlandfeldzug zu haben, doch der neue Premierminister Winston Churchill lehnte ab und versprach seinem Volk nichts »als Blut, Schweiss und Tränen«. Als die deutsche Luftwaffe die ersten Bomben über London abwarf, befahl Churchill Vergeltungsangriffe auf Berlin: »Never, never, never give up«.

Mit dem Dreiländerbund zwischen Italien, Deutschland und Japan verschmolzen die Kriegsschauplätze in Europa, Afrika und Asien zu einem einzigen grossen Flächenbrand, der nun Millionen Menschen das Leben kostete. Aber trotz aller Kriegsverbrechen und Völkermorde hatte der Zweite Weltkrieg den Höhepunkt des Grauens noch lange nicht erreicht. SS Reichsführer Heinrich Himmler ordnete das Errichten des Konzentrationslagers Ausschwitz an.

In Paris nahm sich Joseph Meister das Leben. Er hatte sich als Neunjähriger als Versuchskaninchen für die erste Tollwutimpfung von Louis Pasteur zur Verfügung gestellt und später zum Dank einen Job als Pförtner im Institut Pasteur erhalten. Als die Nazis ihm befahlen, Pasteurs Grab zu öffnen, nahm er sich das Leben.

Während in Europa sowohl die Olympischen Spiele als auch die Vergabe des Nobelpreises ausgesetzt wurden, vergab Hollywood ihre Oscars. Alfred Hitchcock erhielt für den in schwarzweiss verfilmten Roman »Rebecca« von Daphne du Maurier einen Oscar für den besten Film und insgesamt elf Nominationen.

1940 veröffentliche der amerikanische Folkmusiker Woody Guthrie sein Album »Dust Bowl Ballads« mit dem Hit »Do-We-Di«. Er erkrankte später, wie auch seine Mutter und zwei seiner Kinder, an einer neuro-degenerativen Erbkrankheit, der Huntingtonsche Chorea, die früher Veitstanz genannt wurde. Bob Dylan besuchte sein Idol am Sterbebett und widmete ihm später den »Song to Woody«.

Ernest Hemingway publizierte »For Whom the Bell Tolls (Wem die Stunde schlägt)« und schrieb: »Die Welt ist ein schöner Ort und wert, dass man um sie kämpft.«

»Ich schreibe wie unter Hypnose.« Interview

 

cueni_liberty_01Interview von Heinz Aerni / Südostschweiz 1.7.15

HA: Herr Cueni, steht man in der Krone der Freiheitsstatue in New York oder unter dem Eiffelturm in Paris, dann liegt das Wort Gigantismus in der Tat auf der Zunge. Sie nähern sich nun in Ihrem Roman den beiden Erschaffern dieser Bauwerke. Erinnern Sie sich noch, was oder wo die Initialzündung dafür war?

CC: Als Bub hat mich Bartholdis Löwe von Belfort sehr beeindruckt, ich habe später oft sein Geburtshaus in Colmar besucht, das heute ein Museum ist, aber es gibt keine eigentliche Initialzündung, ich speichere vieles intuitiv und im Laufe der Jahre entsteht ein Stoff für einen Roman.

HA: Während die Charakterbeschreibungen des Bildhauers Bartholdi und des Ingenieurs Eiffel der Realität näherkommen, basiert der Konflikt – unter anderem natürlich durch eine Frau – auf Fantasie. Wie kann man sich die Arbeit zwischen Wahrheit und Fiktion vorstellen? Wo lagen die Herausforderungen?

CC: Der Roman besteht aus historisch gesicherten Fakten, die ich einer fiktiven Dramaturgie unterzogen habe. Ursprünglich schrieb ich einen klassischen historischen Roman und bewegte mich eng an der historischen Zeitschiene.

HA: Aber Sie kamen schlussendlich davon ab.

CC: Ja, irgendwie haben die historischen Figuren in meiner Fantasie ein Eigenleben entwickelt und diese Szenen fand ich wesentlich spannender und bewegender. Ich schrieb den Roman deshalb neu. Es ist sicher ein wesentlich besseres Buch geworden, aber immer noch auf Fakten basierend.

HA: Historische Stoffe haben Sie als Romancier schon immer fasziniert, nun befinden wir im Roman «Giganten» in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Eigentlich die Epoche, die unsere heutige Gesellschaft massgeblich gestaltete. Haben Ihre Recherchen neue Schlussfolgerungen zu unserer Geschichte ermöglicht?

CC: Meine letzten Romane spielen im 17., 18. und 19. Jahrhundert. Eigentlich erlebt jede Generation Finanz- und Wirtschaftskrisen, Enteignungen, Verarmung, Kriege, Epidemien – das ist historisch betrachtet so alltäglich wie die vier Jahreszeiten. Wer nur die Gegenwart kennt, denkt, so was sei heute nicht mehr möglich. Aber diese Katastrophen werden sich immer wieder ereignen, denn die Natur des Menschen verändert sich nicht. Er bleibt ein rücksichtsloser Jäger, der nur an seinen eigenen Nutzen denkt.

HA: Beim Lesen wähnt man sich auch immer wieder im Alltäglichen dieser Zeit. Können Sie sich einfach aus der Gegenwart ausklinken?

CC: Ja, das ist nie ein Problem. Kaum habe ich das erste Wort geschrieben, sitze ich in einer anderen Epoche, und selbst wenn links und rechts Bauarbeiter hämmern und bohren, nehme ich das nicht mehr wahr.

HA: Wie machen Sie das?

CC: Ich brauche auch keine besonderen Arbeitsbedingungen. Ich schreibe beinahe wie unter Hypnose, weil ich in Gedanken Tag und Nacht bei meinen Figuren bin.

HA: Was kann die Belletristik besser als ein Sachbuch? Warum die Form des literarischen Erzählens?

CC: Der historische Roman ist ein Film, der nur mit der Fantasie der Leser vollendet wird. Es entsteht ein prächtiges Gemälde, ein Unikat. Das Sachbuch hingegen besteht aus Fakten, Zahlen, Tabellen, Abbildungen: Der Inhalt ist für alle Leser gleich. Es geht um Informationen, nicht um Emotionen.

HA: Wenn ich ein Gemälde mit einem lesenden Menschen mit Ihrem Buch in den Händen malen müsste, wie sollte das aussehen?

CC: Ich würde das Gemälde eines Orientalisten des 19. Jahrhunderts nehmen. Wüsten, Ruinenstädte, Beduinen und im Bild sitzt ein Mensch des 21. Jahrhunderts, der durch seine zeitgenössische Kleider auffällt. Witzig wäre natürlich auch ein Leser in einem Pariser Bistro des 19. Jahrhunderts.

 

 

#chronos (1998)

cueni_biglebowskichronos«Ich kann Ihren Drecksnamen nicht leiden, Ihr Drecksbenehmen nicht leiden und Ihre ­Drecksfresse nicht leiden. Hab ich mich klar genug ausgedrückt?» «Tut mir leid, hab grad nicht zugehört.» Die Weltpremiere fand am 18. Januar 1998 auf dem Sundance Film Festival statt. Jeff Bridges spielte im Kultfilm «The Big Lebowski» den Dude. Es war eine Filmkomödie der Brüder Ethan und Joel Coen.

«Sag mir eins, Dude: Musst du eigentlich immer so viel fluchen?» «Wasn das für ne bekackte Frage?»

Viele Fragen hatten auch die über 10 000 angereisten Delegierten und Medienleute im japanischen Kioto. Doch die Antworten zum Rahmen­abkommen der Vereinten Nationen über ­Klimaveränderungen waren eher dürftig. Die Konferenzteilnehmer referierten wortreich und endlos über die völkerrechtlich verbindlichen Zielwerte für den Ausstoss von Treibhausgasen. Dem Klima hat das Kyoto-Protkoll wenig gebracht, dafür umso mehr dem Nachtleben von Kioto.

Erotik gab es auch im Weissen Haus. Während Bill Clinton seinen Nuclear Football (Atomkoffer) stets unter Kontrolle hatte, verlor er die Kontrolle über ein ebenfalls gut behütetes Ding, um dessen Pflege sich die Praktikantin Monica Lewinsky oral kümmerte. Während das amerikanische ­Repräsentantenhaus ein Amtsenthebungsverfahren einleitete, beteuerte Clinton: «Ich hatte keine sexuellen Beziehung zu dieser Frau. Und ich muss jetzt an meine Arbeit für das amerikanische Volk zurückkehren.»

Pol Pot drohte kein Amtsenthebungsverfahren, ­sondern die Auslieferung an die USA. Im Norden Kambodschas beging er deshalb ­Suizid. Leider kam der 70-Jährige nicht schon früher auf die Idee, denn während seiner kommunistischen ­Diktatur eliminierte der «Bruder Nr. 1 der Roten Khmer» rund zwei Millionen nicht erziehbare Kambodschaner. Sein kommunistisch-primitiv­istischer Bauernstaat war an seiner Paranoia und an der Realität gescheitert.

An der Realität scheiterte auch die Rote- Armee-Fraktion, die sich wie eine Sekte in einer hermetisch abgeriegelten Parallelwelt abgeschottet hatte. Ihr Konzept, mit Bombenterror die ­Bevölkerung zu einer Revolution anzustacheln, war nicht wirklich stringent.

1998 löste Gerhard Schröder («Auch Sie ganz persönlich können Konjunkturmotor sein») ­Helmut Kohl («Entscheidend ist, was hinten ­rauskommt») ab und erklärte: «Putin ist ein lupenreiner Demokrat.» 1998 ging Russland bankrott. Der Rubel verlor 60 Prozent, was wiederum den in US-Dollar verschuldeten russischen Geschäftsbanken den Garaus machte. Der einsetzende Bankenrun stiess zahlreiche Banken in die Insolvenz.

Die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union beschlossen, trotz den Warnungen renommierter Ökonomen, die Einführung des Euros. Die Politik hatte sich durchgesetzt. Die ­Aufgabe der Deutschen Mark (DM) war der Preis für die Wiedervereinigung. Der Euro wurde am 1. Januar 1999 als Buchgeld, drei Jahre später als Bargeld eingeführt. Der Euro sollte ein Fitness­programm werden, das gleichzeitig Übergewichtigen und Magersüchtigen hilft. In den Hitparaden triumphierten die Soundtracks von «Titanic» und «Armageddon».

Irgendetwas Wichtiges vergessen? Den ­Gomphus clavatus? Nun gut, die deutsche ­Gesellschaft für Mykologie wählte das Schweins­ohr zum Pilz des Jahres.

And one more thing: Bill Gates persönlich ­testete auf der Comdex 98 live das neue Betriebssystem Windows 98. Doch was die angereisten Journalisten sahen, war der «Blue Screen of Death», der blaue Windowsbildschirm, wenn das System abstürzt. Zum Glück wurde die Software nicht in Autos eingebaut.

Claude Cueni ist Schriftsteller und lebt in Basel.

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© Basler Zeitung; 19.06.2015

#Giganten »Eine spannende Geschichte«

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© Die Weltwoche; 18.06.2015; Ausgaben-Nr. 25; Seite 66

Literatur

Glanz des Turms

Von Rolf Hürzeler

Bildhauer Frédéric-Auguste Bartholdi und Ingenieur Gustave Eiffel waren im 19. Jahrhundert unerbittliche Rivalen. Zumindest gemäss dem neuen Roman des Basler Schriftstellers Claude Cueni. Von Rolf Hürzeler

Der eine war der feinfühlige Künstler, der andere der kalte Rechner – Visionäre waren beide: Die beiden Franzosen Frédéric-Auguste Bartholdi und Gustave Eiffel setzten im 19. Jahrhundert Meilensteine. Eiffel mit dem nach ihm benannten Turm für die Weltausstellung von 1889 in Paris, Bartholdi mit der Freiheitsstatue im Hafen von New York, die drei Jahre zuvor auf Liberty Island eingeweiht worden war. Die beiden Männer sind die Protagonisten im neuen historischen Roman «Giganten» des Basler Schriftstellers Claude Cueni.

Der Autor ist mit diesem Buch zu seinen historischen Romanen zurückgekehrt, zu geschichtlichen Büchern wie «Cäsars Druide» oder «Das grosse Spiel» über den Finanzjongleur John Law im 18. Jahrhundert. Letztes Jahr konnte der 59-jährige Schriftsteller nun in einem neuen Genre mit dem teilweise autobiografischen Roman «Script Avenue» einen Auflagenerfolg feiern an einer Fortsetzung dieses Werks arbeitet er gegenwärtig. Zudem hat Cueni zahlreiche Drehbücher für Fernsehserien wie «Peter Strohm» geschrieben und Computerspiele entwickelt, unter anderem das weltweit verkaufte Anti-Aids-Game «Catch the Sperm» von 2001.

Im Bistro mit Engels

Der Autor erzählt nun mit «Giganten» eine spannende Geschichte über die angebliche Rivalität zwischen Eiffel (1832–1923) und Bartholdi (1834–1904), die er mit ereignisgeschichtlichen Episoden aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schmückt. In Cuenis Worten ist der Roman eine «Fiktion aus historisch gesicherten Fakten und teilweise erfundenen Ereignissen».

So entzündet sich der Konflikt – nach jugendlicher Freundschaft – zwischen den beiden Pionieren im Wettbewerb um die Gunst einer fiktiven Angélique. Der flamboyante Eiffel kann ihr materielle Sicherheit bieten, Bartholdi viel Liebe; sie will beides. Wie in allen seinen Büchern setzt der Autor auf heftige Emotionen, etwa als die beiden Kontrahenten sich bei einem Zwist um die begehrte Geliebte gegenüberstehen: «Frédéric fixierte Gustave, lauerte auf eine Reaktion, doch Gustaves Gesicht zeigte keine Reaktion.» Die beiden Männer starrten sich an «und erkannten, dass sie Rivalen geworden waren».

Besonders reizvoll für den Leser ist die Begegnung mit historisch verbürgten Figuren. Da gibt es einen Besuch im Atelier des legendären Fotografen Gaspard-Félix Tournachon, genannt Nadar. Auf einer abenteuerlichen Reise der Protagonisten nach Ägypten tritt Ferdinand de Lesseps auf, der Erbauer des Suezkanals. Oder Cueni zollt dem schweizerisch-französischen Ingenieur Maurice Koechlin Tribut, der für seinen Meister Eiffel die Knochenarbeit bei der Konstruktion des Turms leistete. Selbst der kommunistische Philosoph Friedrich Engels fehlt nicht. Er zieht in einer Bistrorunde über die Schweiz her: «Derart von oben herab, derart schlecht wie die Schweiz ist noch kein anderes Land in Europa behandelt worden. Sie gab auf jede immer unverschämtere Forderung einen noch demütigeren Bescheid. Eine Infamie nach der andern wurde geschluckt, bis die Schweiz in Europa auf die tiefste Stufe der Verachtung gesunken ist.» Engels hatte dies zwar 1853 in der New York Daily Tribune geschrieben, aber Cueni weist ihm die Worte in schriftstellerischer Freiheit beim Trinken im Bistro zu.

Abenteuerlich ist die erzählerische Exkursion, auf die Cueni die halbfiktionale Figur Charles Bartholdi schickt, den älteren Bruder von Frédéric. Charles hatte zwar tatsächlich gelebt, aber es ist kaum etwas bekannt über ihn. Der Mann ist in der Version Claude Cuenis der Typ Gambler, dem das Leben nicht risikoreich genug sein kann. So trampt der Unglückliche in einen entlegenen Winkel Alaskas, wo Gold gefunden wurde. Wie unzählige andere Glückssucher kehrte er nicht mehr zurück; Cueni schildert dessen vergeblichen Kampf gegen die Unbilden der Natur im Stil einer fiebrigen Horrorgeschichte.

Cueni macht für den Leser tollkühne Eskapaden in der vor 150 Jahren vielfach unerschlossenen Welt erlebbar, und er veranschaulicht das rechtlose Leben in weiten Teilen Amerikas. Mit dieser Expedition ebenso wie mit der Nilfahrt zu den Pyramiden illustriert der Autor, wie gefährlich das Leben in jener Zeit für Reiselustige war – nicht nur wegen des fehlenden Komforts. Der Schriftsteller schildert ausführlich die Folgen kolonialer Sexabenteuer der Europäer im Orient – fast alle Männer kamen mit einer Syphilisinfektion heim.

Wie so häufig, wenn es im Leben um Erfolge und Niederlagen geht, findet sich der Schlüssel dazu in der Kindheit. Cueni beschreibt ausführlich das bürgerliche Leben der Familie Bartholdi im elsässischen Colmar. Die Familie zerfällt nach dem Selbstmord des Vaters, der sich mit Eisenbahnaktien verspekuliert hat. Trotz einer fast symbiotischen Mutter-Sohn-Beziehung konnte der Künstler Bartholdi Karriere machen; der sich vernachlässigt fühlende Charles fand dagegen den Tritt im Leben nicht. Er konnte sich dem Einfluss des toten Vaters nie entziehen und stand in einer schmerzhaften Liaison mit dessen Geliebter, die ihn unerbittlich erpresste.

Der Roman «Giganten» enthält schweizerisches Lokalkolorit. Eiffel wie Bartholdi waren mit der Stadt Basel verbunden. Bartholdis Strassburger Denkmal beim Bahnhof SBB begrüsst seit Ende des 19. Jahrhunderts den Besucher der Stadt mit imperialer Geste. Eine tragische Dimension dagegen hat die Verbindung von Gustave Eiffel zu Basel. Eine von ihm konstruierte Eisenbrücke stürzte am 14. Juni 1891 über dem Flüsschen Birs bei Münchenstein zusammen, als ein Personenzug darüberfuhr. Der Unfall kostete 73 Passagieren das Leben – das bis heute schwerste Eisenbahnunglück der Schweiz. Die Katastrophe war auf Konstruktionsmängel zurückzuführen, die dem Nachruhm Eiffels indes nichts anhaben konnten; der Glanz des Pariser Turms war zu gross.

Die Lektüre von «Giganten» ist ein unterhaltender Sommerlesestoff, der den Leser zu einer fantasievollen Reise einlädt. Man kann in all den Intrigen und Abenteuern mitschwelgen – und erfährt dabei Überraschendes vom Leben im 19. Jahrhundert.

© Die Weltwoche; 18.06.2015; Ausgaben-Nr. 25; Seite 66

TV Beitrag Schweizer Fernsehen

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News Sendung »10vor10« vom 10. Juni 2015.

Redaktionstext: Schriftsteller aus Leidenschaft
Seit Anfang dieser Woche ist das neue Werk des Schriftstellers Claude Cueni, der historische Roman «Giganten» im Buchhandel erhältlich. Dass der Autor dieses Buch herausbringt, ist nicht selbstverständlich. Schicksalsschläge haben ihn immer wieder zurückgeworfen. «10vor10» hat mit dem Autor über seine Leidenschaft gesprochen.

#chronos (1892)

jt2cg91892 gründete der Apothekengrosshändler Asa Griggs Candler The Coca-Cola Company ­ nachdem er John Stith Pemberton die Rechte für 2300 US-Dollar abgekauft hatte. 1917 zog er sich aus der Firma zurück und wurde Bürgermeister von Atlanta. Um sein Lebenswerk zu sichern, ­vermachte Candler die Firma seinem Sohn. Doch dieser veräusserte das Vorerbe heimlich für 25 Millionen an ein Konsortium.

Heute verkauft Coca-Cola täglich 1,76 Milliarden Getränke in 206 Ländern, weist eine ­Marktkapitalisierung von rund 170 Milliarden aus und einen Zuckergehalt von 106 Gramm pro Liter Standardcola. Offiziell nicht erhältlich ist ­Coca-Cola in Ländern, die immer noch mit der «Überwindung des Kapitalismus» beschäftigt sind: Auf Kuba trinkt Fidel Castro das von Nestlé vermarktete «Tukola», doch dank Obama ist das Original in Griffnähe.

Während in Hamburg die letzte grosse ­Cholera-Epidemie ausbrach, liess der ­amerikanische ­Ingenieur Jesse Wilford Reno den Vorläufer der heutigen Rolltreppen ­patentieren. In einer ­späteren Open-Air-­Ausstellung benützten ­Tausende von Neugierigen erstmals eine rollende Treppe.

Steil abwärts ging es hingegen mit dem ­Ingenieur Gustave Eiffel. Nachdem er mit dem ­Eiffelturm (1889) einen weltweiten Triumph gefeiert hatte, krachte seine Eisenbrücke in ­Münchenstein (1891) ­zusammen und riss 80 ­Menschen in den Tod. Bereits ein Jahr später zerstörte der Panamaskandal (1892) seine Reputation endgültig. Für Ferdinand de Lesseps, dem gefeierten Erbauer des ­Suezkanals, hatte Eiffel in Panama gigantische ­Schleusen für die bereits bankrotte Compagnie ­universelle du canal interocéanique de Panama entwickelt. Nachdem 510 französische Parlamentarier und die meisten ­Zeitungsredaktionen bestochen worden waren, ermunterten Regierung und Medien die ­Öffentlichkeit zu Aktienkäufen. Fast eine Million Franzosen verloren ihre Ersparnisse. Gustave ­Eiffel war durch sein Insiderwissen zu einem der reichsten Männer Europas geworden. Während Lesseps zu fünf Jahren Haft verurteilt wurde, erhielt Gustave Eiffel zwei Jahre. Strassen und Plätze, die bereits seinen Namen trugen, wurden wieder umbenannt. Eiffel zog sich in die Anonymität zurück.

Zurückgezogen hat sich auch Paul Gauguin, nachdem er als Arbeiter auf der Panamabaustelle geschuftet hatte. Auf Tahiti lebte er mit der 13-jährigen Teha’amana zusammen, die ihm auch als Modell diente. Im Jahre 1892 malte er zwei Frauen in einer Südseelandschaft, «Nafea faa ipoipo» (Wann heiratest du?). Das auf 300 Millionen Dollar geschätzte Gemälde wurde angeblich 2015 von der Herrscherfamilie von Katar ­erworben, einer arabischen Monarchie, die vor allem für Scharia, Fifa-Korruption, Menschenrechtsverletzungen und den permanenten ­sexuellen Missbrauch ausländischer Haushalt­angestellten bekannt ist.

Einen eher unfreiwilligen Rückzug aus dem Tagesgeschäft erlebten die fünf Dalton-Brüder. In Coffeyville, im US-Bundesstaat Kansas, wurden vier von ihnen nach mehreren Banküberfällen von einem Bürgeraufgebot gestellt und in einer Schiesserei erschossen. Emmett Dalton überlebte als Einziger und wurde zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt, aber 1907 begnadigt. Er arbeitete fortan als Berater für Westernfilme in Hollywood. Ein paar Jahre vor seinem Tod ­veröffentlichte er die Autobiografie «When the Datlons Rode» (deutsche Ausgabe: «Ich ritt mit den Daltons»). Die Memoiren waren Inspiration für den französisch-belgischen Zeichner Maurice de Bévère, der unter dem Künstlernamen Morris, die «Lucky Luke»-Abenteuer erfand.

Claude Cueni ist Schriftsteller und lebt in Basel.

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© Basler Zeitung; 05.06.2015

Essentials »Scientology«, Talkshows, Movie, Books

 

 

Verfassungsschutz Bericht 2016 des deutschen Bundesamtes Baden-Württemberg, Ministerium für Inneres, Digitalisierung und Migration. Im Einzelnen werden staatsgefährdende extremistische Organisationen von links bis rechts thematisiert, darunter auch die milliardenschwere Geldsekte Scientology (Seiten 250 – 272) und wie diese mit ihrem »paramilitärischen Kader« gegen Kritiker vorgeht.

