GIGANTEN
Historischer Roman, 450 Seiten
Texttauszug: ab Seite 367 (Panama)
Frédéric Bartholdi und Allan Pinkerton ritten die pazifische
Küste entlang. Die tropische Hitze war drückend, die Vegeta-
tion üppig und feindlich. Kaum öffnete man die Lippen, hatte
man eine Handvoll Insekten im ausgetrockneten Mund. In der
Ferne ragte der Kegel des Vulkans Barú in den Himmel.
»Die Kuna-Yala-Indianer halten den Vulkan für einen Gott,
den es zu besänftigen gilt.« Pinkerton zündete sich eine Zigarre
an: »Wissen Sie, Mister Bartholdi, in meinem Beruf zählen nur
überprüfbare Fakten, und je länger ich dieses Business betreibe,
umso mehr wundere ich mich über den infantilen Aberglauben
der Menschen. Eigentlich bin ich enttäuscht, dass die Menschen
geistig auf dem Niveau der Bronzezeit stehen geblieben sind. Ja,
ich bin enttäuscht. Was ist denn Ihre größte Enttäuschung?«
»Dass das Leben nicht gerecht ist, Mister Pinkerton.«
»Wieso sollte es das?«, brummte Pinkerton und zog an sei-
ner Zigarre.
Schweigend ritten sie weiter. Zahlreiche Gräber säumten den
Weg. In der Ferne sahen sie die Silhouetten von Zelten und Bar-
racken.
»Sehen Sie irgendwo Arbeiter, Mister?«, fragte Frédéric.
Pinkerton beobachtete die Umgebung aufmerksam. »Ich sehe
nur einen Haufen Kreuze, die in kleinen Grabhügeln stecken.«
»Aber jemand muss die Leute doch begraben haben.«
Endlich erreichten sie das Lager der Panama-Gesellschaft.
Vereinzelt tauchten nun Arbeiter auf, aber sie arbeiteten nicht
und ignorierten die beiden Reiter. Hier schien die Zeit stehen
geblieben zu sein.
Ein ausgemergelter Mann mit fiebrigem Gesicht kam ihnen
entgegen. »Sind Sie Ärzte?«, rief er ihnen verzweifelt zu. »Ich
bin Docteur Rougemont aus Paris. Meine Kollegen sterben, wir
brauchen Ärzte. Wir sind machtlos gegen diese Mücken. Die
Menschen sterben zu Hunderten, ja Tausenden.« Er zeigte ins
Innere eines Zeltes. Zahlreiche Betten waren aneinandergereiht,
alle überbelegt. Die Pfosten der Betten standen in Wasserei-
mern.
»Was ist das?«, fragte Pinkerton und wies auf die Pfosten.
»In Paris haben sie uns gesagt, wir sollten überall Wasserei-
mer aufstellen. Das würde die Epidemie beenden.«
Hinter dem Zelt fuhren mit Fässern beladene Karren vorbei.
»Wir stecken die Leichen in Essigfässer, damit wir nicht noch
mehr Kreuze aufstellen müssen. In Paris bezahlt die Universi-
tät für jede einzelne Leiche.«
Pinkerton hielt sein Pferd zurück und herrschte ihn an: »Ent-
fernen Sie sofort die Eimer unter den Bettpfosten. Diese Was-
ser sind die Brutstätten der Malariamücke! Was seid ihr bloß
für Idioten!«
»Wie viele Tote habt ihr schon?«, fragte Frédéric.
»Wir zählen nur die Weißen«, gab der Arzt zurück. »Chine-
sen, Inder, Neger und die Wilden aus den Antillen zählen wir
nicht. Kontraktarbeiter kosten weniger als ein Stück Maisbrot.«
»Wie viele?«, insistierte Frédéric.
Ȇber 20 000, von meinen 25 Krankenschwestern sind be-
reits 21 tot, Eiffel hat drei seiner vier Chefingenieure verloren.
Malaria, Gelbfieber, es ist die Hölle.«
Frédéric warf Pinkerton einen Blick zu. »Das könnte eine
Schlagzeile sein, murmelte er. »Wo ist Gustave Eiffel?«, fragte
er den Arzt.
»Geflohen, gestorben, was weiß ich«, fluchte der Arzt, »ich
werde morgen mit dem Leichenexpress verschwinden. Die
Eisenbahnlinie führt durch den Dschungel. Der Zug ist mit
Essigfässern gefüllt. Nur der Lokführer und ich werden noch
lebendig sein. Meine Herren, das ist eine jüdische Verschwö-
rung!«
»Dann sollten Sie jetzt ein paar Aufnahmen machen, Mon-
sieur Bartholdi, Paris braucht Beweise. Docteur, wo finden wir
Jacques de Reinach?«
Der Finanzagent und Buchprüfer der Panama-Gesellschaft hing
unter dem Torbogen im Hof eines kleinen Hotels, das im spa-
nischen Kolonialstil erbaut war. Im Todeskampf hatte sich sei-
ne Blase entleert und die Hosenbeine dunkel gefärbt. Zwei Mes-
tizen halfen Pinkerton, die Leiche vom Strick zu schneiden. In
der Innentasche von Jacques de Reinachs fleckigem Gilet befand
sich ein ziemlich dickes Bündel handgeschriebener Blätter.
»Es gibt verschiedene Arten, ein Geständnis abzulegen«, be-
merkte Pinkerton trocken und reichte Frédéric die Dokumente.
Gemeinsam überflogen sie die Papiere. Dann ließen sie sich
kühle Drinks servieren und setzten sich in den Schatten eines
Sonnensegels. In den nächsten Stunden studierten sie die Do-
kumente, Blatt für Blatt.
»Was suchst du in Panama?« Gustave Eiffel hatte gegen Abend
den Hof betreten. »Ich hörte, dass du hier rumlungerst.«
»Ich wollte dir einen Koloss von Rhodos vorschlagen«, amü-
sierte sich Frédéric.
»Von dir würde ich nicht mal eine Schraube wollen. Komm
mir bloß nicht in die Quere! Der Zutritt zur Baustelle ist dir
verboten, genauso wie allen Presseleuten.«
»Ich werde dir keine Schrauben verkaufen, Gustave Eiffel,
ich schenke dir die Hölle von Panama.«
Gustave wollte sich auf Frédéric stürzen, doch Pinkerton hob
den Zeigefinger etwas in die Höhe und schüttelte den Kopf.
Seine linke Hand ruhte auf dem Knauf seines Revolvers in der
Innentasche.
»Was wollt ihr? Ich habe ein Werbebudget.« Eiffel schaute
wild um sich.
»Wir haben die Liste mit deinen ›Werbeausgaben‹ gefunden.
Jacques de Reinach war da sehr genau.« Frédéric wedelte mit
den Bankdokumenten. »Schätzungsweise über 500 Überwei-
sungen an Journalisten, den Finanzminister sowie den Minis-
terpräsidenten; das hätte ich nicht erwartet.«
»Alle Menschen sind bestechlich«, stieß Gustave ungeduldig
hervor, »wie viel?«
»Wie viel was?«, fragte Frédéric.
»Wie viele Goldfrancs«, herrschte ihn Gustave an und be-
gann wie ein Pferd zu schnaufen.
»Gustave, ich mache mir nichts aus Geld, das solltest du
mittlerweile wissen. Ich will keinen einzigen Goldfranc, ich will
dich fallen sehen. Und zwar in aller Öffentlichkeit, erniedrigt
und verurteilt, damit dein Turm bis in alle Ewigkeit erinnert an
einen Mann, der ein Herz aus Eisen hatte und als Betrüger im
Gefängnis verstarb!«