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Die Hamas mordet und schändet wahllos Kinder und Frauen – und das linke Milieu applaudiert. Was läuft hier gerade falsch?
Der Gazakrieg hat eine Orgie des Antisemitismus entfesselt, der die besten Traditionen der Sozialdemokratie verrät: Aufklärung, Liberalität und universelle Werte.


Autor: Josef Joffe. Distinguished Fellow in Stanford, lehrt internationale Politik und Geistesgeschichte. Als Journalist bearbeitete er den Nahen Osten.


 

Menschen demonstrieren Mitte November in Belgrad aus Solidarität mit den Palästinensern in Gaza. Marko Djurica / Reuters
August Bebel, Mitbegründer der SPD, ist berühmt für den Spruch «Antisemitismus ist der Sozialismus der dummen Kerls», doch gehört das Copyright dem österreichischen Genossen Ferdinand Kronawetter. Bebel ermahnte die Partei 1893, den «widernatürlichen» Antisemitismus zu ächten. Der Feind sei nicht der «jüdische Kapitalist», sondern die «Kapitalistenklasse».

Es gab Ermahnungsbedarf. Judenfeindschaft war wie heute kein völkisches Monopol. Für Karl Marx war das Unheil der Jude, der dem «Eigennutz» und «Schacher» gehorche; sein «weltlicher Gott ist das Geld». Folglich sei die «Emanzipation vom Judentum» das Gebot der Stunde. Bei Stalin eskalierte das Abstraktum zur Praxis. Er liess reihenweise jüdische Mitstreiter wie Trotzki liquidieren. Juden waren im Sowjetsprech «wurzellose Kosmopoliten», Volksverräter. Dennoch wurde Stalin von linken Literaten wie Sartre und G. B. Shaw beklatscht. Heute spricht die Intelligenzia die Hamas heilig. Sie plappert nach, was die Hamas will: Weg mit Israel, doziert das Politbüro-Mitglied Osama Hamdan am 11. Oktober im libanesischen Fernsehen; nur so «können alle anderen Probleme gelöst werden».

Die neue Linke hantiert mit Dekonstruktivismus und Neologismen. Vergessen sind die altlinken Parolen von «Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit», weggedrückt wird die blutrünstige Tyrannei der Hamas. Ein zweites Novum: Seinerzeit war die demokratische Linke eine Bewegung von unten. Heute ist «links» alias «woke» ein Projekt der Elite.

Beheimatet ist es nicht in den Slums, sondern in den schicken Stadtteilen von Berlin bis Boston. Der typische Protagonist ist gebildet und gut alimentiert. Er wird vom Staat getragen. Sein Habitat ist die Universität, die Schule, der städtische Kulturbetrieb, der staatsnahe Rundfunk. Die Ironie: Diese neue Linke kämpft gegen Privilegien, doch könnte sie selber nicht privilegierter sein. Ihr Einkommen ist so gesichert wie ihre Kulturhoheit.

Heros der neuen Linken
Die demokratische Linke wurzelte in der Aufklärung (selber denken), im Liberalismus (das Individuum ist König), in «unveräusserlichen Rechten», die niemand antasten durfte. Im Zentrum stand Gleichheit in Freiheit. Ihr herausragender Theoretiker war der Sozialdemokrat Eduard Bernstein (1850–1932). Dessen Vorbild war nicht Marx, sondern Kant, Philosoph des Liberalismus. Revolutionäre Gewalt war ihm ein Greuel, sein Leitstern der Reformismus. Die Demokratie war zugleich «Mittel und Zweck». Was wir ironisch oder abschätzig «woke» nennen, hat mit der klassischen Reform-Linken so viel zu tun wie ein Knüppel mit einem Taktstock.

Der Heros der neuen Linken ist die Hamas, die 2006 in einer freien Wahl die Macht in Gaza eroberte, 2007 die Fatah-Konkurrenz vertrieb und Dutzende abschlachtete. Es war das Ende aller Träume, die 1993 nach dem Arafat-Rabin-Handschlag im Weissen Haus aufblühten. Ein palästinensischer Protostaat sollte Gaza werden, erst recht nach 2005, als die letzten Israeli abzogen. Tatsächlich entstand ein religiös-totalitäres Monstrum, dem die illiberale Linke huldigt. Es folgten Raketenattacken und israelische Gegenschläge. Das probate Gerede von der «Spirale der Gewalt» ignoriert die Crux. Am 7. Oktober trat die Hamas keinen Befreiungskrieg los, sondern eine sadistische Mordorgie. Das Ziel war nicht «Palästina», der Antrieb extremer Zynismus.

Demonstranten fordern am 18. Oktober unter dem Slogan «Nicht in meinem Namen» vor dem deutschen Aussenministerium in Berlin eine friedliche Lösung des Nahost-Konflikts. Maja Hitij / Getty
Erstens sollten die Massaker massive Vergeltung provozieren, um den Westen und die Araber gegen den Judenstaat aufzubringen. Diese Rechnung ging rasch auf.

Zweitens sollte die Mordlust den «katalytischen Krieg» auslösen, der Hizbullah und Iran in ein Mehrfronten-Gemetzel ziehen, zumindest die nahöstlichen Friedensschlüsse zerfetzen. Prinz Turki, einst saudiarabischer Geheimdienstchef, verurteilte deshalb «kategorisch den gezielten Mord an Zivilisten durch die Hamas». Diese wollte Riads Versuch torpedieren, eine friedliche Lösung für das Unglück der Palästinenser zu finden.

Drittens hat die Hamas das eigene Volk als Geisel genommen. Sie hat ihre Befehlszentralen und Waffen unter Hospitälern und Wohnblocks versteckt, was die Genfer Konventionen verbieten. Was soll’s? Im Krieg der Bilder sind die eigenen Leichen noch mehr wert als die des Feindes.

Die Unmoral von der Geschicht? Wir sind ja nicht antisemitisch, beteuern die Hamas-Apologeten, nur antizionistisch. Doch sind die Zielscheiben Synagogen, Schulen und Juden, die als solche zu erkennen sind.

Gefährliche Doppelmoral
Wieso ist die Hamas mit ihrem Todeskult zum Darling der woken Avantgarde geworden? Diese zeigt keine Sympathie für Kurden, Uiguren, Tibeter. Auch nicht für die Polisario, die seit Jahrzehnten in der Westsahara einen Staat gegen Marokko erkämpfen will. 100 000 christliche Armenier flohen im September vor den muslimischen Aserbaidschanern aus Berg-Karabach. Kein Progressiver vergoss eine Träne. Keiner echauffiert sich über die 1,7 Millionen Afghanen, die Pakistan jetzt deportieren will.

Woher die Doppelmoral? Dazu müssen wir tiefer in die absonderliche Ideologie der neuen Linken eindringen. Die alte Linke schwenkte nicht die Regenbogenfahne, sondern die Flagge der Aufklärung. Auf ihr prangten Säkularismus («kein Gottesstaat!»), Internationalismus («kein Chauvinismus!») und universelle Menschenrechte, unabhängig von Herkunft und Glauben.