D O W N L O A D 

https://de.scribd.com/document/364119808/Verfassungsschutz-BW-2016

 

 

 

 

 


SC_Bayern_InnenministeriumNachstehend einige Quellenangaben. Ich empfehle vor allem das komplette Video mit der ARD Talkshow Hart aber Fair, 90 min. und die 60seitige Broschüre des Bayrischen Innenministeriums (siehe Abb.).  Cover anklicken. PDF auf scribd.com


ARD Talkshow »HART ABER FAIR« vom 21.3.2010 – Thema Sekten, Gurus, Gehirnwäsche

Moderation: Frank Plasberg

Gäste: Jürg Stettler, Pressesprecher SC Deutschland und Schweiz, Präsident SC Zürich

Günther Beckstein, Jurist und Politiker. 1993 bis 2007 bayerischer Innenminister, 2007 bis 2008 bayerischer Ministerpräsident.

Wilfried Handl, ehemaliger Scientologe, Leitung Wien

und Jürgen Fliege, Sabine Riede, Fredy Gareis, Brigitte Büscher

TEIL 1 / 5 (Bitte um Geduld, bis die Videos aus Youtube aufgeladen sind.)

TEIL 2 / 5

TEIL 3 / 5

TEIL 4 / 5

TEIL 5 / 5


SC_Bayern_Innenministerium  

60seitige Broschüre des Bayrischen Staatsministerium, liegt im Tourismusoffice in München auf. Kostenlos.


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Pflichtlektüre für jedes Parlamentsmitglied

Ursula Caberta, 19 Jahre lang Sektenbeauftragte im Hamburger Innenministerium

Scientology – Die ganze Wahrheit 

Sachlich, fundiert, mit zahlreichen Quellenangaben. Aktualisierte Fassung 2014.

http://www.amazon.de/Scientology-ganze-Wahrheit-Ursula-Caberta/dp/3579066307/ref=sr_1_1?s=books&ie=UTF8&qid=1432614686&sr=1-1&keywords=ursula+caberta

 


 

Schweizer Fernsehen Dok Film, 72 Min.:
Scientology: Enthüllungen aus dem Machtzentrum SF 2010
1:11:57


 

cover5Going Clear 2015

Die HBO-Dokumentation ist in Europa angekommen und lief bereits in Schweden (18. Mai 2015 – SVT) und den Niederlanden (19. Mai 2015 – VPRO). In England, wo eine Ausstrahlung aus rechtlichen Gründen noch nicht zur Diskussion steht, wird die Doku im Rahmen von Vorführungen in Kinos vorbereitet. In der Schweiz steht die HBO Doku ebenfalls auf dem Einkaufszettel von SRF.

 

 

 

 


Bis nichts mehr bleibt. Deutscher Spielfilm über Scientology, basierend auf wahren Begebenheiten unter Mitarbeit der Sektenbeauftragten des Hamburger Innenministeriums. In voller Länge: 90 Min. ARD 2010


 

UnknownIm Gefängnis des Glaubens von Lawrence Wright, dt. Uebersetzung, das engl. Original war die Basis für die HBO Doku  »Going Clear«

http://www.amazon.de/Gefängnis-Glaubens-Scientology-Hollywood-Innenansicht/dp/3421045356/ref=sr_1_5?s=books&ie=UTF8&qid=1432614558&sr=1-5&keywords=bare-faced+messiah

 

 

 

 


 

cover_hubbardBare-faced Messiah: The True Story of L. Ron Hubbard [Kindle Edition], Das Grosse Standard Werk über L. Ron Hubbard, 462 Seiten, unglaublich aufwändig und detailliert recherchiert, fundiert, mit unzähligen Quellenangaben. Neu als eBook (2014)

http://www.amazon.com/Bare-Faced-Messiah-True-Story-Hubbard-ebook/dp/B00IF9B4OO/ref=sr_1_1_twi_1_kin?ie=UTF8&qid=1432614839&sr=8-1&keywords=russell+miller

 

 

 


Bildschirmfoto 2015-05-26 um 08.25.31

Das wahre Gesicht von Scientology. Von Wilfried Handel, Ex-Scientologe in Führungspositon, häufiger Gast in dt.sprachigen Talkshows zum Thema Sekten, Scientology.

Er stellt sein aufwändig illustriertes Buch (mit Originaldokumenten) kostenlos als eBook zur Verfügung auf:

http://www.wilfriedhandl.com

 

 

 


cover3

Scientology von Jana Jacobi (Pseudonym), eine ehemalige OTIII Scientologin erzählt sachlich und emoitonslos.

http://www.amazon.de/Scientology-Ein-Blick-hinter-Kulissen/dp/3836706520

 

 

 

 

 


 

cover-sc2Mein geheimes Leben bei Scientology und meine dramatische Flucht. Ex Kinder Scientologin Jenna Miscavige Hill, die Nichte des obersten Scientologen berichtet.

http://www.amazon.de/geheimes-Leben-Scientology-dramatische-Flucht-ebook/dp/B00BOAFYO2/ref=asap_bc?ie=UTF8

 

 

 

 

 


 

#chronos (1988)

cueni_chronos_19881988 erweiterte Michail Gorbatschow, der ­Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU), unseren Wortschatz um zwei historische Begriffe, Glasnost (Offenheit) und Perestroika (Umbau). Zum Entsetzen der DDR erklärte er, dass jeder sozialistische Staat sein gesellschaftliches System frei wählen könne. Die UdSSR begann ihren Rückzug aus Afghanistan.

In Deutschland startete der neue Leitindex DAX mit 1000 Indexpunkten. Er umfasste die 30 grössten und umsatzstärksten Unternehmen. Wer 1988 fünftausend Franken in den deutschen Index investierte, hat heute rund fünfzigtausend in seinem Depot.

Mehr im Depot hatte die tickende Zeitbombe «Iron Mike», der zwei Jahre zuvor im Alter von 20 Jahren der jüngste Weltmeister der Boxgeschichte geworden war. 1988 verteidigte er gleich dreimal seinen Gurt, gegen Larry Holmes, Tony Tubbs und Michael Spinks. Er wurde der erste Weltmeister, der gleichzeitig von allen drei Boxverbänden ­anerkannt wurde. Mindestens so turbulent verlief sein Privatleben. Seine Polizeiakte war länger als sein Palmarès. Am Ende hatte das Jahrhundert­talent, das einst 400 Millionen besass, 300 ­Millionen Schulden und kommentierte: «Ich mache aus Gold Scheisse.»

Um Geld ging es auch in Oliver Stones «Wall Street». Michael Douglas spielte den Milliardär und Börsenmakler Gordon Gekko («Das Gewissen hat man ihm bei der Geburt entfernt»). Die Story war an die Biografien der Wall-Street-­Legenden Ivan Boesky und Carl Icahn angelehnt. ­Douglas erhielt einen Oscar und war im selben Jahr in den Schweizer Kinos noch in eine ­«Verhängnisvolle Affäre» mit Glenn Glose verstrickt.

Den dritten Kassenschlager des Jahres bescherte uns «Stirb langsam» mit Bruce Willis. Die Leute mochten den New Yorker Polizisten John McClane, der im Alleingang im Bürohochhaus Nakatomi Plaza Terroristen erschiesst.

Jack: «Wer sind Sie?»

John McClane: «Ich bin nur die Fliege im Honig, Jack. Der Knüppel zwischen deinen ­Beinen. Der Tritt in deinen Arsch.»

Den hätte eigentlich auch Arno Martin Franz Funke verdient, der ab 1988 vier Jahre lang unter dem Pseudonym Dagobert das Berliner Kaufhaus KaDeWe um eine halbe Million erpresste. Er scheute sich nicht davor, Bomben in Kaufhäusern zu deponieren. Die ersten Bomben versteckte er nachts, später, während der Öffnungszeiten, in den Fahrstühlen. Nachdem der gescheiterte Künstler und Autolackierer ein erstes Lösegeld erpresst hatte, verprasste er es und setzte ­anschliessend seine Erpressermasche fort. Obwohl er Tote in Kauf nahm, um sich persönlich zu bereichern, wurde er aufgrund seines Pseudonyms und diverser polizeilicher Pannen zum Liebling der Medien- und Kulturszene. Sechs Jahre nach seiner Festnahme wurde er frühzeitig aus der Haft entlassen, trat in Talkshows und ­Realityshows auf («Ich bin ein Star – Holt mich hier raus!») und sang «Lass uns das Ding drehen».

Dass sich Kriminalität leider zu oft lohnt, bewies auch der 23-jährige Robert H. Morris, der Sohn des Leiters der National Security Agency (NSA). Er programmierte den ersten wirklichen Computerwurm («Morris») und legte 6000 ­Rechner lahm; damals in etwa zehn Prozent des weltweiten Internetverkehrs. Morris erhielt eine dreijährige Bewährungsstrafe, 400 Stunden Sozial­arbeit und Gerichtskosten von 150 000 ­Dollar aufgebrummt. Er gründete ein Software­unternehmen, das er für 49 Millionen an Yahoo verkaufte, und wurde Professor am Massachusetts Institute of Technology (MIT).

In Australien wurde der erste Plastikgeldschein eingeführt, eine Banknote aus synthetischem Polymer. Sie war abwaschbar und sicher vor Fälschungen, aber nicht vor der Entwertung durch Quantitative Easing.

Claude Cueni ist Schriftsteller und lebt in Basel.

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© Basler Zeitung; 22.05.2015

#chronos (1905)

cueni_chronos_1905Nach einer Belagerung von 157 Tagen kapitulierte die russische Festung Port Arthur vor der über­legenen Waffentechnik der japanisch-kaiserlichen Truppen. Zar Nikolaus II. versuchte einen ­Volksaufstand blutig niederzuschlagen, aber der Petersburger Blutsonntag markierte bereits den Anfang der Russischen Revolution.

Auf der anderen Seite der Erdkugel vergass der amerikanische Limonadenhersteller Frank Epperson seine Limo auf dem Balkon. Am ­anderen Morgen war die Limonade gefroren. Der Löffel steckte noch im Glas. Er zog ihn heraus und hielt den ersten Glacestängel der Geschichte in der Hand. Kaum hatte er ihn patentieren lassen, ­meldete sein Landsmann Harry Bust ein weiteres Eis-am-Stiel-Patent an: gefrorenes Vanilleeis mit Schokoladenüberzug.

Ganz andere Sorgen hatte der rumänische Gerichtsmediziner Nicolas Minovici, der im selben Jahr seine Studie über das Erhängen publizierte. Die Untersuchung von 172 Selbstmorden durch Erhängen beantwortete nicht die Frage, wie sich Erhängtwerden eigentlich anfühlt. Kurzerhand befahl Minovici seinen Mitarbeitern, ihn zu ­hängen. «Das Gesicht wurde rot, dann blau, die Sicht verschwommen, in den Ohren begann es zu pfeifen, die Frakturen von Kehlkopf und Zungenbein sind fast unvermeidlich.» Minovicis Studie gehört heute zum Basiswissen der forensischen Medizin. Er bewies, dass der Tod nicht durch Ersticken eintritt, sondern durch die unterbrochene Blutzufuhr zum Gehirn.

Heinrich Mann schickte seinen Professor Unrat in den «Blauen Engel» und schrieb einen Gesellschaftsroman, den zuerst alle totschwiegen. Nach der Verfilmung mit Marlene Dietrich (1930) erlangte er Weltruhm.

Weltruhm erlangte auch Mata Hari, der frivole und geheimnisvolle Star der Belle Epoque, die als indische ­Tempeltänzerin mit ihrer Kunst der «erotischen Entkleidung» Europas Eliten begeisterte. Zwölf Jahre später wurde sie von einem französischen ­Militärgericht wegen angeblicher Doppel­­spionage hingerichtet.

Sigmund Freud publizierte Abhandlungen zur Sexualtheorie, während zwei deutsche Forscher den Spirochaeta pallida, den Syphilis-Erreger, entdeckten. Man nannte die Krankheit im ­Volksmund «den Franzosen», denn Mitte des 19. Jahrhunderts war tout Paris in den Orient ­gepilgert. Zurück brachten sie nicht nur erste ­fotografische Erinnerungen, sondern auch den Spirochaeta pallida. Die Milzbrand- und Tuber­kuloseerreger hatte bereits Robert Koch Jahre zuvor beschrieben. Er erhielt dafür 1905 den Nobelpreis. Wenig ­Nobelpreiswürdiges geschah in der Wüste von Nevada. Spekulanten gründeten die spätere Mafiahochburg Las Vegas. Sie hatten die Parzelle für 265 000 Dollar einer Eisenbahn­gesellschaft abgekauft, die es wiederum zwei Jahre zuvor der Rancherwitwe Helen Stewart für 55 000 Dollar abgekauft hatte.

Nobelpreiswürdiger war hingegen der ­Bestseller «Die Waffen nieder!», geschrieben von der ­Pazifistin Bertha Sophia Felicita Freifrau von ­Suttner. Sie war die erste Frau, die den ­Friedensnobelpreis erhielt.

Einmaliges geschah auch in der Schweiz. Mit 19 770 Metern Länge wurde der damals längste Basistunnel der Welt durchstochen: der Simplontunnel.

Während Albert Einstein einen Aufsatz zur Relativitätstheorie publizierte, veröffentlichte Rainer Maria Rilke im Insel Verlag sein «Stundenbuch». Es verkaufte sich in wenigen Jahren über 60 000-mal. Der Poet behauptete, er würde die Worte wie Gebete empfangen und wie ein Medium niederschreiben:

Vor lauter Lauschen und Staunen sei still,

du mein tieftiefes Leben;

dass du weisst, was der Wind dir will,

eh noch die Birken beben.


 

Claude Cueni ist Schriftsteller und lebt in Basel.

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© Basler Zeitung; 08.05.2015


 

Cicero. Magazin für politische Kultur.

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#Cicero. Magazin für politische Kultur.

Porträt von F.F.Weyh

»Unerschrocken lebensweise«

#scriptavenue

http://bit.ly/1bXcZ0b

 

»Cueni landete einen Bestseller. Wenn man das Buch liest, versteht man, warum. Es funkelt vor grimmigem Nicht-aufgeben-Humor, ist dort entlastend komisch, wo man am liebsten heulen möchte, und unerschrocken lebensweise, wo politische Korrektheit Autoren sonst die Hirnwindungen verkleistert«.

#chronos (1962)

chronos19621962 sangen die Marvelettes immer noch ihren Ohrwurm «Please Mr. Postman», der im Dezember 61 die US-Hitparade gestürmt hatte. Auch John F. Kennedy wartete auf den Postmann. Er wollte endlich, per Präsidentenerlass, das verschärfte Handelsembargo gegen Kuba unterzeichnen. Aber zuvor musste sein Pressesprecher noch die 1200 kubanischen Zigarren für seinen Privatkonsum bestellen. Kennedys legendärer Satz: «Fragen Sie nicht, was Ihr Land für Sie tun kann – fragen Sie, was Sie für Ihr Land tun können», ist oft missverstanden worden. Er bezieht sich nur auf die Steuerzahler. Für Staatschefs gilt Spinoza: «Der Nutzen ist das Mark und der Nerv aller menschlichen Handlungen.»

Während die Sowjetunion Mittelstrecken­raketen auf Kuba stationierte und die Presse wieder einmal debattierte, ob es angesichts des bevorstehenden Atomkrieges noch Sinn machte, das Zeitungsabo zu verlängern, frühstückte Audrey Hepburn nach den Anweisungen von Truman Capote bei Tiffany und Sean Connery observierte als Agent 007 eine junge Schweizerin aus Ostermundigen, die in einem weissen Bikini aus dem Wasser stieg: Ursula Andress, das erste Bondgirl.

Mehr Zuschauer hatte der Strassenfeger der 60er-Jahre, der sechsteilige TV-Krimi «Das Halstuch» von Francis Durbridge. Die Einschaltquote betrug 89 Prozent. Wer keinen Fernseher hatte, erhielt für eine Stunde Asyl beim Nachbarn. Ein ganzes Land fragte sich: Wer ist der Mörder? Die Mutter des TV-Schurken verriet es während der Maniküre der Mutter des Kabarettisten Neuss … «Vaterlandsverrat», konstatierte Bild.

Nachdem Kennedy Fidel Castro mit einem atomaren Gegenschlag gedroht hatte für den Fall, dass die Sowjetunion auch nur eine einzige Rakete von Kuba aus abfeuert, richteten die beiden Grossmächte eine Hotline ein und sandten den Satz: «The quick brown fox jumps over the lazy dog.» («Der schnelle braune Fuchs springt über den faulen Hund.»). Da dieser Satz alle Buchstaben des Alphabets beinhaltet, konnte die Zuverlässigkeit der ­Übermittlung geprüft werden.

Verständlicher war hingegen der Satz der Sexikone der 60er-Jahre: «Wenn ich immer alle Regeln befolgt hätte, hätte ich es nie zu etwas gebracht.» Marilyn Monroe starb 36-jährig an einer Überdosis Medikamente und beeinflusste anschliessend die Mode mehr als die Pariser Haute Couture. Sterben mussten in diesem Jahr auch Hermann Hesse und der weltberühmte Schweizer Tiefseeforscher Prof. August Piccard, der in Hergés Comics Pate stand für die Figur des zerstreuten Professors Tryphon Tournesol («Professor ­Bienlein»).

1962 erteilte Decca Recording den Beatles eine Abfuhr: «Wir mögen den Sound nicht und ausserdem ist Gitarrenmusik sowieso am Aussterben.» Vorläufig erfolgreicher war Bill Ramsey mit «Ohne Krimi geht die Mimi nie ins Bett», bis ihn Dany Mann mit dem Song «Ich lese abends keinen Krimi» ablöste.

Auf Tahiti und in Französisch-Polynesien wurde mit der «Meuterei auf der Bounty» der vielleicht spektakulärste Film der 60er-Jahre an Originalschauplätzen abgedreht. Der erste ­Meuterer am Set war jedoch Carol Reed, den Marlon Brandos Starallüren zum Wahnsinn trieben. Entnervt übergab er die Regie (mitsamt der Liste an Sonderwünschen) an Lewis Milestone, der stillschweigend zusah, wie sich Marlon Brando am Set in seine exotische Filmpartnern Tarita Tumi Teriipaia verliebte und den Film erfolgreich zu einem finanziellen Desaster machte.

Captain Bligh zu Fletcher (Marlon Brando): «Suchen Sie sich die dreckigste Ecke der Welt, den verlassensten Winkel, den Sie finden können. Ich werde dort auf Sie warten, mit dem Strick in der Hand.»

Claude Cueni ist Schriftsteller und lebt in Basel. www.cueni.ch

Erschienen in der Basler Zeitung vom 24. April 2015

Scientology und die Spaghetti-Monster

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(im Anhang: Videos von Talkshows, Sachbücher)

 

Eine Geldmaschine, die sich als Religionsgemeinschaft maskiert

Von Claude Cueni / erschienen in der Basler Zeitung v. 22.4.2015

Basel. Am Samstag, 25. April, eröffnet Scientology in Basel den ersten «Idealen Org» der Schweiz. Was ist das? Gemäss Sektengründer L. Ron Hubbard ist das der Ort, «an dem eine neue Zivilisation für diesen Planeten geschaffen wird». Nebst dem Humorfestival Arosa hat die Schweiz nun auch ein internationales Zentrum für Realsatire.

Ron Hubbard hat als Autor über 200 Science-Fiction- und Schund­romane geschrieben, ein Gerät er­­funden, das die Schmerzen einer Tomate beim Aufschneiden misst, und 1954 die Sekte Scientology gegründet, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, verzweifelte Menschen aus den Stromschnellen des Lebens zu retten und mit Kursen den «Weg zum Glücklichsein» aufzuzeigen.

Obwohl Ron Hubbard den Hilflosen «völlige spirituelle Freiheit und Wahrheit» versprach, wurde er 1974 in Frankreich wegen Betrugs zu vier Jahren Gefängnis verurteilt. Sein Sohn gestand 1982 in einer eidesstattlichen Erklärung vor dem Distriktgericht von Massachusetts: Mein Vater ist ein Betrüger und war immer ein Betrüger. Der religiöse Aspekt der Sekte sei nur erfunden worden, um Steuervorteile zu erlangen und sich vor Betrugsklagen zu schützen.

cueni_sciencefictionKontrolle als Ziel

Aber worin besteht die Lehre von Ron Hubbard? Sie liest sich wie ein ­Episodenplot aus seiner Science-Fiction-Serie «Battlefield Earth. A Saga of the Year 3000». Das Ziel ist, ganz unbescheiden, «die Übernahme und Kontrolle aller Aktivitäten in der Welt»; das Ziel ist, den Planet zu säubern (clear).

Ron Hubbard, ein Liebhaber von schwarzer Magie und US-Navy-Uni­formen, kreierte ein Patchwork an totalitären Ideologien, zubereitet mit einer Prise Reinkarnationstheologie, mariniert mit ein bisschen Versandhauspsycho­logie, garniert mit ein paar Comic-Sprechblasen und aufgekocht nach den modernsten PR- und Marketingstrategien. Scientology hatte keinen Gott, Hubbard war der Gott seiner «Pulp ­Fiction»-Welt. Das von ihm überlieferte Credo war stets: «Make money, make more money.»

Wie kann man damit Geld ver­dienen? In der Welt der Mobile Games ist das Freemium-Geschäftsmodell ein Milliardengeschäft. Man kann kostenlos eine Aufbausimulation down­loaden, Dörfer und Werkstätten errichten und nach jedem zivilisatorischen Fortschritt schmeichelhaftes Lob ernten.

Bis die virtuellen Ressourcen versiegt sind. Dann ziehen dunkle Wolken über den Monitor. Vom Spielfieber getrieben, zückt man die Kreditkarte und kauft mit richtigem Geld virtuelle Rohstoffe, um in der virtuellen Welt die nächste Zivilisationsstufe zu erreichen. Dieses Freemium-Modell verfolgt auch Scientology.

Die bevorzugte Kundschaft sind Pubertierende, die vom hormonellen Tsunami, zwischen trüber Melancholie und todesmutigem Risiko, orientierungslos zwischen Jugend und Adoleszenz floaten; potenzielle Opfer sind generell Menschen in einer Krisen­situation. Scientology empfängt sie mit offenen Armen. Scientology verspricht «geheimes Wissen», «die Lösung aller Probleme, Unsterblichkeit».

Unknown16 Kurse zur Unsterblichkeit

Lohnt es sich dafür nicht, einen kleinen Kurs zu besuchen? Für die ­Unsterblichkeit braucht es anschliessend noch 16 weitere Kurse, um die ­spirituelle Auszeichnung «Clear» zu erreichen. «Clear» bezieht sich jedoch eher auf den Zustand des Bankkontos. Rund 200 000 Franken hat man mittlerweile aus­gegeben.

Aber als Unsterblicher hat man ja genug Zeit, dieses Geld zu verdienen und noch mehr zu spenden. Will man im Comic-Universum der gottlosen Sekte einen höheren Rang erreichen, sind bewusstseinserweiternde Kurse hilfreich. Den «O.T.3-4-Kurs» gibt es bereits für 17 000 Franken, «O.T.5-7» für 25 000 Franken etc., bis auch das Geld der mittlerweile aufgelösten ­Pensionskasse verbraucht ist.

Unsterblich ist man dann immer noch nicht, aber schwer abhängig von der Sekte, die einen mittlerweile genötigt hat, sämtliche Kontakte zu Familie und Freunden abzubrechen. «Man wird in eine Parallelwelt hineingezogen», erklärt der langjährige Sektenexperte Hugo Stamm, «von der übrigen Welt abgetrennt, vom bisherigen Bekanntenkreis abgeschnitten und einer sanften Gehirnwäsche unterzogen.»

Jetzt glaubt man erst recht, dass man mit weiteren Kursen auf das geniale Potenzial zurückgreifen kann, das Scientology während den zahlreichen Psycho-Verhören (Audits) erkannt hat. Egal, ob man auf der Pferderennbahn steht, vor dem Slotautomaten im Casino oder vor dem nächsten Scientology-Kurs – die Hoffnung stirbt zuletzt. Der Freemium-Effekt hat eingesetzt, man will die nächste spirituelle Stufe erklimmen, und dafür schenkt man gerne das mühsam Ersparte dem «Master», der ewiges Glück verspricht.

