03-2024 Weltwoche »Sie nannten ihn Silverfinger«

Sie nannten ihn Silverfinger


Die Hunts waren einmal die reichste Familie der USA. Heute gehören ihnen die Kansas City Chiefs. Stammvater Haroldson Lafayette Hunt gilt als Vorbild für J. R. Ewing in der Kultserie «Dallas».1980 wollte der exzentrische Klan alles Silber der Welt kaufen – bis die Börsenaufsicht einschritt. Das ist die Geschichte einer verrückten Spekulation. Und wie ich mir dabei die Finger verbrannte.


Das Unglück begann an einem Mittwoch, genauer gesagt am Mittwoch, dem 26. März 1980. Seit Monaten redeten alle vom steigenden Silberpreis, vom Taxichauffeur bis zum berühmten «Dienstmädchen». Wenn kaum informierte Kleinanleger das Börsenparkett betreten, ist das Ende der Blase nah. Auch ich mit meinen 24 Jahren hatte, wie die meisten in meinem Alter, von Tuten und Blasen keine Ahnung und unterlag der madness of the crowds . Ich beschloss, Silber zu kaufen. Der Haken dabei: Ich hatte kein Geld. Aber ich hatte eine Freundin, die welches hatte.

Kaufen!

Sie war Krankenschwester wie auffallend viele Freundinnen von schreibenden Hypochondern, die von der Fantasie leben und sich in der Realität behaupten müssen. Wir waren leidenschaftlich ineinander vernarrt, und obwohl wir uns damals noch kaum kannten, vertraute sie mir ihre bescheidenen Ersparnisse an. Weil Liebe tatsächlich blind macht.

Am nächsten Tag betrat ich pünktlich um 8 Uhr die Filiale des damaligen Bankvereins. Der Schalterbeamte wies mich darauf hin, dass Silber heute Morgen gerade den historischen Höchststand von fünfzig Dollar pro Unze erreicht habe. Ich lächelte vielsagend, denn ich wusste, morgen war ich reich und er würde immer noch hinter dem Schalter stehen. Im Stil eines abgebrühten Profis sagte ich: Kaufen!

Am nächsten Tag realisierte ich, dass ich die Silberunzen am Vortag gleich zum historischen Höchstkurs gekauft hatte und dass das Edelmetall seit einigen Stunden im freien Fall war. Nun kannte mich meine Freundin schon etwas besser, denn ich hatte möglicherweise über Nacht vier ihrer Monatslöhne verbrannt. Sie nahm es mir nicht wirklich übel, da einige Zeitungen schrieben, das sei bloss eine Verschnaufpause, und so heirateten wir trotzdem. Dreissig Jahre später hätte sie mich wohl geteert und gefedert.

Dank meinem misslungenen Start als Möchtegern-Trader begann ich, täglich mit Aktien zu handeln. Aber bloss auf dem Papier. Das mag rückblickend clever erscheinen, aber das war lediglich dem Umstand geschuldet, dass ich weiterhin kein Geld hatte. Von meinem ersten Roman hatte ich gerade mal 457 Exemplare verkauft, obwohl die NZZ diese pubertäre Peinlichkeit grosszügig gelobt hatte.

Ich begriff, dass erfolgreiches Trading interdisziplinäres Wissen voraussetzt. Das schien mir aufwendig, aber machbar und interessant und motivierte mich entsprechend, und das bis zum heutigen Tag. Und jetzt, wo sich die grösste Silberspekulation aller Zeiten zum 44. Mal jährt, gedenke ich Nelson Bunker Hunts (1926–2014) und seiner Brüder William (geb. 1929) und Lamar (1932–2006), die in sieben Jahren den Preis der Silberunze von $ 1.50 auf $ 50 trieben und damit die grösste Silberspekulation der Geschichte auslösten.

Öl statt nur Schlamm

Im Gegensatz zu den legendären John D. Rockefeller, Henry Ford oder J. Paul Getty gingen die Hunts nicht als Wirtschafts-Tycoons oder Spekulanten in die Geschichte ein, sondern als einflussreichste Sportdynastie der USA. Lamar Hunt war einer der Gründer der American Football League (AFL) und Besitzer zahlreicher Sportklubs. Sein Sohn Clark ist heute Besitzer der Kansas City Chiefs, die soeben zum dritten Mal innert fünf Jahren den Super Bowl gewonnen haben. Fast alle Kinder der drei Hunt-Brüder sind heute im Sportbusiness erfolgreich.

Den Grundstein für diese ausserordentliche Dynastie legte der Öl- und Rinderbaron Haroldson Lafayette Hunt Jr. (1889—1974). Er war Vorlage für eine der erfolgreichsten TV-Serien: «Dallas». In 357 Folgen liessen die Drehbuchautoren ihren bad guy J. R. Ewing seine Intrigen schmieden. William Gaddis hatte zwar die Romanvorlage geliefert, aber in den ausgestrahlten Episoden war J. R. Ewing eher ein Mix aus einem Dutzend larger-than-life oil tycoons of Texas .

Als Sechzehnjähriger hatte Haroldson die Farm seiner Familie verlassen, war durch die USA getrampt und hatte sich mit Gelegenheitsjobs als Holzfäller und Cowboy durchgeschlagen. Später verdiente er an den Pokertischen der umliegenden Saloons nicht nur Geld, sondern auch den Spitznamen «Arizona Slim». In einer Nacht, die so trostlos war wie die vorherigen, setzte ein Mitspieler seinen letzten Dollar und ein unscheinbares Ölfeld im Niemandsland. Beides verlor er an den stets risikofreudigen Haroldson Hunt, der umgehend zu einer wild cat der Ölbranche wurde, also zu einem Mann, der überall munter drauflosbohrt und darauf spekuliert, dass eines Tages nicht Schlamm, sondern Öl aus dem Boden schiesst.

Der Selfmademan hatte wider Erwarten Erfolg und wurde der erste Ölmilliardär der Vereinigten Staaten. Wie die meisten Ausnahmeerscheinungen entsprach auch Haroldson nicht der Norm seiner Zeit. Er war dreimal verheiratet, mit zwei Frauen gleichzeitig, und hatte fünfzehn Kinder. Wer einen solchen Vater hat, kämpft ein Leben lang um Anerkennung. Gibt es eine grössere Motivation?

In sexueller Hinsicht stand auch Nelson, der Leithammel der Brüder, dem Senior in nichts nach: Er setzte vierzehn Kinder mit drei verschiedenen Frauen in die Welt, wobei auch er mit zwei von ihnen gleichzeitig verheiratet war. Er trank und rauchte nicht, seine Obsession galt seinem Gestüt mit über tausend Rennpferden. Er gewann mit einigen historische Rennen, er selbst wurde mehrfach als Züchter ausgezeichnet. Wenn er von etwas angefressen war, begehrte er nicht ein Stück des Kuchens, sondern gleich die ganze Bäckerei. Auch das Lebensmotto von «Silverfinger», wie ihn das Magazin Playboy später nannte, könnte einem James-Bond-Film entnommen worden sein: «The World Is Not Enough».

Masslos war der Feinschmecker auch im Kulinarischen, was sich in einem Kampfgewicht von 125 Kilo niederschlug. Er sammelte luxuriöse Limousinen wie damals die Gebrüder Schlumpf im Elsass, liebte das weibliche Geschlecht und vor allem das Risiko. All in war stets seine Devise. Für feines Tuch und blue suede shoes hatte er hingegen nichts übrig. Er flog stets Economy in abgetragenen Anzügen, doch für seine antiken Silbermünzen war kein Preis zu hoch. Irgendwann schmiedete er den tollkühnen Plan, gleich das gesamte Silber des Planeten aufzukaufen. Der exzentrische Milliardär fand im arabischen Raum Verbündete. Die Silberunze schlummerte noch bei schäbigen $ 1.50.

