Dirty Talking, Textprobe 2

Bischof Miguel Mateo Degollado empfing Wilson mit offenen Armen. Er war ein grossgewachsener Mann mit hängen- den Hamsterbacken und kurzen, graumelierten Haaren. Hoch- würden waren bester Laune, wie schon beim morgendlichen Telefonat. Er breitete gönnerhaft die Arme aus, als wolle er ein imaginäres Meer teilen und schaute demütig und dankbar zu seinem unsichtbaren Freund an der Decke: »Gott meint es gut mit uns.«

»Mit Ihnen ganz bestimmt, Hochwürden.«

»Nehmen Sie doch Platz«, bat der Bischof freundlich und wies Wilson den Stuhl vor seinem massiven Schreibtisch zu. Wilson hatte ihm am Telefon erzählt, dass es der Wunsch sei- ner verstorbenen Eltern gewesen sei, ihr Vermögen dem Bis- tum zu vermachen, und dass Wilson als Testamentsvoll- strecker alles Notwendige in die Wege leiten sollte. Die Story gehörte bestimmt nicht zu Wilsons Highlights, aber ent- scheidend ist nie, ob eine Story wahr ist, sondern ob sie glaub- würdig ist. Der Bischof gestand ihm mit einem Leidens- gesicht, das selbst das Antlitz Jesu am Kreuz toppte, dass ihn der Tod seiner Eltern tief berührt und dass er nach dem Tele- fongespräch gleich für ihre Seelen gebetet habe. Als Wilson nicht reagierte, schnitt Hochwürden eine noch herzzerreissen- dere Grimasse, als leide er unter Koliken und sprach Wilson in einer Oscar-würdigen Rede das herzliche Beileid des gesamten Bistums Basel aus.

»Das war sicher nett gemeint, Hochwürden«, sagte Wilson mit bedrückter Stimme, »aber, ich glaube, meine Eltern selig schmoren bereits in der Hölle, und wenn sie jetzt ihr Vermögen der Kirche vermachen, wird der Teufel höchstens ein Holz- scheit weniger ins Feuer werfen.«

Der Bischof hob erstaunt die Brauen, reagierte aber nicht darauf, denn er wollte die Verhandlung nicht gefährden. Er drückte auf eine Taste seines Tischtelefons und flüsterte: »Schwester Bernadette, zwei Kaffee mit Gebäck und eine Fla- sche Mineralwasser.«

Nun strahlte er Wilson an und erzählte ihm mit grosser Begeisterung, dass sie hier im Bistum alles hätten, was sie bräuchten, er habe eine Haushälterin, einen Chauffeur, nur den Kaffee müsse er am Morgen selber machen, weil er bereits um sieben Uhr aufstehe.«

»Oh, bereits um sieben, das ist sehr beeindruckend«, heu- chelte Wilson und kam zur Sache: »Ich habe gelesen, dass Sie gute Nerven haben und das Leben nehmen, wie es ist. Das wird bei unserem heutigen Gespräch von Vorteil sein.«

Der Bischof verstand nicht ganz, nickte aber freundlich und sagte, er lehne prinzipiell jede Anfrage für Homestorys ab, die meisten auf jeden Fall, aber wenn es um den Glauben ginge, sei es seine Aufgabe, das Wort Gottes zu verbreiten und das Wohl der Kirche zu mehren. Zurzeit sei die katholische Kirche stark unter Druck. Zu Recht. Mit jedem neuen Miss- brauchsfall verliere die Kirche Gläubige, das stimme ihn sehr traurig. Das sei auch in finanzieller Hinsicht sehr unschön, weil es die Pflicht der Kirche sei, die Opfer wenigstens finan- ziell zu entschädigen.

»Ich habe davon gehört«, sagte Wilson, »ihr bezahlt jedem Opfer fünftausend Euro. Aber das ist nicht gerade viel für die Vergewaltigung eines Minderjährigen.«

»Das sind jährlich Millionen, Herr Wilson, Millionen. Wir wollen Zeichen setzen!«

Hochwürden sagte, es bräuchte nun eine ehrliche Auf- arbeitung, absolute Transparenz und Nulltoleranz. Damit werde ein erster Schritt getan, damit die Menschen wieder Ver- trauen in die Kirche schöpfen. Er ballte energisch die Faust und sagte, die Täter müssten gerecht bestraft werden. Den Op- fern müsse Gerechtigkeit widerfahren …«

»Damit wären wir fast schon beim Thema«, unterbrach ihn Wilson.

»Wie meinen Sie das?«, fragte der Bischof irritiert, »soll das Geld etwa Missbrauchsopfern zugutekommen?«

»Hier liegt ein Missverständnis vor, Hochwürden. Es geht zwar um eine Schenkung, aber mein Mandant wird der Be- schenkte sein und Sie werden der grosszügige Gönner sein.«

Bischof Miguel Mateo Degollado verrutschte das Gesicht: »Ich verstehe nicht, wie war Ihr Name?«

»Sagt Ihnen der Namen Juan Pérez etwas?«

»Nein«, antwortete der Bischof wie aus der Pistole ge- schossen.

»Überlegen Sie, lassen Sie sich Zeit, ich gebe Ihnen ein paar Anhaltspunkte. Sie waren als Priester Vorsteher des bischöf- lichen Priesterseminars Nikolaus von Myra. Keine Er- innerung?«

»Natürlich erinnere ich mich.«

»Sie waren für die Lebens- und Ausbildungsgemeinschaft der Seminaristen verantwortlich.«

»Worauf wollen Sie hinaus?«

 

»Einer Ihrer damaligen Seminaristen hat sich gegen das Zölibat entschieden.«

»Das kommt vor.«
»Nachdem Sie ihn jahrelang vergewaltigt haben.«
»Oh« machte der Bischof und wusste nicht mehr, in welche

Richtung er schauen sollte.
»Auch das kommt vor, nicht wahr?«
»Haben Sie Beweise?«, fragte der Bischof leise und starrte

Wilson an, als wolle er gleich über ihn herfallen. In diesem Augenblick betrat Schwester Bernadette das Arbeitszimmer, was ihn sichtlich nervös machte. Sie schenkte beiden Kaffee ein, stellte das Gebäck in die Mitte des Tisches und verliess nach einer kleinen Verbeugung den Raum.

»Soll ich für den Mittagstisch ein weiteres Gedeck auf- legen?«, fragte sie.

Der Bischof machte eine abwehrende Handbewegung. Wilson schien, dass er dabei leicht zitterte, er nahm einen Schluck Kaffee, schmeckte hervorragend. Er nickte dem Bi- schof anerkennend zu und sagte, Gott meine es wirklich gut mit ihm. Dieser ging nicht darauf ein und schob den Teller mit dem Konfekt angewidert über den Tisch, als wolle er sagen, Wilson solle das ganze Zeug fressen und dann verschwinden. Als Schwester Bernadette die Tür hinter sich geschlossen hatte, fragte er erneut, ob er Beweise habe.

Wilson nahm das schwarze iPhone 14 aus seiner Tasche und spielte ein Audiofile ab. Das Audiofile. Man hörte, wie der junge Juan Pérez während der Probefahrt seine Erlebnisse schil- dert. Der junge Mexikaner beschrieb auch das markante Geschlechtsteil des Bischofs.