Schwierig wird es schliesslich, wenn man nach Jahren die Mitteilung erhält, dass nun sämtliche Kurse abgelaufen sind. Wie Mandarinenjoghurts haben offenbar auch Scientology-Kurse ein Verfalldatum. Jetzt muss alles ­wiederholt werden und erneut bezahlt werden. Aber wie soll das gehen?

Bildschirmfoto 2015-04-06 um 07.26.55Staat im Staat

Das war der Moment, als Josef Mrkos (67), ein Schweizer Scientologe der ersten Stunde und Gründer der Filiale Basel, nach 42 Jahren Mitgliedschaft das Handtuch warf und die Sekte verliess. Er hatte mittlerweile 1,5 Millionen Franken einbezahlt: «Scientology ist zur kommerziellen Geld­maschine verkommen.» In einem Fernsehinterview bezeichnet er die Sekte als «gefährliche Psycho-Terrorgruppe, ein Staat im Staat».

Natürlich bestreiten die Sekten­sprecher diese «rufschädigenden ­Äusserungen», obwohl mittlerweile Tausende von Ex-Scientologen identische Aus­sagen in Büchern, Dokumentarfilmen, Talkshows und Foren gemacht haben. Stets lächeln die ­Scientologen leicht entrückt in die Kamera, als hätten sie das in ihrer Comic-Bibel versprochene «brüderliche Verhältnis mit dem Universum» bereits erreicht.

Teure Plaketten und Lorbeerkranz

Scientology ist keine Religion. Sektenexperte Hugo Stamm: «Es geht nur um Geld. Es geht um Macht und um Geld. Es ist wirklich nichts anderes als eine Geldsekte, sie hat kein anderes Ziel, als den Leuten etwas vorzu­gaukeln, was sie erreichen können, und letztlich werden die Leute abgezockt bis auf die Unterhosen.»

Scientology ist auch keine Kirche. Kann man sich einen Pfarrer vorstellen, der auf der Strasse Passanten zu teuren Religionskursen oder Spenden über­reden will und sie beteiligt, falls sie ihm weitere Kunden bringen?

Bei Scientology erhalten Spender originelle Plaketten: Zum Schnäppchenpreis von 40 000 Franken erhält man den «Patron», 100 000 Franken kostet «Patron with Honors», es gibt zwei Dutzend Spenderstufen bis hin zum «Diamant Meritorious» für fünf Millionen Dollar, aber dafür gibts kostenlos noch den Lorbeerkranz.

Da können Serviceclubs wie Rotary oder Lions nur noch vor Neid erblassen. In der realen Welt erntet man mit solchen Auszeichnungen nur Gelächter, also bleibt man am besten unter sich. «Den Wahn erkennt natürlich niemals, wer ihn selbst noch teilt», schrieb ­Sigmund Freud über die «Umbildung der Wirklichkeit».

scientology-volcanoctopus_190pxHäufig vor Gericht

Das Time Magazine publizierte 1991 eine Scientology-Titelgeschichte, «Kult der Habgier», und bezeichnete darin Scientology als «eine riesige, gewinnbringende globale Gaunerei, die durch Einschüchterung ihrer Mitglieder und Kritiker in Mafia-Manier überlebt». Scientology verklagte das Magazin. Und verlor.

In Frankreich wurde Scientology wegen «organisierten Betrugs» zu insgesamt 600 000 Euro Geldstrafe ver­urteilt. In einigen Bundesländern wird Scientology als «verfassungsfeindliche Organisation» eingestuft und vom Verfassungsschutz observiert, weil sie «antidemokratische Ziele» verfolge und «eine gesellschaftlich-politische Ordnung» anstrebe, in der «elementare Grundrechte nicht garantiert» sind.

 

Bildschirmfoto 2015-04-08 um 18.15.06Auch im Universum des Milliardenkonzerns (die Hälfte in Immobilien) gibt es mittlerweile schwarze Löcher, in denen immer mehr Mitglieder verschwinden und Neukunden ausbleiben. Grund ist der Wissenstransfer über das Internet und die zunehmende Konkurrenz auf dem pseudoreligiösen Markt. Mittlerweile gibt es sogar die Religion der «Fliegenden Spaghetti-Monster», eine Gründung des US-amerikanischen Physikers und Parodisten Bobby Henderson. Er und seine atheistischen ­Brüder huldigen dem Spaghetti-Gott. Das Abendmahl gibts in jeder guten Pizzeria. Kostenpunkt circa 25 Franken.

Claude Cueni (59) ist Schriftsteller und lebt in Basel. www.cueni.ch

© National-Zeitung und Basler Nachrichten AG


17.11.2017

Verfassungsschutzbericht 2016, Seiten 250 – 272 über Scientogie, Zitat „Erwähnt wird die Begründung einer abgewiesenen SC Klage: »Zudem stellte das Gericht fest, dass die Expansionsaktivitäten von Scientology eine Gefahrenlage begründeten, die auch den Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel rechtfertige (Az.: 5 A 130/05). Vollständiger Originalbericht zum Download:

https://de.scribd.com/document/364119808/Verfassungsschutz-BW-2016


 Youtube Videos von Talkshows mit Pro und Contra / DVDs


 ARD Talkshow »HART ABER FAIR« vom 21.3.2010 – Thema Sekten, Gurus, Gehirnwäsche

Moderation: Frank Plasberg

Gäste: Jürg Stettler, Pressesprecher SC Deutschland und Schweiz, Präsident SC Zürich

Günther Beckstein, Jurist und Politiker. 1993 bis 2007 bayerischer Staatsminister des Innern, 2007 bis 2008 bayerischer Ministerpräsident.

Wilfried Handl, ehemaliger Scientologe in führender Position

und Jürgen Fliege, Sabine Riede, Fredy Gareis, Brigitte Büscher

TEIL 1 / 5 (Bitte um Geduld, bis die Videos aus Youtube aufgeladen sind.)

TEIL 2 / 5

TEIL 3 / 5

TEIL 4 / 5

TEIL 5 / 5


 SC_Bayern_Innenministerium  

Autor: Bayerisches Staatsministerium, liegt kostenlos im Münchner Tourismusoffice auf


 

Going Clear 2015, (in Vorbereitung, bereits ausgestrahlt in USA und div. europ. Ländern)


 Bis nichts mehr bleibt. Deutscher Spielfilm über Scientology, basierend auf wahren Begebenheiten unter Mitarbeit der Sektenbeauftragten des Hamburger Innenministeriums. In voller Länge: 90 Min.


Standardwerke zum Thema


 

Scientology von Ursula Caberta, ihr aufschlussreiches Abschlussbuch nach 19 Dienstjahren als Leiterin der Arbeitsgruppe Scientology der Hamburger Landesjugendbehörde. Sehr sachlich, fundiert, mit zahlreichen Quellenangaben.


 

Bare-faced Messiah: True Story of L. Ron Hubbard The True Story of L. Ron Hubbard [Kindle Edition], Das Grosse Standard Werk über L. Ron Hubbard, 462 Seiten, unglaublich aufwändig und detailliert recherchiert, fundiert, mit unzähligen Quellenangaben. Neu als eBook (2014),


 

Im Gefängnis des Glaubens von Lawrence Wright, dt. Uebersetzung, war die Basis für die aufsehenerregende Demo von HBO »Going Clear« 


 

Mein geheimes Leben bei Scientology und meine dramatische Flucht. Ex Kinder Scientologin Jenna Miscavige Hill, die Nichte des obersten Scientologen berichtet.


Scientology von Jana Jacobi (Pseudonym), eine ehemalige OTIII Scientologin erzählt sachlich und emoitonslos.

http://www.amazon.de/Scientology-Ein-Blick-hinter-Kulissen/dp/3836706520


 Umfassender Blog gegen Scientology: http://www.blog-gegen-scientology.wilfriedhandl.com


 

 

#chronos (1992)

chronos_1992_marlboro1992 strich die Weltgesundheitsbehörde Homosexualität von der Liste der Krankheiten. Auch die spanischen Staatsrechler benutzten den Rotschift und löschten den 1492 erlassenen Alhambra-Edikt, der die Vertreibung aller Juden aus spanischen Territorien festschrieb.

Der frühere DDR-Staatschef Erich Honecker (»Den Sozialismus in seinem Lauf, halten weder Ochs noch Esel auf«) wurde am Berliner Flughafen weder von Ochs noch Esel aufgehalten, sondern von der deutschen Polizei, die ihn gleich verhaftete und in Untersuchungshaft steckte. Vor Gericht übernahm er die politische Verantwortung für die Toten an der Mauer, wies aber jede moralische Schuld von sich. Ein bliebtes Motiv für Karikaturisten war sein inniger «Sozialistischer Bruderkuss» mit Breschnew.

 «I Will Always Love You» versprach auch Whitney Houston ihrem Filmpartner Kevin Costner im US-Thriller «Bodygard».

Nach dem Zerfall Jugoslawiens beherrschten kriegerische Auseinandersetzungen die Schlagzeilen und bestätigten die Aussage von Autor und Kriegsreporter Eugen Sorg: «Die Zivilisation ist eine ganz dünne Schicht.»

1992 starb der «Marlboro Man» Wayne McLaren an Lungenkrebs. Das in den 70er Jahren populäre Fotomodell sagte seinen Töchtern wenige Stunden vor seinem Tod: «Ich beende mein Leben unter dem Sauerstoffzelt. Ich sage euch, Rauchen ist das nicht wert.» Im späteren Spielfilm »Thank You For Smoking« (2005) spielte Sam Elliott den «Marlboro Man» McLaren.

Mit dem Maastrichter Vertrag rückten die Länder der Europäische Union enger aneinander. Mit dem neuen Stabilitätspakt sollte sichergestellt werden, dass die Netto-Neuverschuldung auf drei Prozent des Brutto-Inlandsprodukts begrenzt wird. Die Schuldenbremse wurde gleich von Musterschüler Deutschland gebrochen. Die Vertragsbestimmung war umgehend Makulatur. Griechenland erlaubte sich gleich eine Verschuldung von neun Prozent, aber selbst dieser Finanzausweis war wie üblich frisiert.

Ueberraschend lehnte die Schweiz in einer Volksabstimmung den Beitritt zum EWR mit 50,3 Prozent ab. Ueberraschend deshalb, weil sich mit Ausnahme der Schweizerischen Volkspartei, sowohl Bundesrat, als auch Parlament für einen Beitritt ausgesprochen und deshalb bereits ein EU Beitrittsgesuch in Brüssel hinterlegt hatten. Der damals noch nicht so bekannte Zürcher SVP Nationalrat Christoph Blocher betrat die nationale Bühne.

Einen Oscar erhielt Anthony Hopkins für die Hauptrolle in «Das Schweigen der Lämmer»: „Die meisten Serienmörder behalten eine Art Trophäe von Ihren Opfern.“ Er hatte seine gegessen.

In Italien demonstrierte die Mafia erneut ihre Macht und erschoss den Strafverfolger Giovanni Falcone und den italienischen Richter Paolo Borsellino, mitsamt ihren Leibwächtern.

Nachdem sich George H.W. Busch bei einem Staatsbankett im Schoss des japanischen Ministerpräsidenten Kiichi Miyazawa erleichtert hatte, wurde am Jahresende der trinkfreudige Bill Clinton zum 42. Präsidenten der USA gewählt. In Erinnerung blieb, dass er während eines Telefonats mit dem selten nüchternen Cognac Liebhaber Boris Jelzin einen Blowjob genoss. Doch der grösste Einzelkunde des französischen Cognac Herstellers Hennessy blieb Kim Jong II, der jährlich für 750 000 Dollar bestellte, während sein Volk hungerte. Sein Sohn setzt heute die Tradition fort.

Paul Verhoeven inszenierte die damals unbekannte Sharon Stone in «Basic Instinct» als unwiderstehliche Femme fatale.

„Gibt’s hier auch Schnee?“

„Nein, aber ich könnte ein bisschen Sahne schlagen.“

#chronos (1932)

chronos1932jpeg1932 imitierte der Opernsänger Lloyd Thomas Leech den Schrei eines brünstigen Gorillamännchens, mixte ihn mit dem Heulen einer Hyäne, dem Blöken eines Schafs und dem schnell abgespielten Gejodel von Johnny Weissmüller, einem fünffachen Olympiasieger. In «Tarzan The Ape Man« (1932) unterliegt der Herr des Dschungels dem Charme der attraktiven Maureen O’Sullivan, die in einem Dutzend weiterer Filme Tarzan Sprachunterricht erteilte:

Jane: «Jane.» Tarzan: «Jane.» Jane: «And you? You?» Tarzan: «Tarzan! Tarzan!»

Die Zensurbehörde befahl Jane, sich trotz der tropischen Hitze züchtiger zu kleiden. Als die Urwaldschönheit den Dschungel wieder verliess, erhielt sie nur noch ein einziges Angebot, eines zum Heiraten. Sie gebar sieben Kinder, eine Tochter war Mia Farrow. Ihr späterer Schwiegersohn Woody Allen gab ihr einen Auftritt in »Hannah und ihre Schwestern«. Für die Beziehung war es nicht wirklich hilfreich.

In europäischen Zoos waren Völkerschauen populär. Im Basler Zoo wurden den Besuchern «die aussterbenden Lippennegerinnen» wie exotische Tiere vorgeführt. Ein Journalist schrieb damals: «Vor ihren Hütten kauern halbnackte Gestalten, stark an das Affengeschlecht erinnernd.»

1932 erhielt der Sohn eines österreichischen Zollbeamten die deutsche Staatsbürgerschaft. Er hatte zuvor die Kampfschrift «Mein Kampf» veröffentlicht. Das Buch wurde zur Bibel der NSDAP, die bei den Reichstagswahlen gleich 37 Prozent der Stimmen erhielt und stärkste Fraktion wurde. In Deutschland waren mittlerweile über sechs Millionen Menschen arbeitslos. Der Weltwirtschaftskrise vorausgegangen waren der «Schwarze Freitag 1927», der die Berliner Börse um über 30 Prozent einbrechen liess, und der «Schwarze Donnerstag 1929», der als Auslöser der Krise gilt. Armut und Arbeitslosigkeit ebneten dem Faschismus den Weg.

Nervlich am Limit war auch der Schriftsteller Pawel Gorgulow, der anlässlich der Eröffnung der Pariser Buchmesse den Staatspräsidenten Paul Doumer erschoss und noch im gleichen Jahr unter der Guillotine starb. Der Auflage hat es nicht geholfen.

Blut floss auch in der Schweiz. Strassenschlachten zwischen Streikenden und Ordnungskräften gingen als «Blutnacht von Zürich und Genf» in die Geschichtsbücher ein.

Die Wirtschaftskrise diktierte Autoherstellern die Produktion kleinerer Autos zu erschwinglichen Preisen; vier Unternehmen fusionierten in der Not und wählten als Logo vier Kreise: Audi. Auch die Mode wurde von der Krise beeinflusst: Modejournale boten Hilfe zur Selbsthilfe, man schneiderte aus alten Kleidern neue Modelle.

In den USA sorgte die Entführung und Ermordung des Säuglings von Anne und Charles Lindbergh für monatelange Schlagzeilen. Mahatma Gandhi wurde festgenommen und begann in Gefangenschaft einen Hungerstreik, Ibn Saud gründete Saudi-Arabien, und Werner Heisenberg erhielt den Nobelpreis für Physik und war später Namensgeber für den biederen Chemielehrer Walter White (Bryan Cranston) in der erfolg­reichen US-TV-Serie «Breaking Bad».

James Charles «Jimmie» Rodgers landete mit «Roll Along, Kentucky Moon» den Hit des Jahres. Der Vater der Country-Musik baute als Erster Jodler in seine Songs ein. Mit seiner ersten Single verdiente er 27 Dollars, später avancierte er zum millionenschweren Superstar. Die Weltwirtschaftskrise beendete seinen Höhenflug: Die Menschen hatten kein Geld mehr, um seine Platten zu kaufen. Er starb 35-jährig im Tonstudio.

Blue Moon, you saw me standing alone, Without a dream in my heart.

© Basler Zeitung; 27.03.2015

Claude Cueni ist Schriftsteller und lebt in Basel.

#chronos (1963)

cueni_chronos_19631963 schluckte die State Mutual Insurance Company einen Konkurrenten und wollte die Übernahme mit einem freundlichen Gesicht visualisieren. Der Freelancer Harvey Ball entwarf in zehn Minuten einen gelben Kreis mit zwei fröhlichen Augen und einem lächelnden Mund. Für seinen «Smiley» erhielt er 45 Dollar und eine Menge Ärger. Jahrelang kämpfte er mit seinen Anwälten vor Gericht, damit seine Urheberschaft anerkannt wird. Nach 40 Jahren erfolglosem ­Prozessieren war selbst dem Schöpfer des Smiley das Lächeln vergangen. Seine Kreation ist heute die meistverbreitete Werbegrafik der Welt.

Weltweite Verbreitung fand auch der Song «We Shall Overcome». Auf dem Marsch der 300 000 nach Washington sangen die Menschen den 60 Jahre alten Gospelsong des Pfarrers Charles Tindley, der mittlerweile über 100 Coverversionen erlebt hat und heute die Hymne der Bürgerrechtsbewegungen in aller Welt ist. Auf ­diesem «March on Washington for Jobs and Freedom» hielt Martin Luther King seine berühmte Rede «I Have a Dream».

Ganz andere Träume hatten die Frauen, die sich die ersten Silikonimplantate einsetzen liessen. Nach unzähligen Versuchen mit Rinderknorpel, Wolle, Glaskugeln, Paraffin und Bienenwachs schien man nach 68 Jahren Forschung das geeignete Material gefunden zu haben. Doch 20 Jahre später verklagten Hunderte der 1963 operierten Frauen den Implantathersteller wegen Autoimmunerkrankungen.

1963 liess Alfred Hitchcock in den USA die Möwen fliegen. «The Birds» basierte auf der gleich­namigen Shortstory von Daphne du Maurier und machte das New Yorker Fotomodell Tippi Hedren berühmt. Über die tiefere Bedeutung des Films wurde lange debattiert. Die einen glaubten im Angriff der Vögel die Luftangriffe der Deutschen während des Krieges zu erkennen, andere hielten die Möwen für die kommunistische Bedrohung. Unbestritten ist, dass Hitchcock mit diesem Film einen Klassiker des Horrorfilms gedreht hat.

Wesentlich kontroverser war «Das Schweigen» von Ingmar Bergmann. Die Presse fragte sich «Ist das noch Kunst oder schon Pornografie?» Marcel Reich-Ranicki schrieb, nun könnten Spiesser und Heuchler beruhigt «einen feuchten weiblichen Busen» betrachten und «sich aufgeilen» lassen. Die Sexszenen in einer leer stehenden Kirche riefen die Zensurbehörden auf den Plan und bescherten dem Film einen grossen Erfolg und Einsparungen in Werbung und Marketing.

Problemlos verliefen hingegen in Hamburg die Dreharbeiten zum Sketch «Dinner for One». In der 18-minütige NDR-TV-Produktion spielte der Komiker Freddie Frinton den Butler James, der für Miss Sophie die Rolle der vier verstorbenen Gäste übernehmen muss. «The same procedure as every year?»

Eine Abweichung vom üblichen Prozedere schaffte Charles de Gaulle, als er den Beitritts­antrag Grossbritanniens zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) überraschend ablehnte. Von den bisherigen Standards wich auch der Philips-Konzern ab: Er erfand einen neuen Datenträger: die Compact Cassette, und Bobby Vinton sang sich mit «Blue Velvet» auf Platz 1 der US Charts.

John F. Kennedy erlitt vor dem Berliner ­Rathaus Schöneburg eine Identitätskrise und behauptete, er sei ein Berliner. Noch im selben Jahr wurde er in Dallas von einem Attentäter erschossen. Die zahlreichen Verschwörungstheorien halten bis heute an.

Der Basset «Wurzel» startete in der Daily Mail seine Comic-Weltkarriere als ironisch reflektierender Vierbeiner. Wurzel überlebte sogar den Tod seines Schöpfers Alexander Graham (1991), denn seine Tochter lieferte später die Ideen für mittlerweile über 15 000 Comicstrips.

© Basler Zeitung; 12.12.2014

#chronos (1981)

 

Bildschirmfoto 2015-02-26 um 15.34.11«Ich will den War Room sehen», sagte der ­frisch gewählte amerikanische Präsident Ronald ­Reagan, als er zum ersten Mal das Weisse Haus betrat. Man musste ihm schonend beibringen, dass der War Room, den er im Kino gesehen hatte, eine Kreation des Bühnenbauers Ken Adams war. Er hatte für die meisten James-Bond-Filme die futuristischen Bunker gebaut. «Bigger than life» war sein Credo.

Der ehemalige Cowboy-Darsteller Reagan hatte sich zum Ziel gesetzt, den Warschauer Pakt zu Tode zu rüsten und in Europa Mittelstrecken­raketen zu stationieren. Allein in Amsterdam ­marschierten fast eine halbe Million Menschen für den Frieden auf die Strasse und begründeten zusammen mit Atomkraftgegnern, Umwelt­aktivisten und Hausbesetzern eine neue Alternativkultur.

Die Abrüstungsverhandlungen in Wien waren nur gerade für den Russen Nikolai Koroljuk ­erfolgreich. Dank seinen guten Deutschkennt­nissen flüchtete der Dolmetscher noch während der Gespräche in den Westen, wo gerade mit dem «European Currency Unit» (ECU) die Verrechnungseinheit der Europäischen Gemeinschaft ­eingeführt wurde.

Während in Stuttgart der letzte Mercedes-Benz vom Band rollte, definierte IBM mit dem ­ersten «persönlichen Computer» den weltweiten Computerstandard. Der IBM PC 5150 hatte noch keine Festplatte, dafür aber 5,25-Zoll-Disketten mit 160 KB Speicherplatz. Shakin’ Stevens sang «You Drive Me Crazy».

Im gleichen Jahr wurde das Computer Science ­Network (CSNET) gegründet, der Vorläufer des Internets. Der US-Seuchenschutz berichtete erstmals über eine neue Immunkrankheit: Aids.

Im Fernsehen erklärte uns Tilli das neue Palmolive: «Sie baden gerade Ihre Hände darin.» Gleich nach der Werbung wurde die ­Hochzeit von Lady Diana Spencer und Prinz Charles übertragen. Charles hatte noch kurz vor dem Jawort seiner heimlichen Geliebten gemailt, dass er gerne ihr Tampon wäre. Camilla, die Duchess of Cornwall, erbarmte sich seiner und heiratete ihn später.

Die ARD startete die US-Serie «Dallas». J. R.: «Wenn ich nächstes Mal das Kriegsbeil begrabe, begrabe ich es in deinem Schädel!» Robert De Niro kämpfte «Wie ein wilder Stier», während Elias Canetti den Literaturnobelpreis erhielt und noch einen Sohn zeugte.

Das Licht der Welt erblickten auch Beyoncé und Britney Spears, das Licht erlosch für Bill Haley, Bob Marley und Georges Brassens. Der ägyptische Präsident Anwar al-Sadat wurde bei einer Militärparade erschossen, während sowohl Papst Johannes Paul II. als auch Ronald Reagan Opfer von Attentätern wurden und überlebten.