Silberschatz bei der Credit Suisse

Sein Kaufwahn war nicht nur seiner Sammelwut geschuldet, sondern vor allem der US-Regierung, die unter Richard Nixon am 15. August 1971 die Goldbindung des Dollars aufgehoben hatte, um den Vietnamkrieg zu finanzieren. Jetzt konnte man Geld drucken wie Konfetti, Geld aus dem Nichts erschaffen, sogenanntes Fiat-Geld, das es den Regierungen bis heute erlaubt, die Schuldenspirale weiterzudrehen, bis am Ende nur noch eine Weginflationierung der Staatsschulden, eine Währungsreform oder eine Teilenteignung der Bevölkerung nach zypriotischem Muster möglich ist.

Nelson teilte die Meinung von Voltaire, wonach Papiergeld früher oder später zu seinem inneren Wert zurückkehrt, nämlich null. Mit Sachwerten wie Silber wollten die Hunt-Brüder deshalb auch ihr Milliardenvermögen absichern. Sie kauften Tonnen von Silberbarren, physisch, und da die USA 1933 den Besitz von Gold mit einem Wert von über hundert Dollar verboten hatten, flogen die Hunts ihren Silberschatz sicherheitshalber ins Ausland und bunkerten ihre Barren in den Tresoren der Credit Suisse.

Der Silberpreis kannte jetzt nur noch eine Richtung: nach oben. Als alle verfügbaren Tresore rappelvoll waren, kauften sie kein physisches Silber mehr, sondern begannen an den Warenterminbörsen mit Calls auf steigende Kurse zu wetten. Dafür liehen sie sich von verschiedenen Banken Millionenkredite und hinterlegten als Sicherheit ihr physisches Silber. Stieg der Kurs um einen einzigen Dollar, stieg der Wert ihres Silbers um einen dreistelligen Millionenbetrag. Selbst nachdem sich der Preis verdreissigfacht hatte, schien der Hype kein Ende zu nehmen.

Stunde der «Dienstmädchen»

«Only the sky is the limit» schallte es von überallher, auch Medienleute waren investiert und pushten, Finanzexperten schrieben, jetzt würden völlig neue Bewertungsmassstäbe gelten, kleine Privatanleger brachten ihr Silbergeschirr zum Einschmelzen, einige schmolzen ihre Münzen ein, weil der Silberpreis nun höher war als der Silberanteil in den Gebrauchsmünzen. The madness of the crowds erfasste die ganze Welt und erinnerte an vergangene Hypes wie die holländische Tulpenmanie oder die Spekulation des John Law of Lauriston. Doch die Silverbrothers, die mittlerweile auf dem Papier zu Multimilliardären geworden und vorübergehend die reichsten Männer Amerikas waren, wollten mehr. Noch mehr Silber.

Nun beklagte sogar der Juwelier Tiffany’s in Zeitungsanzeigen den exorbitanten Preisanstieg, der Woche für Woche seine Silberwaren verteuerte. Die CFTC, die Terminmarkt-Aufsichtsbehörde, kontaktierte Nelson und bat, die Spekulation zu beenden. Er lehnte ab. Als das Edelmetall die Frontseiten der Boulevardpresse eroberte, war für erfahrene Spekulanten der Zeitpunkt zum Ausstieg gekommen. Doch jetzt sprangen noch mehr Kleinanleger ohne jegliche Börsenerfahrung auf den Zug auf. Und dann kam der Tag, an dem auch das berühmte «Dienstmädchen» Silberunzen kaufte.

Am 21. Januar 1980 zog die Börsenaufsicht entnervt den Stecker und verbot Wetten auf steigende Silberpreise. Der Kurs sackte ab. Da die Bankkredite bald einmal ungenügend mit physischem Silber gedeckt waren, begann eine Bank nach der andern, die Kredite zu stornieren.

Don’t panic, but panic first . Die Hunts mussten physisches Silber verkaufen, was den Kurs noch schneller in den Keller trieb. Die Leute realisierten, dass sich die Party dem Ende näherte und dass es für sie kein Happy End geben würde. Nun wollten alle ihr Silber loswerden. Die grösste Silberspekulation der Geschichte platzte wie alle Blasen. Der 27. März 1980 ging als «Silver Thursday» in die Geschichte ein.

Ich habe nie mehr Silber gekauft, sondern nach jedem eingegangenen Drehbuchhonorar eine Unze Gold. Wer klug ist, lernt auch aus den Fehlern der andern: G ambeln mit geliehenem Geld ist für Privatanleger ein No-Go. Man sollte nur Geld einsetzen, das man auch verlieren kann, ohne dass der bisherige Lebensstil tangiert wird, und man sollte nie vergessen, dass Psychologie, Hochfrequenzhandel, neue Technologien und unvorhersehbare Ereignisse wie Skandale, Naturkatastrophen, Kriege und staatliche Eingriffe auch solide Weltmarktführer vorübergehend oder dauerhaft durchschütteln können.

Tipp von der künstlichen Intelligenz

And one more thing: Auch Experten irren. Ein Anlageberater riet mir in den 1980er Jahren: Kaufen Sie Swissair, da können Sie garantiert nichts falsch machen. Gestern fragte ich die künstliche Intelligenz Pi AI zum Spass nach ihrem Schweizer Topfavoriten für 2024: « Buy Credit Suisse.»


Claude Cueni ist Schriftsteller und lebt in Basel. Für seine Enkelin schrieb er einen Lebensberater in Romanform («Hotel California», Nagel & Kimche). Ein Kapitel ist dem Umgang mit Geld gewidmet.

02-2024 Weltwoche: Reich werden mit Nancy Pelosi

Reich werden mit Nancy Pelosi

Es gibt keine sicheren Wetten an der Börse. Aber manche Tipps sind besser als andere.Hier kommt einer: Kaufen Sie dieselben Aktien wie amerikanische Spitzenpolitiker.


Claude Cueni / 8.2.2024


Eine Woche bevor Corona im Jahre 2020 zur globalen Pandemie mutierte, beschwichtigte US-Senator Richard Burr die Bevölkerung mit der Aussage, die Angst sei übertrieben. Burr war nicht irgendwer. Als Vorsitzender des Geheimdienstausschusses im US-Senat erhielt er von den Geheimdiensten täglich die aktuellsten Briefings zur Entwicklung von Covid-19. Er wusste früher als alle andern: Das kommt nicht gut.

Er und seine Ehefrau verkauften deshalb umgehend Aktien im Wert von 1,7 Millionen Dollar, Aktien, die von einer weltweiten Pandemie betroffen sein würden. Dann schlug die WHO Alarm. Die Aktienkurse sackten um 30 Prozent, Billionen an Börsenwerten wurden vernichtet, die Welt stürzte ins Elend. Nicht aber das Ehepaar Burr. Andere Senatorinnen und Senatoren hatten es ihnen gleichgetan. Es waren allesamt Republikaner und Demokraten, die in Ausschüssen sassen und deshalb einen Informationsvorsprung hatten.

«Queen of Investing»

Als Nancy Pelosi vor 37 Jahren ihre Politkarriere startete, wies sie noch ein Vermögen von rund 2 Millionen Dollar aus, mittlerweile sind es über 100 Millionen. Allein im Jahre 2023 erzielte die einstige Sprecherin des Repräsentantenhauses eine Performance von unglaublichen 65,5 Prozent. Damit schlug die «Queen of Investing» nicht nur Warren Buffett (20 Prozent), sondern auch alle relevanten Aktienindizes.

Als Pelosi letztes Jahr erfuhr, dass die US-Regierung dem Chipentwickler Nvidia die Bewilligung erteilen würde, nach China zu exportieren, wettete sie umgehend mit einem Call auf steigende Kurse. Das taten andere später auch, sie tat es früher. Die Aktie stieg innert Wochen um 28 Prozent. Allein mit diesem Trade realisierte die linke Demokratin in wenigen Wochen eine halbe Million Dollar, also rund das Doppelte ihrer Vergütungen als Abgeordnete.

Kollege Michael Guest ist der Vorsitzende der Ethikkommission. Er kaufte Aktien des Online-Casinos Evolution. Kurz darauf schoss der Kurs um 38 Prozent in die Höhe.