Die falschen Erben malen ein manichäisches Weltbild, das nur «Unterdrücker» und «Unterdrückte» kennt. Der globale Schinder ist der weisse Mann, seine Opfer sind alle People of Color (POC), als wenn Pigmentierung Schicksal sei. Das ist historischer Unsinn. Lange vor dem weissen Mann haben POC erobert: Ägypter, Babylonier, Assyrer, Perser. Im 13. Jahrhundert reichte das Mongolen-Imperium vom Pazifik bis zur Donau; unter Dschingis Khan sind geschätzt bis zu vierzig Millionen umgekommen. Kein weisser Imperialist hat diesen Rekord gebrochen. Nach Entkolonisierung und Zweiteilung des Subkontinents flohen zwölf Millionen Hindus nach Indien und Muslime nach Pakistan. Heute bringen Muslime hauptsächlich einander um – siehe den Irak-Iran-Krieg der 1980er Jahre, wo eine Million Soldaten und Zivilisten umkamen. Im postkolonialen Afrika tobt der Binnenkrieg Schwarz gegen Schwarz.

Auf der Anklagebank sitzen allein der Westen und Israel als sein jüdischer Erfüllungsgehilfe, das ein «kolonialer Siedlerstaat» sein soll, was ebenfalls Geschichtsklitterung ist. Diese Siedler sind nicht von Kaiser und König unter Flottenschutz entsandt worden. Sie sind die Nachfahren von Ausgestossenen. Die Hälfte ist arabischer Herkunft – so weiss wie die Nachbarn. Der renommierte britische Historiker Simon Sebag Montefiore zieht das dürre Fazit: «Die Israeli sind weder ‹Kolonialisten› noch ‹weisse› Europäer.» Man muss ihnen dennoch die Besiedlung des Westjordanlands ankreiden, ein Giftstachel im eigenen wie im Fleisch der Palästinenser. Den zu ziehen, machen die Brutalos auf beiden Seiten tagtäglich undenkbarer.

Selbstgemachte Misere
Historisch richtig ist, dass Palästinenser und Israeli beide Opfer sind. An die 600 000 Araber flohen im israelischen Unabhängigkeitskrieg 1948; an die 900 000 Juden verloren ihre arabische Heimat. Gemäss der neulinken Logik wären alle Amerikaner bis auf die Indigenen und die Ururenkel der schwarzen Sklaven «Siedlerkolonialisten».

Obszön ist das inflationäre «Genozid»-Motiv. Wenn aus den 200 000 Arabern, die im israelischen Verteidigungskrieg 1948 nach Gaza flohen, heute zwei Millionen geworden sind? Noch ein Klassiker ist der Kolonialismus als Ursünde des Westens. Der hat aber seit einem Menschenalter keine Kolonien mehr; dennoch trage er die Schuld am Ungemach der arabischen Welt. Weitaus bessere Sünder geben die muslimischen Osmanen her, die 400 Jahre über Nahost herrschten und eine grosse arabische Kultur plattmachten.

Seit ihrer Unabhängigkeit werden alle islamischen Länder autoritär regiert, die allermeisten schaffen den Anschluss an die Moderne nicht. Die Misere ist selbstgemacht, doch schiebt das postkoloniale Narrativ dem Westen die Täterschaft zu. Das ist so falsch wie schädlich. Wer wie die Entkolonisierten keine Verantwortung trägt, muss sich nicht reformieren. Denn das Böse kommt von aussen, und wir sind die hilflosen Opfer.

Im Westen ist inzwischen ein schiefer Begriff von Gerechtigkeit en vogue. Im westlichen Kanon bezieht sich diese auf den Einzelnen, und jeder ist gleich vor dem Gesetz, ob arm oder reich, braun oder weiss. Im linken Narrativ aber herrscht das Kollektiv, definiert durch Pigmentierung, Herkunft, Identität, vor allem Opferstatus. Die Moral ist selektiv. Da sind manche Gruppen «gleicher»: Schwarze, Muslime, LGBTQ+. . ., nicht aber die Opfer von gestern wie Juden oder, in Amerika, die Nachfahren der Chinesen, die beim Eisenbahnbau wie Sklaven gehalten wurden. Recht wird zugeteilt, nicht gewogen; es geht nicht um Wohl- oder Fehlverhalten, sondern favorisierte Minderheiten.

Mithin um einen neuen Ständestaat, den grotesken Rückschritt in eine Welt, wo König, Kirche und Kaste bestimmten – siehe zuletzt den Austro- und Mussolini-Faschismus. Das Kollektiv schlägt das Individuum, die Quote das freie Spiel der Talente und Ambitionen, das ausgerechnet die Aufsteiger der Leistungsgesellschaft als Privilegienherrschaft verleumden. Angesichts solcher dialektischer Zuckungen war Karl Marx ein kristallklarer Denker.

Auf dem Spiel stehen heute diesseits des Gaza-Gemetzels die verbürgten Freiheiten des Einzelnen, die der Westen mit Strömen von Blut erkämpft hat. Der wird nun in die Zange genommen von der illiberalen Linken und dem frömmelnden Todeskult der Hamas sowie ihrer Terrorgenossen in Nahost. Am Bühnenrand applaudieren schadenfroh die Xis und Putins.

«Untergang des Abendlandes», den Spengler vor hundert Jahren prophezeite? Die demokratische Welt hat im 20. Jahrhundert die schlimmsten Prüfungen bestanden – Bolschewismus, Faschismus, zwei Weltkriege. Dagegen verhalten sich Wokismus und Islamismus wie Corona zur Pest. Das Gegengift ist das kritische Denken, das Erbe der Aufklärung. Dem geht es allerdings nicht gut in Universität und Kulturbetrieb. Ein Vakzin gegen geistige Vernebelung muss noch erfunden werden.

Josef Joffe, Distinguished Fellow in Stanford, lehrt internationale Politik und Geistesgeschichte. Als Journalist bearbeitete er den Nahen Osten.

150 Blick »Der islamische Hitlergruss«

Die Hamas-Gründungscharta stammt aus dem Jahre 1988 und wird bei weitem nicht von allen Palästinensern geteilt. Schon gar nicht von jenen, die für die HMO, eine der grössten Spitalorganisationen Israels, arbeiten. Hier sind auf allen Hierarchiestufen etwa gleich viele Palästinenser/Araber und Juden angestellt. In den Wartesälen sitzen säkulare und orthodoxe Juden neben muslimischen Frauen. Wäre das im Gazastreifen möglich? 1,7 Millionen Muslime wohnen in Israel. Und wie viele Juden in der muslimischen Welt?