In Polen wurde der Kriegszustand verhängt, um die Solidarnosc in die Knie zu zwingen. Auf den Philippinen wurde das Kriegsrecht wieder auf­gehoben, nachdem Diktator Ferdinand Marcos über 30 000 Oppositionelle in Militärlagern ­inhaftiert und zahlreiche Gegner erschossen hatte. Das Land, das nach dem Zweiten Weltkrieg die zweitstärkste Wirtschaftsmacht in Südostasien war, verkam zu einem Drittweltland. Imelda ­Marcos sagte einmal: «Ich bin der Star und der Sklave der kleinen Leute, und es kostet mich weit mehr Arbeit und Zeit, mich für einen Besuch in den Elendsvierteln zurecht­zumachen als für einen Staatsbesuch.» Ihr Clan hatte dem Volk 30 Milliarden geraubt.

Eine weitere «Klapperschlange» machte von sich reden, der Science-Fiction-Film von John ­Carpenter. In schwedischen Gewässern dümpelte wieder einmal ein sowjetisches U-Boot und ­Freddie Mercury sang die Titelmelodie des ­Flash-Gordon-Remakes: «Gordon’s alive, flash, ah, ah, he’ll save ev’ry one of us.»

One more thing: Bill Gates verkündete: «640 Kilobyte sind genug für jeden.»

Claude Cueni ist Schriftsteller und lebt in Basel.

www.cueni.ch

© Basler Zeitung; 27.02.2015

 

#chronos (1893)

 

cueni_chronos_1893«Wir sind leider pleite», verkündete der ­griechische Premier Charilaos Trikoupis 1893, «Dystychos eptochefsame». Das Land war bereits seit 1826 hoffnungslos überschuldet und hatte die Auslandskredite nicht mehr zurückzahlen können. Ursache war wie üblich die griechische Tradition, den Staat vor allem als Versorgungs­anstalt zu ­nutzen. Kulturell verankert waren auch die ­fehlende Steuermoral und «Fakelaki», die Kunst der freundlichen Bestechung. Auch nach 100 ­Jahren besetzt Griechenland gemäss ­«Transparency International» Platz eins auf der europäischen Korruptionsliste.

Nach der Bankrotterklärung verlor Trikoupis haushoch gegen Theodoros Deligiannis, der seine Anhänger mit populistischen Versprechungen begeisterte und als «grösster Demagoge ­Neugriechenlands» in die Geschichtsbücher ­einging. Trotz leeren Staatskassen plante man in grotesker Selbstüberschätzung einen aussichts­losen Angriffskrieg (1897) gegen das ­übermächtige Osmanische Reich, der aber bereits nach einem Monat kläglich scheiterte.

In diesem Jahr gingen auch zahlreiche ­Investoren jenseits des Atlantiks pleite. In der «Panik von 1893» crashte die Börse, nachdem eine weitere Eisenbahngesellschaft Insolvenz angemeldet hatte. In Erwartung einer Dollar­abwertung (aufgrund der geschrumpften Gold­reserven) begann am «Industrial Black Friday» der plötzliche Ausverkauf an den Börsen. Fünfzehn­tausend Firmen gingen bis Ende Jahr bankrott, ­Hunderte von Banken und Eisenbahngesellschaften waren pleite.

Nach dem Eisenbahnhype folgte der Automobilhype: Rudolf Diesel erhielt das Patent für seinen Diesel­motor, Whitcomb Judson ein Patent auf seinen neuartigen Reissverschluss und Charles Cretors brachte Maiskörner maschinell zum Platzen und patentierte die Popcornmaschine, die heute zu jeder Kinoausstattung gehört.

Kino gabs jedoch erst in der «Black Maria», dem ersten kommerziellen Filmstudio der Welt. Inspiriert durch die Serienfotografien von ­Muybridge und Marey hatte Thomas Edison, gemeinsam mit dem Ingenieur und Hobby­fotografen Dickson, ein Gerät entwickelt, das während einer Minute bewegte Bilder ­aufzeichnen und wiedergeben konnte: den Kinetoskopen.

Durchaus filmreif war auch die Karriere von Grover Cleveland. Der frühere Sheriff wurde zum 24. Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt. Der Naturbursche galt als integer und bekämpfte die Korruption. Er liebte gesellige Pokerrunden in den Saloons und das weibliche Geschlecht. Eines seiner Kinder wurde gleich im Weissen Haus geboren, und selbst ein uneheliches Kind konnte ihm im prüden 1893 nicht das Genick brechen. Aufgrund seiner Leibesfülle wurde der ­Genussmensch «Big Steve» genannt, nach Ablauf seiner Amtszeit hatte er bereits die ­Schwergewichtsklasse erreicht und hiess fortan «Uncle Jumbo».

Genussmenschen gehörten auch zur Klientel des Kellners Maxime Gaillard, der in Paris das Restaurant Maxim’s eröffnete. In der Schweiz wurde eine Volksinitiative zur Abschaffung des Schächtens angenommen, bewirkt hat es jedoch wenig. Und in Basel wurde der FC Basel gegründet.

1893 war auch die Zeit von Rosa Luxemburg, der Terroranschläge von Anarchisten in Paris und Barcelona, die Zeit der europäischen Kriege auf Kolonialgebiet. Deutsche töteten in Deutschland-­Südwestafrika, Spanier jagten Berberstämme im nördlichen Marokko, Franzosen unterwarfen Mali und gründeten die Kolonie Französisch-Sudan, und selbst in Asien führten sie Krieg und schufen die Kolonie Französisch-Indochina (Laos).

Und Edvard Munch malte die erste Version seines Gemäldes «Der Schrei».

Claude Cueni ist Schriftsteller und lebt in Basel.

© Basler Zeitung; 13.02.2015

Was ist autobiographisch? 15 Fragen an Claude Cueni

 

cueni_scriptavenue_redInterview: Dante Andrea Franzetti, Interessen.org, Wochenmagazin für Kultur und Politik.

 

Interessen.org: Wie viel ist autobiographisch an Ihrer Autobiographie? Die Frage ist weniger bizarr, als es scheint: „Script Avenue“ ist sehr ausgeschmückt und ausgeblümt, und Sie nennen das Buch einen „Roman“.

 

Claude Cueni: Ich habe das Buch als Roman angeboten, weil es mir peinlich gewesen wäre, es als Autobiographie zu bezeichnen. Ich bin ja keine Berühmtheit. Aber mein Agent und meine Verlegerin Gaby Baumann meinten, das sei eine Autobiographie. Diese Genrebezeichnung war für mich auch aus juristischen Gründen nicht sinnvoll. Wir haben uns dann rasch auf „Roman“ geeinigt.

„Die Script Avenue“, das ist mein Leben, selbst Dialoge aus den 60er Jahren konnte ich eins zu eins abrufen. Wenn ich mich erinnere, sehe ich Filme, und wenn ich schreibe, kann ich diese Filme abrufen.

 

Gibt es diesen Onkel Arthur, Fremdenlegionär, der sich in Algerien vor an Panzerrohren baumelnden, abgehackten Köpfen fotografieren liess, tatsächlich? Wie andere Personen, etwa der marxistische Schriftsteller Berthold Krenz, scheint er eher eine Kunstfigur.

 

Es gibt keine Kunstfiguren in der „Script Avenue“. Der reale „Onkel Arthur“ wohnt heute in Basel, aber ich habe ihn seit schätzungsweise zwanzig Jahren nicht mehr gesehen. Und bin froh darüber. Das Panzerfoto mit dem Totenschädel hat mich damals als Bub schockiert und ist mir deshalb in lebhafter Erinnerung geblieben. Diese Figur ist eins zu eins aus der Realität übernommen, die Dialoge, die Prügeleien, die Vergewaltigungen, die Erzählungen über die Fremdenlegion in Algerien, einfach alles. Ich habe nur den Vornamen ausgewechselt.

Auch der marxistische Schriftsteller Berthold Krenz ist keine Kunstfigur. Viele Dialoge sind Originaldialoge aus der damaligen Zeit an den jeweiligen Schauplätzen.

Die erste Fassung hatte 890 Seiten und die richtigen Namen und Ortsangaben. Diese habe ich dann nach dem juristischen Lektorat verfremdet. Sie werden das jurassische Dorf „Vilaincourt“ auf keiner Karte finden, denn es ist „Boncourt“. Ich habe ein Wortspiel aus „vilaine court“ (hässlicher Hof) und „bonne court“ (guter Hof) bzw. Boncourt gemacht.

 

Ihre Memoiren, oder wie man es nun nennen will, zeichnen sich durch Ironie und Sarkasmus, barocke Fülle und einen souveränen distanzierten Stil aus. Die Stimmlage ist ein Ton höher, schriller als in Ihren übrigen Büchern. Kann man nur als eine Art Simplizissimus über sich selbst schreiben?

 

Ich bin wohl von klein auf so programmiert, dass ich überall die Ironie des Schicksals oder die Komik des Alltags erkenne. Auch der Rückblick auf mein merkwürdiges Leben konnte deshalb nicht frei von Ironie sein. In jedem Leben steckt eine Menge Pulp Fiction.

 

Feinfühlig, aber auch nüchterner sind Ihre an Krebs verstorbene Frau und Ihr Sohn dazwischengeschaltet. Es sind die einzigen, die vom Sarkasmus des Erzählers ausgenommen sind. Verbat sich hier die Ironie?

 

Der Tod meiner Frau war ein monumentales Ereignis, ein Crashkurs in Philosophie. Das Leid war so, dass keine Ironie aufkommen kann. Über meinen Krebs kann ich Witze reissen, aber nicht über den Krebstod meiner Frau.

 

Es taucht aber auch ein ominöser Literaturagent auf, der u.a. die Schwierigkeiten der Publikation dieses Buches schildert. Waren kritische Bemerkungen über die arabische Kultur das Problem? Oder Ihre Weigerung, den Feminismus als Gottes Segen zu verstehen?

Meinem Agenten verdanke ich den internationalen Erfolg meiner historischen Romane. Er hatte kein Problem mit dem Mangel an Political Correctness. Er hielt den Roman einfach für unverkäuflich, weil er weder Roman noch Autobiographie, weder Tragödie noch Komödie ist. Er meinte, ich müsste mich für ein Genre entscheiden, sonst könne er das Buch nicht anbieten. Die erste Frage eines Verlegers sei immer: Welches Genre? Aber ich wollte ganz bewusst ein Buch schreiben, das alles vereint, was das Leben ausmacht: Komödie und Tragödie, eine Schweizer Forrest-Gump-Geschichte.

 

Glauben Sie, dass die Reaktion der Verlage nach den Massakern in Paris eine andere gewesen wäre – in dem Sinne: Unsere Selbstzensur muss jetzt ein Ende haben? Oder ist es umgekehrt: Kuschen wir alle noch mehr vor den Geboten der PC?

 

Der Buchmarkt zeigt, dass alles möglich ist. Bei Grossverlagen entscheidet am Ende der finanzielle Aspekt und nicht die Political Correctness. Die Selbstzensur haben sich eher die Kulturschaffenden auferlegt. Intellektuelle sind es gewohnt, mit Worten zu kämpfen. Stehen sie plötzlich einem primitiven Kerl gegenüber, der mit roher Gewalt droht, überlegt sich ein Autor oder Karikaturist zweimal, ob sich das Risiko wirklich lohnt. Ein Kulturschaffender im Westen hat mehr zu verlieren als ein religiöser Fanatiker ohne Bildung und berufliche Perspektive.

 

Ist es bezeichnend für unsere Zeit, dass wir wieder mehr um die Freiheit der Kunst kämpfen müssen?

 

Die Freiheit der Kunst muss täglich verteidigt werden, sonst verliert man sie. Das war schon in der Antike so. Honoré Daumier wanderte 1832 wegen seiner Gargantua-Karikatur ins Gefängnis. Als 1951 die „Sünderin“ mit Hildegard Knef aufgeführt wurde, stürmte ein katholischer Priester mit Gleichgesinnten die Kinos und warf Stinkbomben und weisse Mäuse in den Saal, 1963 wurde vor den Theatern gegen die Aufführung von Rolf Hochhuts „Stellvertreter“ demonstriert. Kontroversen wird es immer geben, das gehört zur Entwicklung einer Gesellschaft, aber heute sind die Skandale oft gesucht und Teil der Marketingkampagne.

 

Es gibt zweifellos einige Stellen im Buch, die Rechtspopulisten gefallen würden: zum Beispiel, dass unser Staat Pädophilen erlaubt, mit Kindern zu arbeiten; oder Afrikaner, die in der Bronzezeit lebten und „vor dem Penaltyschiessen Schimpansenknochen unter der gegnerischen Trainerbank kreuzen“. Die Schweiz sei ein Land, in dem Leistung „ein Offizialdelikt“ sei. Soll das schockieren? Und wen?

 

Dass man rechtskräftig verurteilten Pädophilen nicht mehr erlaubt, mit Kindern zu arbeiten, finde ich als liebender Vater selbstverständlich. Dass wir verwöhnte Wohlstandsbürger geworden sind, diese Einschätzung ist nicht eine Frage der Ideologie, sondern des Alters. Im Alter kann man vergleichen. Dort, wo ich aufgewachsen bin, ging man nicht in die Ferien. Heute darf man in den Medien jammern, wenn man nicht zweimal im Jahr Urlaub machen kann.

Wenn Sie die Dritte Welt gesehen und realisiert haben, dass eine Milliarde Menschen in Slums wohnen, kommen Sie zum Schluss, dass wir jede Verhältnismässigkeit verloren haben. Auch diese Einschätzung hat nichts mit Ideologie zu tun, sondern mit dem Wissen über die katastrophale Armut in der Dritten Welt.

Zu den Schimpansenknochen noch ein Wort: Ich bin an einem Freitag den 13. geboren und habe für Aberglauben nur Spott übrig. Meine Mutter kreuzte manchmal zwei Küchenmesser unter meinem Bett, um mich davon abzuhalten, Sartre oder Henry Miller zu lesen. Ich kann heute noch herzhaft darüber lachen. Wieso darf ich nicht auch darüber lachen, wenn ein Afrikaner zwei Schimpansenknochen unter der gegnerischen Trainerbank kreuzt? Die Fussballwelt ist voller abergläubischer Menschen. Die meisten Menschen sind abergläubisch. Auch Religion ist eine Form von Aberglauben.

 

Ihr Urteil über die Schweizer Literatur und Kritik der letzten Jahrzehnte ist vernichtend: langweilig, sozialdemokratisch, brav, uninspiriert, Gesinnungsliteratur usw. Trifft es Sie, dass das Feuilleton Sie sozusagen als gehobenen Trivialautor betrachtet?

 

Ich habe doch nichts gegen sozialdemokratische Literatur. Ich bin eh ein Freund von Meinungsvielfalt und freier Meinungsäusserung. Ich mag jene Art Literatur nicht besonders, die in pastoralem Ton belehrt und bekehren will. Für Botschaften soll man bekanntlich die Post benützen. Ich will Geschichten erzählen mit Charakteren, die berühren und nachhaltig wirken, ich schreibe Historie in Romanform, zeige, dass Wissen sexy ist. Als „Trivialliteratur“ sind meine historischen Romane noch nie bezeichnet worden, meistens wählt man „intelligente Unterhaltung“. Was soll daran schlecht sein?

Es ist anspruchsvoll, einen historischen Roman wie „Das grosse Spiel“ zu recherchieren und zu schreiben, der die Erfindung des Papiergeldes in Europa dramatisiert und richtig Spass macht. Sie kennen sicher das Zitat: Jede Art zu schreiben ist erlaubt, nur nicht die langweilige. Wir leben in einem freien Land, jeder soll schreiben, was er mag, und jeder soll lesen, was er mag.

 

Weite Strecken von „Script Avenue“ lesen sich wie eine nostalgische Hymne auf die 70er Jahre. Nie wieder, heisst es, würden wir eine solche Freiheit erleben. Was hat sich verändert?

 

Alles. Die 70er Jahre waren wilder, frecher, schräger, unkonventioneller, erotischer. Eine Janis Joplin lebte ihre Songs auf der Bühne, ein Joe Cocker litt an seinen Songs, Song und Sänger waren eins. Heute haben wir eine singende „Arsch- und Tittenkultur“, Medienstars wie Paris Hilton oder Kim Kardashian sind berühmt für ihr Berühmtsein. Stars werden nicht mehr geboren, sondern künstlich erschaffen. Und das Ganze sieht dann eher aus wie ein Werbespot für Badeschaum.

Aber das ist okay, jeder nach seinem Geschmack. In den 70er Jahren gab’s einfach weniger Bürokratie, Reglementierungen, Bevormundungen, mehr originelle Typen, schräge Filme, weniger Political Correctness. Es war nebst der Belle Epoque das geilste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts.

 

Die Zeichnung der 70er Jahre ist aber auch ambivalent: Es sei das Zeitalter gewesen, in dem Leute Geld ohne Leistung gefordert hätten. Kann man sagen: Sie stehen fest auf dem Boden der freien Marktwirtschaft?

 

Dieses Zitat bezieht sich nicht auf die 70er Jahre, sondern auf die Gegenwart. Aber zu Ihrer Frage: Ich bin für eine soziale Marktwirtschaft, in der Leistung honoriert, aber die Schwächsten der Gesellschaft beschützt und unterstützt werden. Keine einzige Partei setzt sich heute für Behinderte ein. Ich bin auch für ein Maximum an individueller Freiheit, solange sie die Freiheit anderer nicht einschränkt. Aber Marx hatte absolut Recht, als er schrieb: „Das Sein bestimmt das Bewusstsein“.

Ich wollte als Kind immer „weniger Vater“, als Erwachsener wünschte ich mir „weniger Staat“, als junger Autor lebte ich wie ein Bohemien und war prädestiniert, ein Big Lebowski zu werden. Doch Schicksalsschläge zwangen mich, meine Interessen zurückzustellen und sehr viel zu arbeiten. Ich musste ein Leben lang als Einzelkämpfer viel Leistung erbringen. Ich war und bin deshalb ein Freund von Selbstverantwortung und Verantwortung anderen Menschen gegenüber.

 

Schon in „Das grosse Spiel“, einem Roman über den Papiergeld-Erfinder John Law, ist Ihr Gespür für Dramaturgie offensichtlich. Dramaturgie ist grundsätzlich an Fiktion geknüpft, das wahre Leben kennt viele Leerstellen, Wiederholungen, Langeweile etc. Wie liessen sich die Erfordernisse der Autobiographie und der Dramaturgie überhaupt zusammenbringen?

 

Das war relativ einfach. Stellen Sie sich vor, mein Leben besteht aus einem Becher Popcorn. Sie suchen gezielt einige interessante Popcorns aus und reihen sie nach dramaturgischen Gesichtspunkten auf dem Tisch aneinander. Das ist dann die Script Avenue. Nach der ersten Fassung von 890 Seiten habe ich alles gestrichen, was in meinem Leben zwar wichtig, aber für den Roman langweilig war. Es gibt’s nichts Langweiligeres, als wenn der Nachbar detailliert über seine Ferien auf Mallorca erzählt. Das Leben wird mit den Jahren in der Tat ein bisschen repetitiv, der 3429. Orgasmus ist nicht mehr so aufregend wie der erste.

 

Wäre der Begriff Autofiktion auf „Script Avenue“ anwendbar? Dramatisierung des eigenen Lebens?

 

Ja, Karl Ove Knausgård schreibt auch Autofiktion, aber er hat trotzdem eine Menge Klagen am Hals. (Karl Ove Knausgård, 1968, norwegischer Schriftsteller, schrieb den Romanzyklus mit dem etwas irritierenden Titel „Min Kamp“, der unter anderem eine Abrechnung mit dem Vater ist – die Red.)

 

Sie sind schwer krank. Schärft diese Lage den Blick? Macht sie freier gegenüber Konventionen? „Script Avenue“ atmet eine eindrückliche, geradezu meisterhafte – verzeihen Sie die Direktheit – Souveränität des Sterbenden.

 

Ich musste mich in den letzten fünf Jahren zweimal damit abfinden, dass ich in den nächsten Wochen sterbe. Das verändert alles. Ich lebe im Bewusstsein, dass es nächste Woche schon zu Ende sein kann. In dieser Situation wird man sehr bescheiden, demütig und schreibt ehrliche Bücher ohne Rücksicht auf die eigene Reputation.

Das ist wohl die Stärke der »Script Avenue«. Nach solchen existentiellen Erfahrungen wird man auch gelassener, vielleicht sogar gleichgültiger, und beschreibt die Dinge, wie man sie sieht, und nicht, wie man sie gerne sehen möchte, oder wie erwartet wird, dass man sie sieht. Man ist »signed off«. Das Phänomen habe ich in Hongkong oft beobachtet. Gestrandete Expats, die sich abseits ihres Kulturkreises einen Deut um ihre Reputation kümmern.

Mir geht es heute ähnlich. Ich bin wie ein Ausserirdischer, der nicht mehr Teil dieser Gesellschaft ist. Mein Koffer ist gepackt. Aber ich freue mich dennoch jeden Tag, ab drei Uhr morgens auf dem iPad Zeitungen zu lesen und einmal die Woche im Donati meine „Scaloppine Purgatorio del Padrone“ zu essen, ich muss ja nicht mehr fürs Alter sparen.

 

Zuletzt zur Schweiz: Es ist ein buntes Land, das Sie schildern, voller schräger Vögel, die man kaum noch antrifft. Heute scheint dieser Kleinstaat ohne Impulse, kraftlos, geistig verarmt, belanglos, konformistisch und desorientiert. Oder würden Sie diesem Eindruck widersprechen?

 

Ich habe auf so vielen Hochzeiten getanzt, dass ich einer Unzahl schräger Vögel begegnet bin. Die gibt es immer noch, sie leben mitten unter uns, aber sie gewähren einem nur dann Einblick in ihre Seele, wenn man ihnen in einem ersten Schritt mit schonungsloser Offenheit entgegentritt. Sie würden nicht glauben, wie viele schräge Vögel ich durch die Script Avenue kennengelernt habe. Meine Offenheit hat sie animiert, mir sehr Intimes und Bewegendes zu mailen. Viele Menschen haben ihre eigene Script Avenue. Aber sie lassen nur selten jemanden hineinschauen.

Zu unserem Kleinstaat: Viele Leute wachsen wie Prinzen und Prinzessinen heran, die permanente staatliche Rundumversorgung macht sie am Ende lebensunfähig, apathisch, aber auch unzufrieden und unglücklich. Aber es gibt auch einen Teil der Jugend, der Chilli im Hintern hat und etwas aufbauen und erreichen will. Jede Epoche hat ihre eigene Tinte, und die Erde dreht sich weiter.

#chronos (1977)

 

cueni_chronos_19771977 sangen die Eagles «Welcome to the Hotel California, such a lovely place», während in ­Frankreich zum letzten Mal das abgeschrägte Beil der Guillotine heruntersauste.

Der bisher unbekannte John Travolta tanzte sich durch «Saturday Night Fever». Sein Aufstieg zum Hollywoodstar war nicht ganz einfach, da er sich keine fünf Sätze merken konnte und deshalb überall Teleprompter im Weg standen. Und ein paar Scientologen.

Jimmy Carter wurde zum 39. Präsidenten der USA gewählt. Sein Bruder Billy, ein Tankstellen­besitzer, brachte umgehend ein Billy Beer auf den Markt und verdiente damit mehr als sein grosser Bruder in Washington. Er war ein sehr gefragter Interviewpartner, da er laut eigenen Angaben, an guten Tagen 40 bis 50 Dosen Billy Beer trank.

1977 schickte die Nasa ihre Raumsonde ­Voyager 1 zu den Planeten Jupiter und Saturn. Sie war das erste von Menschen geschaffene Objekt, das (nach einer 35-jähriger Reise) den inter­stellaren Raum erreichte. Noch heute sendet Voyager 1 regelmässig Daten zur Erde.

Nicht minder erfolgreich war in diesem Jahr der Start von George Lucas’ «Star Wars». Eigentlich hatte er «Flash Gordon» verfilmen wollen, doch Dino De Laurentiis wollte die Rechte nicht ­hergeben. Nach zahlreichen Absagen wurde das erfolgreichste Filmprojekt aller Zeiten realisiert und erwirtschaftete seitdem, allein mit dem ­Merchandising, über 20 Milliarden Dollars. Die Science-Fiction-Sage prägte nicht nur die Popkultur, ­sondern auch die ­Jugenderinnerungen einer ganzen Generation.

