#chronos (1900)

Lumieres_cinematograph_poster«Speak softly and carry a big stick; you will go far», «Sprich sanft und trage einen grossen ­Knüppel, dann wirst du weit kommen», schrieb Theodore Roosevelt (1858–1919), der 26. Präsident der Vereinigten Staaten, an Henry W. ­Sprague. Den Spruch wiederholte er fortan in ­seinen öffentlichen Reden. Mit dem «Big Stick» meinte Roosevelt die amerikanische Kriegs­marine, die seine «freundliche Expansionspolitik» im Atlantischen und Pazifischen Ozean «argumentativ» unterstützen sollte. Die Karikaturisten ­nahmen den «Big Stick» dankbar auf und zeigten Roosevelt mit einem dicken Knüppel, der über den Ozean schreitet, Spielzeugschiffe hinter sich herziehend. Nach Ende seiner Präsidentschaft im Jahre 1909 blieb er dem «Big Stick» treu und machte es sich zum Hobby, in Afrika Elefanten und andere Grosstiere abzuschiessen.

Wie ein «Big Stick» in Träumen zu deuten ist, legte Sigmund Freud (1856–1939), der Vater der Psychoanalyse, in seinem 1900 erschienen ­Standardwerk «Traumdeutung» vor: «Der Traum ist der königliche Weg zu unserer Seele.» In ­seiner psychoanalytischen Theorie bezeichnete er Träume als wichtige Informationsquelle für ­verdrängte Ängste und Wünsche und hielt Traumbilder für Symbole, die man deuten könne. Unter Neurologen ist die Bedeutung von Träumen heute sehr umstritten, man hält sie für neuronale und kognitive Prozesse, die das Gehirn vom ­angesammeltem Tagesmüll befreien. Die Beschäftigung mit Träumen erübrige sich deshalb.

Grosses Interesse fand 1900 die Weltausstellung in Paris, es war nach 1855 bereits die fünfte ­Weltausstellung und mit über 75 000 Ausstellern war sie zehnmal so gross wie die ­vorherigen. «Bilanz eines Jahrhunderts» war das Motto, es war die Zeit der Belle Epoque, der schönen Epoche, der kriegsfreien Jahre zwischen der Beendigung des Deutsch-Französischen ­Krieges 1871 und dem Beginn des Ersten Weltkrieges. Fünfzig Millionen Besucher feierten das vergangene Jahrhundert, die Epoche der Beschleunigung und die Jahrzehnte atemberaubender Innovationen.

Eine der grossen Sensationen an der Welt­ausstellung war die «Rue de l’Avenir», die Strasse der Zukunft, ein «Beförderungsmittel zur Überwindung einer Höhendistanz, bei dem sich ­bewegende Treppenstufen bilden». Es war eine Rolltreppe, die eine Länge von 3,5 Kilometern hatte und in einer halben Stunde rund um das Ausstellungsgelände führte. Obwohl die Roll­treppe bereits ein paar Jahre zuvor von amerikanischen Tüftlern erfunden und patentiert worden war, schaffte dieser mobile Gehsteig erst dank ­dieser Weltausstellung den wirtschaftlichen Durchbruch.

Eine weitere Attraktion waren die Gross­projektionen der Brüder Lumière. Die genialen Erfinder begeisterten mit Städtepanoramen im 360-Grad-Winkel, mit Projektionen an der Decke, doch die beiden Pioniere, denen vor fünf Jahren ein Film von 50 Sekunden Länge gelungen war, hielten nicht ihren Cinématographen für ihre bedeutendste Leistung, sondern die Entwicklung des Autochrome, eines Verfahrens für die ­Farbfotografie.

Gezaubert hat 1900 auch L. Frank Baum. Mit «Der Zauberer von Oz» gelang ihm ein Klassiker der Kinderliteratur, der für die Heranwachsenden in den USA genauso prägend war wie in Europa die Märchen der Brüder Grimm. Noch 86 Jahre später beschäftigte der Zauberer die Gerichte. In Tennessee entschied ein Bundesrichter, dass L. Frank Baums Werk ein antichristliches Werk sei, das gegen die Verfassung verstosse, weil ­freundliche Hexen in der Geschichte auftauchten. «Toto, ich habe das Gefühl, dass wir nicht mehr in Kansas sind.»

#chronos (1953)

il_fullxfull.434687029_owqiIn den US-Kinos lief der Western «Law And Order» an. Ein Schauspieler namens Ronald Reagan spielte den Marshal Frame Johnson, der sich mit seiner geliebten Jeannie auf eine Ranch in der Nähe von Cottonwood zurückziehen will. Doch zuvor muss er dieses gottverdammte Tombstone säubern. 28 Jahre nach Drehschluss hatte er als 40. Präsident der Vereinigten Staaten immer noch ein paar Dialogzeilen in Erinnerung. Er nannte die polnische Führung «eine Bande verderbter, verlauster Pennbrüder».

«Der Tod eines einzelnen Mannes ist eine Tragödie, der Tod von Millionen nur eine Statistik», war das Motto von Josef Stalin, dem Idol von Che Guevara. Unter Stalin wurden mehrere Millionen Menschen in Schau- und Geheimprozessen zu Zwangsarbeit verurteilt, in Arbeitslager deportiert oder gleich ermordet. Nach seinem Tod 1953 folgte Nikita Chrusch­t­schow als erster Sekretär der KPdSU. Er begann mit der Entstalinisierung der Sowjetunion, überzeugte aber nicht einmal die eigenen Familienmitglieder. Sein Sohn Sergej lebt heute als Politikwissenschaftler und Buchautor in den USA und besitzt die amerikanische Staats­bürgerschaft. Sein Enkel Nikita wiederum lebt als Journalist im heutigen Russland und kritisiert den «abtrünnigen» Vater.