»Vor Gericht«, sagte Wilson mit gespieltem Bedauern, »müssten Sie natürlich Ihren kleinen Mann entblössen. Ihr

Leberfleck ist so einmalig wie eine Tätowierung. Falls die Rän- der nicht scharf abgegrenzt sind, sollten Sie allerdings einen Dermatologen aufsuchen. Da helfen keine Gebete mehr. Aber dem Richter ist die Farbe Ihres Schwanzes egal. Er soll auf- fallend hässlich sein und gekrümmt wie ein Bischofsstab. Dafür hat er beinahe die Masse eines Eselspenis. Für ein derart monströses Ding bräuchten Sie eigentlich einen Waffenschein. Sie sollten sich schämen. Und mit diesem Monstrum haben Sie den damals minderjährigen Juan Pérez vergewaltigt? Er war noch ein Kind, Hochwürden! Was sagt der liebe Gott dazu? Hat er zugeschaut und sich dabei einen runtergeholt? Oder war er gerade in Urlaub?«

»Pendejo!«, schrie der Bischof und sprang von seinem Stuhl auf, »Sie wissen nicht, mit wem Sie sich anlegen!«

»Pendejo?«, fragte Wilson, »ohne Untertitel kann ich Sie schlecht verstehen.«

»El cabrón! Sie mieser kleiner Erpresser!«

»Was für ein hässliches Wort, Hochwürden, ich bin ein einfacher Geschäftsmann und versuche als Anwalt einem armen Jungen zu helfen.«

»Okay, 5000 Euro? Das ist der weltweite Standard.«
»Wir dachten eher an 250 000 Euro.«
»Vor ein paar Tagen waren es noch 100 000.«
»Die Inflation kennt kein Erbarmen, Hochwürden, mor-

gen ist es bestimmt mehr.«
Degollado verwarf die Hände und gluckste hysterisch:

»Woher soll ich eine Viertelmillion nehmen?«
»Sie verdienen im Jahr 245000, um Dinge zu verkaufen,

die es gar nicht gibt. Stellen Sie sich vor, BMW verkauft Autos, die es gar nicht gibt und die Lufthansa verkauft Flüge zu Des- tinationen, die auf keiner Landkarte vermerkt sind. Wer für solche Fakenews 245000 im Jahr verdient, bezieht einen fürst- lichen Lohn.«

»Damit bestreite ich meinen Lebensunterhalt«.

»Die Frau von der Tankstelle verdient diese Summe in zehn Jahren, obwohl sie im Gegensatz zu Ihnen reale Dinge verkauft, Hüttenkäse, Chips und Dosenbier.«

»Ich habe Unkosten, Miete, Köchin, Sekretär, Chauf- feur …«

»Das alles bezahlt der Staat beziehungsweise die Verkäuferin an der Kasse mit ihren Kirchensteuern.«

Degollado schwieg eine Weile.

»Wahrscheinlich bitten Sie gerade den Heiligen Geist um Erleuchtung, aber wenn ich kurz unterbrechen darf …«

Plötzlich wirkte er furchtlos und entschlossen: »Ich werde zur Polizei gehen …«

»Das ist eine gute Idee, denn bei einer Selbstanzeige erhält man Rabatt. Statt 12 Jahre nur noch zehn. Aber zuvor geht Ihr Pimmel auf Tournee, Fotoshooting bei der Untersuchungs- behörde, Demos vor dem Gerichtssaal …«

»Wurde Kardinal Georgette Pell in Australien etwa ver- urteilt?«, stiess er hervor.

»Ja, er wurde zu sechs Jahren verurteilt.«

»Davon hat er dreizehn Monate abgesessen, darauf wurde er vom obersten Gericht in Brisbane freigesprochen. Also, pa- cken Sie ihr Handy ein und machen Sie, dass Sie von hier ver- schwinden.«

Wilson blieb sitzen: »In Brisbane gab es kein Beweisvideo, in Ihrem Fall ist die Beweislage eine ganz andere. Wir haben ein Video. Wir haben sogar zwei Videos. Aufnahmen aus Me- xiko und eine Aufnahme von jetzt eben.«

Wilson zeigte auf die Brusttasche seines Hemdes. Darin steckte sein iPhone 13 mit dem Hofnarren auf dem Case, nur gerade das Kameraauge lugte hervor.

»Die Aufnahme läuft, seit ich Ihr Büro betreten habe.«

Der Bischof dachte fieberhaft nach. Wilson wollte behilf- lich sein: »Wurde der Kardinal Pell nach dem Freispruch wie- der überall mit offenen Armen empfangen?«

Der Bischof schlug die Faust auf den Tisch. Er hyper- ventilierte, schaute erneut wild in alle Himmelsrichtungen und schüttelte unaufhörlich den Kopf, als könne er es nicht fassen, dass er mit dieser alten Geschichte erpresst wurde.

»Na? Wieder online mit Ihrem unsichtbaren Freund da oben?«

Hochwürden schwieg und presste die Lippen zusammen. Es hatte ihm die Sprache verschlagen.

»Herr Degollado, im Grunde genommen geht es um Ma- thematik. Wenn Sie verurteilt werden, verlieren Sie jährlich einen Lohn von 245000 Schweizer Franken. Unser kleiner Juan Pérez verliert gar nichts. Wenn Sie bezahlen, haben wir eine klassische Win-Win-Situation: Der kleine Juan erhält eine Viertelmillion und Sie erhalten weiterhin jedes Jahr eine Viertelmillion Lohn. Lehrt man auf dem Priesterseminar auch Mathematik oder nur Science-Fiction? Sie entscheiden jetzt, ob Sie weiterhin wie ein mittelalterlicher Fürst hier oben auf dem Felsen residieren oder ob Sie sich bis ans Ende Ihrer Tage in Somaliland verkriechen. Das ist durchaus eine Alternative. Die Alten dort unten sprechen noch Italienisch, die Warlords und islamistischen Terrorgruppen verstehen ein paar Brocken Englisch. Vielleicht können Sie bei den Piraten als Seelsorger an- heuern. Aber wahrscheinlich werden diese Sie ausstopfen und als Galionsfigur an den Bug binden. Eine maritime Version von Jesus am Kreuz.«

Wilson erhob sich und verbeugte sich knapp: »Es ist Zeit, Busse zu tun, sprach der Herr. Also, setzen Sie Ihren Arsch in Bewegung und schicken Sie eine SMS, wenn das Geld bereit ist.«

Er nahm ein kleines Heft mit dem Titel Spe Salvi von einem Stapel, der auf dem Schreibtisch lag und notierte seine Telefonnummer auf das Cover. Der Bischof nahm das Büchlein und warf es demonstrativ in den Papierkorb. Drohend schaute er zu Wilson hoch und sagte leise, ein Mann müsse wissen, wann er zu weit gehe. Sagt Ihnen der Name Marcial Maciel Degollado etwas?«

»War Delgado nicht ein argentinischer Fussbalspieler?«

»Marcial Maciel Degollado! Er war mein Onkel. In mei- nen Adern fliesst sein Blut, das Blut der Degollados. Nehmen Sie sich in Acht. Was mein Onkel einst gesät hat, ist zu einem kräftigen Baum herangewachsen. Schon mancher ist von seinen Ästen erschlagen worden. Sie werden in der Hölle schmoren.«

»Dann freue ich mich auf das Wiedersehen. Spe Salvi, das ist unser Codewort, Hochwürden. Wenn Sie die SMS Spe Salvischicken, weiss ich, dass das Geld in Hundertfrankenscheinen bereitliegt. Ich hole es persönlich ab oder lasse es abholen. Sie erhalten das belastende Material und damit ist die Angelegenheit auch schon beendet. Deal or No Deal?«


Textprobe 1: Die ersten 14 Seiten


DIRTY TALKING. Die ersten 14 Seiten

133 Blick »Der Hosenteufel«

 

Im Jahr 2016 strich Mondelez drei der zwölf Berggipfel der Toblerone und reduzierte so das Gewicht von 400 auf 360 Gramm. Der Preis blieb unverändert. Bei Haribo verschwanden 25 Gramm Goldbärchen aus der Tüte. Bei gleichem Preis und unveränderter Verpackungsgrösse. In der Wirtschaft nennt man diese Schummelei «Shrinkflation», eine Kombination der englischen Worte «schrumpfen» und «Inflation».