Senatorin Tina Smith ist Mitglied des Gesundheitsausschusses. Im November kaufte sie für 250 000 Dollar Aktien des Medizintechnikunternehmens Tactile Systems Technology. Danach stieg die Aktie um 50 Prozent. Die Liste liesse sich schier endlos weiterführen.

Welche Aktien die Volksvertreter kaufen, ist kein Geheimnis. Es gibt eine staatliche Meldepflicht und Aktivisten, die mit kostenpflichtigen Newslettern informieren. Sie nennen den Trader, seine Funktion in den Ausschüssen, listen den Aktienkurs vor und nach dem Kauf und nennen auch die Insider-Info, die mutmasslich zum Trade geführt hat. Auf dem Papier habe ich siebzehn Trades nachgespielt. Vierzehn waren erfolgreich. Ich bin weder US-Senator, noch arbeite ich im staatlichen Beschaffungswesen. Dort sind Insider-Trades besonders problematisch, weil man über die Berücksichtigung von Unternehmen entscheidet, deren Aktien man möglicherweise im Depot hat.

Ist Insiderhandel strafbar? Wo kein Kläger ist, ist auch kein Richter. Es gab in der Vergangenheit Anklagen wie die gegen Buff oder Kelly Loeffler, aber sie wurden eingestellt. Während in den USA Insiderhandel eine «Veruntreuung von Informationen» darstellt, dient das europäische Verbot dem Kapitalmarktschutz. In der Schweiz ist Insiderhandel seit 1988 verboten.

In der Praxis sind diese Insider-Gesetze jedoch genauso nutzlos wie damals die Prohibition in den USA (1920–1933). Wer Insider-Infos hat, kann sie einem Familienmitglied oder Freund weitergeben, der in seinem Auftrag tradet. Gibt es neue Obergrenzen für die Meldepflicht, kauft man gestaffelt oder verteilt den Börsenauftrag auf mehrere Personen.

Wutbürger auf den Strassen

Es wird auch in Zukunft unvermeidlich sein, dass Insider einen Informationsvorsprung monetarisieren. Die Verlockung ist zu gross, die Abschreckung zu klein.

Da die meisten Leute nur gerade die Jahre überblicken, die sie bisher erlebt haben, glauben sie, dass heutige Volksvertreter besonders unethisch handeln. Aber würden sie selbst der Versuchung widerstehen, aus einer Insider-Info Kapital zu schlagen? «Der Nutzen», sagte nicht erst der niederländische Philosoph Spinoza (1632–1677), «ist das Mark und der Nerv aller menschlichen Handlungen.» Das wird immer so sein und das Vertrauen in Politik, Medien und Institutionen mindern. Die Wutbürger in den Strassen spüren, dass die Mehrheit der «Volksvertreter» kaum an ihren Problemen interessiert ist.

Wer nebenbei ein Vermögen im Schlaf verdient, hat längst Gefallen an diesem Spiel gefunden und den Draht zur Bevölkerung verloren. Man interessiert sich nicht mehr für die Menschen links und rechts der texanisch-mexikanischen Grenze, sondern eher für die Auswirkungen der schwindenden Kaufkraft auf seine consumer- Aktien.


Claude Cueni ist Schriftsteller und lebt in Basel. Ein Kapitel in seinem Lebensratgeber «Hotel California» (Nagel & Kimche) ist dem Aktienhandel gewidmet.


 

01-24 Weltwoche: Erich von Däniken, »Karl May der Ausserirdischen«

Erich von Däniken ist der Weltstar der Prä-Astronautik. Jetzt folgt sein neuster Streich. Das Timing könnte besser nicht sein.

Der Basler Bestseller-Autor Claude Cueni liefert die längst fällige Würdigung dieses grossen Schweizer Schriftstellers und Forschers.


Er hat mehr Bücher verkauft als alle lebenden Schweizer Autorinnen und Autoren zusammen. Über 67 Millionen Exemplare in 32 Sprachen. Für die einen ist Erich von Däniken (EvD) der «Prophet der Vergangenheit», für andere der Karl May der Ausserirdischen. Er selbst, der am 14. April seinen 89. ​Geburtstag feiern wird, bezeichnet sich als «Autor narrativer Sachbücher». Er sieht sich nicht als Wissenschaftler, sondern als Vertreter der Prä-Astronautik, einer Disziplin, die Altertumswissenschaften mit Astronautik verbindet und nach Spuren ausserirdischer Intelligenz sucht (auch Seti genannt).

Was schreibt einer, der bereits 46 Bücher zum Thema publiziert hat? Sein 47. Werk erscheint unter dem Titel «Und sie waren doch da!», ein «Best of Erich von Däniken», eine Zusammenfassung seines Lebenswerkes, das Bücher, Reisen, TV-Dokus und -Serien umfasst. Auf 240 Seiten präsentiert er «die ultimativen Belege für den Besuch von Ausserirdischen», die er seit seinem Erstlingswerk «Erinnerungen an die Zukunft» (1968) zusammengetragen hat.

Bibel wird zu Science-Fiction

Man fragt sich unwillkürlich: Wozu noch weitere Beweise? Hält er seine bisherigen für nicht stichhaltig genug? In der Tat sind in den letzten 56 Jahren viele seiner eigenwilligen Interpretationen von Archäologen, Historikern und Reenactment-Gruppen widerlegt worden. Doch nicht alles spricht gegen EvD, denn Wissenschaft bedeutet, dass man vermeintliches Wissen ständig hinterfragt und neusten Erkenntnissen anpasst. Dank neuen Technologien, die oft Nebenprodukte der Rüstungsindustrie sind, werden beinahe im Wochentakt neue archäologische Fundstätten aufgespürt, datiert und ausgewertet. Sie schreiben die Geschichte teilweise neu. Auch das Schmelzen der Gletscher legt mittlerweile so viele über tausend Jahre alte Fundstücke frei, dass Glazialarchäologen mit dem Einsammeln kaum nachkommen.

Als 1968 von Dänikens erstes Buch erschien, hielten ihn viele für einen liebenswerten Spinner, doch die Art und Weise, wie er historische Fakten deutete, faszinierte viele und machte seine Bücher und Filme zu Bestsellern. Der historische Teil war stets interessant, weil mit Quellen belegt. Die Kernthese blieb über all die Jahre gleich: Ausserirdische haben vor langer Zeit die Erde besucht und werden eines Tages wiederkommen. In zahlreichen Kulturen sind solche Geschichten überliefert, und wenn man «Engel» und «geflügelte Götterboten» durch «ausserirdische Briefträger» ersetzt, liest sich sogar die Bibel wie spannende Science-Fiction.

Von Aliens zurückgelassen

Etliche Autoren haben sich in den letzten 200 Jahren mit dem Thema beschäftigt, aber die meisten dümpelten zwischen Mystik und Esoterik. EvD hätte in den 1970er Jahren locker eine lukrative New-Age-Religion gründen können. Damals erfand der französische Sportjournalist Claude Vorilhon eine Ufo-Religion und reiste als Raël, Sohn der ausserirdischen Zivilisation Elohim, Uriella-mässig durch Europa, um Spenden für den Bau eines Ufo-Flughafens zu sammeln. Später nannte er sich «Bruder von Jesus».

Im Unterschied zu all diesen religiös angereicherten Ufo-Sekten beschränkte sich EvD auf historisches Material, das er im Stil eines Science-Fiction-Autors spannend verpackte. Er gründete die internationale Forschungsgesellschaft für Archäologie, Astronautik und Seti (A. A. S.), tourte als nimmermüder Tausendsassa durch die Welt, besuchte archäologische Fundstellen, hielt zigtausend Vorträge, moderierte zahlreiche TV-Dokus und -Serien, betrieb erfolgreiches Marketing in eigener Sache und begeisterte mit seiner Leidenschaft Millionen von Lesern, Zuhörern und Zuschauern. Sie nehmen ihm nicht übel, dass er längst widerlegte Thesen, wie zum Beispiel die Interpretation der Moai Figuren auf der Osterinsel, weiterverbreitet. 