Rebelliert wurde auch im sozialistischen «Arbeiter-und-Bauernstaat». Wilde Streiks und Demonstrationen erschütterten die DDR. Die Menschen protestierten gegen den Sozialismus, gegen unmenschliche Arbeitsnormen, Repression gegen die Kirchen und politische Unfreiheit. Als sich der Volksaufstand auf das ganze Land ausbreitete, schritten die in der DDR stationierten sowjetischen Truppen ein und walzten mit ihren Panzern die «Ungeziefer» blutig nieder. Das Langzeitmotto der DDR war: «Von der Sowjetunion lernen heisst siegen lernen.»

Auf Kuba stürmte der Rechtsanwalt Fidel Castro mit einer kleinen Guerillatruppe die Moncada-Kaserne von Santiago de Cuba. Kurz zuvor hatte er vergebens versucht, auf dem Rechtsweg den Diktator Fulgencio Batista wegen Verfassungsbruchs einzuklagen. Er berief sich deshalb auf das in der Verfassung garantierte Wiederstandsrecht. Der Angriff scheiterte, aber es war der Auftakt zur Kubanischen Revolution und zum Untergang des Diktators, dessen Geheimdienste Tausende von Menschen entführt, gefoltert und, zur Abschreckung der Bevölkerung, aus fahrenden Autos geworfen hatten.

In der Londoner Westminster Abbey wurde Elizabeth Alexandra Mary zur Königin des Vereinigten Königreiches von Grossbritannien und Nordirland gekrönt. Trotz aller Skandale der Royals lieben die Briten ihre Queen Elizabeth II, die sich ihre gelegentlichen Auftritte in der­Öffentlichkeit mit 13 Millionen vergüten lässt. Im Gegensatz zu den Vermögen von König Bhumibol Adulyadej von Thailand (25 Milliarden) und Fürst Albert II. von Monaco (1,5 Milliarden) nagt die Grossmutter von Prinz William mit bescheidenen 500 Millionen am royalen Hungertuch. Sie investiert mit Vorliebe in Immobilien, Schmuck, Pferde und Obstplantagen.

Im gleichen Jahr erschienen winzig kleine Comicstrips mit der Figur «Bazooka Joe». In diese Strips wickelte der amerikanische Hersteller Topps Company seinen rosaroten zuckersüssen Kaugummi, der die Kinder begeisterte. Schöpfer der Figur war der Cartoonist Wesley Morse, «the greatest pretty girl artist on broadway», der mit erotischen Pin-up-girls und den Pornocomics «Tijuana­bibles» Kultstatus erlangt hatte. Als man ihn fragte, wieso Bazooka Joe eigentlich diese schwarze Augenklappe trägt, antwortete er: «Keine Ahnung.»

© Basler Zeitung; 28.10.2016

#chronos (1855)

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Napoleon III. überlebte im April 1855 ein Attentat und weihte einen Monat später die erste Pariser Weltausstellung ein. Es war eine patriotische Leistungsschau, die Erfindungen vorführte, die ganz im Zeichen der Industrialisierung und der Beschleunigung standen. Über fünf Millionen Menschen besuchten die 23 000 Aussteller aus 36 Nationen. Der Amerikaner Samuel Colt, der Erfinder eines wasserfesten Transatlantikkabels, präsentierte einen Revolver mit Drehzylinder, Singer holte mit seiner Nähmaschine den ersten Preis, der Belgier Adolphe Sax blies in ein merkwürdiges Instrument, das auf den Namen «Saxofon» hörte, während Edward Loysel de Santais an seinem hydraulischen, drei Meter hohen Druckbrühapparat 2000 Espressi pro Stunde ausschenkte.

Doch die für die Zukunft gewichtigste Erfindung waren nicht neuartige Dampfmaschinen, Fahrstühle, Klimaanlagen, sprechende Puppen oder die Einführung der Bordeaux-Klassifizierung, nein, eines der wichtigsten Geräte des Industriezeitalters war die Kontrolluhr.

Mit der Industrialisierung gerieten die Fabrikarbeiter unter das Diktat der Zeitmessung. Hatte man bisher eine sehr lockere Auffassung von Zeit, disziplinierte die Stechuhr die Menschen. «Zeit ist Geld», hatte Benjamin Franklin bereits 1748 in seinem Buch «Ratschläge für junge Kaufleute» gepredigt. 1753 hatte der Graf von Rumford die «ganz unglaubliche Bummelei» in Verwaltung und Produktion beklagt und für Arbeitszeitkontrollen plädiert. Ohne exakte Zeitmessung konnten keine Produktionsziele und Zeiträume geplant und laufend überprüft werden.

Die Kontroll- oder Stechuhr wurde zum «Herzschlag des Kapitalismus» (Karl Marx); sie gab an den Fliessbändern den Takt an. Die neue Pünktlichkeit wurde zur neuen Tugend. Sie bedeutete mehr Effizienz, Gewinnmaximierung und schaffte einen entscheidenden Vorteil gegenüber Ländern ohne Zeitdisziplin.