Im Artikel 7 der Hamas-Charta lesen wir: «Oh Muslim, oh Diener Allahs, hier ist ein Jude, der sich hinter mir versteckt. Komm und töte ihn!» Und in Artikel 13: «Die Palästina-Frage kann nur durch den Dschihad gelöst werden», das palästinensische Volk sei zu kostbar.

Wie kostbar die eigene Bevölkerung ist, zeigt sich daran, dass sich die Hamas unter Schulen, Kindergärten und Krankenhäusern verschanzt, und von dort aus ihre vom westlichen Steuerzahler mitfinanzierten Raketen abschiesst. Während Israel vor Angriffen die Bevölkerung warnt, hält die Hamas ihre Zivilisten mit Gewalt davon ab, dem bevorstehenden Bombardement zu entkommen. Sie opfert Palästinenser für die Propaganda.

Mousa Abu Marzouk gehört dank westlicher «Palästinahilfe» zu den Milliardären der Hamas-Elite: Er sagt, die kilometerlangen Tunnelsysteme seien für Blitzangriffe gebaut und nicht zum Schutz der Bevölkerung.

Nachdem die Hamas 1400 Menschen massakriert hat, ruft der Westen zu einem Waffenstillstand auf. Soll man Terroristen, die weiterhin den «totalen Krieg» und die «totale Auslöschung» propagieren, eine Pause zur Nachrüstung gewähren?

«Es sind Psychopathen», sagt Ahmad Mansour, 49, ein einstiges Mitglied der Hamas-nahen «Islamischen Bewegung». Als Teenager suchte er Orientierung und Halt. Später studierte er jedoch in Israel und lernte Toleranz schätzen. Heute ist der Experte für Deradikalisierung selbst in Deutschland auf Personenschutz angewiesen, in einem Land, in dem verschleierte Frauen hinter einem Mob junger Araber laufen und dabei den Zeigefinger in den Himmel strecken. Die Geste steht für einen einzigen Gott, eine einzige Wahrheit. Die Extremisten haben daraus den islamistischen Hitlergruss gemacht. Unsere Feigheit ist ihre Stärke.

149 Blick »Wir schaffen das. Doch nicht.«

Im Herbst 2015 öffnete Angela Merkel eigenmächtig die Grenzen. Geheimdienste warnten, dass nun alle Konflikte dieser Welt importiert würden. Es kamen Menschen in Not, aber es kamen auch junge Männer, die Westeuropa in Not brachten. «Asyl» wurde zum Passepartout für alle. Das Unheil, das Merkel über Europa brachte, fasste der Soziologe Ruud Koopmans in Zahlen: «In Deutschland wurden zwischen 2017 und 2020 rund 300 Menschen von Flüchtlingen ermordet, über 3000 Frauen fielen im gleichen Zeitraum einer Vergewaltigung durch einen oder mehrere Flüchtlinge zum Opfer.» Die NZZ kommentierte: »Bei Sexualdelikten sind die Täter aus islamischen Ländern massiv übervertreten«.

In meinem Thriller «Godless Sun» hatte ich aufgrund der Geheimdienstberichte die Folgen beschrieben. Wer 2015 aussprach, was heute Realität ist, erhielt Saures. Wer eine kontrollierte Zuwanderung befürwortete, galt als ausländerfeindlich. Der Roman wurde auf dem Höhepunkt von «Refugees Welcome» aus dem Handel genommen. Man hat wie üblich nicht das Problem beseitigt, sondern die Berichterstattung.

Acht Jahre später sagt SPD-Bundeskanzler Scholz plötzlich: «Wir müssen im grossen Stil abschieben.» Doch was Merkel angerichtet hat, ist irreversibel. Es sind schon zu viele hier, Integration erübrigt sich. Gemäss dem panafrikanischen Forschungsnetzwerk «Afrobarometer» sind über eine halbe Milliarde Afrikaner ausreisewillig. Die Mehrkosten für die auszubauende Infrastruktur bezahlt die arbeitende Bevölkerung.

In Berliner Strassen randalieren junge Muslime: «Macht Deutschland zu Gaza, Allahu akbar.» Dieser lautstarke Gewalthaufen schadet seinen gut integrierten Landsleuten enorm. Letztes Jahr fielen rund 2000 junge Nordafrikaner über einen Badeort am Gardasee her, sie griffen die ausgedünnte Polizei an, begrapschten Frauen und schrien: «Das hier ist Afrika.» Morgen werden es 5000 sein. In Frankreich und England sind es bereits weit über zehntausend.

Schweden hielt tapfer an ihrer Realitätsverweigerung fest, jetzt ist das Land zum Wilden Westen verkommen. Das ist das Resultat einer Laissez-faire-Politik, die man als Toleranz verkaufte, Toleranz gegenüber jenen, die bei uns die Hasskultur ausleben, die ihre Heimatländer in den Abgrund gerissen hat. Wenn wir jetzt bei Abschiebungen von ausländischen Straftätern weiterhin keine Härte zeigen, werden wir selbst Härte erfahren.

148 Blick »Judenfeindlichkeit, die »wokeness« der 1970er-Jahre«

In den 1960er-Jahren fragte ich meine Mutter, was sie eigentlich gegen Juden habe. Wir kannten ja keine. Sie sagte, die Juden hätten Jesus ans Kreuz geschlagen. Schon eine Weile her, dachte ich. Mein Vater riet mir, Juden zu meiden, denn sie seien geldgierig und geizig. Als Teenager verliess ich später nicht nur dieses Elternhaus, sondern auch all die Vorurteile, die man mir wie eine Schluckimpfung verabreicht hatte.

 

In den 1970er-Jahren war es chic, mit dem Schal des damaligen PLO-Terrorchefs Jassir Arafat in die Schule zu gehen, man zitierte aus der roten Mao-Bibel und huldigte Che Guevara, dem Stalin-Verehrer und «Marlboro Man» der Linken. Man schwärmte für die DDR, die selbst nach dem Olympia-Massaker (1972) auf der Seite der Palästinenser blieb und ihnen weiter schwere Waffen lieferte. Die Liebe zum Totalitären war genauso verbreitet wie die Judenfeindlichkeit.

 

Das war der damalige Zeitgeist, die eingebildete «Wokeness» der Siebziger. Die Jungs wurden zwar älter und entsorgten ihre karierten Halstücher, aber nicht ihre Abneigung gegen Juden.

 

Vor Jahren unterhielt ich mich mit einem linken Verleger über eine Autorin. Er mochte sie nicht und sagte, sie sei halt eine Jüdin. Irritiert hat mich, dass er automatisch annahm, dass ich als Schriftsteller seine Meinung teile. Judenfeindlichkeit ist integraler Bestandteil der rot-grünen Agenda.

 

Während man bei Putin keine Sekunde zögerte, Boykotte zu verhängen, zögert man, die Zahlungen an Palästinenser einzufrieren. In den letzten 50 Jahren erhielten diese vom Westen zig Milliarden und sind dennoch nicht in der Lage, selber für Wasser und Elektrizität zu sorgen. Aber sehr wohl für Waffen.