Das Jahr 1977 bescherte Deutschland einen «heissen Herbst». Die kommunistische und antiimperialistische Stadtguerilla Rote Armee Fraktion (RAF) dominierte mit Morden, Entführungen und Sprengstoffattentaten die Schlagzeilen. Als der Kern der RAF inhaftiert wurde, versuchten die letzten Mitglieder, ihre Anführer mit der Entführung einer Boeing der Lufthansa freizupressen. Bundeskanzler Helmut Schmidt schickte die Antiterroreinheit GSG-9 nach Mogadischu. In einer siebenminütigen Aktion erschoss die Spezialeinheit drei der vier Terroristen und befreite die Geiseln. Darauf begingen die vier inhaftierten RAF-Terroristen Selbstmord.

Medienthema war aber auch das anonyme Pamphlet in den Göttinger Nachrichten. Ein anonymer Mescalero brachte seine «klamm­heimliche Freude» über die Ermordung von ­Generalbundesanwalt Siegfried Buback zum ­Ausdruck. 24 Jahre später bekannte sich der Deutschlehrer Klaus Hülbrock zu diesem Text.

Elvis, der «King of Rock ’n’ Roll», der mit über einer Milliarde verkauften Tonträgern der ­erfolgreichste Solokünstler aller Zeiten ist, starb nach drei Herzinfarkten, Leukämie, chronischer Darmentzündung und anderen Krankheiten, die erst viel später publik wurden. Vor seinem Tod gestand er einem Freund: «Jeder denkt, ich sei einfach nur fett. Sie kapieren nicht, dass es ­Flüssigkeit ist. Mein Dickdarm ist hinüber.»

Sterben musste auch die Stummfilm-Legende Charlie Chaplin, der gemäss seinem renommierten Biografen Peter Ackroyd ein Weltstar, aber auch ein ziemlicher Mistkerl ­gewesen sein soll. Er habe seine weit über 100 Sexpartnerinnen «wie den letzten Dreck» behandelt.

Verstorben ist auch René Goscinny, der ­erfolgreichste Comicautor des 20. Jahrhunderts, der Asterix & Obelix & Lucky Luke die Sprech­blasen füllte. Er erlitt während eines routine­mässigen ärztlichen Belastungstests einen Herzinfarkt.

And one more thing: Ken Olson, Präsident der Digital Equipment Corp., diktierte einem ­Journalisten: «Es gibt keinen Grund, warum irgendjemand einen Computer in seinem Haus wollen sollte.»

© Basler Zeitung; 30.01.2015

Claude Cueni

Die #chronos Kolumnen erscheinen alle zwei Wochen in der Basler Zeitung, jeweils am Freitag.

 

Kolumne: Lolo Kiko on Tour

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Der Papst auf den Philippinen
Lolo Kiko on Tour
Von Claude Cueni

Auf den Philippinen sind sich die meisten ­Menschen einig: Das grösste Problem des Landes ist nicht die exorbitante Korruption, obwohl sie laut einem ehemaligen Finanzminister 50 Prozent des Staatshaushaltes verschluckt. Das grösste ­Problem sind auch nicht die brutalen Tsunamis, Erdbeben, Vulkanausbrüche und ­Terroranschläge der islamistischen Terrorgangs. Nein, das grösste Problem ist die Über­bevölkerung und die ­Katholische Kirche, die bis zum obersten Gericht prozessiert, um Sexualaufklärung an den Schulen zu verhindern. Politiker, die dagegen-­halten, droht die Exkommunikation, was im streng katholischen Land das Ende der politischen Karriere bedeutet.

Der Papst, der auf den Philippinen liebevoll Lolo Kiko genannt wird (Lolo für Grossvater und Kiko als Nickname für Franziskus) sagte auf der Rückreise nach Rom, Katholiken sollten sich nicht vermehren wie die Karnickel, drei Kinder seien genug. Der Protest reicht von kinderreichen Familien bis zu Erwin Leowsky, dem Präsidenten des deutschen Rasse-Kaninchenzüchterverbands.

Doch entscheidend ist nicht die Anzahl Kinder, sondern die Anzahl Kinder, die man ernähren und auf eine Schule schicken kann. In den armen philippinischen Provinzen, abseits der westlich orientierten Wirtschafts­zentren, gibt es tatsächlich Familien, die mehr als zehn Kinder haben, obwohl sie mit vier oder fünf glücklich wären. In diesen Familien bedeuten zehn Kinder, das keines nach der Primarschule in die nächste Stufe wechseln kann. Die Armut wird so von Generation zu Generation weitergegeben. Mehr Bildung und Wohlstand hat gemäss Statistik eine geringere Anzahl Kinder zur Folge.

Was war also der Sinn dieser Papstreise? Als die zwölfjährige Glyzelle Palomar, ein ehemaliges Strassenkind, dem Papst sagte, dass viele Kinder von ihren Eltern verlassen werden und Opfer von Drogen und Prostitution werden, überquerte der Medienstar die Bühne, nahm das weinende Mädchen in die Arme und sagte: «Lasst uns lernen, zu weinen wie sie.» Wahrscheinlich ­würden die ­meisten bessere Lebensbedingungen vorziehen.

Lolo Kiko hätte die Chance gehabt, seinen philippinischen Bischöfen die Leviten zu verlesen. Es wäre in seiner Macht gestanden, als Oberhaupt der Katholischen Kirche Kondom- und Pillen­verbot aufzuheben. Doch er inszenierte sich als lustiger Kumpel. Inhaltlich unterscheidet er sich kaum von seinem erzkonservativen Vorgänger. Neu ist die Inszenierung: Die Kirche der Armen vertraut nicht mehr dem Heiligen Geist, sondern den PR-Beratern von Ernst & Young und McKinsey.

© Basler Zeitung; 23.01.2015

#chronos (1951)

cueni_chronos1951«Everybody likes my rocket 88», sangen «Bill Haley & His Saddlemen» in einer eigenwilligen Coverversion, die als erste Aufnahme eines ­Rock-’n’-Roll-Titels gilt. Das schweizerische ­Verteidigungsministerium beschaffte für die ­Fernmeldetruppen 30 000 «selbstreproduzierende Kleinflugkörper auf biologischer Basis mit festprogrammierter automatischer Rückkehr aus ­beliebigen Richtungen», die 1995, trotz Protest der Brieftaubenlobby, in die zivilen Lüfte ­entlassen und zu Ratten der Lüfte mutierten.

1951 wurde Hitler – wenig überraschend – für tot erklärt und die deutsche Justiz beschleunigte die Ahndung von Kriegsverbrechen, indem sie rund 800 000 Nazis amnestierte. Die rechts­gerichtete deutsche SRP (Sozialistische Reichspartei) erhielt – auch wenig überraschend – bei den niedersächsischen Landtagswahlen elf ­Prozent der Stimmen.

Mehr Stimmen erhielt der Skandalfilm «Die Sünderin», in dem Hildegard Knef eine ­Prostituierte spielt, die ihrem krebskranken Freund Sterbehilfe leistet. Der Erzbischof von Köln verlas gleich zur Premiere einen Hirtenbrief, um gegen die nackten Brüste der Hildegard Knef und gegen die Propagierung von wilder Ehe, ­Prostitution und Sterbehilfe zu protestieren. Im Namen Gottes stürmte der Pfarrer Carl ­Klinkhammer mit Sympathisanten die Kinos, warf Stinkbomben und weisse Mäuse in die ­voll besetzten Säle und war sehr hilfreich für das Marketing.

Wesentlich lustiger waren «Laurel & Hardy», die 1951 der Fremdenlegion beitraten, weil sie sich von ihren Ehefrauen ­vernachlässigt fühlten. Sie waren das erfolgreichste Komikerduo der damaligen Zeit (106 Filme), die Stars der gebeutelten Kriegsgeneration, die sich nach Frieden und Wohlstand sehnte und deshalb den neuen 51er-Buick-le-Sabre mit Begeisterung aufnahm, ein luxuriöser Strassenkreuzer mit riesen Kotflügeln und Stummelflossen.

Für kleinere Budgets gab es die Metallautos von Jack Odell im Massstab 1:64. Er hatte sich ­darüber geärgert, dass es seiner Tochter in der Schule verboten war, Spielsachen, die grösser waren als eine Streichholzschachtel, in den ­Unterricht zu nehmen. Er entwickelte aus Trotz eine kleine Dampfwalze, die so klein war, dass die Tochter sie in einer Matchbox verstecken konnte. Den Durchbruch erreichte die Firma mit ihren blaugelben Matchboxes jedoch erst im nächsten Jahr mit dem Miniaturmodell der ­Krönungskutsche von Her Majesty The Queen.

1951 erschien die deutsche Ausgabe von Simone de Beauvoirs «Das andere Geschlecht» («Man wird nicht als Frau geboren, man wird es») und C.G. Jung publizierte seine Untersuchungen zur Symbolgeschichte, während nordkoreanische und chinesische Truppen den USA einen ­Stellungskrieg lieferten. Aus Angst vor einem ­dritten Weltkrieg setzten weltweit Hamsterkäufe ein. Als Oberbefehlshaber Douglas MacArthur den Abwurf einer Atombombe über China forderte, wurde er von Harry S. Truman entlassen und der Basler Grafiker erfand für Suchard die Milka-Kuh, während Fats Domino seinen Nervenkitzel in Blueberry Hill fand.

I found my thrill on Blueberry Hill

On Blueberry Hill, when I found you

Der Korea-Krieg sorgte in den USA für heisse Köpfe und leitete die McCarthy-Aera ein, die den meisten linken Intellektuellen die Frage stellte: «Sind Sie oder waren Sie jemals Mitglied der kommunistischen Partei.» Etliche Drehbuch­autoren benutzten fortan Pseudonyme, doch John Wayne verpfiff einige von ihnen an das ­Tribunal. Von ihm ist das Zitat überliefert: «Ein Huhn muss tun, was es tun muss.»

Claude Cueni

© Basler Zeitung; 16.01.2015 / die #chronos Kolumnen erscheinen 14täglich, jeweils am Freitag, in der Basler Zeitung

Wem gehört Mohammed?

cueni_copyright_religionMohammed ist eine historische Figur und gehört, wie alle anderen historischen Persönlichkeiten auch, zum geistigen Weltkulturerbe der Menschheit. Er ist genauso wenig Eigentum der Muslime wie Jesus Eigentum der Christen ist.

Satire ist die jahrtausendealte Kunst des Spottens, des übertriebenen Spottes. Alles kann Gegenstand einer Satire sein, sowohl Mohammed als auch Jesus, der Papst oder Kim Jong Un.

Wer wie Bundesrätin Leuthard meint, Satire dürfe nicht alles, irrt. Satire darf alles. Muss alles dürfen. Wer sich dadurch in seiner Ehre verletzt fühlt, darf in unserem Rechtsstaat klagen. Die Richter entscheiden.

Es gibt nicht ein bisschen Satire. Es gibt weder eine Dreiviertel-Pressefreiheit noch eine Meinungsfreiheit nach Gutdünken der Obrigkeit. George Orwell sagte: Freiheit bedeutet, anderen Dinge zu sagen, die sie nicht hören wollen. Freiheit bedeutet auch, Karikaturen zu zeichnen, die andere nicht sehen wollen.

Wer nun in seiner öffentlichen Betroffenheitserklärung das Wörtchen «aber» einbaut und somit den Opfern eine Mitschuld zuschiebt, macht sich zum verlängerten Arm der Schock­terroristen. Wer in vorauseilendem Gehorsam kapituliert, verzichtet auf die Errungenschaften der Französischen Revolution. Wer die Meinungsfreiheit, ein zentrales Recht der freien Welt, nicht verteidigt, verliert sie.

Man kann Intoleranz nicht mit Toleranz begegnen. Wer glaubt, dass Nachgeben die Lösung ist, wird sich noch wundern. Jedes Nachgeben ermuntert zu weiterreichenden Forderungen. Was wird man als Nächstes mit Terrordrohungen erzwingen wollen? Michel Houellebecqs neuer Roman «Unter­werfung» ist kein Zufallsprodukt.

© Basler Zeitung; 09.01.2015; Seite bazab19
Kultur

Jubiläum. 5 Jahre überlebt.

cueni_haddock_3Heute feiere ich (in altersgemässer Umgebung) meinen 5. Geburtstag.

5 Jahre mit fremdem Knochenmark überlebt.

Leider stossen die fremden Blutstammzellen, die mich von der Leukämie “geheilt” haben, meine Organe ab. Ein klassischer Urheberrechtsstreit: Wer ist das Orignal, wer ist die Kopie. Schlacht gewonnen, aber der Krieg geht weiter. 

Eigentlich habe ich mich immer mit Tintin identifiziert, später, als ich zunehmend das Gehör verlor, mit Professeur Tournesol. Doch als ich heute Morgen in den Spiegel blickte, sah ich eher aus wie ein Kortison geschädigter Haddock an Bord eines Lazarettschiffs : Also medizinisch betrachtet, eine Schande für die köngliche Marine. Tonnerre de Brest, vieux cornichon!

 

#chronos (1904)

cueni_chronos_19041904 wurde erstmals auf dem New Yorker Times Square Silvester gefeiert. «Wie lieb und luftig perlt die Blase / Der Witwe Klicko in dem Glase!», schrieb Wilhelm Busch, bereits 32 Jahre bevor der Champagner der Veuve Clicquot an allen Herrschaftshöfen Europas zum Inbegriff von Luxus und Savoir-vivre geworden war.

US-Präsident Theodore Roosevelt wollte nicht mehr tatenlos zusehen, wie sich europäische Kolonialmächte die Welt untereinander auf­teilten, und kündigte mit der Roosevelt-Corollary das Ende des Isolationismus und den Beginn einer militaristischen Aussenpolitik an.

In Südwestafrika gab Generalleutnant Lothar von Trotha den deutschen Soldaten den Befehl zur «gnadenlosen Ausrottung» des Hirtenvolkes der Herero. Von 80 000 überlebten nur 12 000 und starben später in Konzentrationslagern.

In Deutschland gelangte ein ärztlich empfohlener «Geradehalterträger für eine militärstramme ­Haltung» in den Verkauf. Für «körperlich und geistig Erschöpfte» entwickelte Georg Wander einen löslichen Malzextrakt, Kakao, Molkepulver und Honig: Ovomaltine.

In St. Louis wurde während der Olympischen Sommerspiele erstmals (und dann nie wieder) das Sackhüpfen zur olympischen Disziplin. Ein deutscher Einwanderer verkaufte den Zuschauern Hackfleischbrötchen. Er nannte sie «Hamburg», die Kundschaft später «Hamburger».

Mit reichlich Champagner und Hamburger feierte auch Jack London sein erfolgreichstes Buch, «Der Seewolf». Jahre zuvor war er dem Goldrausch erlegen und hatte sein Glück am Klondike River versucht. Die Goldfunde waren anfangs so gigantisch, dass Amerika bereits vier Jahre zuvor ausreichend Gold hatte, um mit dem Gold Standard Act den Dollar an das Edelmetall zu binden. Jack London fand hingegen keinen einzigen Nugget und widmete sich wieder dem Schreiben. Er überlebte als Reporter eine Kriegsgefangenschaft während des Russisch-Japanischen Krieges und sogar das Jahrhunderterdbeben von San Francisco. Nicht überlebt hat er seine chronische Alkoholsucht, die er in seinem Roman «König Alkohol» thema­tisierte. Er starb bereits mit 40 Jahren, vermutlich an einer Harnvergiftung, ausgelöst durch eine alkoholbedingte Niereninsuffizienz.

Der jodelnde Country-Musiker Cliff Carlisle erblickte das Licht der Welt und der Drogist Max Riese mischte aus Wollfett und Zinkoxid Babycrème: Penaten.

In Paris wurde die Fifa gegründet und in der Frauenmode hielten allmählich männliche Accessoires wie Krawatte und Spazierstock Einzug, wobei das männliche Geschlecht (noch) nicht begriff, für wen dieser Stock ­eigentlich gedacht war …

© Basler Zeitung; 02.01.2015

Golden Glory 2014 geht an die Script Avenue

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Ich danke allen Leserinnen und Lesern, die an der Abstimmung des Schweizer Fernsehens teilgenommen und sich für die Script Avenue entschieden haben. Der Publikumspreis bedeutet mir sehr viel.

Bei den üblichen Buchpreisen entscheidet meistens eine elitäre Jury aus Kulturbeamten, die sich über die Auswahl des prämierten Buches auch selber ein Kränzchen widmen wollen. Die Kriterien sind deshalb oft sehr subjektiv und nicht für alle Leserinnen und Leser nachvollziehbar.

Bei einem Publikumspreis entscheiden Tausende von anonymen Leserinnen und Lesern, ob ein Buch sie berührt, bewegt, fasziniert oder gelangweilt hat. Deshalb ist dieser Publikumspreis für mich bedeutend, denn meine Freunde sind die Leserinnen und Leser und nicht die Kulturbürokraten in einer Literaturjury.

Zu danken habe ich auch meiner Verlegerin Gaby Baumann. Sie hat einen kleinen Verlag, aber ein riesengrosses Herz. Sie ist eine bessesene Verlegerin, wie ich es in den letzten 30 Jahren noch nie erlebt habe. Sie hat aus der Script Avenue eine erfolgreiche Script Avenue gemacht.

Ein grosses Herz hat auch meine liebe Dina, die mich die letzten fünf Jahre unerschrocken durch sehr schwierige Phasen meiner Krankheit begleitet hat. Mit ihrem Humor, ihrer unzerstörbar guten Laune und dem philippinischen Swerte («Kommt schon gut») hat sie viel Sonne in meinen schwierigen Alltag gebracht.

Zu danken habe ich auch meinem Sohn Clovis, meinem besten Freund, der mir heute tausendfach zurückgibt, was ich ihm einst als Vater gegeben habe. Zusammen mit seiner lieben Frau Jessie bringt er viel Humor und anregende Diskussionsstoffe in mein Leben.

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#chronos (1974)

cueni_chronos4_1974Satirische Jahresrückblicke (1850 . 2015) in 100 Sekunden

«Sugar Baby Love» sangen die Rubettes und ­schufen mit diesem Bubblegum-Popsong den erfolgreichsten Oldie aller Zeiten. Terry Jacks «Season In The Sun» markierte die Endphase der Hippie-Ära: We had joy, we had fun, we had seasons in the sun. Schockfarben waren im Trend, US-Army-Jacken, Latzhosen, PLO-Schals, Mao-Bibeln, Che-Guevara-Posters; vom afrikanischen Kaftan bis zum zotteligen Schafspelz wurde alles ­getragen, was Individualität markieren könnte. Sogar Paul Breitner versenkte mit Afrolook den Elfmeter im WM-Finale gegen Holland.

Zentrales Thema war jedoch die durch das Ölembargo im Vorjahr ausgelöste Ölkrise, die nochmals akzentuiert wurde, als Ägypten und Syrien die Golanhöhen besetzten. Für einige Sonntage galt ein Autofahrverbot, das ­wirtschaftlich keinen Nutzen hatte, aber schöne Fotomotive hergab. Hintergrund der Ölkrise war nicht nur der Nahostkonflikt, sondern auch die mit der Aufhebung des ­Goldstandards herbeigeführte Schwächung des Dollars, der den Erdölexporteuren sinkende Einnahmen bescherte.

In den Kinos lehrte uns «Der Exorzist» das Fürchten. Da er nicht alle Dämonen vertreiben konnte, folgten weitere Fortsetzungen. Fortgesetzt wurde auch der Kultfilm «The Godfather», mit Robert De Niro als junger Don Vito Corleone. («There are people who’d pay a lot of money for that infor­mation.») Studio­kinos spielten Fassbinders Film «Angst essen Seele auf», die berührende Geschichte einer verwitweten Putzfrau, die sich in den jungen Ali verliebt und an den Reaktionen ihrer Umgebung zerbricht. Zerbrochen ist in diesem Jahr auch das Vertrauen der Amerikaner in Richard Nixon, der infolge der Watergate-Affäre prophylaktisch zurücktrat, nachdem das Repräsentantenhaus ein Amts­erhebungs­verfahren beschlossen hatte. Auch Willy Brandt musste überraschend zurücktreten, sein persön­licher Referent Günther Guillaume war ein DDR-Spion. Guillaumes Sohn publizierte später seine Memoiren unter dem Titel: «Der fremde Vater».

Auch im Sport spekulierte man über einen baldigen Rücktritt: Der chancenlose Muhammad Ali wollte in Kongo gegen den amtierenden Schwergewichtsweltmeister George Foreman antreten. Doch die Schlägerei im Dschungel («Rumble In The Jungle») endete in der achten Runde mit zwei Links-rechts-Kombinationen, und der bisher in 40 Kämpfen ungeschlagene Boxweltmeister ­Foreman lag auf den Brettern. Ali flüstete ihm zu: «Is that all you can, George?»

© Basler Zeitung; 12.12.2014

Grosses Blick Interview über die Schweiz

cueni_blick_aushangHotel Mama ist jetzt Papa Staat

Interview: Chefredaktor René Lüchinger

BLICK: Herr Cueni, Sie leben im Zwischenraum von Leben und Tod. Wie geht es Ihnen?

Claude Cueni: Gut, aber auf tiefem Niveau. Meine Blut- und Lungenwerte sind seit zwei Monaten stabil. Aber für weitere Organabstossungen gibt es nicht mehr viel Spielraum.

Bereiten Sie sich auf das Ende vor?


Ich liebe das Leben. Es gibt viele Dinge, die ich noch lernen möchte. Es gibt Romane und Essays, die ich noch schreiben will.

Exit ist kein Thema für Sie?


Ich habe mit Sterbehilfeorganisationen Gespräche geführt. Die Gewissheit, dass man im Notfall alles sofort beenden kann, ist eine grosse Erleichterung und hilft, den Alltag mit Gelassenheit zu bewältigen. Aber das ist zurzeit kein Thema.

Verfolgen Sie noch die gesellschaftspolitische Entwicklung in unserem Land? Ecopop, Gold-Initiative und so fort? Oder wird einem dies in Ihrem Zustand egal?


Ich lese meistens ab Mitternacht auf dem iPad diverse Zeitungen, von nationalen Medien über Nachrichtenmagazine bis zur «South China Morning Post».

Reden wir über die Schweiz. Auch unser Land befindet sich in einem Zwischenraum: zwischen Masseneinwanderung und Nationalratswahlen 2015. Wo stehen wir?


Die Zahl der Wutbürger hat zugenommen. Viele Menschen sind verärgert, dass Abstimmungsresultate uminterpretiert und nicht umgesetzt werden. Demokratische Volksentscheide müssen nicht interpretiert werden, sie müssen umgesetzt werden.

Sie reden vom Vertrauensverlust gegenüber der Politik?

Bundesrätin Doris Leuthard forderte kürzlich Vertrauen in die Politik. Aber Vertrauen muss man sich verdienen. Viele Politiker erwecken den Eindruck, sie hätten nur ein Ziel: die eigene Wiederwahl. Dafür versprechen sie den Wählern Leistungen, die man nur mit neuen Schulden finanzieren kann – seit 1971 der Ursprung aller Verschuldungskrisen.

Wie bitte?


Damals löste Nixon die Goldanbindung des Dollars, um den Vietnamkrieg mit neuem Papiergeld zu finanzieren. Später warfen linke und rechte Regierungen abwechselnd die Notenpresse an. Der Wähler bezahlt diese Geschenke teuer, weil die hemmungslose Verschuldung und Gelddruckerei seine Kaufkraft mindert, sein Altersguthaben schmelzen lässt. Jetzt spielt Brüssel, das Versailles von heute, mit der Papierpresse.