 

Dass man etwas Kleines gross verpackt, um es imposanter erscheinen zu lassen, ist keine Erfindung der Nahrungsmittelindustrie in Zeiten der Inflation.

 

Im Mittelalter ging der «Hosenteufel» um, die sogenannte Schamkapsel, ein modischer Hosenlatz, der hinter dem handtellergrossen Stoffpolster ein Monstergehänge vermuten liess. Der Anblick versetzte den evangelischen Theologen und Reformator Andreas Musculus (1514– 1581) in Rage. Bei jungen Männern war dieser «Hosenteufel» sehr beliebt. Einige wählten gar eine Ausbuchtung in Bananen- oder Gurkenform und signalisierten damit Potenz und «allzeit bereit». Musculus verfasste eine Streitschrift gegen den «Hosenteufel». Das Buch wurde im entstehenden Buchmarkt zum Bestseller, bewirkt hat es nichts.

 

Eine verstärkte Schamkapsel wurde später auch bei der Herstellung von Rüstungen angebracht. Sie sollte die Genitalien schützen, da Pikeniere diesen Körperteil beim Stechen (frz. piquer) bevorzugten. Die metallischen Push-ups hatten einen weiteren Vorteil: Da auch Rüstungen rosten, konnte man die ovalförmig aufgesetzte Metallplatte zum Urinieren abnehmen.

 

Für das weibliche Geschlecht entwickelte der New Yorker Designer Israel Pilot während des Zweiten Weltkrieges einen Büstenhalter, der vergrösserte, was in diesem Umfang nicht vorhanden war. Er nannte diesen ersten Push-up-Büstenhalter «Wonderbra» und liess ihn 1941 patentieren. Nach mehreren Besitzerwechseln war es schliesslich die Designerin Louise Poirier, die 1961 den Wonderbra entwarf, wie wir ihn heute kennen. Je nach Anlass und gewünschtem Décolleté stehen verschiedene halbmondförmige Polsterungen zur Verfügung.

 

Push-ups gibt es heute für alle Geschlechter. Sie trösten über das hinweg, was man nicht hat – und der Humor (falls vorhanden) über das, was man wirklich hat. Frei nach Albert Camus.


© Blick, 17.3.2023

132 Blick »Wieso ich Tintin immer noch mag«

Heute vor 40 Jahren verstarb der belgische Zeichner Georges Remi (1907–1983) 76-jährig an Leukämie. Sein Künstlername: Hergé. Seine Figuren: Tim und Struppi. Mittlerweile wurden über eine Viertelmilliarde Alben in 133 Sprachen und Dialekten publiziert.

 

1957 scheinen Hergés ruhmreiche Tage gezählt. Der Journalist Pol Vandromme plant die erste Biografie. Hergé hat Angst, dass seine «schwarzen Jahre» (1940–1944) thematisiert werden. Denn während für die meisten Belgier die Jahre unter deutscher Besatzung zum Albtraum wurden, begannen für Hergé die «goldenen Jahre». Viele Künstler verweigerten sich den Nazis, «ils cassent leur plumes» (sie brechen ihre Federn). Hergé ersetzt sie alle und verdient viel Geld.

 

Nach dem Krieg steht Hergé wegen Kollaboration mit den Nazis vor Gericht. Man entzieht ihm die Bürgerrechte, er wird mit einem Berufsverbot belegt, doch er verbringt nur wenige Tage hinter Gittern: «too big to fail».

 

1959 kommt die Biografie «Le monde de Tintin» in die Buchläden. Pol Vandromme schreibt, Hergé habe den «Olymp der Literatur» betreten und vergleicht die Alben mit Werken von Hemingway, Hitchcock und Jules Verne. Er legt den Grundstein für die Errichtung eines belgischen Nationaldenkmals.

 

Vier Jahre nach Hergés Tod schliesst seine zweite Ehefrau Fanny Vlaminck die Hergé-Studios und gründet eine Stiftung. Sie pusht das Merchandising und treibt die Preise für Memorabilien. 2021 erzielt das Original-Titelbild des Bandes «Der Blaue Lotos» im Pariser Auktionshaus Artcurial einen Preis von 3,2 Millionen Euro.

 

Hergé hat Grossartiges geleistet, war aber als Mensch alles andere als grossartig. Für mich sind die Comic-Alben jedoch Erinnerungen an meine jurassischen Cousins. Als Kinder interessierten wir uns nicht für den Autor und als Erwachsene lieben wir vor allem jene Abenteuer, die wir damals verschlungen haben. Weil nur sie die Erinnerung wiederbeleben.

 

Wer die Tintin-Alben in seiner Kindle-Bibliothek hat, erhält laufend «Updates»: Anpassungen an den ständig wechselnden Zeitgeist, bis Kinder schliesslich glauben, Kapitän Haddock hätte politisch korrekt geflucht und die Zeit nach Kriegsende sei genauso humorlos, intolerant und spiessig gewesen wie die Gegenwart.

131 Blick: »Manchmal muss man lügen«

In der römischen Antike prägte man meistens den Kopf des Kaisers auf die Denare und die Sesterze. Das war nicht immer so. In den Anfangszeiten zierten Tiere oder Gottheiten die Münzen. Die Abbildung von lebenden Menschen galt als Blasphemie. Ptolemaios I., der Nachfolger von Alexander dem Grossen, beendete diese Tradition und setzte sein Porträt auf den Goldstater.

Fortan war es üblich, dass Könige und Staatsoberhäupter ihr Konterfei auf Münzen und später auf Banknoten abbildeten. Auch der französische König Louis XVI. hatte sein markantes Gesicht auf Münzen prägen lassen. Als er 1791 als Kammerdiener verkleidet aus dem revolutionären Paris floh, endete seine Flucht in Varennes. Der Sohn des Postmeisters hatte ihn erkannt. Anhand der monströsen Nase auf den Münzen.

Auf der ersten schweizerischen Banknotenserie (1907) war auf allen vier Notenwerten das naheliegendste Motiv: die Helvetia. Die 6. Banknotenserie (1976) war historischen Persönlichkeiten gewidmet und mit der 9. Banknotenserie (2016) verzichtete man auf die Abbildung von Menschen. Es sollte nicht mehr die Vergangenheit thematisiert werden, sondern die Zukunft. Design statt Historie. Vielleicht wollte man unnötige Debatten vermeiden. Wer ziert die 1000-Franken-Note, wer die 10-Franken-Note?

Auch die EU hatte damals ein Problem. Es gab mehr Mitgliedstaaten als Wertnoten. Sollte man den Eiffelturm, das Kolosseum oder die Akropolis abbilden? Am Ende entschied man sich für fiktive Bauwerke.

Bald werden solche «Probleme» Geschichte sein. Die Europäische Zentralbank (EZB) erwägt die Einführung des digitalen Euro für 2026. Die Pandemie hat aus hygienischen Gründen bargeldloses Bezahlen gefördert. Bei Strommangellagen wird man Bargeld wieder mehr schätzen. Karte oder Cash? Es geht darum, dass die Bevölkerung die Wahl hat und entscheiden kann, wie viel Privatsphäre sie aufgeben will. Die EZB verspricht zwar Wahlfreiheit, aber von Jean-Claude Juncker, dem früheren Präsidenten der EU-Kommission, wissen wir: «Manchmal muss man lügen.»

Sobald der Detailhandel kein Bargeld mehr annimmt und Banken keins mehr ausgeben, haben wir keine Wahl mehr, und der Staat hat per Mausklick Zugriff auf die Sparguthaben der Bevölkerung.

Weltwoche: Hollywood in Kiew

Hollywood in Kiew

Der ehemalige Schauspieler Wolodymyr Selenskyj brilliert in seiner Rolle als Kriegspremier. Doch wo Licht ist, fallen auch Schatten.