Mit bald 89 Jahren ist es Zeit, über einen Nachfolger nachzudenken. In der Person seines langjährigen Sekretärs Ramon Zürcher, 40, hat er ihn gefunden. Dieser betreibt die Plattform «Sagenhafte Zeiten» und kooperiert mit dem Online-Magazin Hangar 18b , das seinen Namen mit der Zeile «Ufos, Mysterien, Paranormales» unterlegt. Ein Fall von Rebranding? Das wird ihn kaum kümmern, denn er ist längst zur Marke geworden.

Stephen Hawkings Warnung

Das Timing für von Dänikens 47. Buch könnte besser nicht sein. Letzten Sommer behauptete David Grusch, ein ehemaliger US-Geheimdienstmitarbeiter der Air Force, vor dem Kongress des Repräsentantenhauses: «Es gibt tote Ufo-Piloten.» Zusammen mit David Fravor, einem Ex-Kommandanten der US-Navy, und Ryan Graves, einem ehemaligen Navy-Piloten, beteuerte er unter Eid, dass die US-Regierung und das Pentagon ausserirdische Raumschiffe geborgen hätten und daran forschten. Grusch sagte, er habe diese Informationen von mehr als vierzig Insidern erhalten. Er deutete an, er habe auch Akten gesehen. Kürzlich bestätigte auch Tim Gallaudet, Navy-Konteradmiral a. D. und ehemaliger Direktor der US-Ozean- und Atmosphärenbehörde NOAA, dem TV-Sender News Nation: «Wir werden von nichtmenschlicher Intelligenz besucht, mit Technologien, die wir ebenso wenig verstehen wie deren Absichten.»

Im Gegensatz zu Europa ist das Thema «nichtmenschliche Intelligenz» in den USA omnipräsent. Selbst die New York Times interviewte Piloten der Marines, die behaupten, zwischen 2014 und 2015 fast täglich über der Ostküste der USA unbekannte Flugobjekte gesichtet zu haben. Und auch im Repräsentantenhaus wird heftig darüber debattiert, ob die Regierung ihre Ufo-Akten veröffentlichen soll, und wenn ja, in welchem Umfang. Der Widerstand lässt darauf schliessen, dass hier die Mutter aller Scoops gehütet wird.

Die einen glauben, dass insbesondere religiöse Menschen beim Lüften der Ufo-Akten in Panik geraten würden, andere glauben, dass der Rüstungskonzern Lockheed Martin sichergestellte Ufos nachbaut und dies aus naheliegenden Gründen geheim halten muss. Generell deuten die zunehmenden Meldungen darauf hin, dass man den Menschen schonend beibringen will, dass es da draussen noch etwas anderes gibt und dass diese Weltraumtouristen uns Tausende von Jahren voraus sind. Mittlerweile glauben gemäss einer Online-Umfrage des Magazins Focus bereits über 85 ​Prozent, dass wir von Ausserirdischen besucht werden. Für sie sind von Dänikens Theorien wahrscheinlich nicht mehr so interessant, Hollywoods Blockbuster haben sie längst überzeugt.

Nichtmenschliche Intelligenzen, die bei uns auf Safari sind, wären uns Jahrtausende voraus. Nicht nur Stephen Hawking hatte davor gewarnt, zu früh mit ihnen in Kontakt zu treten. Die einen fürchten, dass sie uns so behandeln werden, wie wir als Konquistadoren technologisch unterlegene Kulturen zerstört haben. Andere glauben an (oder hoffen auf) die in den meisten Kulturen thematisierte Rückkehr der göttlichen Lehrmeister, die uns von allem Übel erlösen.

Ist nun mit dem 47. Buch alles gesagt? Für einen Workaholic gibt es kein «letztes Buch». Wer ein Leben lang geschrieben hat, kann auch im fortgeschrittenen Alter die Tinte nicht halten. Gemäss seinem Sekretär Ramon Zürcher plant Erich von Däniken noch eine Publikation mit dem Arbeitstitel «Notizen», ein autobiografisches Buch über Begegnungen mit Menschen und über das, was ihn das Leben gelehrt hat. Ein weiteres Buch mit «ultimativen Beweisen» macht keinen Sinn mehr, die nächsten Kapitel werden US-Medien schreiben. Hatte EvD trotz einiger  Irrtümer mit seiner Kernthese doch recht? 

«Akademisches Blabla»

Dass ihn die Wissenschaft belächelt, scheint ihn immer noch zu kränken. Im letzten Kapitel seines neuen Buches zieht er über «die da oben» vom Leder, nennt einige ihrer Gegenargumente «akademisches Blabla», hält sie für «Unsinn», sie «stinken zum Himmel», «heiliger Bimbam!!». Er spart nicht mit Ausrufezeichen. Und «basta!».

Auch dafür lieben ihn seine Fans: David gegen Goliath, Autodidakt gegen Wissenschaft. Wer hätte gedacht, dass ein Schweizer Hotelier zum Weltstar der Prä-Astronautik wird?

Heiliger Bimbam, das muss man können.

EvD kann es.


Der Text erschien erstmals am 11. Januar 2024 in der Weltwoche.


 

155 Blick: »Mein Jahresrückblick 2023«

Der Bund plant die grosse Vegi-Offensive. Die Migros meldet «Poulet-Boom» und baut Schlachtkapazitäten aus.

Darkroom katholische Kirche. Ausgerechnet der mitbeschuldigte Basler Bischof Felix Gmür (57) will als Präsident der Schweizer Bischofskonferenz die Missbrauchsfälle aufarbeiten.

Eidgenössische Wahlen. «Die Schweiz zeigt ihr hässliches Gesicht», schreibt das deutsche Magazin «Focus», während in Berlins Strassen religiöse Fanatiker «Allahu Akbar» skandieren, die Einführung der Scharia fordern und jüdische Einrichtungen zerstören.

Schwarzer Tag für die Grünen. Minus 3,42 Prozent. Parteipräsident Balthasar Glättli (51) glaubt, «die Kampagne sei so gut wie nie gewesen». Meint er die Aktionen der Asphaltkleber, die 90 Prozent der Bevölkerung nerven?

Bundesratswahlen. Der Basler Beat Jans (59) steigt in die Top 7 auf und wird als Nichtjurist Justizminister.

Trotz massiver Zuwanderung bleibt der Mangel an Fachkräften bestehen. Ist für einige die Aufnahme ins Sozialsystem bereits die höchste Sprosse der Karriereplanung?

Regimetreue Eritreer prügeln sich mit Gegnern des Diktators Isayas Afewerki (77). Ein Hotelier aus St. Moritz GR empfiehlt: Man ist freundlich zu den Gästen, und wenn sie die Hausordnung missachten, schickt man sie wieder nach Hause.

Die Europäische Arzneimittel-Agentur im Oktober 2023: «Der Covid-19-Impfstoff wurde nicht zur Verhinderung der Übertragung von einer Person auf eine andere zugelassen.» Man muss zweimal lesen.

Von Oprah Winfrey (69) bis Gil Ofarim (41): Die Inszenierung als Opfer bleibt populär. Wurden Sie heute schon beleidigt?

Jetzt werden auch Krisen «diverser». Vor der Midlife-Crisis kommt die Quarterlife-Crisis. Ist das Leben in der Mimosengesellschaft eine Abfolge von Krisen?

«8-Stunden-Tage sind einfach verrückt», weint eine Gen-Z-Influencerin in ihrem Tiktok-Video, während der Schwiegervater von Briten-Premier Rishi Sunak (43) die 70-Stunden-Woche für Indiens Jugend fordert.

«Langfristig werden wir nicht mehr arbeiten», sagt Ex-OpenAI-Manager Zack Kass, und «es gibt eine gute Chance, dass ich ewig leben werde». Künstliche Intelligenz (KI) wird ein Booster für alle Bereiche, von der Krebsforschung bis zur Kriegsführung. Wird KI den Menschen als Ungeziefer einstufen? Demnächst soll es möglich sein, mit Hunden zu sprechen.