Weiterhin nach dem Stand der Sonne richtete sich David Livingstone, der als erster Europäer die Victoriafälle erreichte. Der neu gegründete Daily Telegraph berichtete ausführlich darüber, aber Schlagzeilen machte auch der für alle Seiten zermürbende Krimkrieg, der auch als Geburtsstunde der Kriegsfotografie gilt. Erstmals wurden den Menschen zu Hause keine kriegsverherrlichenden Gemälde präsentiert, sondern die brutale Realität des Krieges vor Augen geführt.

Mit Gustave Courbet hielt der Realismus auch in der Malerei Einzug. Einige seiner Gemälde wurden von der Jury, die für die Weltausstellung die Auswahl traf, abgelehnt, worauf Gustave Courbet kurzerhand mit privaten Mitteln den Pavillon du Réalisme aus dem Boden stampfte, in dem abgelehnte Verfechter des neuen Realismus ausstellen konnten. Berühmt und berüchtigt wurde er neun Jahre später mit seinem fotorealistischen Skandalbild einer nackten Frau mit gespreizten Schenkeln, wobei er sich auf die behaarte Vulva im Grossformat konzentrierte: «Der Ursprung der Welt» (L’Origine du monde) hängt heute im Musée d’Orsay. Als man Courbet später doch noch das Kreuz der Ehrenlegion anbot (zusammen mit Honoré Daumier) lehnten beide ab, weil sie die Ansicht vertraten, dass der Staat keinen Einfluss auf künstlerische Belange nehmen sollte.

Höchste Anerkennung erhielt der Mathematiker und Astronom Urbain Leverrier, der am 19. Februar 1855 der Pariser Akademie der Wissenschaften die erste Wettervorhersage vortrug. Seine Prognose basierte auf telegrafisch eingeholten Wetterinformationen aus aller Welt und gilt als Geburtsstunde der Meteodienste. Denn seine Prognose war – richtig.

#chronos (1957)

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«Wissen Sie, was heute für ein Tag ist, Colonel?»

«Ich habe leider den Überblick verloren.»

In dem mit sieben Oscars ausgezeichneten Kriegsfilm von David Lean spielten William ­Holden und Alec Guiness die Hauptrollen. Der Film war umstritten. Die einen kritisierten die Darstellung bedingungsloser Pflichterfüllung, die anderen glaubten, feine Ironie zu erkennen («Wie stirbt man nach Vorschrift?»). Der Militärmarsch, den die Kriegsgefangenen pfiffen, wurde weltweit ein Hit und in Werbung und Coverversionen mit ironischen Texten verballhornt.

1957 erklärt US-Präsident Dwight D. Eisen­hower vor dem Kongress seine Eisenhower-­Doktrin, wonach Amerika alle Länder im Nahen Osten gegen kommunistische Expansionsgelüste verteidigen müsse. Die Staatschefs von Ägypten, Jordanien, Syrien und Saudi-Arabien lehnten diese Einmischung ab und beschlossen eine «Aktive Neutralität».

Ärger hatte Eisenhower auch im eigenen Land. Als Orval Faubus, der Gouverneur von Arkansas, trotz offizieller Aufhebung der ­Rassentrennung durch den obersten Gerichtshof, neun schwarze Schüler am Betreten der Highschool in Little Rock hinderte, und dafür sogar Nationalgardisten aufbot, schickte Eisenhower die 101. Luftlande­division und entzog dem ­Gouverneur sämtliche Polizei- und ­Armeeeinheiten.

In Algerien wüteten die französischen Fremdenlegionäre mit systematischen Entführungen, Folterungen und abscheulichen Exekutionen und brachten sogar die französische Öffentlichkeit gegen sich auf. Jean-Jacques Servan-Schreiber, ein ehemaliger Leutnant der französischen Armee, hatte als Chefredakteur von

L’Express die Zustände in ­zahlreichen Artikeln und in seinem Buch «Lieutenant en Algérie» kritisiert. Gegen ihn wurde von einem Pariser ­Militärgericht ein Verfahren eröffnet. Einmal mehr sollte nicht der Verursacher, sondern der Überbringer der Nachricht bestraft werden.

Um Gerechtigkeit ging es auch in Sidney Lumets Justizdrama «12 Angry Men» (zu Deutsch «Die zwölf Geschworenen») mit Henry Fonda und Lee J. Cobb in den Hauptrollen. Obwohl als Kammerspiel inszeniert, wurde der Film wegen seiner psychologischen Feinzeichnung ein Welterfolg und gilt heute nicht nur als Klassiker, sondern auch als Beispiel für das Verhalten von Individuen im einem gruppendynamischen Prozess.

Auch in der Deutschen Demokratischen ­Republik (DDR) gab es gruppendynamische ­Prozesse. Immer mehr Menschen flohen aus dem sozialistischen Paradies. Um den Verlust wertvoller Arbeitskräfte zu verhindern, wurde «Republikflucht» unter Strafe gestellt. Doch die Jugend­lichen wollten lieber im kapitalistischen Westen in spitzen Lederstiefeletten und schwarzen Leder­jacken Rock’n’Roll tanzen statt «Auferstanden aus Ruinen» (Nationalhymne) singen.