 

Dass in Europa zugewanderte Palästinenser auf offener Strasse die barbarische Abschlachterei von israelischen Senioren, Frauen und Kindern feiern und dabei Hakenkreuze in die Kameras halten, ist widerlich.

 

Die Gräueltaten in Israel belegen einmal mehr, dass man bei uns nicht jede Kultur integrieren kann. Und schon gar nicht junge Männer, an denen die zivilisatorische Entwicklung der letzten 2000 Jahre scheinbar spurlos vorbeigegangen ist.

 

Stossend, dass ich mit meinen Steuern über Umwege eine Terrororganisation mitfinanziere.

147 Blick »Wunschwelt ohne Polizei«

Am 22. Juli 1934 verliess John Dillinger mit der Prostituierten Anna Sage das Kino an der North Lincoln Avenue in Chicago. Als er auf die Strasse hinaustrat, wurde er von FBI-Agenten erschossen. Anna Sage hatte ihn verraten. Das Jahr ging als «Year of the Gangster» (Das Jahr der Gangster) in die Geschichte ein. Nur dank der Modernisierung und massiven Aufrüstung der Polizei konnten in wenigen Monaten alle namhaften Gangster der damaligen Zeit gefasst oder erschossen werden, darunter auch Bonnie und Clyde.

Es war erneut einer personellen und technischen Aufrüstung der Polizei zu verdanken, dass 1985 gleich alle fünf Mafiabosse New Yorks vor Gericht kamen und in allen 151 Anklagepunkten für schuldig befunden wurden.

Mittlerweile ersetzen Ideologien historische Erfahrungen. Die kanadische Feministin Leslie Kern bezeichnet in ihrem Buch «Feminist City» nicht nur westliche Städte als «Phallus-Wälder» und Hochhäuser als «Gebäude, die in den Himmel ejakulieren», sie fordert auch die Abschaffung der Polizei, um die «Sicherheit der Frauen zu erhöhen».

Ricarda Lang, Spitzenpolitikerin der deutschen Grünen, gestand der ARD, dass sie nachts nicht allein durch den Berliner Görlitzer Park spazieren würde. Auch der grüne Landwirtschaftsminister Cem Özdemir gesteht, dass seine 17-jährige Tochter selbst in Begleitung den Park meidet und zu bestimmten Zeiten sogar Busse und Bahnen. Wieso tun sie nichts dagegen? Wer Probleme unter den Teppich kehrt, gerät selber unter den Teppich.

Auch die Schweizer Jungsozialisten (Juso) fordern langfristig dieAbschaffung der Polizei. Das Problem der Ausländerkriminalität, das selbst die Kita der Sozialdemokraten nicht mehr leugnen kann, wollen sie mit einer automatischen Einbürgerung lösen, damit in Zukunft alle ausländischen Sexualstraftäter Schweizer sind und wenigstens in der Statistik die ersehnte «Wunschwelt» von SP-Co-Präsidentin Mattea Meyer Realität wird. Die Bevölkerung wünscht sich jedoch mehr Sicherheit und nicht mehr Gendersternchen.

Vielleicht sollte die Juso ihre nächste Versammlung in einem deutschen Freibad abhalten. Die Unversehrtheit der weiblichen Delegierten könnte allerdings nicht garantiert werden. Zu wenige Securitys.

»Gehet hin und tötet«, Textprobe Seiten 1-3

Textprobe Seiten 1-3

Der Roman erschien in deutscher Spache erstmals als Hardcover bei Heyne München, später bei Lenos unter dem Titel »Der Bankier Gottes«.


VATIKANSTADT  Seiten 1-3

»Es ist nur ein Gerücht«, versuchte Luigi Albertini den alten Mann zu beschwichtigen. Doch jetzt war es zu spät. Er hatte es ausgesprochen, dieses Gerücht, und nun saß der ausgemergelte Greis mit dem schütteren Haar wie eine Mumie in seinem Barocksessel. Er erhob mühsam die rechte Hand für eine abwehrende Geste, als wollte er andeuten, dass es nun genug sei. Die Hand sank kraftlos auf die Armlehne zurück. Die Augen in den tiefliegenden Höhlen waren starr auf die Wand gerichtet. Der alte Mann hatte Angst. Vereinzelte Regentropfen klatschten gegen die hohen Glasfenster der päpstlichen Privatgemächer. Der Petersdom erwachte im Morgengrauen. Nichts würde mehr so sein wie vorher. Luigi Albertini kniete neben dem Heiligen Vater nieder und wiederholte, dass es doch nur ein Gerücht sei. Albertini war ein gutaussehender Mann von knapp vierzig Jahren, sportlich durchtrainiert und kein gewöhnlicher Diplomat des Heiligen Stuhls. Er war als Nuntius mit Spezialauftrag direkt dem Papst unterstellt. Er war der Nunzio Apostolico Con Incarichi Speciali, der Geheimagent des Papstes. »Ich dachte«, sprach der alte Mann mit heiserer Stimme, »ich würde diesen Sommer nicht mehr erleben. Der Herr würde mich vorher zu sich rufen. Er hat es nicht getan. Manchmal fragte ich mich, ob er mich wohl vergessen hat. Ob auch Gott Dinge vergisst. Doch jetzt ergibt alles einen Sinn.« Dem Heiligen Vater versagte die Stimme. Er hustete, versuchte den Schleim aus den verklebten Bronchien zu lösen. Ein paar Speicheltropfen schlierten über die schmalen Lippen. Er ließ es geschehen. Er hatte ein Leben lang versucht, mit dem Rauchen aufzuhören, aber er hatte es nie geschafft. Weder Gebete noch Kehlkopfoperation, noch Chemotherapien hatten ihn zur Vernunft gebracht. Und dennoch gab es nicht ein einziges Foto, das ihn mit einer Zigarette zeigte. Die beiden Männer schwiegen für eine Weile. Zwei Spatzen setzten sich auf den Fenstersims und schüttelten das kalte Nass aus ihrem Gefieder. Erst jetzt fiel dem Papst auf, dass die Spatzen oft zu zweit auf seinem Fenstersims landeten und dass er sein Leben allein verbracht hatte. Eine tiefe Melancholie erfasste ihn. »Dann ist es jetzt so weit«, flüsterte der Heilige Vater. »Es ist wirklich nur ein Gerücht, Eure Heiligkeit«, wiederholte Luigi Albertini, »es stammt von den Leuten, die sich in Rom in der Basilika San Clemente treffen.« Er erhob sich und trat einen Schritt zum Fenster. Eine Straßenkehrmaschine fuhr lärmend über den morgendlichen Petersplatz und verscheuchte die Vogelschwärme. Dann knatterte der Motor, und schwarzer Rauch entwich dem Auspuff. Die Maschine blieb stehen. Der Mann von der Straßenreinigung stieg aus und zündete sich eine Zigarette an. In Italien gewöhnt man sich daran, dass nichts funktioniert. Schwarzer Rauch über dem Petersplatz, dachte Luigi Albertini. Er glaubte nicht an Vorzeichen. Er würde sich später an die Straßenkehrmaschine erinnern, die Vogelschwärme, die Glocken, die zur Frühmesse läuteten, den bröckelnden Kitt im Fensterrahmen, das Wasser, das sich innen auf dem Fenstersims sammelte und an der Tapete entlang hinuntertropfte und in den Teppich sickerte. Er würde sich erinnern, dass der Papst dagesessen hatte, mit offenem Mund, unbeweglich und mit düsterem Blick, als würde er von einer diabolischen Sinnestäuschung heimgesucht, als sehe er eine gewaltige Flutwelle auf sich zurollen, gigantische Wellen, die sich zu einem Berg auftürmen und ihn für immer wegspülen würden. Der Papst hatte Angst. War sein Glaube zu schwach? Es gibt Nachrichten, die keine Reflexe mehr auslösen, keine Fluchtbewegung, kein Aufbäumen, keinen Protest, kein Flehen, kein Bitten. Es gibt Nachrichten, deren Tragweite man sofort begreift, weil sie endgültig sind. Irreversibel. Man begreift sie mit dem ganzen Körper. Albertinis Nachricht war eine solche. Der Heilige Vater wusste an jenem Morgen sofort um die Bedeutung von Albertinis Worten. Er erinnerte sich, wie man ihn als frisch gewählten Papst in den geheimen Archiven des Vatikans eingeschlossen und ihn gebeten hatte, die Siegel eines Dokuments zu brechen, um die letzten Geheimnisse zu erfahren. Er hatte alles gelesen, bis in die frühen Morgenstunden. Danach hatte er das knapp zweihundertseitige Dossier eigenhändig wieder versiegelt, zu Händen seines Nachfolgers. Doch jetzt fragte er sich, ob es nach ihm noch einen Nachfolger geben würde. Denn das Gerücht war in Umlauf gesetzt worden. Bald würde es sein blindwütiges Zerstörungswerk in Gang setzen.