9.2.2023

Claude Cueni

 

Wolodymyr Selenskyj, 45, wächst in einer privilegierten Akademikerfamilie auf, schliesst ein Studium der Rechtswissenschaften ab und gibt bereits mit achtzehn Jahren sein Fernsehdebüt als Moderator einer Kochshow. Schon bald tourt er als Komiker mit seinen Kumpels durch Russland und die Ukraine und gründet das Kabarett Kvartal 95. 2010 beschäftigt seine Produktionsgesellschaft Studio Kvartal 95 bereits zehn Schauspieler und 26 Texter und Hilfskräfte. Die Sketche sind auf Russisch verfasst. Mit seinen TV-Serien («Diener des Volkes»), Slapstick-Auftritten und Parodien von Politikern wird er in beiden Ländern zum Star der TV-Unterhaltung.

«Ich brauche Munition»

Der Neumillionär spendet für die marode ukrainische Armee und ermuntert Soldaten im Kampf gegen die Separatisten im Donbass: «Danke, dass Sie unser Land gegen diesen Abschaum verteidigt haben.» Darauf ist er in Russland unerwünscht. Nach dem Verlust des russischen Marktes schrumpft sein Einkommen um 80 Prozent. Er sagt, die Russen hätten ihm den Beruf gestohlen. Er, der von einem Magazin zum schönsten Mann des Landes gewählt worden war, beschliesst, seine unglaubliche Popularität für den Eintritt in die Politik zu nutzen.

Er kandidiert. Gemeinsam mit seinen Textern entwirft er einen ähnlichen Wahlkampf wie seinerzeit Ferdinand Marcos auf den Philippinen. Er meidet TV-Debatten, denn er hat noch kein politisches Programm – ausser, gewählt zu werden. Er gibt kaum Interviews, denn ohne Skript ist er – wie andere Schauspieler auch – aufgeschmissen. Er setzt voll auf Social Media, die von seinen Textern professionell bespielt werden. Es werden kaum politische Inhalte vermittelt (weil es keine gibt), sondern Emotionen und Pathos und «Slava Ukraini», Ruhm der Ukraine, und so weiter. Einen Tag vor der Wahl stellt sich Selenskyj dann doch einem TV-Duell mit dem amtierenden Präsidenten Petro Poroschenko. Tagelang hatte ihn sein Team mit fiktiven Fragen trainiert. Schauspieler Selenskyj löst die Aufgabe mit Bravour.

2019 gewinnt er mit rund 73 Prozent der Stimmen die Präsidentschaftswahlen. Einige seiner Kumpels folgen ihm in den Palast, sie sind jung, fotogen und grösstenteils politisch unerfahren, inländische Medien nennen sie «Soros Youngster», einige waren bisher Texter in Selenskyjs Filmimperium. Nach Putins Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 zeigen sie, was sie draufhaben. PR-Storys und zitatfähige Sätze, das beherrschen sie aus dem Effeff. Das mutige Statement «Ich brauche Munition, keine Mitfahrgelegenheit» macht Selenskyj schlagartig zum internationalen Helden. Täglich liefern seine Texter filmtaugliche Reden, die bald in Buchform erscheinen, «Kriegsreden Februar bis März 2022», Fortsetzung folgt.

Einmal Showbiz, immer Showbiz. Immer öfter erhält man den Eindruck, Schauspieler Selenskyj wähne sich als Hauptdarsteller in einem B-Movie. Während Abertausende auf den Schlachtfeldern eines vermeidbaren Krieges sterben, posiert Selenskyj mit Ehefrau Olena Selenska, 45, für das Modemagazin Vogue, Olena gar vor Kriegskulissen. Selenskyj lädt Hollywoodschauspieler nach Kiew ein. In Anlehnung an den berühmten «Walk of Fame» in Los Angeles weiht er in Kiew eine ukrainische Variante für ausländische Besucher ein. Bei unzähligen westlichen Anlässen wird er auf Grossleinwänden zugeschaltet und erntet stets Standing Ovations. Gerne vergleicht er sich mit dem von ihm bewunderten Ronald Reagan, kein Vergleich ist zu gross, schon gar nicht ein Vergleich mit Winston Churchill, der mit seinem zwölfbändigen Memoirenwerk 1953 immerhin den Nobelpreis für Literatur erhielt. Groteske Übertreibungen, Pathos, grandiose Selbstüberschätzungen und Nationalstolz gehören zur russisch-ukrainischen DNA.

Immer wieder sucht der 1,70 Meter grosse Schauspieler das internationale Scheinwerferlicht auf Celebrity- und Entertainment-Plattformen, um sich an die Welt zu wenden. Die Reden seiner Texter, mittlerweile über 150, sind hochprofessionell. Am Filmfestival in Cannes würdigt er via Videoschaltung die Rolle des Spielfilms gegen Diktaturen, jeder kriegt, was er hören will. In Katar schafft er den Auftritt dennoch nicht, denn der russisch-ukrainische Bruderkrieg ist nicht dessen Krieg, und ausserhalb der westlichen Welt ist die Sicht der Dinge eine ganz andere. Das ist nicht unser Krieg, sagen auch die Afrikaner.

Autoritärer Umgang mit Weggefährten

Selenskyj drängt auf die Aufnahme in die EU, obwohl das total korrupte Land die Kopenhagener Aufnahmekriterien von 1993 nicht ansatzweise erfüllt: stabile Demokratie, funktionierender Rechtsstaat, konkurrenzfähige Marktwirtschaft. Eine Mitgliedschaft entspräche zirka achtzehn griechischen Fässern ohne Boden. Selenskyjs Umgang mit alten Weggefährten und Journalisten wird im Laufe des Krieges ruppig und autoritär. Hire and fire. Um ihn herum gibt es nur noch Schleudersitze. Selenskyj friert Privatvermögen von Parlamentariern ein, entzieht einigen die Staatsbürgerschaft, schliesst TV-Anstalten, verbietet oppositionelle Vereine. Kvartal-95-Kollege Alexander Pikalow nennt ihn einen «emotionalen Vulkan». Wie nicht wenige Komiker teilt Selenskyj gerne deftig aus, reagiert aber selber hyperempfindlich auf Kritik. Insbesondere, wenn sie von Kvartal 95 kommt.

«Selenskyjs geheime Geschäfte»

Ehefrau Olena, auch sie eine Texterin, kritisiert die ehemaligen Weggefährten: «Humor muss wahr sein.» Der ehemalige Aussenminister Litauens, Linas Linkevicius, sagt: «Die Ukraine wird Ländern ähneln, in denen man die Opposition ins Gefängnis wirft.» Als das Verfassungsgericht auch noch den Korruptionsbeauftragten vor die Tür setzt, melden die USA und die EU, dass weitere finanzielle und militärische Hilfen gefährdet sind. Aus gutem Grund.

Im Oktober 2021 wurden damals zwölf Millionen Dokumente («Pandora Papers») von einem internationalen Netzwerk investigativer Journalisten geleakt. Es ging um Briefkastenfirmen, Geldwäsche, Steuervermeidung und Steuerhinterziehung. 600 Journalisten aus 117 Ländern veröffentlichten die Namen von 29 000 Personen. Die meisten stammten aus der Ukraine. Selenskyj hatte während des Wahlkampfes den amtierenden Staatspräsidenten Poroschenko kritisiert, weil dieser Briefkastenfirmen in Steueroasen unterhielt, nun offenbarten die Pandora Papers, dass auch Selenskyj solche Firmen betrieb.