Das heisst, die politischen Eliten haben die Führungsfähigkeit der Gesellschaft verloren?


Die Verantwortung gegenüber dem Volk und dem Volksvermögen hat abgenommen. Viele Politiker denken wie François Hollande. Er sagte: «Das kostet nichts, das bezahlt der Staat.» 

Früher gab es in der Schweiz moralische Autoritäten. Einen Max Frisch etwa oder einen Friedrich Dürrenmatt. In der Politik einen Willy Ritschard, einen Ulrich Bremi. Wo sind diese Köpfe heute?


Ich weiss es nicht. Ich bin aber sicher, dass es sie wieder geben wird.

Die Lebenskraft der Schweiz erlahmt?


Wir befinden uns seit Jahren in einem schleichenden Wirtschafts- und Währungskrieg. Die USA greifen die Schweizer Steueroase an und verteidigen gleichzeitig die Steueroase in Delaware, wo über eine Million Firmen Steuern sparen. Aber der Druck kommt nicht nur aus dem Ausland. Es ist nicht ganz frei von Ironie, dass ausgerechnet die Leute, die bisher am wenigsten zum Wohlstand der Schweiz beigetragen haben, bestrebt sind, die Vorteile der Schweiz ausser Kraft zu setzen.

An wen denken Sie konkret?


An die möglicherweise gut gemeinten, aber für die Schweiz destruktiven Initiativen, die wir derzeit erleben.

Eine Art Wohlstandsverwahrlosung?
Es ist das Drama des verwöhnten Kindes. Wir werden von der Geburt bis zum Tod betreut, bevormundet, infantilisiert und in der Illusion bestärkt, wir hätten ein Anrecht auf das absolute Glück in einem Fünf­sterne-Hotel. Müsste ich den Begriff Wohlstandsverwahrlosung mit einem Bild dokumentieren, würde ich das Foto nehmen, das die vergnügten Initianten des bedingungslosen Grundeinkommens auf einem Berg von Fünfräpplern zeigt. Wenn junge, gesunde Menschen Geld ohne Leistung fordern, ist das aus meiner Sicht eine Bankrotterklärung. Wenn Geldverdienen fast zum Offizialdelikt wird, hat der Sinkflug begonnen.

Sie haben international erfolgreiche Historienromane geschrieben. Stellen Sie sich vor,  Sie schreiben im Jahr 2100 das Buch «Akte Schweiz – Ein Nachruf». Was stünde da drin?


Die Renten sind halbiert und reichen trotzdem nicht mehr für alle. Der niederländische König Willem-Alexander sagte vor einem Jahr, anlässlich seiner ersten Thronrede, dass der Sozialstaat am Ende sei; alle müssten nun die Schulden der Vergangenheit abtragen. Die Niederländer müssten künftig selbst die Verantwortung für ihre Gesundheits- und Altersversorgung übernehmen.

Erinnern Sie sich an den deutschen Sozialminister Norbert Blüm? Der lachte 1986 auf Litfasssäulen: «Die Rente ist sicher.» Kürzlich sagte er, die Rente ist doch nicht sicher. Politiker sagen stets, was ihnen das Amt vorschreibt, aber nie, was sie wissen oder glauben.

Die EU beschäftigt die grösste Ansammlung von Politikern auf dem alten Kontinent. Worauf müssten wir uns hier einstellen?


Auf mehr Bürokratie, Verschwendung von Steuergeldern, mehr soziale Spannungen und weniger Demokratie. Sollte die EU im Jahre 2100 in der jetzigen Form noch bestehen, wird die Schweiz wohl Mitglied und wie jeder anfängliche Nettozahler auf EU-Niveau pulverisiert sein.

Und sonst?


Ich würde schreiben, dass die offizielle Schweiz in den letzten Jahrzehnten nicht mehr den Willen hatte, ihre Errungenschaften zu verteidigen, und diese deshalb verloren hat.

Bereits 1853 schrieb Friedrich Engels in der «New York Daily Tribune», dass jede anmassende und hartnäckige Regierung von der Schweiz erreichen kann, was sie will und dass noch kein Land in Europa so schlecht behandelt worden sei wie die Schweiz. Er schrieb, dass die Schweiz jede Infamie schlucke und wegen ihrer Unterwürfigkeit in Europa auf den tiefsten Stand der Verachtung gesunken sei.

Sie sind 1956 im französischen Jura geboren. Erzählen Sie uns die Geschichte der Schweiz in der Gegenperspektive: Die reiche Schweiz und die letzten 50 Jahre auf dem Weg ins 21. Jahrhundert. Was fällt Ihnen dazu ein?


Geboren bin ich in Basel, aber ich habe die ersten Babyjahre im Jura verbracht. Die 68er-Bewegung hat die Gesellschaft nachhaltig umgekrempelt, aber die Freiheit, die man als Jugendlicher in den 70er-Jahren hatte, ist vorbei. Aids hat die sexuelle Revolution beendet, und ausgerechnet die einst so freiheitsliebenden 68er wollen heute die Gesellschaft mit einer Flut von Verboten und einer neuen Political Correctness umerziehen. Gesellschaftliche Regeln werden nach Gutdünken ausgelegt. Würde man diese neue ideologisch geprägte Wilkür im Sport anwenden, man könnte kein Fussballspiel mehr leiten.

Der politisch prägendste Kopf im Land, Christoph Blocher, pflegt die Schweizer Mythen wie kein Zweiter und bespielt die Illusion der totalen Unabhängigkeit. Was fällt Ihnen ein, wenn Sie über Schweizer Mythen von Tell, Morgarten oder Rütli nachdenken?
Wilhelm Tell ist ja aus nordischen Sagen entlehnt. Ich habe die Figur nie gemocht, denn als Vater würde ich nie im Leben meinem Sohn einen Apfel vom Kopf schiessen. Winkelried gefällt mir schon besser, weil sich jemand aufopfert für das Wohl der anderen. Vielleicht werden eines Tages Historiker schreiben, dass die Schweiz auf dem Gebiet der Einwanderung in Europa eine Winkelried-Funktion ausgeübt hat. Sie musste viele Diffamierungen einstecken, und heute diskutieren alle westeuropäischen Länder Varianten einer regulierten Zuwanderung. Irgendwann endet jede Ideologie und Romantik an den Grenzen der Realität.

Reden wir über den Islam. Eine Bedrohung für die westliche Welt? Ist die freiheitliche Welt zu faul, ihre Errungenschaften zu verteidigen?


Peter Scholl-Latour sagte, er fürchte nicht die Stärke des Islams, sondern die Schwäche des Westens. So ist es. Wir verkaufen unsere Schwäche als Toleranz, weil wir mehr zu verlieren haben als die IS-Terroristen.

Erleben wir die schöpferische Zerstörung der Schweiz?


Die Schweiz schafft sich ab, das könnte auch der Titel eines schweizerischen Bestsellers sein. Ich bin ja überzeugter Europäer, und 70 Prozent meiner Bekannten sind Ausländer, aber ich halte die EU für ein ehrenwertes politisches Konzept der Nachkriegsgeneration, das aber an der gemeinsamen Währung scheitern muss. Es ist unmöglich, eine Diät zu finden, die sowohl Magersüchtigen als auch Übergewichtigen hilft. Die Südländer gehen daran zugrunde, da sie keine nationale Währung mehr haben, die sie abwerten können, um konkurrenzfähig zu bleiben. Ich wäre nicht erstaunt, wenn in den nächsten fünf Jahren das erste EU-Land aus dem Euro aussteigt.

Die Staatshörigkeit nimmt auch bei uns zu. Vollkasko-Mentalität?


Mag sein, dass dies eine der negativen Spätfolgen der 68er-Bewegung ist. Hotel Mama ist jetzt Papa Staat. Man ist für nichts mehr verantwortlich. Alleiniges Kriterium ist das narzisstische Wohlbefinden. Die Anspruchshaltung gegenüber Papa Staat ist mittlerweile enorm.

Also kein Happy End?


Es gibt nie ein Ende. Alles ist in Bewegung, Aufstieg und Fall von Kulturen und Nationen sind in der Geschichte alltägliche Prozesse. Ich sehe aber auch, dass ein Teil der Jugend sich gegen die momentane Entwicklung sträubt. Auch die Secondos sind eine Chance für die Schweiz. Als meine philippinische Ehefrau vor fünf Jahren erstmals in die Schweiz kam, war sie sprachlos. Sie konnte kaum fassen, dass es ein Land gibt, das derart gut organisiert ist, ein Land, das Eigentumsrechte und Meinungsfreiheit schützt, das Rechtssicherheit, Altersfürsorge und ein funktionierendes Gesundheitssystem garantiert. Als ich einmal am Küchentisch die Stimmzettel ausfüllte, konnte sie kaum glauben, dass jeder einzelne Bürger mehrmals im Jahr über Vorlagen mitentscheiden darf. 500 Millionen Europäer und die übrige Welt beneiden uns um die direkte Demokratie, aber Brüssel fürchtet sich davor. Könnten die EU Bürger über Vorlagen abstimmen, wäre die EU am Ende.

Secondos als Medizin für depressive Schweizer Ureinwohner?


Durch die Augen der Secondos kann mancher Schweizer erkennen, wie gut unser Land, im Vergleich zu anderen Ländern, aufgestellt ist. Vergleicht man die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Parameter, gehört die Schweiz weltweit zur Spitze. Von daher ist es für mich nicht ganz nachvollziehbar, wieso sich einige Gruppierungen an den Rockzipfel der hoch verschuldeten EU hängen wollen. Wenn erst mal das Bargeld in Europa limitiert oder ganz abgeschafft ist, wird es für Brüssel ein Leichtes sein, 500 Millionen Europäer übers Wochenende per Mausklick teilweise zu enteignen. Zypern und Spanien waren Versuchsballone. Es hat funktioniert. Die Verschuldungskrise ist nur noch durch eine Teilenteignung des Volkes lösbar. Und ich möchte nicht, dass mein mühsam Erspartes in die Taschen von Politikern fliesst, deren Länder sich durch Korruption und Disziplinlosigkeit im Haushalt auszeichnen.

 Wo wäre der Ausweg?
Jede Bewegung löst eine Gegenbewegung aus. Ich sehe das Ganze nicht so pessimistisch. Ich hoffe, dass es eine neue Art der Aufklärung geben wird. Denn alle linken und rechten Ideologien sind in und an der Realität gescheitert. Solange wir uns aber gegenseitig mit Schlagworten und reflexartigen Diffamierungen einen Maulkorb umhängen, wird es keinen Fortschritt geben. Für eine neue Aufklärung braucht es offene, auf Fakten basierende Diskussionen ohne Tabus.

Seit 1989, dem Mauerfall, dem Zusammenbruch der Sowjetunion, haben wir Globalisierung. Überfordert sie uns?


Der Kalte Krieg war im Nach­hinein ein grösserer Garant für den Frieden in Europa als das heutige Vakuum. José Manuel Barroso, Ex-Präsident der EU-Kommission, nannte einmal die EU ein Imperium, aber jedes Imperium versucht, seine Aussengrenzen zu schützen, indem es die Grenzen ausweitet. An der Grösse sind nicht nur das römische Imperium und das napoleonische Imperium gescheitert. Jedes Imperium erreicht eines Tages seinen Zenit und beginnt den Sinkflug. Ich glaube nicht, dass die Globalisierung die Schweiz überfordert, aber man müsste die Globalisierung bei der Schulbildung stärker berücksichtigen. Zum Beispiel müsste Englisch landesweit die Zweitsprache sein. Englisch ist eine Voraussetzung, um global erfolgreich zu sein. Das gilt sogar für Schriftsteller.

Wann hat die Schweiz ihre Mitte verloren?


Mitte des 19. Jahrhunderts arbeiteten die Menschen noch bis zu 16 Stunden täglich in unbelüfteten Fabriken, auch Kinder mussten arbeiten, viele Menschen wurden krank, es herrschte ein rücksichtsloser Kapitalismus. In dieser Zeit wäre ich bestimmt Kommunist geworden. Nach dem Krieg haben Sozialisten und Sozialdemokratie wichtige gesellschaftliche Verbesserungen im sozialen Bereich erzielt. Aber was will man einem mittlerweile verwöhnten Kind heute noch bieten?

 Gute Frage.


Den ausgebeuteten Fabrikarbeiter des 19. Jahrhunderts gibt es nicht mehr. Also versucht man die Klientschaft mit immer unsinnigeren Dienstleistungen zu ködern. Mit der durchaus edlen Absicht, die absolute Gerechtigkeit zu etablieren, hat man einen gigantischen bürokratischen Apparat errichtet, der die Gesellschaft in immer kleinere Gruppen dividiert, die man nun einzeln pflegen muss. Wir haben die Verhältnismässigkeit verloren.

Nehmen wir an, Sie könnten für einen Roman nur aktuell lebende einheimische Figuren verwenden – wen könnten Sie brauchen?


Christoph Blocher und Cédric Wermuth wären gesetzt. Vielleicht eine dramatische Vater-Sohn-Beziehung. Cédric gebe ich Natalie Rickli zur Freundin, eine Amour fou, aber getrübt von ideologischen Differenzen. Vielleicht Peach Weber als Guest-Star. Dann brauche ich eine starke weibliche Rolle mit Migrationshintergrund, sonst gibts später keine Filmförderung.

Wäre ein neuer Roman möglich? Wie viel Zeit bleibt Ihnen?


Mein Zustand ist wie gesagt stabil, aber das kann sich von Woche zu Woche ändern. Mit dieser Unsicherheit muss ich leben. Im Frühjahr erscheint mein historischer Roman «Giganten». Ich hatte ihn bereits vor zwei Jahren beendet, aber zugunsten von «Script Avenue» zurückbehalten. «Script Avenue» ist mit Abstand mein bestes und wichtigstes Buch. Zurzeit arbeite ich an einem neuen Roman.

 Aus einer solchen Heimat Abschied nehmen zu müssen – ist das schmerzhaft?


Die Dankbarkeit überwiegt. Ich bin dankbar, dass ich zufällig in der Schweiz geboren bin. Ich bin dankbar, dass die Hämatologie des Unispitals Basel seit fünf Jahren alles unternimmt, damit ich meinen Humor nicht ganz verliere. Ich denke auch an den anonymen Knochenmarkspender, der ohne Aussicht auf Dank oder Entgelt einem wildfremden Menschen mit seinen Blutstammzellen das Leben verlängert hat. Wenn ich nachts Schmerzen habe, schaue ich mir oft die DVD «Swissview» an, den lautlosen Flug über die schweizerische Berg- und Gletscherwelt, und staune und bin sehr berührt von der Schönheit der Natur. In solchen Nächten ist es nicht einfach. Dann setze ich mich an den Computer und tauche in meine Geschichten ab. Dort gibts meistens viel zu lachen, denn dort bin ich der Chef.

Das Interview führte René Lüchinger. Es erschien am 6. Dezember 2014 im Blick.

© 2014 Blick

#chronos (1964)

Satirische Jahresrückblicke in 100 Sekunden

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1964 sang Cliff Richard «Rote Lippen muss man küssen», während Dr. Best die erste antibakterielle Zahnbürste auf den Markt brachte. Louis de Funès jagte als Gendarm von Saint-Tropez Nudisten, während Alfred Hitchcock Sean Connery anwies, sich um die Kleptomanin Marnie zu kümmern.

Die Jugendzeitschrift Bravo publizierte die Starschnitte von Winnetou und Old Shatterhand, jede Woche zwei Puzzleteile für ein lebensgrosses Wandposter. Ein Dollar kostete 4.31 Franken (heute etwa 95 Rappen), der Goldpreis lag bei 35 Dollar die Unze (heute etwa 1189 Franken). Während US-Präsident Lyndon B. Johnson mit seiner Unterschrift die Rassentrennung beendete, wurde Neslon Mandela in Südafrika zu lebenslanger Haft verurteilt. Fernsehanstalten forderten eine Erhöhung der Fernsehgebühren, um die Vielfalt der Einfalt voranzutreiben, aber Geldknappheit war nicht der Grund, wieso sie keine Bilder von der Mondsonde Ranger VI senden konnten. Die Bordkamera war beim Versuch, ein Selfie zu schiessen, kollabiert.

Unter Geldknappheit litten auch 15 Gentlemen aus London, die im Postzug zwischen Glasgow und London zur Kasse baten. Zwei Jahre später wurde der 50-Millionen-Raub mit Horst Tappert verfilmt, bevor er Jahre später seinen Kumpel Harry bat, schon mal den Wagen zu holen. Während Jean-Paul Sartre den Nobelpreis ablehnte, dominierten die Beatles weltweit die Top Ten gleich mit fünf Number-One-Hits. «Twist and Shout», Roy Orbison sang «Oh, Pretty Woman», ­während The Animals das Leid im «House Of The Rising Sun» beklagten.

Jugendliche provozierten die Erwachsenenwelt mit saloppen, blauen Arbeiter­hosen, die ursprünglich von Levi Strauss (1829–1902) für die Goldgräber in Kalifornien entwickelt und nun von US-Soldaten nach Europa gebracht worden waren. Jakob Davis verstärkte den Hosenlatz mit den Nieten von Pferdegeschirr und führte die neuen Waist Overalls zum weltweiten Erfolg. Weniger Erfolg hatte in Italien der Unternehmer Ferruccio Lamborghini, der seit Kriegsende versuchte, die bisherige Produktion von Militärfahrzeugen auf die Herstellung von Traktoren umzustellen. Eines Tages hatte der Sportwagenfreak die Schnauze voll von seinem pannenanfälligen Ferrari und rannte dem Autohersteller Enzo Ferrari die Bude ein. Seine Ferraris seien Merda! Ferrari war not amused und rächte sich mit der Bemerkung, ein Traktorbauer habe doch keinen blassen Schimmer von Sportwagen. Es gibt nichts Motivierenderes im Leben als eine richtig fiese Kränkung.

© Basler Zeitung; 28.11.2014

Was soll falsch sein an Sterbehilfe?

Autor Claude Cueni kontert Palliativmediziner

«Was soll falsch sein an Sterbehilfe?»

BERN – In einem Interview mit Blick.ch übte der Palliativmediziner Steffen Eychmüller Kritik an der Sterbehilfe. Der Autor Claude Cueni schreibt darauf eine Replik.

Claude Cueni ist ein Schweizer Schriftsteller. Zuletzt erschien 2014 sein autobiographischer Roman «Script Avenue», in dem er unter anderem das Sterben seiner Frau und seine anschliessende Leukämie-Erkrankung thematisiert. Für Blick.ch schreibt er eine Replik auf das Interview mit dem Palliativmediziner Steffen Eychmüller.

Auf Blick.ch kommentierte Steffen Eychmüller, ärztlicher Leiter am Zentrum für Palliative Care des Berner Inselspitals, den Suizid von This Jenny mit der Frage: «Wovor hatte er Angst? Der Entscheid ist möglicherweise ein Zeichen von Misstrauen. Offensichtlich glaubte er nicht, dass die Medizin Wege bietet für ein würdevolles Sterben – auch nachdem keine Hoffnung mehr auf Heilung besteht.»

Diese Angst ist nicht unbegründet. Palliativmediziner behaupten stets, heute müsse kein Todkranker mehr mit Schmerzen sterben. Man könne z.B. Morphium verabreichen. Das hilft vielen, aber nicht allen. Hochdosiertes Morphium beeinträchtigt die Atmung. Sind die Schmerzen nicht mehr beherrschbar, wird der Patient ins künstliche Koma versetzt und stirbt, während er im Koma liegt. Das ist die bittere Wahrheit hinter dem beruhigenden Satz: «Heute muss niemand mehr unter Schmerzen sterben.»

Herr Eychmüller führt weiter aus: «Es ist Ausdruck des Zeitgeistes. Man lebt selbstbestimmt, man managt sein eigenes Leben und seinen eigenen Tod.» Was soll daran falsch sein? Herr Eychmüller hat seine Weltanschauung, andere Menschen haben eine andere Weltanschauung. Es steht auch einem Palliativmediziner nicht zu, anderen (wildfremden) Menschen die eigene Weltanschauung aufzuzwingen.

Herr Eychmüller sagt: «Unsicherheit, das Schicksal, der grössere Zusammenhang – das wird alles ausgeklammert.» Was soll daran falsch sein? Die einen glauben an einen «grösseren Zusammenhang», die anderen nicht. Herr Eychmüller romantisiert das Sterben inmitten der Angehörigen. Wenn jemand vor dem sicheren Tod steht, von Schmerzen geplagt ist, hat er nur einen Wunsch: Aus diesem Leben verschwinden. Auf «Gemeinsames Nachdenken» wird gerne verzichtet, auch auf all die «wertvollen Erfahrungen», die in Kürze eh irrelevant sind.

Herr Eychmüller sagt, Exit sei gut für «Leute, die extrem individualistisch bis egoistisch leben, alles selber regeln und nichts dem Zufall überlassen wollen.» Wieso soll Eigenverantwortung egoistisch sein? Welcher vernünftige Mensch überlässt ausgerechnet das Sterben dem Zufall?

Ist Suizid sexy?

Replik auf das Blickinterview mit Palliativmediziner Steffen Eychmüller.

UnknownUngekürzte Version.

In einem Blickinterview vom 18.11.2014 kommentiert Steffen Eychmüller, ärztlicher Leiter am Zentrum für Palliative Care des Berner Inselspitals, den Suizid von This Jenny mit der Frage: „Wovor hatte er Angst? Der Entscheid ist möglicherweise ein Zeichen von Misstrauen. Offensichtlich glaubte er nicht, dass die Medizin Wege bietet für ein würdevolles Sterben – auch nachdem keine Hoffnung mehr auf Heilung besteht.“

Diese Angst ist mehr als berechtigt! Palliativmediziner behaupten stets, heute müsse kein Todkranker mehr mit Schmerzen sterben. Man könne z.B. Morphium verabreichen. Das hilf vielen, aber nicht allen. Morphium beinträchtigt in höheren Dosen die Atmung. Sind die Schmerzen nicht mehr beherrschbar, wird der Patient ins künstliche Koma versetzt und stirbt nach einigen Tagen, während er im Koma liegt. Das ist die bittere Wahrheit hinter dem beruhigenden Satz: „Heute muss niemand mehr unter Schmerzen sterben.“ 

Eychmüller führt weiter aus, EXIT sei heute sexy: „Es ist Ausdruck des Zeitgeistes. Man lebt selbstbestimmt, man managt sein eigenes Leben und seinen eigenen Tod.“

Was soll daran falsch sein? Herr Eychmüller hat seine Weltanschauung, andere Menschen haben eine andere Weltanschauung. So what? Es steht auch einem Palliativmediziner nicht zu, anderen (wildfremden) Menschen die eigene Weltanschauung aufzuzwingen. Und den Politikern steht dieses Recht noch weniger zu.

Eychmüller sagt: „Unsicherheit, das Schicksal, der grössere Zusammenhang – das wird alles ausgeklammert.“ Was soll daran falsch sein? Schön für Herrn Eychmüller, wenn er eines Tages im Sterben einen grösseren Zusammenhang sieht. Andere Menschen sehen das nicht so. Die einen sind religiös, die anderen sind es nicht.

Eychmüller romantisiert das Sterben inmitten der Angehörigen. Wenn jemand vor dem sicheren Tod steht, von Schmerzen geplagt, hat er nur einen Wunsch: Aus diesem Leben verschwinden. Auf „Gemeinsames Nachdenken“ wird gerne verzichtet, auch auf all die „wertvollen Erfahrungen“, die in Kürze eh irrelevant sind.

Eychmüller sagt, Exit sei gut für „Leute, die extrem individualistisch bis egoistisch leben, alles selber regeln und nichts dem Zufall überlassen wollen.“ Wieso soll Eigentverantwortung egoistisch sein? Welcher vernünftige Mensch überlässt ausgerechnet das Sterben dem Zufall?