In Westdeutschland (BRD) fanden die Wahlen zum 3. Deutschen Bundestag statt. Konrad ­Adenauer machte die weit verbreite Altersarmut zum Wahlkampfthema. Nach dem Zweiten ­Weltkrieg war die Kapitalbasis der Renten­versicherung zerronnen, die Löhne dank des ­Wirtschaftswunders gestiegen, die Kluft zwischen Berufstätigen und Rentnern immer grösser ­geworden. Adenauer gewann die Wahlen mit dem Versprechen, die «dynamische Leistungsrente» einzuführen. Kaum wiedergewählt, vergass er die versprochene Rentenerhöhung: «Was ­interessiert mich mein Geschwätz von gestern?» Kommt uns das bekannt vor?

Oscarwürdiger war der Song, den Doris Day in Alfred Hitchcocks Thriller «Der Mann, der zu viel wusste» sang. Das Lied ging um die Welt und wurde die Erkennungsmelodie der TV-Show von Doris Day: «Whatever will be, will be (que sera, sera)».

© Basler Zeitung; 30.09.2016

 

#chronos (1930)

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Was hat Joe Cocker mit Ricola zu tun? Im Jahre 1930 gründete der Bäckermeister Emil ­Richterich in Laufen (BL) die Confiseriefabrik Richterich & Compagnie und entwickelte die ­ersten Bonbons, die er vorerst nur in der Region verkaufte. Heute verschickt die Ricola AG in der dritten Generation ihre Produkte in über 50 Länder. Ein besonderes Kompliment erhielten die Kräuterbonbons von Joe Cocker: «Meine Stimme ist nach fünf Minuten ruiniert, wie willst du anschliessend noch fünfunddreissig Konzerte geben?» Der Mann mit der Reibeisenstimme gestand, er würde seine Stimme mit Ricola- ­Kräuterbonbons kurieren, «With A Little Help From My Friends» erlangte damit eine ganz neue Bedeutung.

1930 erschien im Kino «Im Westen nichts Neues», eine Verfilmung des Antikriegsromans von Erich Maria Remarque. Das Buch schildert die Schrecken des Ersten Weltkrieges aus der Sicht eines jungen Soldaten. Da viele Kinos damals noch nicht für den Tonfilm eingerichtet waren, kam der Streifen sowohl als Stummfilm als auch als Tonfilm in die Filmtheater. Louis Wolheim («Seine Fresse ist sein Kapital») spielte den harten Kerl Katczinsky. Nach Abschluss der Dreharbeiten verstarb der 50-­jährige Wolheim infolge einer brachialen Abmagerungskur, die er für seinen nächsten Film begonnen hatte.

Während noch die Wunden des Ersten Weltkrieges aufgearbeitet wurden, zerbrach im September 1930 Deutschlands Grosse ­Koalition und die National­sozialistische Deutsche ­Arbeiterpartei (NSDAP) wurde zweitstärkste Partei. Sie hatte ihren Stimmenanteil von 810 000 (1928) schlag­artig auf 6,4 Millionen gesteigert. Nach der Hyperinflation und der Weltwirtschaftskrise der 20er-Jahre hatten ­verfassungsfeindliche Parteien wie die NSDAP und KPD die Wähler radikalisiert und den Weg für Adolf Hitler freigemacht.

Sigmund Freud schrieb in seinem 1930 erschienen Klassiker «Das Unbehagen in der ­Kultur»: «Die Menschen haben es jetzt in der Beherrschung der Naturkräfte so weit gebracht, dass sie es mit deren Hilfe jetzt leicht haben, einander bis auf den letzten Mann auszurotten».

1930 übernahm Haile Selassie («Macht der Dreifaltigkeit») die Herrschaft über Äthiopien. Er nannte sich ganz unbescheiden König der Könige und hielt sich für den 225. Nachfolger von König Salomon. Da ihm der Machterhalt wichtiger war als die Anliegen der Bevölkerung, kam es in den 70er-Jahren infolge einer Nahrungsmittel­knappheit zu gewaltsamen Protesten. Sie ­endeten mit einem Militärputsch. Der spätere Diktator Mengistu Haile Mariam, der «Schlächter von Addis», liess den Leichnam Selassies unter einer Toilette einmauern.

Die Entdeckung des Zwergplaneten Pluto ­inspirierte den Zeichner Norman Ferguson. Er nannte den tolpatschigen Hund, den er gerade für die Disney Studios entwickelte, «Pluto». Sein erster Auftritt hatte der virtuos animierte Pluto 1930 in der Micky-Maus-Episode «The Chain Gang», in der er als Spürhund die Fährte eines entflohenen Sträflings aufnehmen muss. Der ­einzige Dialog, den Pluto jemals sprach, war: «Kiss me.»

Mercedes-Benz brachte den luxuriösen ­«Grossen Mercedes» auf den Markt, den Typ 770, den sich kaum jemand leisten konnte. In acht Jahren wurden gerade mal 117 Fahrzeuge ­produziert. Gekauft wurde die repräsentative Staatskarosse von Reichspräsident Hindenburg, dem japanischen Kaiser Hirohito, Adolf Hitler und den Vertretern der «Kirche der Armen»: Papst Pius XI. und Papst Pius XII. Weniger Erfolg hatte der britische Automobilhersteller Bentley. Die Entwicklungskosten für seine Luxuskarosse trieben ihn in den Ruin.