Textprobe 2


LIBYEN  

Gleißendes Licht blendete die beiden nackten Männer, die mit spitzen Speeren in die zerfallene Arena des Amphitheaters von Leptis Magna getrieben wurden. Über dem Tor zur Arena standen Männer mit schwarzen Anzügen und dunklen Sonnenbrillen. Ein frischer Wind wehte vom Meer her über die Ruinen des einst so berühmten Theaters. Auf den erhöhten Rängen waren bewaffnete Männer postiert. Eine Flucht war ausgeschlossen.

»Männer«, begann Salvatore Calame mit lauter Stimme, »vor der Asche unseres verstorbenen Bruders Don Antonio Calame werdet ihr einen ehrenhaften Kampf auf Leben und Tod ausführen, so wie es seit den Etruskern Brauch ist. Bedenkt, dass dieser Kampf eine religiöse Handlung darstellt. Mit eurem Blut werdet ihr den Geist des Verstorbenen versöhnen. Wir opfern euer Blut unserem geliebten Don Antonio Calame.«

Furio und Francesco warfen den beiden nackten Männern je ein römisches Kurzschwert, einen Gladius, zu und zogen sich rasch zurück.

»Wir werden niemals gegeneinander kämpfen«, schrie Frank Bohne zu den Männern auf den Rängen. Der Don antwortete nicht. Man hörte nur das Meer, den Wind, und es war weit und breit keine Menschenseele, die den beiden hätte zu Hilfe eilen können. Bohne schaute verzweifelt zu Lustrinelli. Dieser bückte sich nach seinem Gladius. Blitzschnell ergriff auch Bohne seinen Gladius und wich ängstlich zurück. Frank Bohne umklammerte die Waffe mit zitternder Hand. Er hatte Angst. Er war in allen sportlichen Dingen immer schon sehr ungeschickt gewesen. In seiner Playstation war er unbesiegbar. Aber das hier war kein Spiel. Er war irgendwelchen Irren in die Hände geraten. Gleich würde etwas Unglaubliches, etwas schier Unfassbares geschehen. Sie waren hier in Libyen und würden sich gleich einen Gladiatorenkampf auf Leben und Tod liefern. Und das im einundzwanzigsten Jahrhundert! »Das ist der blanke Irrsinn«, schluchzte King Cruel und zeigte den Männern auf den Rängen sein verweintes Gesicht, »lasst es jetzt gut sein! Ich halte das nicht mehr aus!«

»Ich werde nicht gegen dich kämpfen, Junge«, schrie Lustrinelli mit fester Stimme. Die Hitze machte ihm zu schaffen. Er machte ein paar Schritte nach vorne. Plötzlich hielt er inne: »Ich werde keinen Menschen töten«, flüsterte er leise.

»Ich auch nicht«, schluchzte Bohne, »ich kann das nicht.«

»Wenn sie uns töten wollen, sollen sie es tun«, sagte Lustrinelli, während er ein paar weitere Schritte auf Bohne zuging.

»Wir werfen einfach unsere Waffen weg«, sagte Bohne. Seine Stimme überschlug sich. Es war so erbärmlich hier zu stehen, nackt in der glühenden Sonne, und um sein Leben zu winseln. Lustrinelli zeigte keinerlei Regung. Nackt stand er vor dem Programmierer und wartete. Lustrinellis Unerschrockenheit machte Bohne Angst. Ein böser Traum, fuhr es Bohne durch den Kopf, es ist alles nur ein böser Traum. In diesem Moment durchbohrte Lustrinellis Gladius seinen Bauch. Lustrinelli hatte derart wuchtig zugestoßen, dass er den Halt verlor. Er sackte vor dem verblüfften Programmierer in die Knie und schaute zu ihm hoch. Sein Gladius hatte Bohnes Weichteile oberhalb der linken Hüfte durchbohrt. Lustrinelli wollte den Gladius wieder aus dem Fleisch ziehen, aber Bohne hielt das Schwert fest. Er schaute zu den Rängen hoch. Wabernde Luft verzerrte die schwarzen Gestalten bis zur Unkenntlichkeit. Er sah, dass sie sich ihm näherten, wie stumme Geister aus der Unterwelt. Nur nicht den Gladius herausziehen, dachte Bohne. Ein wildes Schnauben ließ ihn aufhorchen. Furio und Francesco hatten einen Stier in die Arena getrieben. Einen Stier! Es war noch nicht vorbei.