Der Doku-Film «Offshore 95» thematisierte «Selenskyjs geheime Geschäfte». Die Premiere in der Ukraine wurde vorerst auf Druck des Geheimdienstes SBU in letzter Minute abgesagt, der Film später dann doch noch gezeigt. Menschenrechtsorganisationen schlugen Alarm. Die EU warnte, die Redefreiheit dürfe nicht gefährdet werden, wiederholte jedoch nach Putins Überfall das Mantra, wonach ausgerechnet die Ukraine, der es an Rechtsstaatlichkeit fehlt, die Freiheit des Westens verteidige. Man fürchtete eine Abnahme der westlichen Solidarität. Zu Recht, denn immer mehr Politiker, die Milliarden Steuergelder in die Ukraine überwiesen, hegten Zweifel, ob Gelder und militärisches Gerät auch wirklich am Bestimmungsort ankamen. Dass russische Offiziere Kriegsmaterial entwenden und über das Darknet weiterverkaufen, ist schon länger bekannt. Dass dies auch eine Unsitte ukrainischer Offiziere ist, weiss man mittlerweile, seit gelieferte US- und Nato-Waffen bei kriminellen Clans in Schweden aufgetaucht sind.

Bis vor kurzem fand die Empörung hinter verschlossenen Türen statt, und wer die Korruption thematisierte, galt als Putin-Propagandist. Seit Selenskyj im Januar eine ganze Reihe hochrangiger Regierungsmitglieder wegen Verdachts auf Korruption entliess, ist das Thema nun auch im Mainstream angekommen. Dass er kurz vor dem Eintreffen von EU-Chefin Ursula von der Leyen und ihrer Entourage medienwirksam eine Hausdurchsuchung bei seinem milliardenschweren Wahlkampf-Financier und Freund Ihor Kolomojskyj durchführen lässt, sieht eher wie eine Medienshow aus dem Studio Kvartal 95 aus. Wieso erst jetzt? Kolomojskyj steht nicht erst seit gestern auf der Sanktionsliste der USA und hat ein Einreiseverbot. Die Opposition unterstellt Selenskyj, dass er bei seinem plötzlichen Kampf gegen die Korruption nicht nur die Zweifel der EU ausräumen wolle, sondern bei dieser Gelegenheit auch missliebige Gegner ausschalte, die ihm bei den nächsten Wahlen gefährlich werden könnten. Korruption gehört seit Generationen zur DNA der russisch-ukrainischen Kultur, sie lässt sich nicht innert weniger Jahre ausmerzen. In den geleakten Pandora Papers sind ukrainische Politiker die korruptesten von allen. Dann folgen Russland, Belarus und andere Oststaaten.

Selenskyj lässt nichts unversucht, um die Nato in den Konflikt zu ziehen. Bei jedem Treffer mit westlichen Waffen betont er den Lieferanten, um Putin mitzuteilen, dass im Grunde genommen die Nato und die USA gegen ihn Krieg führen. Als zwei Abwehrraketen russischer Bauart auf dem Staatsgebiet des Nato-Mitglieds Polen niedergehen, will er einen Bündnisfall herbeireden und behauptet trotzig, Russland habe Polen angegriffen, obwohl selbst ukrainische Generäle die von amerikanischen Satelliten widerlegte Story bestätigen.

Wieso nicht verhandeln?

«Never give up» ist bei einem Verteidigungskrieg das Gebot der Stunde, der ukrainische Widerstand verdient grössten Respekt, aber Selenksyj will mittlerweile mehr. «Ich fühle Hass, ich will mich rächen», sagt er einem Journalisten und fordert Langstreckenwaffen, die auch Moskau in Schutt und Asche legen können. Er bekommt GLSDB-Raketen mit einer Reichweite von 150 Kilometern mit der Auflage, diese nicht zu benützen, um russisches Territorium anzugreifen. Selenskyj verspricht, sich daran zu halten, im gleichen Atemzug widerspricht sein enger Berater Mychajlo Podoljak.

Helmut Schmidt sagte einst: «Lieber hundert Stunden umsonst verhandeln als eine Minute schiessen.» Es ist eine sehr bittere Wahrheit, dass man sich am Ende doch noch mit dem Aggressor an den Verhandlungstisch setzen muss. Wieso nicht gleich?

Angesichts des enormen Leids, dass die ukrainische Zivilbevölkerung erleiden muss, fällt es schwer, die Schattenseiten eines Helden zu thematisieren. Aber Propaganda haben wir im Überfluss. Und zwar auf beiden Seiten.

 

130 Blick »Klimamodel als Tischdekoration«

Greta Thunberg, das Original, Dramaqueen Luisa Neubauer, die deutsche Kopie, und Helena Gualinga, die Professorentochter aus Ecuador, haben eines gemeinsam: Sie gehören zu den Rich Kids, die bereits den halben Planeten bereist haben und in ihrer Jugend alles genossen haben, was die alten weissen Männer von heute erforscht und produziert haben.

Sie sind jung, attraktiv und weiblich, werden mit Auszeichnungen überhäuft, posieren als Models in Hochglanzmagazinen und jetten mit ihren Hausfotografen von einer Uno-Klimakonferenz zur nächsten, um den Menschen zu sagen, dass sie aufs Fliegen verzichten sollten. Sie posten in den sozialen Medien, dass sie «nur hier sind, um zu sagen, dass der Klimawandel real ist». Wahrscheinlich hat das mittlerweile bereits jeder Schneehase in der sibirischen Tundra mitbekommen.

Wem gilt also die Message? Oder müssen sie diese endlos wiederholen, bis die Gesellschaft, die nicht ihre Anliegen, sondern ihre zunehmend extremistischen Aktionen, ablehnt, reagiert?

Lautstarke Proteste, die in Hotel Mama zum Erfolg führten, verpuffen in der Öffentlichkeit, weil kaum jemand die selbstbewussten Prinzessinnen für Koryphäen hält. Sie selbst gestehen, sie würden nicht so viel vom Thema verstehen, sie würden deshalb lediglich die Wissenschaft zitieren, aber ausgerechnet sie sind es, die unter den zahlreichen Klimamodellen den Algorythmus auswählen, der «die schlimmste Prognose» macht. Wieso laden die Veranstalter von Umweltkonferenzen nicht ausschliesslich die Originale ein? Sind die Klima-Models etwa nur Tischdekoration?

Halb so schlimm. Um mehr Follower zu generieren und den Marktwert zu steigern, sind Selfies auf der internationalen Bühne immer hilfreich, Flirts mit der Antifa hingegen weniger.

Wieso die Klimabewegung von jungen Frauen dominiert wird, liegt nicht nur daran, dass Medien lieber attraktive Frauen porträtieren, sondern auch daran, dass sich die meisten Softies der Z-Generation kaum mehr getrauen, eine Führungsrolle zu beanspruchen, zu gross ist die Angst, mit dem Vorwurf der toxischen Männlichkeit konfrontiert zu werden. Auch innerhalb der Klimabewegung sind die Fettnäpfchen mittlerweile grösser als die Schlammfelder von Lützerath.

DIRTY TALKING. Die ersten 14 Seiten

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Wie dumm, dass Sie dieses Buch gekauft haben. Es ist bestimmt nicht das, was Sie suchten. Eigentlich ist Dirty Talking eine Dienstleistung von Prostituierten. Einige Kunden mögen das, weil sie sich zu Hause nicht getrauen zu sagen: »Komm her, du geile Schlampe. Ich will dich ficken.« Unter dem Druck der Political Correctness wächst auch in der gehobenen Gesellschaft der Wunsch nach Dirty Talking abseits des Rotlichtmilieus. Gebildete Menschen, die sich eloquent und höflich ausdrücken, kriegen vor lauter Political Correctness einen dicken Hals, dann platzt ihnen der Kragen und ihr Wortschatz fällt vorübergehend in jene prähistorischen Zeiten zurück, als man sich noch mit Grunzen und Drohgebärden verständigte. Wie Tourette-Kranke posaunen sie nach Einbruch der Nacht das Repertoire von Dirty Talking heraus. Sie tun dies in den privaten Salons, wo man die guten Manieren an der Garderobe abgibt. Sie versammeln sich in Debattierclubs mit Gleich- gesinnten wie damals die Republikaner vor Ausbruch der Französischen Revolution. Sie flüstern sich Dinge ins Ohr und sagen, das dürfe man nicht mehr laut sagen. Sie unterhalten sich über Bücher wie dieses hier: Dirty Talking. Und falls Sie es nicht mögen: I give a shit!