Dass Sterbehilfeorganisationen „sexy“ sein sollen, erstaunt aus dem Mund eines Palliativmediziners. Glaubt er im ernst, dass ein schmerzgeplagter Todkranker, der mit Exit sein Martyrium beenden will, seinen Entscheid „sexy“ findet?

Ich verstehe, dass jeder Suizid für einen Palliativmediziner eine Kränkung darstellt. Aber Palliativmediziner müssen begreifen, dass sich niemand für ihre Weltanschauung interessiert. Man stirbt den eigenen Tod.

Wer wenige Tage oder Wochen vor dem sicheren Tod steht und zur Minderheit gehört, die an unbeherrschbaren Schmerzen leidet, hat nur eine Wahl: Den fachmännisch ausgeführten Suizid. Was bringt das Sterben im Koma? Einen Eintrag ins Guiness Buch der Rekorde? Oder bloss Genugtuung für den Palliativmediziner.

Fazit:

Für viele Menschen ist es eine sehr grosse Erleichterung, wenn Sie wissen, dass sie im Notfall mit Exit oder LifeCircle aus dem Leben scheiden können. Diese Gewissheit macht den Alltag bis zum Sterben erträglicher.

Psychothriller «Du wirst an mich denken»

cueni_duwirst_coverxxAb heute neue eBook Ausgabe des 1989 unter dem Titel «Der Vierte Kranz» erschienen Psychothrillers. Diese Ausgabe wurde nochmals revidiert und erhielt zum vierten Mal ein neues Cover. Im Anhang gibt es diverses Bonusmaterial. Der Pschothriller erscheint unter dem ursprünglichen Manuskript Titel: «Du wirst an mich denken».

Die Printausgabe wurde aus dem Handel genommen, da die Qualität des Einbandes schlecht war.

Die Leser der Scriptavenue werden darin Motive und Figuren erkennen, die 25 Jahre später in der Script Avenue auftauchen. Der Psychothriller ist jedoch Fiktion und kein autobiographischer Roman.

Morgen poste ich meine Lieblingsszene. Mehr auf…

#chronos (1815)

Satirische Jahresrückblicke in 100 Sekunden, Folge 2 / 99

chronos_1815_cueniWaterloo. Die Schlacht fand am 18. Juni 1815 bei Belle-Alliance statt. Arthur Wellesley, 1. Duke of Wellington, beendete gemeinsam mit dem preussischen Generalfeldmarschall Blücher das erste Französische Kaiserreich. Napoleon überlebte die Schlacht und fiel auf der Atlantikinsel St. Helena dem Bakterium Helicobacter pylori zum Opfer. Zwei Haare stützten Verschwörungstheorien, wonach der Korse («Mon foie!») mit Arsen vergiftet worden sei, doch erwiesen ist lediglich, dass sein Hut heute im Deutschen Historischen Museum zu besichtigen ist.

Erhalten blieb aber auch das Filet de boeuf en croûte, das sich der Freimaurer Wellington angeblich nach der Schlacht servieren liess. Später reklamierte der Schweizer Küchenchef Charles Senn, anlässlich einer internationalen Kochkunstausstellung, die Urheberschaft. Wer hats erfunden? Weder Ricola noch Roger Schawinski.

Nebst dem Filet Wellington blieb uns der edle Margaux Château Palmer erhalten. 1961 erhielt er gar 99 Parker-Punkte. Wellington schenkte das französische Weingut seinem treuen General Charles Palmer, der trotz enormer Anstrengungen in den Rebbergen von Bordeaux sein Waterloo erlebte. Gebodigt hatten ihn weder die Reblaus noch desertierte französische Soldaten, sondern die Bank, die ihm die Verlängerung der Hypothek verweigerte. Cobbler, stick to your trade!

«Schuster bleib bei deinem Leisten» beherzigte hingegen der Bankier Nathan Rothschild, der während der Schlacht das Gerücht verbreitete, Napoleon habe gesiegt, worauf die Londoner Börse crashte. Rothschild kaufte enorme Mengen britischer Staatsanleihen zum ­Schleuderpreis auf. Nach Napoleons Niederlage ­schossen die Papiere wieder in die Höhe, Rothschild stiess sie wieder ab und wurde der reichste Mann der Welt. Heinrich Heine notierte: «Geld ist der Gott unserer Zeit und Rothschild sein Prophet.»

1815 tagte der Wiener Kongress, um die Grenzverläufe in Europa neu zu definieren. Die Schweiz blieb Republik innerhalb der napoleonischen Grenzen, obwohl auch ein Königreich ­Helvetien zur Diskussion gestanden hatte. Über 200 Europapolitiker debattierten acht Monate lang. Möglich, dass das vergnügliche Begleitprogramm den Abschluss verzögerte. Charles Joseph de Ligne spottete: «Der Kongress tanzt, aber er kommt nicht vorwärts. Es sickert nichts durch als der Schweiss dieser tanzenden Herren.» Der begnadete Satiriker, Offizier und Brieffreund von Voltaire und Rousseau starb noch während des Kongresses. Ob er vor Langeweile verstorben ist oder an einem Übermass Rosé Champagner, ist in den Protokollen nicht vermerkt.

© Basler Zeitung; 14.11.2014

Thomas Hürlimann / Chris von Rohr

 

chrisvonrohr

 

Schweizer Rocklegende Chris von Rohr (Krokus) heute im doppelseitigen BaZ Interview (6.11.2014):

„Viele kommen ja auch nicht über dieses «Das Herz schlägt links»-Ding hinweg. Die heutigen Füdlibürger sind doch die Linken. Dieses Denken zwischen ängstlich und bevormundend: Du musst jetzt Velo fahren, Freitagtaschen tragen, Kulturreisen machen, vegan essen und was, du liest die BaZ, die Wewo oder hörst noch Hardrock? So viel zur Toleranz. Die Gebote, die die aufrufen, sind biederer als der Gartenzwerg meines Nachbarn. Der gesunde Menschenverstand ist einer traurigen Vorurteilskultur, Ängstlichkeit und Faktenlosigkeit gewichen. Man nimmt sich nicht die Zeit, genau hinzuschauen. Lieber vermischt man alles zu einer absurden ideologischen, moralisierenden Pseudo-­Weltoffenheits-Suppe.“

Erfolgsautor Thomas Hürlimann heute im grossen BaZ Interview (6.11.2014) anlässlich der Eröffnung der Basler Buchmesse:

„Was mich bei der EU vor allem stört, ist ihr Versuch, ein neues Menschenbild durchzusetzen. Es ist der areli­giöse, antirassistische, antifaschis­tische, homophile, multikultibe­jahende Toleranzler. Schlimm daran sind nicht die einzelnen Eigenschaften, diese Eigenschaften sind durchaus richtig, schlimm ist, dass diese Schablone voraussetzungslos als gültig erklärt wird. Wenn Sie darüber diskutieren möchten, werden Sie sofort feststellen, dass die Toleranzpropagandisten alles andere als tolerant sind. Abweichler werden von einer Phalanx aus Politkommissaren, Richtern, Pädagogen, anonymen Internetjägern und Medienbütteln abgeurteilt.“

25 Jahre Berliner Mauerfall

 

 Mauergrafitti225 Jahre Berliner Mauerfall (9. November 1989)

Ich war damals mit meinem Drehbuch „Roulette“ (Krimiserie Peter Strohm), beim Sender Freies Berlin und brach später einen Steinbrocken aus der Mauer. Der überstieg mit der Zeit meine Kräfte und ich teilte ihn am Flughafen mit einem anderen Fahrgast. Zurück in der Schweiz wurde ich um ein ganz kleines Stückchen Mauer gebeten, und dann nochmals um ein ganz kleines Stückchen Mauer… Und das hier ist übriggeblieben, zusammen mit einem DDR Abzeichen „Held der Arbeit“.

Wer heute das Mauermuseum in Berlin besucht, wird nachhaltig beeindruckt vom Freiheitswillen und von der Kreativität der Geflohenen. Und wer die Mauerbefestigungen und Todesstreifen in der vorletzten Focus Ausgabe anschaut, wird kaum begreifen, wieso in den 70er Jahren so viele Jugendliche für dieses Unrechtregime schwärmten, das alle seine Bürger einsperren musste, damit sie nicht abhauten.

Mauerstueck

 

Tabu Thema Tod

 

am_ende_ist_schweigenTextbeitrag „Allerheiligen“ / SoBli Magazin

«Begleitet man einen geliebten Menschen im Sterben, kommt es sehr darauf an, ob der Kranke seinen baldigen Tod akzeptieren kann – oder ob er den Überlebenden das Weiterleben missgönnt.

Als meine erste Frau unheilbar erkrankte, erlitt sie eine Angst-Depression und entwickelte eine grosse Wut. Mein gesamtes Umfeld drängte mich, sie ins Spital zu bringen. Wir hatten uns jedoch als Teenager versprochen, dass wir das nie tun würden. Deshalb ertrug ich ihre Aggression und konzentrierte mich auf die Pflege. Erst wenige Tage vor dem Tod akzeptierte sie das Unausweichliche, die Wut erlosch, ihr letztes Wort war: Danke. Es gibt kaum positive Aspekte, wenn jemand aufhört zu existieren.

Mit dem Tod meiner Frau verlor ich die Hälfte der Bekannten. Die Menschen wissen in den ersten Wochen nicht, wie sie reagieren sollen. Nach zwei Monaten schämen sie sich für ihr Fernbleiben und trauen sich nicht mehr, anzurufen. Dabei ist es ganz einfach: Man muss einfach da sein. Mehr nicht. Menschen, die Ähnliches durchmachen mussten, fühle ich mich heute stark verbunden. Wir teilen diese monumentale Erfahrung. Wenn andere über Sterben und Tod sprechen, wissen sie nicht wirklich, worüber sie reden. Als ich selbst sechs Monate auf der Isolationsstation lag und alle mit meinem baldigen Tod rechneten, verlor ich beinahe den gesamten Rest meines Bekanntenkreises. In den Köpfen der anderen stirbt man, bevor man gestorben ist.

Sterben und Tod sind nicht mehr alltäglich. Hölderlins Erkenntnis, wonach sich das Leben auch vom Leid ernährt, ist verloren gegangen. Wir werden von der Geburt bis zum Tod betreut und infantilisiert. Wir glauben, Anrecht auf ewiges Glück zu haben. Über den Tod wird öffentlich nur kokettiert, aber es gibt den Tod der andern und den eigenen Tod. Das ist nicht dasselbe. Meine jetzige Frau und mein Sohn wundern sich oft, wieso ich nie wütend bin und meinen Humor nicht verliere. Ich habe den Krebs und die Situation akzeptiert, ich liebe meine Familie, sie sind nicht schuld an meiner Krankheit. Niemand ist schuld. Es ist einfach Pech.»

Erschienen im Sonntagsblick Magazin vom 26. November 2014

#chronos (1971)

 

HI-Tech-HD-Wallpapers-140-MgPic.com_Am 15. August 1971 sang Johnny Cash «Man in Black». Viele Menschen sassen vor ihrem neuen Farbfernseher, obwohl Darryl F. Zanuck, Chef von 20th Century Fox, 1946 behauptet hatte, dass «sich der Fernseher auf dem Markt nicht durch­setzen würde, weil die Menschen sehr bald müde würden, jeden Abend auf eine Sperrholzkiste zu starren». Die Menschen wollten aber die nächste Folge von «Bonanza» sehen, der ­Strassenfeger der 70er-Jahre. Gleich würden die vier Cartwrights in die Wohnstube reiten und sich einzeln vorstellen: Lorne Green, Dan Blocker, ­Pernell Roberts, Michael Landon.

Doch stattdessen glotzte Richard Nixon in unser Wohnzimmer. Was zum Teufel hatte Richard Nixon auf der Ranch zu suchen? Er war sichtlich nervös. Die Menschen dachten, oh my god, der teilt uns bestimmt mit, dass Lorne Green erschossen worden ist. Oder noch schlimmer, Dan Blocker hat sich zu Tode gefressen, wie damals Michel Piccoli in «La Grande Bouffe». Aber Nixon erklärte der Nation, dass es einen geheimen Krieg gegen den amerikanischen Dollar gebe. Er habe seinem Finanzminister John Connally den Auftrag gegeben, die Konvertierbarkeit des Dollars in Gold vorübergehend aufzuheben. Aber vorübergehend bedeutet in der Politik immer for ever.

Der 15. August 1971 war somit das Ende des altbewährten Währungssystems, das seit 1944 funktioniert hatte. Man hatte Vertrauen in den ­Dollar, weil für jeden gedruckten Dollar ein paar Gramm Gold gebunkert waren. Ohne Gold basierte der Dollar nur noch auf der Wirtschaftsleistung. Oder genauer: auf dem Blabla von Politikern, deren einziges Ziel die eigene ­Wiederwahl war. Von da an warfen rechte und linke Regierungen abwechselnd die Notenpresse an, um die nicht finanzierbaren Wünsche einer verwöhnten Wählerschaft zu befriedigen. Der Geldsegen flutete die Märkte und verursachte eine Spekulationsblase nach der andern, denn jede Blase nährt die nächste. Brown Sugar, how come you taste so good, Brown Sugar, just like a young girl should. Die Rolling Stones gingen meilenweit für eine Camel, Little Big Man überlebte den Little Big Horn, der deutsche Innenminister Genscher ­ordnete an, dass ein Fräulein nun Frau genannt werden müsse, doch die Menschen interessierten sich eher für den Jahrhundertfight, der am 8. März in New York stattfand. Joe Frazier besiegte Muhammad Ali. Und George Harrison fragte: «What is life?» 

© Basler Zeitung; 31.10.2014

Halloween – Samhain

cueni_totenkopfHalloween (All Hallows Eve / Aller Heiligen Abend) ist das keltische Totenfest Samhain, das am ersten Tag des Winters zelebriert wird. Es wurde später von der christlichen Religion, wie alles andere auch, absorbiert, um den Heiden den Uebertritt zum Christentum zu erleichtern. Während man bei uns mit Trauermiene in die Kirche geht, um den Toten zu gedenken, picknickt man auf den Philippinen mit Reis, Satai Spiesschen und San Miguel Beer auf den Gräbern der Toten.

In meinem historischen Roman „Das Gold der Kelten“ (Erstmals unter „Cäsars Druide“ bei Heyne erschienen) schildert der spastische Druidenlehrling die Nacht von Samhain.

In Ihrem Gutachten schrieb die Universität Basel:

„…ein äusserst spannendes Buch, das sehr genau das damalige Zeitgefühl und die Gedankenwelt der Kelten und Römer, so wie wir es uns heute vorstellen können, widerspiegelt… Auch bei der Beschreibung der keltischen Gesellschaft ist es dem Autor gelungen, sich von allen romantischen Verklärungen fernzuhalten…“

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cueni_kelten_moorTextauszug, Seite 428 / Roman „Das Gold der Kelten“

Alle Menschen fürchten sich vor Samhain. Sie bleiben zu Hause und setzen sich um das Feuer. Sie essen und trinken und erzählen sich Geschichten, damit die Zeit vergeht. Wenn sie ein Geräusch hören, stellen sie sich taub. Sie stehen nicht auf und schauen nicht nach. Sie wissen, es sind die Toten, die sie heimsuchen. Überrascht man einen Toten, ist man bereits mit einem Bein in der Anderswelt. Auch im Freien sollte man sich nicht umdrehen, wenn man Schritte hört. Man sollte wirklich zu Hause bleiben. Und genügend Speisen und Getränke für die Toten bereithalten. Aber in dieser Nacht wollte ich sie sehen, die Toten, all jene Menschen, die mir einmal viel bedeutet hatten und jetzt in der Anderswelt lebten. Ich wollte Onkel Celtillus sprechen, ich wollte auch all die Toten aus meinem raurikischen Hof wiedersehen. Für sie hatte ich all die Speisen und Getränke draussen im Wald auftischen lassen. Von mir aus konnten sich auch Teutates, Esus, Taranis und Epona zu mir setzen. Ich hatte keine Angst. Fast andächtig nahm ich ein Stück Fleisch in den Mund und kaute es langsam. Kein Mensch könnte in der Nacht von Samhain etwas achtlos hinunterschlingen. Denn alles hat eine Bedeutung. Jede Geste wird zur Zeremonie. Die Toten sind nah. Man spürt ihr Kommen, ihre Blicke, den Atem, der einem wie ein sanfter Windstoß durchs Haar fährt. Die Nacht gehörte nun den Göttern und den Toten. In dieser Nacht werden Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ineinandfliessen. Die Anderswelt vermischt sich mit unserer Welt. Wer Fragen an die Götter hat, stellt sie in der Nacht von Samhain. Und ich hatte ernsthafte Fragen.Romanauszug 'Das Gold der Kelten'

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„Das Gold der Kelten“ ist nach wie vor der einzige Historienroman, der den Gallischen Krieg dramatisiert, basierend auf der neusten Cäsarforschung. Mehr auf dieser Seite


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Das Nachwort thematisiert die zehnjährige Recherche und die Motivation, ein solches Mammutwerk in Angriff zu nehmen. 


 

Ecopop & Geburtenkontrolle

Ich kenne eine Familie in der philippinischen Provinz. Sie hat soeben ihr 11. (elftes) Kind geboren. Der Vater ist seit Jahren arbeitslos, die Hälfte der Kinder lebt auf der Strasse, einige fanden Aufnahme bei Nachbarn, für ein Kind habe ich die Kosten übernommen. Die Mutter ist seit langem verzweifelt, denn sie hat a) kein Geld für Kondome und b) verbietet ihr die katholische Kirche Schwangerschaftsverhütung. Aber sie möchte verhüten! Sie wäre mit 4 oder 5 Kindern glücklich gewesen. Aber sie hat nun das elfte geboren.

Die Regierung wollte kostenlos Kondome verteilen und Sexualkunde in den Schulen einführen. Die Katholische Kirche ging bis zum obersten Gerichtsinstanz um dieses Gesetz zu bodigen. Mit Erfolg. Somit wird sie wohl bald ihr 12. Kind gebären…

Es geht nicht darum, der dritten Welt Kinder zu verbieten, es geht darum, dass Frauen selber darüber bestimmen können, wieviele Kinder sie wollen!

Muslim verklagt Kabarettisten

muslim klagtGrundsätzlich darf in unserer Gesellschaft jeder jeden verklagen. Dann entscheidet der Richter. Und das ist gut so.

Von dieser (westlichen) Freiheit macht jetzt auch ein Muslim Gebrauch und verklagt den Kabarettisten Dieter Nuhr. Ich frage mich: Wieso kommt dieser Muslim eigentlich in den „dekadenten Westen“, wo Sex & Drugs & Rock’n’Roll, freie Meinungsäusserung, Humor und Toleranz zum Lebensstil gehören?

Wenn wir nicht mehr bereit sind, unsere Errungenschaften zu verteidigen, werden wir sie verlieren.

Peter Scholl-Latour schrieb einmal: Ich fürchte nicht die Stärke des Islam, sondern die Schwäche des Abendlandes.

 

Alan Greenspan über Gold (1966)

greenspan_cueni_johnlaw„Die Finanzpolitik des Wohlfahrtsstaates macht es erforderlich, daß es für Vermögensbesitzer keine Möglichkeit gibt, sich zu schützen. Dies ist das schäbige Geheimnis, daß hinter der Verteufelung des Goldes durch die Vertreter des Wohlfahrtsstaates steht. Staatsverschuldung ist einfach ein Mechanismus für die „versteckte“ Enteignung von Vermögen.“

Als Greenspan Jahre später das Amt des FED Vorsitzenden übernahm, war Gold „ein barbarisches Relikt“, das seinen „Nimbus als sicheren Hafen verloren hat“.

Mehr zum Roman auf: https://www.cueni.ch/buecher/das-grosse-spiel/

John Law erreicht die USA

 

cueni_gambler_wpDer historische Roman «Das Grosse Spiel», über den Papiergelderfinder John Law, erschien erstmals 2006 als Hardcover im Heyne Verlag, München, und war in der Schweiz Nummer 1 auf der Bestsellerliste. Es folgten zahlreiche Ausgaben und Uebersetzungen in 12 Sprachen, darunter auch chinesisch. Nun liegt endlich die englische Uebersetzung vor, als eBook, aber seit heute auch als Paperback. Uebersetzt hat der renommierte Lee Chadeayne, der auch alle Henkerromane von Oliver Potzsch für den amerikanischen Markt übersetzt.  Die Arbeit dauerte zwei Jahre.

Inhaltsangabe und Rezensionen finden sie auf der Buchseite dieser Webpage.

 

 

Cueni_TheGreatGamesx Die Kindle Edition ist bei Amazonfür $ 7.20 und für Mitglieder der Amazon Flatrate, kostenlos als kindleunlimited. 

ASIN: B00KXUWRXA 

Das Paperback kostet bei Amazon $ 16.14 und sollte ab heute auch in Buchhandlungen erhältlich sein.

ISBN-10: 3952428809
ISBN-13: 978-3952428801

Erste Rezensionen auf amazon.com

 

Cäsars Druide, das Lieblingsbuch des Eluveitie Bandleaders

Chrigel Glanzmann, Bandleader der weltweit erfolgreichsten Kelten Gruppe, im Interview mit Reinhold Höhnle:

cueni_keltensong«Sie sind Buchhändler. Waren Keltenromane für Sie wichtig?»

«Klar, in meiner Jugend habe ich einige davon gelesen, aber historische Abhandlungen haben mich eigentlich immer mehr interessiert. Deshalb ist mein Lieblingsbuch über diese Epoche Claude Cuenis spannender und wissenschaftlich fundierter Roman „Cäsars Druide»

Ganzes Interview auf http://epaper.coopzeitung.ch/#0 / Seite 124 / 125

 

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Der Longseller «Cäsars Druide» (Heyne Verlag) erschien 2013 mit neuem Cover und Nachwort im Lenos Verlag unter dem Titel «Das Gold der Kelten». Der Inhalt ist neu lektoriert, aber identisch.

Zuvor erlebte den Roman seit 1998 zahlreiche Taschenbuchauflagen. Die spanische Ausgabe war der erste Titel in der neuen Bestsellerreihe von Zeta, Barcelona.

Das Gute an historischen Romanen: Sie haben kein Verfalldatum.

Von allen meinen Büchern ist dieser Roman der am meisten Raubkopierte. In letzter Zeit werden die Raubkopien sogar über einen Pazifik Server angeboten. Nein, nicht angeboten, sondern verkauft! Und dafür habe ich 10 Jahre recherchiert und geschrieben. Das Gutachten der Universität Basel finden Sie auf der Buchseite: https://www.cueni.ch/buecher/das-gold-der-kelten/

Eluveitie Youtube Video (mehr als 16 Mio. Klicks)

«Sex & Drugs & Rock ’n‘ Roll» in der griechischen Mythologie

cueni_pan_3erIch hatte mich von den Gebrüder Pan in meiner Wohnung verabschiedet, doch in einer maltesischen Hotelhalle begegneten sie mir wieder:

Pan ist der Hirtengott in der griechischen Mythologie, ein Mischwesen mit dem Unterkörper eines Ziegenbocks. Der Sohn des Götterboten Hermes wurde von der Mutter ausgesetzt, weil dem Kleinen bereits früh Hörner wuchsen. Er wurde ein Naturgott, verehrt von den Hirten, aber auch gefürchtet, denn wenn man Pan während seines Mittagsschlafes stört, dreht er durch und versetzt die Herden in Panik. Daher das Wort.

 

 

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Pan liebt Musik, Tanz und ausgelassenes Feiern, deshalb ist er oft in Begleitung von Dionysos, dem Gott des Komasaufens und der Ekstase und den wollüstigen Satyrn und Nympen, die sich gerne Lust und Rausch hingeben.