»Lebend werde ich euch von größerem Nutzen sein!«, schrie Lustrinelli, so laut er konnte. »Du besudelst das Andenken des Verstorbenen«, schrie Salvatore in die Arena hinunter, »steh auf, und kämpfe wie ein Mann.«

Dann erhob sich Lustrinelli und wandte sich dem Stier zu. Der Deutsche torkelte rückwärts, als habe er sich noch nicht entschieden, ob er langsam verbluten oder sofort tot umfallen wollte. Unterdessen senkte der Stier seinen monströsen Schädel und scharrte mit dem Fuß im Staub der Arena. Da brüllte Lustrinelli, so laut er konnte: »Sol invictus!«

Der Stier setzte eine Tonne Körpergewicht in Bewegung und donnerte mit stampfenden Hufen auf Lustrinelli los, der erneut »Sol invictus« brüllte.

Mehrere Schüsse peitschten über die Arena. Lustrinelli ging zu Boden und versuchte mit seinem linken Arm sein Gesicht zu schützen. Er sah, wie der Stier vor ihm einknickte. Der schwere Kopf wurde zu Boden gedrückt, während das Hinterteil des Stiers zuerst in die Höhe flog und dann seitlich verkrümmt mit einem dumpfen Schlag auf der Erde aufschlug, während laufend weitere Schüsse abgefeuert wurden. Nach einer Weile richtete sich Lustrinelli auf. Er keuchte und rang nach Luft. Er war unverletzt. Der Stier vor ihm lag im Sterben. Blut floss aus seinem weit aufgerissenen Maul. Dann verdrehte das Tier die Augen, die Zunge glitt heraus. Lustrinelli roch den dampfenden Geruch von warmem Blut. Der Präsident der italienischen Nationalbank wollte aufstehen. Es ging nicht. Seine Knie waren wie aus Watte. Er war unverletzt, aber er konnte sich nicht mehr rühren. Salvatore kam allein die Stufen der Arena herunter. Er blieb vor dem knienden Lustrinelli stehen.

»Was weißt du über die Dinge, die jeder sieht und keiner ahnt?«, fragte Salvatore leise.

»Sol invictus«, antwortete Lustrinelli leise und senkte sein Haupt. Er wollte leben, einfach nur leben.

»Du bist keiner von uns«, flüsterte Salvatore, »wer hat es verraten?«

»Dario Baresi, der Neapolitaner, der in London mit Gold handelt.«

»Dario Baresi«, flüsterte Salvatore fassungslos, »er bricht den Schwur …«

»Ich habe ihm das Gold des Heiligen Stuhls übergeben. Im Auftrag des Vatikans.«

»Der Vatikan hat sein Gold Don Calame anvertraut, wir haben es dir anvertraut. Und du hättest es uns zurückgeben müssen.«

»Nein. Es ist das Gold des Vatikans.«

»Es wäre an Don Calame gewesen, dieses Gold an den Vatikan zurückzugeben. Wir hätten eine Lösung gefunden. Aber du hast dem Vatikan geholfen, sich von Don Calame zu lösen. Dabei verdankst du alles, was du bist, Don Calame. Aber du hast es vergessen. Du verleugnest ihn und lässt ihn im Stich. Du verrätst unsere Freundschaft.«

»Ich konnte nicht anders«, stieß Lustrinelli aus, »es war die strikte Anweisung des Vatikans, das Gold an Dario Baresi zu übergeben. Aber Dario Baresi ist doch einer von euch!«

»Nein, er war einer von uns. Baresi ist wie du. Durch uns ist er geworden, was er ist. Er hat den Auftrag des Vatikans erhalten, weil er sich von uns losgelöst hat. Und jetzt hat er sogar den Vertrag gebrochen. Sol invictus.«

»Sol invictus, aber ich werde es nicht verraten. Ich weiß nichts über eure Bräuche und Ziele.« »Schweig, Lustrinelli. Du wirst uns zu Dario Baresi führen. Er versteckt sich. Wer weiß, vielleicht hat Sol invictus heute tatsächlich dein Leben gerettet.« Salvatore blinzelte in die Sonne, als erwarte er von ihr eine Antwort. Die Hitze war drückend.


Textprobe 3


»Kennen Sie die Filme von Sergio Leone?«

»Ja.«

Albertini schüttelte genervt den Kopf. Was soll die Frage?

»The Good, the Bad and the Ugly, 1966. Mein Geburtsjahr. Ich habe alles gesehen, was damals in die Kinos kam. Aber nur bei diesem Film musste ich weinen. Bei einer Szene.« Francesco atmete tief durch und schaute durch das Panoramafenster in den Garten hinaus. Er kannte Furios Part auswendig.

»Es gibt da eine Szene im Strafgefangenenlager der Nordstaatler. Die gefangenen Südstaatler müssen draußen Musik spielen, The Story of a Soldier, während drinnen in der Holzbaracke Tuco gefoltert wird.«

»Geht’s nicht etwas kürzer?«, unterbrach ihn Francesco.

»Writing is re-writing, ich finde, die Szene wird jedes Mal besser.«

Furio wandte sich wieder Albertini zu, der sich allmählich unwohl fühlte.

»Eli Wallach wird in der Holzhütte zusammengeschlagen, gefoltert, der arme Kerl verliert sogar einen Zahn … und am Ende, und genau darauf will ich hinaus, gesteht er doch alles. Gesteht, wo der Goldschatz vergraben liegt. Und da fragt sich der Zuschauer, wieso zum Teufel hat der arme Kerl nicht sofort geplaudert? Dann hätte er noch all seine Zähne, hm?« Furio grinste breit. Francesco zuckte die Schulter. Er gab Furio recht. Das war eine neue Wendung. Eine eindeutige Verbesserung.

»Aber dann holen sie Clint Eastwood rein«, sagte Francesco und setzte die Erzählung fort, »weil Eli Wallach gesagt hat, der Goldschatz ist auf dem Friedhof vergraben, aber nur der Blonde weiß, in welchem Grab. Und es gibt Tausende von Gräbern da draußen. Also holen sie den Blonden rein. Clint Eastwood. Er sieht das Blut am Boden. Und erneut beginnt die Musik zu spielen …«

»Ja, und jetzt machen wir uns Sorgen«, brummte Francesco wie zu sich selbst. Furio fuhr fort: »Und Clint Eastwood sagt: ›Wollen Sie mir die gleiche Behandlung zukommen lassen?‹ Dabei wäre es schöner, wenn er sagen würde: ›Spielt die Musik für mich?‹ Stellen Sie sich das mal vor. Clint Eastwood kommt rein. Die Musik beginnt zu spielen, und er fragt: ›Spielt die Musik für mich?‹« Furio nahm einen Schluck Wasser und wischte sich die Lippen ab. Nach einer Weile fragte Luigi: »Worauf wollen Sie hinaus?«