© Basler Zeitung; 16.09.2016

#chronos (1973)

intensivundgelassenElvis Presley brach am 14. Januar 1973 mit ­seinem legendären Konzert «Aloha from Hawaii» (Honolulu) sämtliche Rekorde: Erstmals in der Geschichte wurde der Auftritt eines Solokünstlers live via Satellit in über 40 Länder übertragen. In einigen Ländern lag die Einschaltquote bei über 70 Prozent, auf den Philippinen gar bei 90 Prozent. Mit gegen 1,5 Milliarden Zuschauer lockte der unangefochtene «King of Rock ’n’ Roll» mehr Zuschauer vor den Fernseher als seinerzeit Neil Armstrong auf dem Mond.

Vom Thron gestossen wurden in diesem Jahr zahlreiche Despoten und Diktatoren: In Ruanda putschte das Militär und übernahm die Macht, in Afghanistan putschte Mohammed Daoud Khan und rief die Republik aus, in Griechenland wurde Diktator Georgios Papadopoulos durch einen Militärputsch gestürzt, in Thailand wurde die Militärregierung nach Massenprotesten zum Rücktritt gezwungen und in Chile fiel der demokratisch gewählte sozialistische Präsident Salvador Allende einem Militärputsch zum Opfer. Mithilfe der USA gelangte Augusto Pinochet an die Spitze einer Militärjunta und versetzte fortan die Bevölkerung mit Folterungen, Verschleppungen und zahlreichen Morden in Angst und Schrecken.

Auch der Nahe Osten kam nicht zur Ruhe: Völlig überraschend griffen Ägypten und Syrien ausgerechnet am höchsten jüdischen Feiertag (Jom Kippur) Israel an und lösten damit den vierten arabisch-israelischen Krieg seit der Gründung des Staates Israel aus. Nach anfänglichen Erfolgen gegen das unvorbereitete Israel erlitt die arabische Allianz bereits nach 19 Tagen eine endgültige Niederlage. Eine Folge davon war der israelisch-ägyptische Friedensvertrag und die Anerkennung des jüdischen Staates durch Ägypten.

Um den Westen unter Druck zu setzen, erhöhte die Opec den Ölpreis von rund drei US-Dollar pro Barrel auf über fünf Dollar. Der Westen erlebte seine erste grosse Ölkrise. Sieben arabische Staaten verhängten zudem einen Lieferboykott gegen die USA und die Niederlande. In einigen Ländern wurde ein ­Sonntagsfahrverbot für Pkws angeordnet, die Autobahnen wurden am Wochenende zu Fussgängerzonen.

Kuba-Auto-Import-Verbot-Neuwagen-aufgehoben-Oldtimer-US-Cars-08Auch auf Kuba kam der Verkehr etwas zum Erliegen, obwohl Fidel Castro ein paar Truppen in den Nahen Osten geschickt hatte, um die arabischen Armeen zu unterstützen. Dass auf Kubas Strassen eher wenig Fahrzeuge verkehrten, lag nicht an einem Sonntagsfahrverbot, sondern daran, dass die USA das Embargo gegen Kuba weiterführten und der einst florierende Import amerikanischer Autos unterbunden war. So ­wurden die Oldies auf den Strassen Kubas nicht nur beliebte Kunstsujets, sondern auch Sinnbild für das Scheitern eines sozialistisch-autoritären Einparteiensystems. Fidel Castro prophezeite, dass die USA erst mit Kuba verhandeln würden, wenn ein Schwarzer Präsident und ein Südamerikaner Papst würde.

Dass man mit Kapitalismuskritik auch Multimillionär werden kann, bewies die britische Rockband Pink Floyd mit ihrer neuen LP «The Dark Side Of The Moon». Das legendäre Konzeptalbum verkaufte sich mittlerweile über 50 Millionen Mal, hielt sich 14 Jahre lang in den US Billboard-Charts und gilt heute als Jahrhundertwurf. «Money, it’s a crime. Share it fairly but don’t take a slice of my pie» (Geld ist ein Verbrechen, verteile es gerecht, aber Hände weg von meinem Anteil).

In der deutschen Fussball-Bundesliga ­missachtete Eintracht Braunschweig das bisher geltende Verbot von Leibchenwerbung und lief mit dem Jägermeister-Hirsch auf dem Trikot ins Stadion ein. «Ich trinke Jägermeister, weil mein Mami voll davon ist.»

© Basler Zeitung; 02.09.2016

#chronos (1956)

Unknown-11956 erschien im Magazin Fantastic Universe die Shortstory des schreibsüchtigen und drogenabhängigen Philip K. Dick. Sein «Minority Report» wurde 46 Jahre später von Steven Spielberg verfilmt. Manchmal sind die Erben tüchtiger als der Autor. Philip K. Dick war Atheist: «Die Realität ist das, was übrigbleibt, wenn man aufhört zu glauben.»

«Ich würde sogar die Sonne angreifen, wenn sie mir etwas zuleide täte!», sagte Kapitän Ahab als die Schiffsbesatzung seine Besessenheit kritisierte, den weissen Hai aufzuspüren und zu töten. John Huston verfilmte «Mobby Dick» nach dem gleichnamigen Roman von Herman Melville. Die Besetzung des Bösewichts mit dem liebenswürdigen Gregory Peck hielt die Kritik für eine krasse Fehlleistung, der Film floppte, heute wird er nur gerade für die aussergewöhnliche Licht- und Farbstimmung gelobt.