Aus christlicher Sicht ist Pan die Personifizierung des Bösen: Deshalb machten sie aus diesem lustigen Festbruder den Teufel. Und pürierten alle übrigen Götter (die eigentlich nur für Eigenschaften stehen) zu einem einzigen Gott, der weder Humor noch Libido hat.

 In meinem Vatikan Thriller «Gehet hin und tötet / Heyne» und neu unter dem Titel «Der Bankier Gottes / Lenos» spielen Pan und die übrigen Gestalten der griechischen und römischen Mythologie eine Rolle, sind sie doch der Fundus aus dem sich später das Christentum bedient hat. Mehr dazu auf der entsprechenden Buchseite.

 

Malta, Meer, Muppet Show & Moorhuhn

  cueni_malta_2014Meine erste Ferienreise seit der Transplantation vor 5 Jahren. Die salzige Meeresluft ist Balsam für meine Restlunge. Und der indische Masseur Simi hat es mit seinen täglichen 80min. Hot Oil Massagen tatsächlich geschafft, dass ich die letzten 4 Nächte ohne Schmerzattacken durchgeschlafen habe. Zum ersten Mal seit 5 Jahren! Absolut unglaublich! Ich wusste gar nicht mehr, wie es sich anfühlt, wenn man ausgeschlafen aufsteht. Gesunde Menschen haben keine Ahnung, was schmerzfreier Alltag und normaler Schlaf bedeuten. Oft schätzt man die Dinge erst, wenn man sie verloren hat.

Ich war in den 70er Jahren als Teenager zum ersten Mal auf Malta (>Script Avenue), letzte Woche zusammen mit meiner Frau, meinem Sohn und meiner Schwiegertochter, sozusagen eine chinesisch-philippinisch-schweizerische Reisegesellschaft. Ich sass wie der Alte von der Muppet Show auf dem Balkon, genoss die freie Sicht auf das Meer, das Nichtstun und trank abends – entgegen der Warnhinweise auf den Beipackzetteln meiner Medikamente – maltesischen Rotwein. Erinnert eher an fruchtige Weine aus Australien oder Argentinien. 

Und dann noch ein schönes Wiedersehen mit dem Moorhuhn Vater Ingo Mesche, der seit Jahren mit seiner Familie auf Malta wohnt und mit seiner Firma an revolutionären, neuen Technologien arbeitet. 

Talksendung «Persönlich» auf Radio SRF 1

dani_fohrlerAus der Medienmitteilung von SRF 1:

Morgen Sonntag, den 21. September 2014, empfängt Dani Fohrler wieder zwei Gäste im «Tabourettli am Spalebärg» Basel:  Schriftsteller Claude Cueni und Verlagsleiterin Gabriella Karger. Die Veranstaltung ist öffentlich, der Eintritt frei. Türöffnung um 9 Uhr, die Live-Sendung beginnt um 10 Uhr. Keine Sitzplatz-Reservation.

Sendetermine auf SRF 1

  • Ausstrahlung: Sonntag, 21. September 2014, 10:03 Uhr, Radio SRF 1
  • Wiederholung: Sonntag, 21. September 2014, 22:08 Uhr, Radio SRF 1

Leserfeedbacks Script Avenue

Ich bin sehr gerührt von all den Mails, die ich seit Erscheinen der Script Avenue erhalte. Viele schreiben, sie hätten beim Lesen abwechselnd gelacht und geweint. Mir ging es beim Schreiben genauso. Etliche schrieben, sie seien fasziniert und zugleich schockiert von der gnadenlosen Ehrlichkeit. Auch ich fragte mich beim Lesen der Druckereifahnen, ob ich das eine oder andere nicht besser streichen sollte. Aber ich habe nichts gestrichen. Ich dachte, es sei vielleicht auch ein kleines Geschenk an die Leserinnen und Leser, wenn man ein Buch publiziert, das keine Rücksicht nimmt auf die eigene Reputation. Einige Menschen berichten von eigenen Schicksalschlägen. Das berührt mich sehr und nachhaltig, denn ich kann nachempfinden, was sie erlebt haben. Ich bin sehr dankbar, dass die Leserinnen und Leser ihre Leseeindrücke mit mir teilen, dankbar bin ich auch für die Hinweise auf einige falsche Jahreszahlen bei den Songs. Diese werden bei der nächsten Auflage berichtigt sein.

Da all diese Mails privat und vertraulich sind, begnüge ich mich damit, die öffentlich geposteten Rezensionen auf amazon.de zusammenzufassen, mit einem Link auf die vollständigen Rezensionen auf amazon.de

Allen herzlichen Dank für die Anteilnahme und die guten Wünsche!


Zitate auf amazon.de

Einfach grandios!

Tief berührt

Atemberaubend!

Powerbuch

Nichts für schwache Nerven

Lebensklug und ergreifend!

Ein Meisterwerk! Das ist Rock’n’Roll


Bildschirmfoto 2014-09-18 um 06.48.09

Die vollständigen öffentlich geposteten Rezensionen finden Sie hier

http://www.amazon.de/product-reviews/3037630434/ref=cm_cr_pr_btm_link_1?ie=UTF8&showViewpoints=0&sortBy=bySubmissionDateDescending

Script Avenue. Erfolg erlaubt Preisreduktion.

Aufgrund des anhaltenden Erfolges ist ab heute eine Preisreduktion möglich. Neu kostet die Printausgabe in der Schweiz meistens 31.90 (zuvor 44.–), wie z.B. bei Thalia oder Orell Füssli, und neu kostet das eBook bei Amazon 27 Euro, bzw. 31.90 bei Thalia.

Frankfurter Buchmesse

Entgegen meiner bisherigen Absicht, werde ich vom 8. – 12. Oktober 2014, nicht in Frankfurt sein.

Lucius Munatius Plancus

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Lucius Munatius Plancus: Er war für mich bereits als Kind das eindrücklichste öffentliche Standbild in Basel: Der römische Feldherr, Konsul und Zensor diente während des Gallischen Krieges (54 v. Chr.) in Cäsars Armee als Legat. In dieser Funktion wird er auch in meinem Roman «Das Gold der Kelten» (ehemals «Cäsars Druide») verewigt.

Lucius Munatius Plancus steht im Innenhof des Basler Rathauses am Marktplatz.

Das Standbild entsprang teilweise der Fantasie des Strassburger Bildhauers Hans Michael, der es 1580 der Stadt schenkte. Als Dank für die Aufnahme ins Basler Bürgerrecht. Reine Fantasie ist auch die Meinung, Lucius Munatius Plancus sei der Stadtgründer der Stadt Basel gewesen. Der römische General ist vielmehr der Gründer des nahe gelegenen Augusta Raurika. Basel ist keltischen Ursprungs.

Die Fotografie ist von Hans-Jörg Walter, Zürich, der mir freundlicherweise die Genehemigung erteilte, sein Bild für die Seite «Impressum» zu nutzen. Er wollte dafür weder Euros noch Bitcoins, sondern ein signiertes Buch «Der Henker von Paris», worauf ich ihm gleich den Henker nach Zürich schickte. Aber ohne Guillotine. 

Zu Tisch mit -minu: Claude Cueni

«Solange ich schreibe, sterbe ich nicht»

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Irgendwie fühle ich mich unsicher. Wie begrüsst man einen Mann, der bereits totgesagt war? «Hello – welcome back»? Oder: «Schön, dich wiederzusehen …»

Ich stehe vor diesem eleganten Neubau in Allschwil. Schaue mich um. Und denke: «Wo hat er hier vier Mal die Asche seiner Frau umgebuddelt? … Ist doch alles nur Parkplatz. Und Beton?!»

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Die Basler Freiheitsstatue

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© Basler Zeitung; 08.09.2014

Kultur

Die Basler Freiheitsstatue

Strassburger Denkmal wird nächstes Jahr 120 Jahre alt: Zur Entstehung eines Monuments

Von Claude Cueni

Sie ist da und man sieht sie doch nicht. Man fährt jeden Morgen an ihr vorbei und achtet nur auf das Rotlicht. Schützend hält sie ein Schild über eine verzweifelte Frau und einige verstörte Kinder. Das tut sie schon seit 1895. Seit 119 Jahren trotzt sie nicht mehr den Preussen, sondern Luftverschmutzung und Temperaturschwankungen: die Helvetia im Strassburger Denkmal, das gegenwärtig restauriert wird und von einer Schutzplane umhüllt ist.

Das Denkmal stammt von Frédéric-Auguste Bartholdi (1834–1904). Der Bildhauer besuchte die Schulen in Paris. Zur gleichen Zeit studierte ein anderer Junge im Internat vis-à-vis: Gustave Bönickhausen dit Eiffel, der später seinen Namen in Gustave Eiffel abänderte, um wegen der deutsch-französischen Spannungen die Akzeptanz für seinen geplanten Turm zu erhöhen.

Beide reisten, wie es damals für Künstler üblich war, nicht mehr nach Italien, sondern in den Orient, und liessen sich inspirieren. Beim Anblick der monumentalen Pyramiden und der gewaltigen Sphinx erwachte in ihnen der Ehrgeiz, Gigantisches zu erschaffen und dadurch Unsterblichkeit zu erlangen. Im Gegensatz zu den meisten Künstlern des 19. Jahrhunderts brachten sie nicht die Syphilis (maladie franÇaise) nach Hause, sondern pralle Skizzenblöcke, Zeichnungen und erste Fotografien.

Gegensätzliche Charaktere

Während Gustave Eiffel zum genialen Ingenieur, zum Eisenmagier avancierte, verlor sich Bartholdi in gigantische Projekte: Einen neuen Koloss von Rhodos wollte er de Lesseps für die Eröffnung des Suezkanals verkaufen. Die zahlreichen Entwürfe einer Beduinin, die mit ihrer Fackel die Welt erleuchtet, sind noch heute im Geburtshaus von Bartholdi, dem heutigen Museum Bartholdi in Colmar, zu besichtigen.

Eiffel und Bartholdi wurden Rivalen. Eiffel war der Nachfahre einer Dynastie von sieben Generationen von Tapezierern. Er wollte nicht verkleiden, sondern freilegen, damit die nackte Ingenieurskunst zum Vorschein kam. Bartholdi, der Besessene mit italienischen Wurzeln, wollte Patriotismus in Stein hauen, die Herzen der Menschen berühren, aber vor allem das Herz seiner Mutter. Gegensätzlicher hätten die beiden Charaktere nicht sein können, doch die Freimaurerloge Grand Orient de France zwang sie schliesslich zur Zusammenarbeit an der Freiheitsstatue, denn für das innere Gerüst brauchte Bartholdi den besten Ingenieur der damaligen Zeit.

Der plötzliche Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges 1870 unterbrach ihre Karrieren. Die fehlerhafte und gekürzte Übersetzung einer Depesche hatte den gekränkten Kaiser Napoleon veranlasst, den Preussen den Krieg zu erklären. Bartholdi, der heissblütige Patriot, zog in den Krieg.

Die Preussen setzten den Strassburgern übel zu und erweckten das Mitleid der Schweizer. Abordnungen aus Basel, Bern und Zürich erbarmten sich ihrer und erhielten nach zähen Verhandlungen von der badischen Regierung die Erlaubnis, 1400 Frauen, Kinder und Greise aus der schwer belagerten Stadt, in die Schweiz zu bringen. Der Baron Hervé de Gruyer, ein glühender Strassburger Patriot, wollte der Schweiz später aus Dankbarkeit ein Denkmal schenken.

Bildschirmfoto 2014-09-07 um 19.44.20Die Monumente sind fertig

1895 war es so weit. Bartholdi war mit seiner Freiheitsstatue weltberühmt geworden und sein Konterfei zierte selbst Wein- und Käseetiketten in den New Yorker Spirituosenläden. Gustave Eiffel hatte gegen den Widerstand von tout Paris seinen Eisenturm pünktlich zur Weltausstellung fertiggestellt, obwohl ihn einige für die Phallus-Fantasien eines narzistisch Verhaltensgestörten hielten. Sogar Victor Hugo und Émile Zola unterschrieben die Petition, die in ganzseitigen Inseraten publiziert wurde; der Turm sei die «Kathedrale der Alteisenhändler», Ale­xandre Dumas attestierte diesem Eisenskelett, das sich «wie der Tod über Paris erhob», gar eine «frappierende Hässlichkeit». Eiffel wagte sich an ein noch grösseres Projekt, den Panamakanal, doch die Malariamücken brachten ihn zu Fall, ein gigantischer Finanzskandal vor Gericht, und dann krachte auch noch die von ihm konstruierte Brücke in Münchenstein in die Birs und riss 73 Menschen in den Tod.

Auch das Strassburger Denkmal war keine einfache Geburt. In einem Rapport vom September 1891, an die federführende Fachkommission des Innendepartementes, wird festgehalten, dass «die Figuren Anlass zu gewissen Beobachtungen» geben. Kein Detail ist zu klein, um nicht erörtert zu werden. Bemängelt wird u. a. dass die Körperhaltung des Kindes zu sehr der Körperhaltung des Engels gleicht, die einen wollen ein Knie ändern, die andern eine Fussstellung, Bartholdi war bestimmt nicht zu beneiden. Aber wie üblich hat Bartholdi das Projekt zu Ende gebracht.

Das Strassburger Denkmal steht immer noch auf dem Centralbahnplatz beim Bahnhof SBB. Die Figurengruppe stellt eine Frau mit Kindern dar, die von einem Engel und einer Helvetia beschützt werden. Doch die Frauenstatuen sind bei Bartholdi nie, was sie vorgeben zu sein. Die Helvetia ist ein weiterer Avatar der Göttin Minerva- Athena, eine abgewandelte Kopie der ersten Entwürfe der Freiheitstatue.

Das Strassburger Denkmal aus Carrara-Marmor, das Bartholdi damals für rund 125.00 Francs in Rechnung stellte, wird bis Ende Oktober für 300 000 Franken restauriert.

Denkmäler sind manchmal beliebt, manchmal nicht, oft sind sie anfangs umstritten oder gar unerwünscht (wie die Freiheitsstatue) oder gar verhasst (wie der Eiffelturm), dann mutieren sie zum Wahrzeichen einer Stadt, eines Landes oder gar zu einem Symbol.

Das Strassburger Denkmal steht für die zweite Hälfte des zweiten 19. Jahrhunderts, für die atemberaubende Epoche der Gründerzeit, dem Zeitalter der Beschleunigung, als Eisenbahnen die Pferdekutschen ablösten, als Telegrafieren bis zu den Goldgräbern in Klondike möglich wurde; es ist die Epoche der zahlreichen bekannten Unbekannten: Der Reisekofferhersteller Louis Vuitton lässt sich von Gustave Eiffel Stahlträger für seinen ersten Laden in Paris bauen, Flaubert schreibt «Emile Bovary», US-Präsident Ulysses Grant besucht Bartholdis Pariser Atelier, Detektiv Allan Pinkerton («We never sleep») gründet die weltweit grösste Privatdetektei, Marx und Engels schreiben gegen das Elend in den Fabriken an. Es ist die Epoche des überbordenden Enthusiasmus, der bahnbrechenden Erfindungen wie Grammofon, Dynamit, Telefon, Glühbirne und Repetiergewehr. Die Begeisterung für neue Technologien kennt kaum Grenzen, Europa ist im Aufbruch, es entstehen die ersten grossen Industriedynastien.

Eine gewaltige Epoche

Es ist die Epoche des rücksichtslosen Kolonialismus in einer zunehmend vernetzten Welt, es ist die Tragödie des gnadenlosen 14-Stunden-Tags in stickigen Fabrikhallen, der Aufstieg Amerikas, der Untergang Englands und von Bismarcks Staatsräson. Im Zuge der industriellen Revolution entsteht ein neuer Realismus in der Literatur, Mary Shelley erschafft «Frankenstein», Jules Verne taucht 20 000 Meter tief ins Meer. Wir erleben die letzten grossen Typhus- und Cholera-Epidemien, ein Jahrhundert voller Finanz- und Weltwirtschaftskrisen. Der neue Goldstandard befeuert den Goldrausch in Alaska und mit der Beendigung des Deutsch-Französischen Krieges von 1870, ziehen unheilvolle Wolken am Himmel auf. Es ist die Geburt des Nationalismus, der das nächste Jahrhundert in Flammen ­setzen wird.

Das Strassburger Denkmal ist nicht einfach ein Klotz aus Carrara-Marmor, es ist die Erinnerung an eine gewaltige Epoche, an einen grossen Künstler und an eine hilfsbereite Stadt.

Und wäre Bartholdi noch am Leben, wer weiss, ob er dem Bundesrat nicht vorschlagen würde, auf einem unserer Berge eine monumentale Statue zu errichten, eine sitzende Helvetia. Dass er uns erneut eine seiner Liberty-Modelle unterjubeln würde, für die angeblich seine vergötterte Mutter Modell stand, sollte uns nicht kümmern. Wir sollten uns anhören, wieso das nicht möglich ist und es dann trotzdem versuchen.

Claude Cueni,

Schriftsteller. Zuletzt erschienen im Wörterseh Verlag «Script Avenue».

www.cueni.ch

Marketing vor 2000 Jahren

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Die Skulpturhalle Basel hat ihre Ausstellung „Augustus, Macht, Moral, Marketing vor 2000 Jahren“ eröffnet. Als regelmässiger Besucher war ich neugierig auf „Marketing vor 2000“ Jahren. Doch ich war sehr enttäuscht, vielleicht waren auch meine Erwartungen zu hoch. Dass Statuen, Büsten, Reliefs und Münzen zur Propaganda dienten, ist hinlänglich bekannt. Gerade Münzen wären interessant gewesen, waren sie doch eine Form des Kurznachrichtendienstes, der sich über die Handelswege über alle Provinzen ausdehnten. Aber leider bietet die Ausstellung nichts Neues, die audiovisuellen Installationen sind wenig innovativ. Eindrücklich bleibt weiterhin die Dauerausstellung mit den überlebensgrossen Statuen. Gut gemacht ist der 78seitige Ausstellungskatalog, den man für fünf Franken erwerben kann.

Es nährt das Leben auch vom Leide sich

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Heute im Säulengang des Basler Staatsarchivs aufgenommen.

Ein Zitat von Hölderlin (1770 – 1843).

Nicht in der Blüt und Purpurtraub ist heilige Kraft allein: Es nährt das Leben auch vom Leide sich. Johann Christian Hölderlin (1770 – 1843)

Neuerscheinung

Im Frühjahr 2015 erscheint ein neuer historischer Roman.

Zum Tode von Klaus Zapf

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«Freiheit ist: Nachts eine Weisswurst zu fressen und keiner fragt warum.»

In jungen Jahren besetzte der verhinderte Jus Student und Rudi Dutschke Freund leerstehende Häuser. Das brachte ihn auf die Idee, mit seinem museumsreifen Ford Transit linke Hausbesetzer zum Freundschaftstarif zum nächsten leerstehenden Haus zu chauffieren, denn er hatte begriffen, dass er ausser „Häuser besetzen“ nur eins beherrschte: Möbel packen.

Das 1975 gegründete Umzugsunternehmen ZAPF beschäftigt heute sechshundert Mitarbeiter in 14 Städten und gilt als eines der grössten Umzugsunternehmens Europas.

Der schrullige und humorvolle Selfmademillionär starb nun 61jährig an einem Herzinfarkt.

Zapf sagte einmal in einer Talkshow: «Freiheit ist, nachts zum Kühlschrank zu gehen, eine Fleischwurst zu fressen, und keiner fragt: Warum? Was ist los? Was machst du da? Solchen Fragen niemals ausgesetzt zu sein, sei das grösste Glück im Leben.»

Fluchtweg im Kopf

Glücklich, wer jetzt Ferien hat und den ganzen 640seitigen Wälzer am Stück verschlingen kann.

Mit diesem Roman hat sich der Basler Autor endgültig in die Riege der Neuen Klassiker geschrieben. Ein makelloses Buch!

Das Claude Cueni ein grossartiger Erzähler ist, hat er schon mehrfach bewiesen. Etwa mit «Das grosse Spiel», der Geschichte um den Erfinder des Papiergeldes, mit «Cäsars Druide» oder mit «Der Henker von Paris». Alles dicke, historische Schinken, an deren Ende man sich sehnlichst wünscht, es ginge noch Hunderte von Seiten weiter, so spannend und voller fantastischer Figuren sind die Romane.

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Zweite Auflage

Script Avenue, zweite Auflage, wurde soeben ausgeliefert.

Umringt von seinen Protagonisten.

Schweiz am Sonntag / Lifestyle / von Reinhold Hönle / 20. Juli 2014

Der durch seine historischen Romane bekannt gewordene Basler Autor Claude Cueni (58) lebt am liebsten zusammen mit den Figuren und Gegenständen seiner Romane.

Als uns Claude Cueni und seine philippinische Ehefrau Dina in ihre Vierzimmerwohnung in einem modernen Mehrfamilienhaus in Allschwil BL führen, staunen wir nicht schlecht: Wir sind nicht die einzigen Gäste! Im grosszügigen, mit der offenen Küche verbundenen Wohn- und Esszimmer sitzen bereits ein Kardinal und ein Höfling, dessen Gewand und Perücke aussehen, als wäre er dem Film «Gefährliche Liebschaften» entsprungen.

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Bestsellerliste

Script Avenue erreicht Platz 4 der Schweizer Bestsellerliste.

Bitte nicht lachen!

Unknown-1Leonard Cohen sang Ende der Neunzigerjahre: «First we take Manhattan, then we take Berlin.» Im Jahre 2014 wirbt eine russische Bank in Davos mit «Heute Sotschi. Morgen die Welt». Und prompt gräbt ein wachsamer Zeitgenosse ein Nazilied aus, konstruiert einen Zusammenhang und meldet diesen gehorsam der Öffent­lichkeit. Die Medien kolportieren dankbar, aber wer zum Teufel kennt dieses Nazilied? Darauf muss erst einer kommen! Die Jagd auf Verstösse gegen die Political Correctness mutiert allmählich zum Freizeitvergnügen eines neuen alterna­tiven Spiessertums. Mittlerweile wird jeder Witz, jede Parodie, jeder Text ­analysiert, interpretiert und im Zweifelsfall verurteilt: Überall wittern die neuen ­Ayatollahs des guten Humors, Rassismus, braune Idelogie und Frauen­feindlichkeit. Darf Satire nur noch pädophile Kardinäle, SVP-Politiker, Schweizer Bankiers und das männliche Geschlecht aufs Korn nehmen? Oder darf Satire auch blöd, sogar saublöd, peinlich oder talentfrei sein? Ist das einst hart errungene Recht auf freie Meinungsäusserung nur noch Spielball des Zeitgeistes?

Folgen nach den inflationären Plagiat­jägern im universitären Umfeld jetzt die klammheimlichen Fahnder, die Bücher, Werbetexte, Parodien, Karikaturen und Kunstobjekte unter die Lupe nehmen? Sollen vielleicht die Reiseberichte von Gustave Flaubert verboten werden, weil er Ägypter (wie im 19. Jahrhundert üblich) als «Neger» bezeichnete?

Was hat Vorrang: historische Authenti­zität oder vom Zeitgeist abhängige Political Correctness? Von «Tim im Kongo» wollen wir gar nicht reden. Da hat ein kongolesischer Student bereits 2007 erfolglos prozessiert …

Durfte der Soldat Charlie Sheen in «Hot Shots II» seinem afroamerikanischen Kameraden vor dem Einsatz aus Versehen die schwarze Tarnfarbe reichen? Darf der Knecht des Sankt Nikolaus noch Afrikaner sein? Dürfen wir nie mehr über blöde Blondinenwitze lachen?

Am Ende bleibt die Frage: Ist es möglich, dass sich manche Intellektuelle vielleicht zu ernst nehmen?

© Basler Zeitung; 22.01.2014; Seite bazab19
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