»Wir werden dir sehr weh tun, Luigi.«


Buchseite

DIRTY TALKING Textauszug, Seiten 123 – 130

Textauszug DIRTY TALKING Seiten 123 – 130

Bischof Miguel Mateo Degollado empfing Wilson mit offenen Armen. Er war ein grossgewachsener Mann mit hängenden Hamsterbacken und kurzen, graumelierten Haaren. Hochwürden waren bester Laune, wie schon beim morgendlichen Telefonat. Er breitete gönnerhaft die Arme aus, als wolle er ein imaginäres Meer teilen und schaute demütig und dankbar zu seinem unsichtbaren Freund an der Decke: »Gott meint es gut mit uns.«

»Mit Ihnen ganz bestimmt, Hochwürden.«

»Nehmen Sie doch Platz«, bat der Bischof freundlich und wies Wilson den Stuhl vor seinem massiven Schreibtisch zu. Wilson hatte ihm am Telefon erzählt, dass es der Wunsch seiner verstorbenen Eltern gewesen sei, ihr Vermögen dem Bistum zu vermachen, und dass Wilson als Testamentsvollstrecker alles Notwendige in die Wege leiten sollte. Die Story gehörte bestimmt nicht zu Wilsons Highlights, aber entscheidend ist nie, ob eine Story wahr ist, sondern ob sie glaubwürdig ist. Der Bischof gestand ihm mit einem Leidensgesicht, das selbst das Antlitz Jesu am Kreuz toppte, dass ihn der Tod seiner Eltern tief berührt und dass er nach dem Telefongespräch gleich für ihre Seelen gebetet habe. Als Wilson nicht reagierte, schnitt Hochwürden eine noch herzzerreissendere Grimasse, als leide er unter Koliken und sprach Wilson in einer oscarwürdigen Rede das herzliche Beileid des gesamten Bistums Basel aus.

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»Das war sicher nett gemeint, Hochwürden«, sagte Wilson mit bedrückter Stimme, »aber, ich glaube, meine Eltern selig schmoren bereits in der Hölle, und wenn sie jetzt ihr Vermögen der Kirche vermachen, wird der Teufel höchstens ein Holzscheit weniger ins Feuer werfen.«

Der Bischof hob erstaunt die Brauen, reagierte aber nicht darauf, denn er wollte die Verhandlung nicht gefährden. Er drückte auf eine Taste seines Tischtelefons und flüsterte: »Schwester Bernadette, zwei Kaffee mit Gebäck und eine Flasche Mineralwasser.«

Nun strahlte er Wilson an und erzählte ihm mit grosser Begeisterung, dass sie hier im Bistum alles hätten, was sie bräuchten, er habe eine Haushälterin, einen Chauffeur, nur den Kaffee müsse er am Morgen selber machen, weil er bereits um sieben Uhr aufstehe.«

»Oh, bereits um sieben, das ist sehr beeindruckend«, heuchelte Wilson und kam zur Sache: »Ich habe gelesen, dass Sie gute Nerven haben und das Leben nehmen, wie es ist. Das wird bei unserem heutigen Gespräch von Vorteil sein.«

Der Bischof verstand nicht ganz, nickte aber freundlich und sagte, er lehne prinzipiell jede Anfrage für Homestorys ab, die meisten auf jeden Fall, aber wenn es um den Glauben ginge, sei es seine Aufgabe, das Wort Gottes zu verbreiten und das Wohl der Kirche zu mehren. Zurzeit sei die katholische Kirche stark unter Druck. Zu Recht. Mit jedem neuen Missbrauchsfall verliere die Kirche Gläubige, das stimme ihn sehr traurig. Das sei auch in finanzieller Hinsicht sehr unschön, weil es die Pflicht der Kirche sei, die Opfer wenigstens finanziell zu entschädigen.

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        »Ich habe davon gehört«, sagte Wilson, »ihr bezahlt jedem Opfer fünftausend Euro. Aber das ist nicht gerade viel für die Vergewaltigung eines Minderjährigen.«

»Das sind jährlich Millionen, Herr Wilson, Millionen. Wir wollen Zeichen setzen!«

Hochwürden sagte, es bräuchte nun eine ehrliche Aufarbeitung, absolute Transparenz und Nulltoleranz. Damit werde ein erster Schritt getan, damit die Menschen wieder Vertrauen in die Kirche schöpfen. Er ballte energisch die Faust und sagte, die Täter müssten gerecht bestraft werden. Den Opfern müsse Gerechtigkeit widerfahren …«

»Damit wären wir fast schon beim Thema«, unterbrach ihn Wilson.

»Wie meinen Sie das?«, fragte der Bischof irritiert, »soll das Geld etwa Missbrauchsopfern zugutekommen?«

»Hier liegt ein Missverständnis vor, Hochwürden. Es geht zwar um eine Schenkung, aber mein Mandant wird der Beschenkte sein und Sie werden der grosszügige Gönner sein.«

Bischof Miguel Mateo Degollado verrutschte das Gesicht: »Ich verstehe nicht, wie war Ihr Name?«

»Sagt Ihnen der Namen Juan Pérez etwas?«

»Nein«, antwortete der Bischof wie aus der Pistole geschossen.

»Überlegen Sie, lassen Sie sich Zeit, ich gebe Ihnen ein paar Anhaltspunkte. Sie waren als Priester Vorsteher des bischöflichen Priesterseminars Nikolaus von Myra. Keine Erinnerung?«

»Natürlich erinnere ich mich.«

»Sie waren für die Lebens- und Ausbildungsgemeinschaft der Seminaristen verantwortlich.«

»Worauf wollen Sie hinaus?«

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        »Einer Ihrer damaligen Seminaristen hat sich gegen das Zölibat entschieden.«

»Das kommt vor.«

»Nachdem Sie ihn jahrelang vergewaltigt haben.«

»Oh« machte der Bischof und wusste nicht mehr, in welche

Richtung er schauen sollte.

»Auch das kommt vor, nicht wahr?«

»Haben Sie Beweise?«, fragte der Bischof leise und starrte

Wilson an, als wolle er gleich über ihn herfallen. In diesem Augenblick betrat Schwester Bernadette das Arbeitszimmer, was ihn sichtlich nervös machte. Sie schenkte beiden Kaffee ein, stellte das Gebäck in die Mitte des Tisches und verliess nach einer kleinen Verbeugung den Raum.

»Soll ich für den Mittagstisch ein weiteres Gedeck auflegen?«, fragte sie.

Der Bischof machte eine abwehrende Handbewegung. Wilson schien, dass er dabei leicht zitterte, er nahm einen Schluck Kaffee, schmeckte hervorragend. Er nickte dem Bischof anerkennend zu und sagte, Gott meine es wirklich gut mit ihm. Dieser ging nicht darauf ein und schob den Teller mit dem Konfekt angewidert über den Tisch, als wolle er sagen, Wilson solle das ganze Zeug fressen und dann verschwinden. Als Schwester Bernadette die Tür hinter sich geschlossen hatte, fragte er erneut, ob er Beweise habe.