USA. Ein Whistleblower sagt im US-Kongress unter Eid: «Wir haben tote Ufo-Piloten.» Ex-Admiral Timothy Gallaudet (56) doppelt nach: «Wir werden von einer nicht-menschlichen Intelligenz besucht.» Hatte Erich von Däniken (88) mit seiner Kernthese etwa doch recht?

Weltuntergang abgeblasen. Die Klimaszenarien des Atmosphärenphysikers, Klima- und Polarforschers Markus Rex (57) zeigen kein Aussterben der Menschheit. Er rät weiter zu Klimaschutz, aber Klimaschutz ohne Panik.

Greta (20) muss also diversifizieren. Nachdem die von ihr für Sommer 2023 prophezeite Auslöschung der Menschheit ausgeblieben ist, trägt sie jetzt das Banner jener, die Israel auslöschen wollen. How dare you? Folgt demnächst der Aufruf «Kauft nicht bei Juden»?

Die neue Abnehmspritze setzt den Nahrungsmittelriesen zu. Auch ihre Umsätze und Gewinne nehmen ab.

Immer mehr Nahrungsmittel gelten als gesundheitsschädigend. Beruht es auf Unwissenheit, dass wir uns überhaupt noch ernähren?

Nach mir die Sintflut. Die aktuelle Verschuldung der USA hat die Marke von 33,5 Billionen US-Dollar überschritten.

«2025 führen die USA Krieg mit China», prophezeit Air-Force-General Mike Minihan (56). Auslöser sollen die Wahlen 2024 in Taiwan sein. Die mittlerweile hochgerüsteten Philippinen würden als Landebahn dienen.

Die Haut der Zivilisation ist dünn. Der Nahost-Konflikt offenbart eine unglaubliche Barbarei. Glaubt noch jemand, man könne alle Kulturen integrieren?

Nach fast zwei Jahren nennt Wladimir Putin (71) seinen Angriffskrieg nicht mehr «militärische Operation», sondern Krieg und stellt auf Kriegswirtschaft um. Deutschland besorgt, weil militärisch unterversorgt.

«Der Krieg in der Ukraine eröffnet auch Chancen für die französische Industrie. Es tut mir leid, dass ich das so sage, aber man muss dazu stehen.» Sébastian Lecornu (37), französischer Verteidigungsminister in «France Info».

Der neugewählte argentinische Präsident Javier Milei (53) startet eine ultraliberale Revolution. «Alles, was in den Händen des privaten Sektors sein kann, wird in den Händen des privaten Sektors sein.»

Nachdem Uncle Ben’s von allen Reisverpackungen vertrieben worden ist, taucht er nun stark verjüngt in allen möglichen Werbekampagnen auf.

Grossartige Frauen-WM in Australien/Neuseeland verhilft dem Frauenfussball zum medialen und finanziellen Durchbruch.

Ich schliesse meinen Jahresrückblick 2023 mit den Worten von Joe Biden (81) (Pressekonferenz in Vietnam): «Ich weiss nicht, wie es euch geht, aber ich werde jetzt ins Bett gehen.»

 

154 Blick: »Merry Christmas, Woke Disney«

 

In diesem Jahr feiert der Walt-Disney-Konzern sein 100-Jahr-Jubiläum. Hat er Grund zum Feiern? Der Aktienkurs fiel in den letzten zwei Jahren um über 39 Prozent. Zu allem Übel entzog Florida dem Freizeitpark Disney World auch noch die Sonderrechte und nächstes Jahr läuft der Patentschutz für den Ur-Mickey-Mouse (ohne Hut und Handschuhe) aus dem Jahre 1928 aus. Die Aktionäre sind not amused.

 

Es war gut gemeint, als der Konzern die süsse Minnie zum Herrenschneider schickte und Schneewittchen ins Solarium. Bei den sieben Zwergen diskutiert man wahrscheinlich noch eine Hormontherapie, auf jeden Fall könnten in Zukunft zwei schwul, einer trans und einer behindert sein. Und alle schön bunt. Das wären dann mindestens 48 Zwerge.

 

Es bleibt das Geheimnis der Marketingabteilung, wieso sie nicht einfach neue Storys mit woken Charakteren kreiert. Das hätte niemanden gestört. War also der missionarische Eifer stärker als die Marktforschung? Praktisch alle Online-Umfragen zeigen, dass sowohl Mickey Mouse als auch das Publikum Indoktrination ablehnen. Man bezahlt für Unterhaltung, nicht für Belehrung.

 

Man muss schon besessen sein, um derart am Markt vorbeizuproduzieren. Eine alte Regel lautet nämlich: Wer die Masse erreichen will, sollte sich nicht politisch äussern. Jeder Facebook-Nutzer kann ein Lied davon singen. Auch Anheuser-Busch, Adidas und viele andere.

 

Nun musste Disney ausgerechnet im Jubiläumsjahr der US-Börsenaufsichtsbehörde SEC melden, dass sie Fehler in der politischen Ausrichtung gemacht hat: «Wir sind Risiken im Zusammenhang mit einer Fehlanpassung an den Geschmack und die Vorlieben der Öffentlichkeit und der Verbraucher in den Bereichen Unterhaltung, Reisen und Konsumgüter ausgesetzt, die sich auf die Nachfrage nach unseren Unterhaltungsangeboten und -produkten sowie auf die Rentabilität aller unserer Unternehmen auswirken.»

 

Walt Disney diskutiert diese Woche einen Zusammenschluss mit Reliance Industries, dem grössten Privatunternehmen Indiens. Doch mit Blackwashing dürfte Disney dort Probleme haben, denn über 65 Prozent der Asiatinnen benutzen Hautaufheller. Wird dann die Doku über Nelson Mandela mit einem weissen Schauspieler besetzt?

 

Merry Christmas, «Woke Disney».

153 Blick »Selenski allein zu Hause«

Am 24. Februar 2022 begann der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine. Der damalige Bundesrat Ueli Maurer sprach von einem «Stellvertreterkrieg». Dafür wurde er kritisiert. Im September 2024 sagte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg vor einem EU-Ausschuss, dass die Nato-Erweiterung Kriegsgrund war: «Präsident Putin erklärte im Herbst 2021, die Nato solle versprechen, sich nicht mehr zu erweitern. Es war seine Bedingung, um nicht in die Ukraine einzumarschieren. Natürlich haben wir das nicht unterschrieben.» Die fehlende Unterschrift kostete bisher über eine halbe Million Tote und Verletzte und den westlichen Steuerzahler wohl über eine Viertelbillion.

Der israelische Ex-Premier Naftali Bennett versuchte gleich nach Kriegsbeginn zu vermitteln, «der Frieden war zum Greifen nah», aber USA und Nato hätten das verhindert, weil sie zuerst Russland militärisch schwächen wollten.

Der Westen behauptet, Selenski verteidige die freie Welt, ausgerechnet er, der die Meinungsfreiheit mit Füssen tritt, Parteien verbietet und Oppositionelle inhaftiert. Jean-Claude Juncker, ehemaliger EU-Kommissionspräsident, sagt der «Augsburger Allgemeinen»: «Wer mit der Ukraine zu tun gehabt hat, der weiss, dass das ein Land ist, das auf allen Ebenen der Gesellschaft korrupt ist.» Der nigerianische Präsident Muhammadu Buhari verrät: Korrupte ukrainische Militärs verkaufen Nato- und US-Waffen auf eigene Rechnung an islamistische Terroristen von Boko Haram und IS.

Ein enger Berater von Selenski sagt dem Magazin «Time»: «Er macht sich etwas vor. Wir haben keine Optionen mehr. Wir werden nicht gewinnen. Aber versuchen Sie mal, ihm das zu sagen.» Ins gleiche Horn bläst Saluschni, Oberkommandierender der Streitkräfte. Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko wirft Selenski vor, die Öffentlichkeit anzulügen, «aber am Ende dieses Kriegs wird jeder Politiker für seine Erfolge oder Misserfolge zahlen».