PS: Beinahe hätte ich etwas vergessen. In diesem Buch werden oft Kraftausdrücke benutzt, die Sie irritieren oder gar verletzen könnten. Don’t worry. Fluchen setzt physische Kräfte frei, man wird schmerzresistenter. Steckt man Sie kopfvoran in eine Kloschüssel, halten Sie es etwas länger aus, wenn Sie dabei fluchen. Neurologen haben das mit Eiswasser getestet. Im Vergleich mit der Kontrollgruppe hielten es Fluchende fünf Minuten länger aus. Fünf Minuten können eine Ewigkeit sein. Seien Sie also nachsichtig, wenn einige Leute in diesem Buch fluchen, was das Zeug hält. Der Mensch ist nicht perfekt, ich bin es auch nicht. Manchmal erleben wir einen richtig beschissenen Tag und man wünscht sich, man wäre nie geboren. Wir alle kennen diese Anspannung, die wie ein Tsunami unseren Körper flutet. Es wäre in diesem Augenblick unmenschlich, keine vulgären Flüche auszustossen. Lassen Sie ihre Wut raus, bevor Sie implodieren. Das ist ein spontaner Reflex, ein uralter evolutionärer Reflex, der im ruchlosen Teil unseres Gehirns entsteht. Wir teilen ihn mit allen anderen Primaten, Säugetieren und Echsen, er löst Freude, Wut, Angst, trompetenhafte Fürze, Kampfbereitschaft oder Fluchtbewegungen aus. Die Herzfrequenz schiesst in den roten Bereich. Würden wir keine Socken tragen, könnten wir sehen, wie der Angstschweiss zwischen unseren Zehen trieft. Fluchen jagt Blut und Adrenalin durch unsere Venen, es schiesst in alle Extremitäten und so ertragen wir ihn besser, diesen ganzen Scheiss, den uns das Leben dauernd in die Fresse haut.

Fluchen Sie ungeniert! In diesem Buch wird gleich auf Deutsch, Englisch und Spanisch geflucht. Spanisch? Ja, denn die beiden Mexikaner sprechen spanisch. Was zum Teufel suchen Mexikaner in der Schweiz? Und ausgerechnet in Basel. Hatte sich Bobby Wilson auch gefragt. Dirty Talking ist seine Geschichte und ich werde sie erzählen, so, wie sie mir Bobby Wilson erzählt hat. An der jordanisch-israelischen Grenze. Es ist keine alltägliche Geschichte. Als Wilson mittendrin steckte, hatte er keine Ahnung, was die beiden Mexikaner im Schilde führten. Ich weiss es mittlerweile und werde es Ihnen nicht vorenthalten. »What the fuck!«, hatte Bobby Wilson Pote Valdez ins Gesicht geschrien, »ihr könnt mich doch nicht einfach entführen!«

»La boca« hatte Pote gebrummt und ihm eine Kopfnuss verpasst. »La boca« bedeutet so viel wie »Klappe halten«. Was mit Bobby Wilson geschah, ist auch deshalb eine ungewöhnliche Geschichte, weil er ursprünglich Gutes tun wollte. Doch bald darauf steckte er bis zum Hals in der Scheisse. Und das ist seine Geschichte:

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Bobby Wilson wurde am neunten Dezember 1972 im Zürcher Hallenstadion gezeugt. Der Saal war stockdunkel und proppenvoll. Aus den monströsen Lautsprecherboxen dröhnten dumpfe Schläge, Herzschläge, aber es waren nicht die von Bobby Wilson. Die Leute wurden unruhig, einige begannen zu schreien, sie hielten es kaum noch aus. Immer diese monotonen Herzschläge. Die meisten waren bereits so zugedröhnt, dass sie regelrecht ausflippten. Plötzlich wurde der Saal mit grellen Scheinwerferlichtern geflutet und auf der Bühne standen die vier späteren Legenden David, Nick, Roger und Rick an der Orgel. Die britische Rockband tourte durch Europa und die damals 30-jährigen Hippies Jamie und Jolene hatten eine Menge Joints eingepackt und waren ihnen gefolgt. Sie wollten dieses endlos lange Musikstück hören, das mit einem Herzschlag beginnt. Damals, im Winter 72 in Zürich, spielten Pink Floyd eine frühe Version ihres späteren Welthits »Dark Side of the Moon«. Sie sangen, dass der Mond keine dunkle Seite habe, dass er in Wirklichkeit ganz dunkel sei (»There is no dark side of the moon, really; as a matter of fact it’s all dark«) und Jamie und Jolene hatten Sex, mitten in der Menge, wie einst in Woodstock und niemand störte sich daran. Als das Konzert zu Ende war, lagen Jamie und Jolene ermattet von der Liebe inmitten von leeren Bierdosen, Zigarettenstummeln, Unterwäsche und ausgelatschten Espadrilles. Ihnen war etwas widerfahren, dass Normalsterbliche nur aus Komödien kennen. Während die Bühne abgeräumt wurde, stand Jamies’ Penis immer noch wie ein Laternenpfahl und schmerzte grauenhaft. Nach einer halben Stunde bat Jolene die Garderobiere, ihnen ein Taxi zu bestellen. Sie fuhren auf die Notfallstation des Zürcher Universitätsspitals. Die Ärzte diagnostizierten einen Fall von Priapismus, eine schmerzhafte Dauererektion. Mit einer Phenylephrin-Spritze brachten die Notärzte das Ding zum Erschlaffen. Jamie wurde einem Bluttest unterzogen und musste unzählige Fragen beantworten. Nachdem alle möglichen Ursachen ausgeschlossen worden waren, blieb nur noch eine Hypothese übrig: Priapismus in Verbindung mit einer Überdosis Cannabis. Der Fall war damals so aussergewöhnlich, dass er sogar im amerikanischen »Journal of Cannabis Research« aus- führlich dokumentiert wurde. Angeblich reisten einige Ärzte vom »Coliseum Medical Centers« aus dem US-Bundesstaat Georgia nach Zürich, um mehr zu erfahren. Die forschenden Spesenritter vermuteten damals, dass durch übermässigen Marihuanakonsum die Blutgefässe derart erweitert werden, dass die Mutter aller Erektionen entstehen könne. Ein Inhaltsstoff der Pflanze bewirke aber, dass jene Signale des Gehirns ausgeschaltet werden, die normalerweise Erektionen wieder be- enden. Die US-Delegation reiste vergebens an. Jamie und Jolene waren bereits weitergezogen und hatten sich zum ersten schweizerischen Love-in (nach kalifornischem Vorbild) in Birmenstorf, einem kleinen Dorf im Kanton Aargau, nieder- gelassen. Dort, an der Badenerstrasse, lebten ein Dutzend Hippies. Sie lasen Hermann Hesse, Jack Kerouac, Gandhi und das Magazin Konkret, die »Polit-Porno-Postille« und Onanievor- lage der 68er, der Playboy für Linke, verdeckt subventioniert von der DDR. Chefredakteurin war zeitweise eine Ulrike Meinhof, die spätere RAF-Terroristin, die mit Bomben- anschlägen einen Volksaufstand auslösen wollte, aber lediglich schärfere Gesetze bewirkte. Im Keller der Liegenschaft übte eine Band, im ersten Stock war ein Matratzenlager, das nach verwesten Fischen stank. Bobby Wilson kam während einer Jam-Session im verwilderten Vorgarten zur Welt. Fast alle halfen bei der Geburt mit, einige waren allerdings zu bekifft. Shorty übernahm den Lead, denn er hatte Medizin studiert, doch Bobby Wilson weigerte sich, diese beschissene Welt zu betreten. Er versuchte, sich mit der Nabelschnur zu erdrosseln. Shorty schrie verzweifelt, er hätte damals das Studium abgebrochen, das sei alles ganz neu für ihn. Die alte Nachbarin, die hinter ihren Gardinen alles beobachtet hatte, humpelte aus dem Haus, schubste Shorty beiseite und kniete vor Jolene nieder. Sie hiess Agathe Bruhin und es war ausschliesslich ihr zu verdanken, dass Bobby Wilson die Welt einigermassen unbeschadet erblickte und es ist ihr besonders hoch anzurechnen, weil ihr Ehemann, ein Stammgast im »Gasthof zum Bären«, die »Langhaardackel« an der Badenerstrasse als »faule Säcke«, und »Schmarotzer« beschimpfte. Das hatte Jamie und Jolene nicht weiter gestört, denn sie waren stolz, Teil einer jener Grossfamilien zu sein, die sich jenseits der bürgerlichen Kleinfamilie als politisches und künstlerisches Kollektiv verstanden, das ihrer Zeit weit voraus war. Die damalige Elterngeneration war genauso prüde und spiessig wie heutige Wokenesprediger. Im Laufe der Zeit realisierte Jolene, dass die Clique musizierender Kumpels sie nur für Spaghetti Bolognese, Sex und 90-Grad- Wäschen benutzte. Ihr Alltag unterschied sich kaum vom Leben der Agathe Bruhin, die in der Wohnstube eine ein- gerahmte Fotografie von General Guisan unter dem ge- kreuzigten Jesus aufgehängt hatte. Ab und zu schaute der nonkonformistische Volkskundler Sergius Golowin vorbei, eine helvetische Taschenbuchausgabe von Timothy Leary und pries die neuen Wohnformen als Oasen der Bewusstseinserweiterung. Mit Golowin kamen jeweils Gäste, die nur vorübergehend im Matratzenlager schliefen, ein bisschen Sex hatten und dann weiterzogen. Mittlerweile war die Zahl der »neuen Nomaden« im Westen auf über eine Million an- gewachsen. Sie liebten das Zigeunerleben (damals noch ein positiver Begriff) und verachteten einen festen Wohnsitz als verstocktes Spiessertum. Während in den umliegenden Dorfkinos immer noch »Easy Rider« lief, zogen Jolene und Jamie auf eine abgelegene Tessiner Alp, wo Gleichgesinnte sich im Gras paarten, während nackte Kinder von Geissen abgeleckt wurden. Weder den Geissen noch den Kleinkindern setzte man Grenzen. Erziehung galt als Folter, Sex mit einer festen Partnerin war reaktionär. Zur Abwechslung gab es auch Geissen und Kinder auf dem Berg. Das wurde erst 20 Jahre später publik, aber da einigen der pädophilen Grünalternativen der Marsch durch die Institutionen gelungen war, wehte in den Redaktionsstuben mittlerweile der Duft von Che Guevaras exklusiven Montecristo Zigarren.