Erfolgreicher war der 21-jährige Elvis Presley, der nach seinem Wechsel vom regionalen SUN-Musiklabel zum nationalen RCA Label mit seinem Debütalbum gleich auf Platz 1 der Charts landete. Mit seinem erotischen Hüftschwung sorgte die «singende Tolle» für tumultartige Begeisterungsstürme und einen enormen Medienhype. Elternverbände, Religions­gemeinschaften und Lehrerorganisationen machten «Elvis the Pelvis» («Elvis, das Becken») für den Zerfall der Moral verantwortlich. Die TV Sender buchten ihn weiterhin, filmten seine Shows aber nur noch von der Hüfte aufwärts.

VictrolaZehn Jahre nach Kriegsende wurde Adolf Hitler auch noch vom Amtsgericht Berchtesgaden für tot erklärt, fand in Wien wieder der Opernball statt, warfen die USA ihre erste Wasserstoffbombe über den Marshall-Inseln ab, wurde in London Europas erstes Atomkraftwerk eingeweiht und in der wieder boomenden Bundesrepublik warb man Gastarbeiter aus Italien an, um den Mangel an Arbeitskräften zu kompensieren. Da die Arbeitsmigranten aus dem gleichen Kulturkreis kamen und die Regeln des demokratischen Rechtsstaates respektierten, war die Integration einfach und für beide Seiten ein Gewinn.

1956 plädierte Parteichef Nikita Chruschtschow am XX. Parteitag der KPdSU für eine friedliche Koexistenz zwischen Kapitalismus und Sozialismus, er kritisierte auch seinen ­georgischstämmigen Vorgänger Josef Stalin und bezeichnete ihn als «brutalen Despoten». Er verlangte im Zuge der Entstalinisierung den Personenkult zu beenden. Die Georgier fühlten sich in ihrem Nationalstolz verletzt, waren sie doch ein Leben lang stolz darauf gewesen, dass ein Georgier Russland regierte und die Welt in Atem hielt. Zornig stürmten sie die Tifliser Radiostation und das Telegrafenamt. Wie üblich sandte die Sowjetunion Panzer, die den Aufstand blutig niederwalzten.

hrushchev_503109506Ein halbes Jahr später proklamierte Ungarns Ministerpräsident die Neutralität und kündigte die Mitgliedschaft im Warschauer Pakt. Die Sowjetunion schickte erneut ihre Panzer. Über 2500 Ungarn verloren ihr Leben.

Beinahe vergessen: Am 29. Juni heiratete Marilyn Monroe den Schriftsteller Arthur Miller. Die Medien malten sich aus, wie grossartig die genetische Veranlagung des Babys sein würde angesichts seiner Eltern, dem Sexsymbol der 60er-Jahre und der Intelligenzbestie der Literatur. Doch Arthur Miller fragte: «Was ist, wenn das Baby den Verstand der Mutter und das Aussehen des Vaters hat?» Nachdem die meistfotografierte Frau ihrer Zeit heimlich die Tagebücher ihres Mannes gelesen hatte, trennten sie sich. Arthur Miller hatte sie als tablettensüchtige, unberechenbare und hilflose Kindfrau beschrieben, für die er nur noch Mitleid empfand.

#chronos (1943)

LittleprinceTrotz des unfassbaren Leids, das Millionen von Menschen während des Zweiten Weltkriegs (1939 – 1945) erfahren mussten, nahm das zivile Leben abseits der Kampfzonen ihren gewohnten Lauf. Während Millionen auf den Schlachtfeldern und im Bombenhagel starben, erblickten Janis Joplin, George Harrison, Mick Jagger, Robert De Niro, Catherine Deneuve und Jim Morrison das Licht der Welt, in New York erschien die Erstausgabe von Antoine de Saint-Exupérys »Der Kleine Prinz«.

Die Anti-Hitler-Koalition traf sich in der marokkanischen Stadt Casablanca zu einer geheimen Sitzung. US-Präsident Franklin D. Roosevelt und der britische Premierminister Winston Churchill einigten sich nach zehn Tagen auf das primäre Kriegsziel: Die bedingungslose Kapitulation Deutschlands, Italiens und Japans. Gemeinsam mit ihren Stabschefs entwickelten sie den Plan, den weltweit tobenden Krieg auf das europäische Festland zu verlagern. Gleichzeitig beschlossen sie die Verstärkung der Luftangriffe auf deutsche Städte. Amerikanische und britische Piloten warfen nun rund um die Uhr Bomben über Deutschland ab.

 

Hitlers Reichspropagandaminister Joseph Goebbels forderte im Berliner Sportpalast die Intensivierung des »Totalen Kriegs«. Zwei Mitglieder der Widerstandsgruppe »Weisse Rose« wurden hingerichtet, es waren die Geschwister Sophie und Hans Scholl.

Nachdem Hitlers SS im Vorjahr bereits eine halbe Million Juden aus Warschau ins Vernichtungslager Treblinka verschleppt hatte, versuchte sie die restlichen Bewohner zu deportieren. Nach wochenlangem Widerstand ging das Warschauer Ghetto in Flammen auf.

jan14-2-imgIn Stalingrad wurde Hitlers 6. Armee von Stalins Truppen vernichtet. Der Ausgang der Schlacht gilt als Wendepunkt des deutsch-sowjetischen Krieges. Im Pazifik standen sich Amerikaner und Japaner gegenüber. Im Juli landeten die Allierten auf Sizilien, Pius XII, der schweigende Stellvertreter, erhielt den Beinamen »Hitlers Pope«. Der Faschist und Diktator Mussolini (Duce del Fascismo), Ministerpräsident des Königreichs Italien, wurde von rivalisierenden Faschisten gestürzt und verschwand vorübergehend von der Bildfläche.