Wer Kriege nicht gewinnen kann, sollte sie möglichst schnell beenden und keine Landsleute mehr in den Tod schicken. Olexij Arestowytsch, ehemaliger Berater von Selenski, will verhandeln und fordert Neuwahlen. Vielleicht braucht der ruppige Showbiz-Präsident demnächst doch eine Mitfahrgelegenheit.

152 Blick: »Als Dagobert seine Neffen grüsste«

Die gestern (27.11.23) in Bellinzona verurteilten Basler Bombenleger nannte der Richter «skrupellos und habgierig». Ihr Idol war »Dagobert«, aber sie waren schlicht zu dumm, um »Dagobert« zu sein. Mein Text auf:


Kaufhaus-Erpresser Arno Funke war Idol der Basler Sprengstoff-Täter

Die jungen Basler Sprengstoff-Täter, die vom Bundesstrafgericht in Bellinzona TI zu fünf und sechs Jahren Haft verurteilt wurden, hatten ein Idol: den deutschen Kaufhaus-Erpresser Arno Funke alias Dagobert. Er wurde ein Medienstar.


Er träumte davon, Picasso zu werden, und wurde Dagobert, der Kaufhauserpresser. Zuvor hatte Arno Funke (73) eine Ausbildung als Fotograf begonnen. Auch in den 1970ern träumten viele Jugendliche davon, Künstler zu werden, irgendetwas Kreatives, bloss kein Achtstundenjob, man wollte ein bisschen «Gipsy» sein – das war die Zeit, in der man «Zigeuner» noch mit «Lebenskünstler» assoziierte.

Nach dem Abbruch der Fotografenlehre schaffte Arno Funke einen Lehrabschluss als Schildermaler und versuchte sich weiterhin als Kunstmaler. Ohne Erfolg. Ab 1980 arbeitete er als Kunstlackierer in einer Autowerkstatt. Den Achtstundentag empfand der 68-er als Folter, und so erpresste er 1988 das Berliner Kaufhaus des Westens. Um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen, deponierte er eine Bombe, die zur Nachtzeit detonieren sollte. Sie tat es nicht, die Geldübergabe scheiterte.

Eine halbe Million erpresst – und pleite

Also legte Arno Funke erneut eine Bombe. Diesmal detonierte sie und verursachte nicht nur einen Schaden von einer Viertelmillion Deutschen Mark, sondern ebnete auch den Weg für eine erfolgreiche Übergabe von 500’000 DM Lösegeld. Bereits nach vier Jahren war Funke wieder pleite. Arbeiten kam nach wie vor nicht infrage, also versuchte er es erneut mit einer Kaufhauserpressung. Diesmal forderte er 1,4 Millionen DM. Mit der Polizei kommunizierte er über Zeitungsannoncen mit dem Code «Onkel Dagobert grüsst seine Neffen».

 

Etliche Straftäter versuchen, mit Humor Medien und Öffentlichkeit für sich zu gewinnen: Bonnie (1910–1934) und Clyde (1909–1934) bedankten sich beim Autobauer Henry Ford für den neuen Achtzylinder, der jedes Polizeiauto abhängt; der Schweizer Ausbrecherkönig Walter Stürm (1942–1999) hinterliess die Notiz «Bin Ostereier suchen gegangen». Dagobert war beste Unterhaltung.

So aufwendig war kein anderer Erpressungsfall

Das änderte sich auch nicht, als Funke in einem Warenhaus in Hannover (D) eine weitere Bombe legte und diese während der Öffnungszeit im Lift detonierte. Dass dabei nicht Menschen in Fetzen gerissen wurden, war nicht sein Verdienst, sondern dem Zufall geschuldet. Einige Journalisten stilisierten Dagobert zu Robin Hood, obwohl Arno Funke Tote in Kauf nahm, um sich, und niemand anderes, zu bereichern.

Im Frühjahr 1994 endete der aufwendigste Erpressungsfall der deutschen Kriminalgeschichte. Dagobert wurde wieder das, was er nie sein wollte: ein Verlierer, ein Nobody. Neun Jahre Haft kassierte er vom Berliner Landgericht in zweiter Instanz.

Gast in Talkshows und im «Dschungelcamp»

Als verurteilter Krimineller betrat Arno Funke 1996 seine Zelle in der Justizvollzugsanstalt Plötzensee, als Medienstar Dagobert verliess er sie bereits nach sechs Jahren wieder. Wegen guter Führung. Während der Haft hatte er Karikaturen für die Satirezeitschrift «Eulenspiegel» gezeichnet, darunter auch das antisemitische Cover zur Titelstory über den jüdischen Politiker Michel Friedman. Er entwarf auch Wahlplakate für die Partei «Die Linke».

Funke wurde gefeiert, schrieb seine Autobiografie, nahm an Literaturfestivals teil, trat in Talkshows und Filmen auf – und 2013 im «Dschungelcamp».

 

Heute stellt er seine Karikaturen in Galerien aus und hält Vorträge. Für ihn hat sich Verbrechen gelohnt. Anders als für die beiden jungen Basler Sprengstoff-Täter, die ihn zum Vorbild nahmen und nun vom Bundesstrafgericht in Bellinzona TI zu mehreren Jahren Haft verurteilt wurden.


Erstmals erschienen im Blick vom 27.11.23


 

151 Blick »Gilt Diversität auch bei Meinungen«?

«Ich missbillige, was Sie sagen, aber ich würde bis zum Tod Ihr Recht verteidigen, es sagen zu dürfen.» Der Satz stammt nicht von Voltaire, sondern von der englischen Schriftstellerin Evelyn Hall (1868–1956), die in ihrem Buch «The Life of Voltaire» (Das Leben von Voltaire) den Satz niederschrieb. Sie hat dabei nicht Voltaire zitiert, sondern seine Denkweise wiedergegeben.

George Orwell (1903–1950) formulierte es später so: «Meinungsfreiheit bedeutet, Dinge zu sagen, die niemand hören will.» Das gilt auch für Unanständiges, das ist der Preis für Meinungsfreiheit, das muss man aushalten. Für Strafbares sind die Gerichte zuständig und nicht der Mob mit der grössten medialen Unterstützung.

Jeder Wimpernaufschlag wird mittlerweile politisch gedeutet, die Welt, ein einziges Fettnäpfchen. Man lebt im permanenten Duell-Modus. Noch bevor der politische Gegner den Mund aufmacht, zieht man blank. Man ist entweder Pro oder Kontra, jeder verharrt in seiner Trutzburg, man verteidigt Liebgewonnenes wie die Konservativen von einst.

Vielen fällt schwer zu akzeptieren, dass Diversität auch bei Meinungen gilt. Die Kita-Abteilung der SP (18 % Wähleranteil) glaubt, dass die SVP (27 %) keine Daseinsberechtigung hat. Sie schliesst ihr Positionspapier vom 24. September 2023 mit den Worten: «Die Schweiz hat keinen Platz für die SVP. Die SVP muss weg.» Und dann sind FDP und Mitte fällig? Das ist die Denkweise von Staaten wie China, Kuba, Nordkorea, Eritrea und anderen Diktaturen. Was für ein unreifes Demokratieverständnis! Sowohl SP als auch SVP sind für eine funktionierende Demokratie wichtig, weil beide einen Grossteil der Stimmberechtigten vertreten.

Eine Studie über die Polarisierung in Europa kommt zum Schluss, dass Menschen, die «links, urban und gebildet» sind, am meisten Mühe haben, andere Meinungen zu akzeptieren. Das ist nicht neu. Neu ist, dass es dazu eine Studie gibt.