Was den Tessiner Behörden nicht gelang, schaffte 1983 eine neuartige Krankheit: Aids. Der Tod raffte viele dahin. Bobby Wilson war damals zehn Jahre alt. Jolene und Jamie zogen nach Basel, weil sie dachten, dort würde man die beste medizinische Behandlung kriegen. Beide hatten sich mit HIV infiziert. Bobby Wilson besuchte die Schulen in Basel. Da er bisher mit seinen Eltern nur englisch gesprochen hatte, war die Integration schwierig. Er hatte später die eine oder andere Lieb- schaft, eine feste Partnerschaft hatte sich nie ergeben, sowas kannte er nur aus dem Kino. Er war durchaus auf der Suche nach etwas, aber er hatte keinen blassen Schimmer, was dieses Etwas hätte sein können. Dreissig Jahre später hatte er einen Plan. Jeder Mensch hat einen Plan, bis er eins in die Fresse kriegt. Zum Beispiel die Faust von Pote Valdez. Und das ist die Geschichte eines Mannes, der Gutes tun wollte:

weiterlesen mit eBook (ca. 10 Franken/Euro)

 

 

 

 

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Rezension »Dirty Talking« BZ Basel

River Suite im Grand Hotel Les Trois Rois

von Elodie Kolb, 25.1.2023

Bobby Wilson hat sich ganz schön etwas eingebrockt. Auf der Opel-Anlage wird er angeschossen und anschliessend aus dem Unispital Basel entführt. Doch der Reihe nach: Der Tausendsassa Bobby Wilson, Sohn zweier Hippies, befindet sich auf dem absteigenden Ast. Er verliert seinen Job bei einem Onlinemagazin – dem Nachfolgeprojekt einer Basler Wochenzeitung –, seine Dienste als Ghostwriter werden auch nicht mehr gebraucht und seine Karriere als Comedian kommt nicht in Fahrt.

Um in seiner Not an Geld zu kommen, hilft er einem Kumpel beim Autoverkauf auf dessen Opel-Anlage aus. Dort belauscht Wilson ein Paar bei einem Gespräch über einen Skandal eines Bischofs. In seiner Verzweiflung entscheidet er sich, die Information zu nutzen, diese treibt ihn aber zugleich in die Fänge zweier Mexikaner. In dem Thriller führt Claude Cueni den verzweifelten Bobby Wilson auf humorvolle und rasante Weise von Basel zum Bischof nach Mariastein bis hin zum Kunstfälscher Beltracchi nach Luzern.

 

129 Blick »Monopoly 1904: Landreform als Brettspiel

«Ich hoffe, dass Männer und Frauen schnell begreifen, dass ihre Armut daher kommt, dass Carnegie und Rockefeller mehr Geld haben, als sie ausgeben können.» Das schrieb 1904 die damals 38-jährige amerikanische Stenotypistin Elizabeth J. Magie, eine Quäkerin. Sie vertrat die Ideen des Ökonomen Henry George, wonach arbeitslose Einkünfte von Grundbesitzern verantwortlich für Armut und Verelendung der Nichtbesitzenden sei. Henry George forderte, dass man nur besitzen sollte, was man selbst kreiert hat und dass Land und Wasser allen Menschen gehören sollten. Elisabeth J. Magie entwarf, inspiriert von Georgismus, ein Multiplayer-Brettspiel, das sie 1904 unter dem Markennamen «The Landlord’s Game» zum Patent anmeldete. Da niemand das pädagogisch ausgerichtete Lernspiel lizenzieren wollte, brachte sie es 1906 im Selbstverlag auf den Markt. Das änderte nichts daran, dass die Leute beim Spielen nicht belehrt, sondern unterhalten werden wollen. Hätte Magie den Kids beim Murmelspiel zugeschaut, wäre ihr aufgefallen, dass ein Spiel nur funktioniert, wenn es Gewinner und Verlierer gibt. Das ist auch im Sport so.

Dem Verleger Charles Darrow (1889–1967) gefiel die Grundidee so gut, dass er sie stahl. Er änderte die Spielregeln radikal, liess das Game patentieren und produzierte 1934 das heute bekannte Monopoly. Sieger ist nun, wer alle Mitspieler plattgemacht hat.

Ein Jahr später kauften Parker Brothers dem Plagiator das Patent ab. Als die Firma erfuhr, dass alles nur geklaut war, kauften sie auch der mittellosen Erfinderin Elizabeth J. Magie ihr Patent für lumpige 500 US-Dollar ab.

Ridley Scott versuchte zwanzig Jahre lang einen Film über die «Gier der teuflischen Parker Brothers» zu realisieren. Die Financiers wollten jedoch eine «Aufsteigerstory». Mittlerweile ist eine Komödie «Monopoly» in Arbeit.