Durch einen Zufall entdeckt der Schweizer Chemiker Dr. Albert Hofman in den Labors des Schweizer Pharmaunternehmens Sandoz die Wirkung von Lysergsäurediäthylamid. Er hatte zufällig die Substanz durch die Haut aufgenommen und erlebte auf der Velofahrt nach Hause die halluzinogene Wirkung des LSD. In der Hippie Aera geriet das »saumässig gefährliche« (Hofmann) LSD als »bewusstseinserweiternde Droge« in Verruf. In seinem Werk »LSD – Mein Sorgenkind« schrieb er: „Dieser Bewußtseinszustand, der unter günstigen Bedingungen durch LSD, oder durch ein anderes Halluzinogen aus der Gruppe der mexikanischen sakralen Drogen, hervorgerufen werden kann, ist verwandt mit der spontanen religiösen Erleuchtung, mit der unio mystica.« Albert Hofman erlangte als Mister LSD Weltruhm und starb 102jährig im Baselbieter Leimental.

tintinactuel12_22012004»Ich möchte Herrn Tim sprechen!« Mit diesen Worten trat der zerstreute und fast taube Professor Tryphon Tournesol erstmals 1943 auf. Mit erstaunlicher Hartnäckigkeit versuchte er, Tim ein Tauchgerät in Form eines Haies zu verkaufen. Lesen konnten die Fans von »Tintin et Milou« diese Szenen im Vorabdruck von Hergés Album »Le Trésor de Rackham Le Rouge« (»Der Schatz Rackhams des Roten«) in der Brüsseler Tageszeitung »Le Soir«.

And one more thing: 1943 sagte Thomas Watson, Vorstandsvorsitzender von IBM: »ich denke, es gibt weltweit einen Markt für vielleicht fünf Computer.«

(c) 2016 Basler Zeitung

#chronos (1902)

1902GMCWer 1902 die Aufmerksamkeit des männlichen Geschlechts auf sich ziehen wollte, trug immer noch das Sans-Ventre-Korsett, das Ohne-Bauch-Korsett, das seitlich betrachtet, die berühmte S-Form zeigte. Die Feministin Anne de Rochechouart de Mortemart (1847–1933) hielt nichts von solchen Selbstkasteiungen. Sie war nicht nur die erste Französin, die den Führerschein machte, sondern auch gleich der erste Mensch, der einen Strafzettel wegen erhöhter Geschwindigkeit erhielt. Ob die Urnichte der Champagnerkönigin «Veuve Clicquot» ein Glas zu viel hatte, ist nicht überliefert. Auf jeden Fall hatte sie mit 40 km/h eine krasse ­Übertretung begangen. Die laufend verbesserten Leistungen der Automobile machten es den ­Fahrern zu­- nehmend schwer, das Tempo der «pferdelosen Wagen», wie sie damals noch hiessen, richtig einzuschätzen. Auf der Rennbahn lag der Rekord bereits bei über 100 km/h.

In Erwartung einer Beschleunigung auch bei normalen Strassenfahrzeugen entwickelte der deutsche Ingenieur Schulze einen Wirbelstrom-­Tachometer und meldete diesen 1902 beim ­Kaiserlichen Patentamt in Berlin an. Erste Entwürfe für ein solches Instrument hatte bereits Leonardo da Vinci gezeichnet, die ersten Tachos wurden jedoch erst 1817 von Diedrich Uhlhorn für Textilmaschinen eingesetzt, ab 1844 für Eisenbahnen. Schulze war jedoch der Erste, der einen Tachometer für ­Strassenfahrzeuge erfand und patentieren liess. Wie so oft leiden geniale Erfinder unter einer gewissen ­Inselbegabung, die sich nicht auf andere Lebensbereiche erstreckt. Mangels Fähigkeiten im unternehmerischen Bereich sah sich Schulze gezwungen, die Kommerzialisierung (und die Früchte) seiner Erfindung einem andern zu überlassen.

Bei Arbeiterunruhen in Batumi, einer Hafenstadt am Schwarzen Meer, wurde der 22-jähriger Russe Jossif Wissarionowitsch Dschugaschwili verhaftet. Zehn Jahre später sollte dieser Georgier den Kampfnamen «Der Stählerne» annehmen, es war der Diktator und Massenmörder Josef Stalin.

1902 hatte das Goldene Zeitalter der ­Antarktis-Forschung bereits begonnen, eine Expedition jagte die nächste, die Polarforscher entdeckten neue Inseln und gewannen ­geografische und naturwissenschaftliche Erkenntnisse. Besonders dramatisch verlief die erste deutsche Antarktisexpedition unter der Führung des unerschrockenen Geologie­professor Erich von Drygalski. Das Forschungsschiff blieb ganze 14 Monate im Eis stecken. Erich von Drygalski überflog mit einem ­Fesselballon die Unglücksstelle und brachte eine der ersten Luftaufnahmen der Antarktis mit nach Hause. Sein Bericht über die zweijährige Expedition umfasste zwanzig Bände und zwei ­Atlanten.