Wer Diversität ernst nimmt, ist nach allen Richtungen offen. Unabhängig von Hautfarbe, sexueller Orientierung und politischer Gesinnung. Wer nur mit seinesgleichen verkehrt, hört nur, was er schon weiss. Man wünscht sich mehr Gelassenheit und Humor. Ein Demokrat, der eine andere Meinung hat, ist kein Feind.

NZZ Sehr lesenswert

Die Hamas mordet und schändet wahllos Kinder und Frauen – und das linke Milieu applaudiert. Was läuft hier gerade falsch?
Der Gazakrieg hat eine Orgie des Antisemitismus entfesselt, der die besten Traditionen der Sozialdemokratie verrät: Aufklärung, Liberalität und universelle Werte.


Autor: Josef Joffe. Distinguished Fellow in Stanford, lehrt internationale Politik und Geistesgeschichte. Als Journalist bearbeitete er den Nahen Osten.


 

Menschen demonstrieren Mitte November in Belgrad aus Solidarität mit den Palästinensern in Gaza. Marko Djurica / Reuters
August Bebel, Mitbegründer der SPD, ist berühmt für den Spruch «Antisemitismus ist der Sozialismus der dummen Kerls», doch gehört das Copyright dem österreichischen Genossen Ferdinand Kronawetter. Bebel ermahnte die Partei 1893, den «widernatürlichen» Antisemitismus zu ächten. Der Feind sei nicht der «jüdische Kapitalist», sondern die «Kapitalistenklasse».

Es gab Ermahnungsbedarf. Judenfeindschaft war wie heute kein völkisches Monopol. Für Karl Marx war das Unheil der Jude, der dem «Eigennutz» und «Schacher» gehorche; sein «weltlicher Gott ist das Geld». Folglich sei die «Emanzipation vom Judentum» das Gebot der Stunde. Bei Stalin eskalierte das Abstraktum zur Praxis. Er liess reihenweise jüdische Mitstreiter wie Trotzki liquidieren. Juden waren im Sowjetsprech «wurzellose Kosmopoliten», Volksverräter. Dennoch wurde Stalin von linken Literaten wie Sartre und G. B. Shaw beklatscht. Heute spricht die Intelligenzia die Hamas heilig. Sie plappert nach, was die Hamas will: Weg mit Israel, doziert das Politbüro-Mitglied Osama Hamdan am 11. Oktober im libanesischen Fernsehen; nur so «können alle anderen Probleme gelöst werden».

Die neue Linke hantiert mit Dekonstruktivismus und Neologismen. Vergessen sind die altlinken Parolen von «Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit», weggedrückt wird die blutrünstige Tyrannei der Hamas. Ein zweites Novum: Seinerzeit war die demokratische Linke eine Bewegung von unten. Heute ist «links» alias «woke» ein Projekt der Elite.

Beheimatet ist es nicht in den Slums, sondern in den schicken Stadtteilen von Berlin bis Boston. Der typische Protagonist ist gebildet und gut alimentiert. Er wird vom Staat getragen. Sein Habitat ist die Universität, die Schule, der städtische Kulturbetrieb, der staatsnahe Rundfunk. Die Ironie: Diese neue Linke kämpft gegen Privilegien, doch könnte sie selber nicht privilegierter sein. Ihr Einkommen ist so gesichert wie ihre Kulturhoheit.

Heros der neuen Linken
Die demokratische Linke wurzelte in der Aufklärung (selber denken), im Liberalismus (das Individuum ist König), in «unveräusserlichen Rechten», die niemand antasten durfte. Im Zentrum stand Gleichheit in Freiheit. Ihr herausragender Theoretiker war der Sozialdemokrat Eduard Bernstein (1850–1932). Dessen Vorbild war nicht Marx, sondern Kant, Philosoph des Liberalismus. Revolutionäre Gewalt war ihm ein Greuel, sein Leitstern der Reformismus. Die Demokratie war zugleich «Mittel und Zweck». Was wir ironisch oder abschätzig «woke» nennen, hat mit der klassischen Reform-Linken so viel zu tun wie ein Knüppel mit einem Taktstock.

Der Heros der neuen Linken ist die Hamas, die 2006 in einer freien Wahl die Macht in Gaza eroberte, 2007 die Fatah-Konkurrenz vertrieb und Dutzende abschlachtete. Es war das Ende aller Träume, die 1993 nach dem Arafat-Rabin-Handschlag im Weissen Haus aufblühten. Ein palästinensischer Protostaat sollte Gaza werden, erst recht nach 2005, als die letzten Israeli abzogen. Tatsächlich entstand ein religiös-totalitäres Monstrum, dem die illiberale Linke huldigt. Es folgten Raketenattacken und israelische Gegenschläge. Das probate Gerede von der «Spirale der Gewalt» ignoriert die Crux. Am 7. Oktober trat die Hamas keinen Befreiungskrieg los, sondern eine sadistische Mordorgie. Das Ziel war nicht «Palästina», der Antrieb extremer Zynismus.

Demonstranten fordern am 18. Oktober unter dem Slogan «Nicht in meinem Namen» vor dem deutschen Aussenministerium in Berlin eine friedliche Lösung des Nahost-Konflikts. Maja Hitij / Getty
Erstens sollten die Massaker massive Vergeltung provozieren, um den Westen und die Araber gegen den Judenstaat aufzubringen. Diese Rechnung ging rasch auf.

Zweitens sollte die Mordlust den «katalytischen Krieg» auslösen, der Hizbullah und Iran in ein Mehrfronten-Gemetzel ziehen, zumindest die nahöstlichen Friedensschlüsse zerfetzen. Prinz Turki, einst saudiarabischer Geheimdienstchef, verurteilte deshalb «kategorisch den gezielten Mord an Zivilisten durch die Hamas». Diese wollte Riads Versuch torpedieren, eine friedliche Lösung für das Unglück der Palästinenser zu finden.

Drittens hat die Hamas das eigene Volk als Geisel genommen. Sie hat ihre Befehlszentralen und Waffen unter Hospitälern und Wohnblocks versteckt, was die Genfer Konventionen verbieten. Was soll’s? Im Krieg der Bilder sind die eigenen Leichen noch mehr wert als die des Feindes.

Die Unmoral von der Geschicht? Wir sind ja nicht antisemitisch, beteuern die Hamas-Apologeten, nur antizionistisch. Doch sind die Zielscheiben Synagogen, Schulen und Juden, die als solche zu erkennen sind.

Gefährliche Doppelmoral
Wieso ist die Hamas mit ihrem Todeskult zum Darling der woken Avantgarde geworden? Diese zeigt keine Sympathie für Kurden, Uiguren, Tibeter. Auch nicht für die Polisario, die seit Jahrzehnten in der Westsahara einen Staat gegen Marokko erkämpfen will. 100 000 christliche Armenier flohen im September vor den muslimischen Aserbaidschanern aus Berg-Karabach. Kein Progressiver vergoss eine Träne. Keiner echauffiert sich über die 1,7 Millionen Afghanen, die Pakistan jetzt deportieren will.

Woher die Doppelmoral? Dazu müssen wir tiefer in die absonderliche Ideologie der neuen Linken eindringen. Die alte Linke schwenkte nicht die Regenbogenfahne, sondern die Flagge der Aufklärung. Auf ihr prangten Säkularismus («kein Gottesstaat!»), Internationalismus («kein Chauvinismus!») und universelle Menschenrechte, unabhängig von Herkunft und Glauben.

Die falschen Erben malen ein manichäisches Weltbild, das nur «Unterdrücker» und «Unterdrückte» kennt. Der globale Schinder ist der weisse Mann, seine Opfer sind alle People of Color (POC), als wenn Pigmentierung Schicksal sei. Das ist historischer Unsinn. Lange vor dem weissen Mann haben POC erobert: Ägypter, Babylonier, Assyrer, Perser. Im 13. Jahrhundert reichte das Mongolen-Imperium vom Pazifik bis zur Donau; unter Dschingis Khan sind geschätzt bis zu vierzig Millionen umgekommen. Kein weisser Imperialist hat diesen Rekord gebrochen. Nach Entkolonisierung und Zweiteilung des Subkontinents flohen zwölf Millionen Hindus nach Indien und Muslime nach Pakistan. Heute bringen Muslime hauptsächlich einander um – siehe den Irak-Iran-Krieg der 1980er Jahre, wo eine Million Soldaten und Zivilisten umkamen. Im postkolonialen Afrika tobt der Binnenkrieg Schwarz gegen Schwarz.