Heute gibt es zahlreiche Versionen mit Stadtplänen aus aller Welt oder fiktiven Orten aus Blockbustern wie «Jurassic Park» oder «Star Wars». Das Magazin «Mad» produzierte 1979 eine Version für Matheschwache: Sieger ist, wer zuerst pleite ist. Vielleicht folgt demnächst ein «Monopoly Woke» mit der Karte «Du hast eine Bratwurst gegessen und bezahlst zur Strafe jedem Spieler 100 Dollar.»

WEF Originaltext in deutsch

Willkommen im Jahr 2030. 

Ich besitze nichts, habe keine Privatsphäre, und das Leben war nie besser

Willkommen im Jahr 2030. Willkommen in meiner Stadt – oder sollte ich sagen: “unserer Stadt.” Ich besitze nichts. Ich besitze kein Auto. Ich besitze kein Haus. Ich besitze keine Geräte und keine Kleidung.

Es mag Ihnen vielleicht seltsam erscheinen, aber für uns in dieser Stadt macht das durchaus Sinn. Alles, was wir einmal als Produkt betrachteten, ist in unserer Welt zu einer Dienstleistung geworden. Wir haben Zugang zu Transport, zu Unterkunft, zu Nahrung und all den Dingen, die wir in unserem täglichen Leben benötigen. Nach und nach wurden all diese Dinge kostenlos, so dass es für uns am Ende keinen Sinn mehr machte, viel zu besitzen.

Zuerst wurde die gesamte Kommunikation digitalisiert und für alle kostenlos. Später, als saubere Energie kostenlos wurde, ging es schnell voran. Die Transportkosten sanken dramatisch. Es machte für uns keinen Sinn mehr, Autos zu besitzen, weil wir innerhalb von Minuten ein fahrerloses Fahrzeug oder ein fliegendes Auto für längere Fahrten rufen konnten. Als die öffentlichen Verkehrsmittel einfacher, schneller und bequemer als das Auto wurden, begannen wir, uns viel besser zu organisieren und zu koordinieren. Rückblickend kann ich kaum glauben, dass wir einmal verstopfte Straßen und Staus akzeptiert haben, ganz zu schweigen von der Luftverschmutzung durch Verbrennungsmotoren. Was haben wir uns dabei gedacht?

Manchmal benutze ich mein Fahrrad, wenn ich einige meiner Freunde besuche. Ich genieße die Bewegung und die Fahrt. Es bringt irgendwie die Seele mit auf die Reise. Komisch, dass manche Dinge nie ihre Spannung zu verlieren scheinen: Wandern, Radfahren, Kochen, Zeichnen und Pflanzenzucht. Das macht durchaus Sinn und erinnert uns daran, wie unsere Kultur aus einer engen Beziehung zur Natur entstanden ist.

Umweltprobleme scheinen weit weg

In unserer Stadt zahlen wir keine Miete, weil Andere unsere Räume nutzen, wenn wir sie nicht benötigen. Mein Wohnzimmer wird zum Beispiel für Geschäftstreffen genutzt, wenn ich nicht zu Hause bin.

Von Zeit zu Zeit, wenn ich für mich selbst kochen will, werden mir die notwendigen Küchengeräte innerhalb von Minuten an meine Tür geliefert. Seitdem der Transport von Waren kostenlos geworden ist, haben wir aufgehört, all diese Dinge in unser Haus zu stopfen. Warum sollten wir Kochtöpfe oder eine Kreppmaschine in unseren Schränken haben? Wir können sie einfach bestellen, wenn wir sie brauchen.

Das alles hat auch den Durchbruch der Kreislaufwirtschaft erleichtert. Wenn Produkte in Dienstleistungen umgewandelt werden, hat niemand ein Interesse an Dingen mit einer kurzen Lebensdauer. Alles ist auf Haltbarkeit, Reparierbarkeit und Recyclingfähigkeit ausgelegt. Die Materialien fließen in unserer Wirtschaft schneller und lassen sich recht einfach in neue Produkte umwandeln.

Umweltprobleme scheinen weit weg zu sein, da wir nur saubere Energie und saubere Produktionsmethoden nutzen. Die Luft ist sauber, das Wasser ist sauber, und niemand würde es wagen, die geschützten Gebiete der Natur anzurühren, weil sie einen solchen Wert für unser Wohlbefinden darstellen. In den Städten haben wir reichlich Grünflächen und überall Pflanzen und Bäume. Ich verstehe immer noch nicht, warum wir in der Vergangenheit alle freien Plätze in der Stadt mit Beton ausgefüllt haben.

Der Tod des Einkaufens

Einkaufen? Ich kann mich nicht wirklich erinnern, was das ist. Für die meisten von uns hat es sich in die Auswahl von Dingen verwandelt, die sie benutzen wollen. Manchmal macht mir das Spaß, und manchmal möchte ich einfach, dass der Algorithmus das für mich erledigt. Er kennt meinen Geschmack inzwischen besser als ich.

Als die KI und die Roboter so viel von unserer Arbeit übernahmen, hatten wir plötzlich Zeit, gut zu essen, gut zu schlafen und Zeit mit anderen Menschen zu verbringen. Das Konzept der Rush Hour machte keinen Sinn mehr, da die Arbeit, die wir tun, jederzeit erledigt werden kann. Ich weiß nicht wirklich, ob ich es noch Arbeit nennen würde. Es ist mehr wie Denkzeit, Schöpfungszeit und Entwicklungszeit.

Eine Zeit lang wurde alles in Unterhaltung verwandelt, und die Leute wollten sich nicht mit schwierigen Themen beschäftigen. Erst in letzter Minute fanden wir heraus, wie wir all diese neuen Technologien für bessere Zwecke nutzen konnten, als nur Zeit totzuschlagen.

Sie leben verschiedene Arten des Lebens außerhalb der Stadt

Meine größte Sorge sind all die Menschen, die nicht in unserer Stadt leben. Diejenigen, die wir auf dem Weg verloren haben. Diejenigen, die beschlossen haben, dass es zu viel wurde, all diese Technologie. Diejenigen, die sich rückständig und nutzlos fühlten, als Roboter und KI große Teile unserer Arbeit übernahmen. Diejenigen, die sich über das politische System ärgerten und sich gegen es wandten. Sie führen ein anderes Leben, außerhalb der Stadt. Einige haben kleine sich selbst versorgende Gemeinschaften gebildet. Andere blieben einfach in den leeren und verlassenen Häusern in kleinen Dörfern aus dem 19. Jahrhundert.

Ab und zu ärgere ich mich darüber, dass ich keine wirkliche Privatsphäre habe. Keinen Ort, wo ich hingehen kann, ohne registriert zu werden. Ich weiß, dass irgendwo alles was ich tue, denke und wovon ich träume, aufgezeichnet wird. Ich hoffe nur, dass es niemand gegen mich verwenden wird.

Alles in allem ist es ein gutes Leben. Viel besser als der Weg, auf dem wir uns befanden, wo es so klar wurde, dass wir nicht mit dem gleichen Wachstumsmodell weitermachen konnten. Es geschahen all diese schrecklichen Dinge: Lebensstil-Krankheiten, Klimawandel, die Flüchtlingskrise, Umweltzerstörung, völlig überfüllte Städte, Wasserverschmutzung, Luftverschmutzung, soziale Unruhen und Arbeitslosigkeit. Wir haben viel zu viele Menschen verloren, bevor uns klar wurde, dass wir die Dinge anders machen können.


Dieser Artikel wurde in englischer Sprache unter dem Titel: „Welcome to 2030 – I own nothing, have no privacy and live has never been better“ auf der Webseite der Weltwirtschaftsforums (WEF) veröffentlicht (mittlerweile gelöscht) und unterliegt der Creative Commons Lizenz, Copyright des englischen Originalartikels: Ida Auken. 


https://www.cueni.ch/der-grosse-reset-muss-warten/