Neuland beschritt 1902 auch der Filmpionier Georges Méliès mit der Pariser Uraufführung seines 16-minüten Science-Fiction-Films «Die Reise zum Mond». Basierend auf den Romanen von Jules Verne und H. G. Wells erschuf er einen Klassiker der Filmgeschichte.

Mit der Vergangenheit hatte sich hingegen der Pfarrerssohn Theodor Mommsen (1817–1903) ein Leben lang beschäftigt. Der bedeutendste Historiker der Altertumswissenschaften erhielt 1902 für sein Jahrhundertwerk «Römische Geschichte» den Nobelpreis für Literatur. Er hielt wenig von Cicero, den er «der Partei der materiellen Interessen» zuordnete und schrieb, was man auch über einige Politiker der ­Gegenwart schreiben könnte: «Als Staatsmann ohne Einsicht, Ansicht und Absicht hat er nacheinander als Demokrat, als Aristokrat und als Werkzeug der Monarchen figuriert und ist nie mehr gewesen als ein kurzsichtiger Egoist.»

© Basler Zeitung; 22.07.2016

#chronos (1927)

MexicoCity16Dec1927«Wer zur Hölle will Schauspieler reden hören?», fragte H. M. Warner von den Warner Brothers, als man ihm 1927 die Vorteile des Tonfilmes erklärte. Im Januar startete Fritz Langs Stummfilm ­«Metropolis» und floppte trotz Starbesetzung. Das in Schwarz-Weiss gedrehte Science-Fiction-Movie gilt heute als Klassiker der Filmgeschichte. Neun Monate später läutete der kommerziell äusserst erfolgreiche Film «The Jazz Singer» das Zeitalter des Tonfilms ein. Sam Warner hatte die ­Produktion gegen den erbitterten Widerstand ­seines Bruders durchgesetzt. Bereits drei Jahre später hatte der Tonfilm den mit den typischen Zwischentiteln angereicherten Stummfilm ­abgelöst.

Abgelöst wurde auch die ungarische Währung Korona, die als Folge des Ersten Weltkrieges ­inflationsbedingt massiv an Wert verloren hatte. Die Neue Währung Pengo hielt gerade mal neunzehn Jahre. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die durch eine erneute Hyperinflation zerstörte Währung durch den Forint ersetzt. Für vierhundert Quadrilliarden Pengo, also 400.000.000.000.000.000.000.000.000.000 Pengo, erhielt man einen einzigen Forint.

In Berlin crashte die Börse, als die Deutsche Reichsbank gegen die überhöhten Aktienkurse vorging. Der Aktienindex brach innerhalb von Stunden um 31,9 Prozent ein. Bereits zwei Jahre nach diesem schwarzen Börsenfreitag krachte auch die New Yorker Börse und löste die Weltwirtschaftskrise aus. Der amerikanische «Black Friday» war jedoch infolge der Zeitverschiebung in den USA ein «Black Thursday».

Für mehr Optimismus sorgte Charles Lindbergh, der alleine in seiner eigens für ihn konstruierten «Spirit of St. Louis» in einem Nonstopflug von New York nach Paris flog. Damit holte er sich den vom Hotelbesitzer Raymond ­Orteig ausgesetzten Preis von 25 000 Dollar für den ersten Alleinflug über den Atlantik. Seine ­einmotorige Maschine hatte der unbekannte ­Flugzeughersteller «Ryan Airlines» in nur gerade zwei Monaten entwickelt und zusammengebaut. Überschattet wurde Lindberghs Pioniertat durch die Entführung seines zweijährigen Sohnes Charles III., der trotz Bezahlung des Lösegeldes von 50 000 Dollar zweieinhalb Monate später ermordet aufgefunden wurde. Der Täter, ein ­vorbestrafter illegaler Immigrant, der bereits zweimal des Landes verwiesen worden war, wurde gefasst und neun Jahre später hingerichtet. Schuldig oder nicht schuldig, war das Thema diverser späteren Verfilmungen.

Grosses Aufsehen erregte auch die Hinrichtung zweier aus Italien eingewanderter Arbeiter, die sich in den USA der Anarchistischen Arbeiterbewegung angeschlossen hatten und wegen einem doppelten Raubmord angeklagt worden waren. Auch dieses Gerichtsverfahren war umstritten und fand eine dramaturgische ­Aufarbeitung in Giuliano Montaldos Film «Sacco und Vanzetti». Im Jahr 1977 wurden die beiden Italiener durch den Gouverneur von Massachusetts rehabilitiert.

Mehr Glück hatte der Immigrant und Elektro­ingenieur Edward Lasker, der als ­Schachmeister und Verfasser von Klassikern der Schachliteratur Berühmtheit erlangte. Weniger bekannt ist, dass der Tüftler 1927 die erste elektrische Muttermilchpumpe zum Patent anmeldete.

Wie alle gesellschaftlichen Entwicklungen fand auch die zunehmende Emanzipierung der Frau ihren Niederschlag in der Mode. Die ­unpraktischen grossen Hüte waren durch eng am «Bubikopf» anliegende Topf-Hüte ersetzt worden. Kleider, die den Körper einschnürten, waren nun verpönt, sportliche Lockerheit war angesagt, geradlinige Silhouetten, die nicht ­verhüllten, was man insgeheim zeigen wollte.

© Basler Zeitung; 08.07.2016