Auf der Anklagebank sitzen allein der Westen und Israel als sein jüdischer Erfüllungsgehilfe, das ein «kolonialer Siedlerstaat» sein soll, was ebenfalls Geschichtsklitterung ist. Diese Siedler sind nicht von Kaiser und König unter Flottenschutz entsandt worden. Sie sind die Nachfahren von Ausgestossenen. Die Hälfte ist arabischer Herkunft – so weiss wie die Nachbarn. Der renommierte britische Historiker Simon Sebag Montefiore zieht das dürre Fazit: «Die Israeli sind weder ‹Kolonialisten› noch ‹weisse› Europäer.» Man muss ihnen dennoch die Besiedlung des Westjordanlands ankreiden, ein Giftstachel im eigenen wie im Fleisch der Palästinenser. Den zu ziehen, machen die Brutalos auf beiden Seiten tagtäglich undenkbarer.

Selbstgemachte Misere
Historisch richtig ist, dass Palästinenser und Israeli beide Opfer sind. An die 600 000 Araber flohen im israelischen Unabhängigkeitskrieg 1948; an die 900 000 Juden verloren ihre arabische Heimat. Gemäss der neulinken Logik wären alle Amerikaner bis auf die Indigenen und die Ururenkel der schwarzen Sklaven «Siedlerkolonialisten».

Obszön ist das inflationäre «Genozid»-Motiv. Wenn aus den 200 000 Arabern, die im israelischen Verteidigungskrieg 1948 nach Gaza flohen, heute zwei Millionen geworden sind? Noch ein Klassiker ist der Kolonialismus als Ursünde des Westens. Der hat aber seit einem Menschenalter keine Kolonien mehr; dennoch trage er die Schuld am Ungemach der arabischen Welt. Weitaus bessere Sünder geben die muslimischen Osmanen her, die 400 Jahre über Nahost herrschten und eine grosse arabische Kultur plattmachten.

Seit ihrer Unabhängigkeit werden alle islamischen Länder autoritär regiert, die allermeisten schaffen den Anschluss an die Moderne nicht. Die Misere ist selbstgemacht, doch schiebt das postkoloniale Narrativ dem Westen die Täterschaft zu. Das ist so falsch wie schädlich. Wer wie die Entkolonisierten keine Verantwortung trägt, muss sich nicht reformieren. Denn das Böse kommt von aussen, und wir sind die hilflosen Opfer.

Im Westen ist inzwischen ein schiefer Begriff von Gerechtigkeit en vogue. Im westlichen Kanon bezieht sich diese auf den Einzelnen, und jeder ist gleich vor dem Gesetz, ob arm oder reich, braun oder weiss. Im linken Narrativ aber herrscht das Kollektiv, definiert durch Pigmentierung, Herkunft, Identität, vor allem Opferstatus. Die Moral ist selektiv. Da sind manche Gruppen «gleicher»: Schwarze, Muslime, LGBTQ+. . ., nicht aber die Opfer von gestern wie Juden oder, in Amerika, die Nachfahren der Chinesen, die beim Eisenbahnbau wie Sklaven gehalten wurden. Recht wird zugeteilt, nicht gewogen; es geht nicht um Wohl- oder Fehlverhalten, sondern favorisierte Minderheiten.

Mithin um einen neuen Ständestaat, den grotesken Rückschritt in eine Welt, wo König, Kirche und Kaste bestimmten – siehe zuletzt den Austro- und Mussolini-Faschismus. Das Kollektiv schlägt das Individuum, die Quote das freie Spiel der Talente und Ambitionen, das ausgerechnet die Aufsteiger der Leistungsgesellschaft als Privilegienherrschaft verleumden. Angesichts solcher dialektischer Zuckungen war Karl Marx ein kristallklarer Denker.

Auf dem Spiel stehen heute diesseits des Gaza-Gemetzels die verbürgten Freiheiten des Einzelnen, die der Westen mit Strömen von Blut erkämpft hat. Der wird nun in die Zange genommen von der illiberalen Linken und dem frömmelnden Todeskult der Hamas sowie ihrer Terrorgenossen in Nahost. Am Bühnenrand applaudieren schadenfroh die Xis und Putins.

«Untergang des Abendlandes», den Spengler vor hundert Jahren prophezeite? Die demokratische Welt hat im 20. Jahrhundert die schlimmsten Prüfungen bestanden – Bolschewismus, Faschismus, zwei Weltkriege. Dagegen verhalten sich Wokismus und Islamismus wie Corona zur Pest. Das Gegengift ist das kritische Denken, das Erbe der Aufklärung. Dem geht es allerdings nicht gut in Universität und Kulturbetrieb. Ein Vakzin gegen geistige Vernebelung muss noch erfunden werden.

Josef Joffe, Distinguished Fellow in Stanford, lehrt internationale Politik und Geistesgeschichte. Als Journalist bearbeitete er den Nahen Osten.

150 Blick »Der islamische Hitlergruss«

Die Hamas-Gründungscharta stammt aus dem Jahre 1988 und wird bei weitem nicht von allen Palästinensern geteilt. Schon gar nicht von jenen, die für die HMO, eine der grössten Spitalorganisationen Israels, arbeiten. Hier sind auf allen Hierarchiestufen etwa gleich viele Palästinenser/Araber und Juden angestellt. In den Wartesälen sitzen säkulare und orthodoxe Juden neben muslimischen Frauen. Wäre das im Gazastreifen möglich? 1,7 Millionen Muslime wohnen in Israel. Und wie viele Juden in der muslimischen Welt?

Im Artikel 7 der Hamas-Charta lesen wir: «Oh Muslim, oh Diener Allahs, hier ist ein Jude, der sich hinter mir versteckt. Komm und töte ihn!» Und in Artikel 13: «Die Palästina-Frage kann nur durch den Dschihad gelöst werden», das palästinensische Volk sei zu kostbar.

Wie kostbar die eigene Bevölkerung ist, zeigt sich daran, dass sich die Hamas unter Schulen, Kindergärten und Krankenhäusern verschanzt, und von dort aus ihre vom westlichen Steuerzahler mitfinanzierten Raketen abschiesst. Während Israel vor Angriffen die Bevölkerung warnt, hält die Hamas ihre Zivilisten mit Gewalt davon ab, dem bevorstehenden Bombardement zu entkommen. Sie opfert Palästinenser für die Propaganda.

Mousa Abu Marzouk gehört dank westlicher «Palästinahilfe» zu den Milliardären der Hamas-Elite: Er sagt, die kilometerlangen Tunnelsysteme seien für Blitzangriffe gebaut und nicht zum Schutz der Bevölkerung.

Nachdem die Hamas 1400 Menschen massakriert hat, ruft der Westen zu einem Waffenstillstand auf. Soll man Terroristen, die weiterhin den «totalen Krieg» und die «totale Auslöschung» propagieren, eine Pause zur Nachrüstung gewähren?

«Es sind Psychopathen», sagt Ahmad Mansour, 49, ein einstiges Mitglied der Hamas-nahen «Islamischen Bewegung». Als Teenager suchte er Orientierung und Halt. Später studierte er jedoch in Israel und lernte Toleranz schätzen. Heute ist der Experte für Deradikalisierung selbst in Deutschland auf Personenschutz angewiesen, in einem Land, in dem verschleierte Frauen hinter einem Mob junger Araber laufen und dabei den Zeigefinger in den Himmel strecken. Die Geste steht für einen einzigen Gott, eine einzige Wahrheit. Die Extremisten haben daraus den islamistischen Hitlergruss gemacht. Unsere Feigheit ist ihre Stärke.