Wilson nahm das schwarze iPhone 14 aus seiner Tasche und spielte ein Audiofile ab. Das Audiofile. Man hörte, wie der junge Juan Pérez während der Probefahrt seine Erlebnisse schildert. Der junge Mexikaner beschrieb auch das markante Geschlechtsteil des Bischofs.

»Vor Gericht«, sagte Wilson mit gespieltem Bedauern, »müssten Sie natürlich Ihren kleinen Mann entblössen. Ihr

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        Leberfleck ist so einmalig wie eine Tätowierung. Falls die Ränder nicht scharf abgegrenzt sind, sollten Sie allerdings einen Dermatologen aufsuchen. Da helfen keine Gebete mehr. Aber dem Richter ist die Farbe Ihres Schwanzes egal. Er soll auffallend hässlich sein und gekrümmt wie ein Bischofsstab. Dafür hat er beinahe die Masse eines Eselspenis. Für ein derart monströses Ding bräuchten Sie eigentlich einen Waffenschein. Sie sollten sich schämen. Und mit diesem Monstrum haben Sie den damals minderjährigen Juan Pérez vergewaltigt? Er war noch ein Kind, Hochwürden! Was sagt der liebe Gott dazu? Hat er zugeschaut und sich dabei einen runtergeholt? Oder war er gerade in Urlaub?«

»Pendejo!«, schrie der Bischof und sprang von seinem Stuhl auf, »Sie wissen nicht, mit wem Sie sich anlegen!«

»Pendejo?«, fragte Wilson, »ohne Untertitel kann ich Sie schlecht verstehen.«

»El cabrón! Sie mieser kleiner Erpresser!«

»Was für ein hässliches Wort, Hochwürden, ich bin ein einfacher Geschäftsmann und versuche als Anwalt einem armen Jungen zu helfen.«

»Okay, 5000 Euro? Das ist der weltweite Standard.«

»Wir dachten eher an 250 000 Euro.«

»Vor ein paar Tagen waren es noch 100 000.«

»Die Inflation kennt kein Erbarmen, Hochwürden, morgen ist es bestimmt mehr.«

Degollado verwarf die Hände und gluckste hysterisch:

»Woher soll ich eine Viertelmillion nehmen?«

»Sie verdienen im Jahr 245000, um Dinge zu verkaufen,

die es gar nicht gibt. Stellen Sie sich vor, BMW verkauft Autos, die es gar nicht gibt und die Lufthansa verkauft Flüge zu Destinationen, die auf keiner Landkarte vermerkt sind. Wer für

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        solche Fakenews 245000 im Jahr verdient, bezieht einen fürstlichen Lohn.«

»Damit bestreite ich meinen Lebensunterhalt«.

»Die Frau von der Tankstelle verdient diese Summe in zehn Jahren, obwohl sie im Gegensatz zu Ihnen reale Dinge verkauft, Hüttenkäse, Chips und Dosenbier.«

»Ich habe Unkosten, Miete, Köchin, Sekretär, Chauffeur …«

»Das alles bezahlt der Staat beziehungsweise die Verkäuferin an der Kasse mit ihren Kirchensteuern.«

Degollado schwieg eine Weile.

»Wahrscheinlich bitten Sie gerade den Heiligen Geist um Erleuchtung, aber wenn ich kurz unterbrechen darf …«

Plötzlich wirkte er furchtlos und entschlossen: »Ich werde zur Polizei gehen …«

»Das ist eine gute Idee, denn bei einer Selbstanzeige erhält man Rabatt. Statt 12 Jahre nur noch zehn. Aber zuvor geht Ihr Pimmel auf Tournee, Fotoshooting bei der Untersuchungsbehörde, Demos vor dem Gerichtssaal …«

»Wurde Kardinal Georgette Pell in Australien etwa verurteilt?«, stiess er hervor.

»Ja, er wurde zu sechs Jahren verurteilt.«

»Davon hat er dreizehn Monate abgesessen, darauf wurde er vom obersten Gericht in Brisbane freigesprochen. Also, packen Sie ihr Handy ein und machen Sie, dass Sie von hier verschwinden.«

Wilson blieb sitzen: »In Brisbane gab es kein Beweisvideo, in Ihrem Fall ist die Beweislage eine ganz andere. Wir haben ein Video. Wir haben sogar zwei Videos. Aufnahmen aus Mexiko und eine Aufnahme von jetzt eben.«

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        Wilson zeigte auf die Brusttasche seines Hemdes. Darin steckte sein iPhone 13 mit dem Hofnarren auf dem Case, nur gerade das Kameraauge lugte hervor.

»Die Aufnahme läuft, seit ich Ihr Büro betreten habe.«

Der Bischof dachte fieberhaft nach. Wilson wollte behilflich sein: »Wurde der Kardinal Pell nach dem Freispruch wieder überall mit offenen Armen empfangen?«

Der Bischof schlug die Faust auf den Tisch. Er hyperventilierte, schaute erneut wild in alle Himmelsrichtungen und schüttelte unaufhörlich den Kopf, als könne er es nicht fassen, dass er mit dieser alten Geschichte erpresst wurde.

»Na? Wieder online mit Ihrem unsichtbaren Freund da oben?«

Hochwürden schwieg und presste die Lippen zusammen. Es hatte ihm die Sprache verschlagen.

»Herr Degollado, im Grunde genommen geht es um Mathematik. Wenn Sie verurteilt werden, verlieren Sie jährlich einen Lohn von 245000 Schweizer Franken. Unser kleiner Juan Pérez verliert gar nichts. Wenn Sie bezahlen, haben wir eine klassische Win-Win-Situation: Der kleine Juan erhält eine Viertelmillion und Sie erhalten weiterhin jedes Jahr eine Viertelmillion Lohn. Lehrt man auf dem Priesterseminar auch Mathematik oder nur Science-Fiction? Sie entscheiden jetzt, ob Sie weiterhin wie ein mittelalterlicher Fürst hier oben auf dem Felsen residieren oder ob Sie sich bis ans Ende Ihrer Tage in Somaliland verkriechen. Das ist durchaus eine Alternative. Die Alten dort unten sprechen noch Italienisch, die Warlords und islamistischen Terrorgruppen verstehen ein paar Brocken Englisch. Vielleicht können Sie bei den Piraten als Seelsorger anheuern. Aber wahrscheinlich werden diese Sie ausstopfen und als Galionsfigur an den Bug binden. Eine maritime Version von Jesus am Kreuz.«

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Wilson erhob sich und verbeugte sich knapp: »Es ist Zeit, Busse zu tun, sprach der Herr. Also, setzen Sie Ihren Arsch in Bewegung und schicken Sie eine SMS, wenn das Geld bereit ist.«

Er nahm ein kleines Heft mit dem Titel Spe Salvi von einem Stapel, der auf dem Schreibtisch lag und notierte seine Telefonnummer auf das Cover. Der Bischof nahm das Büchlein und warf es demonstrativ in den Papierkorb. Drohend schaute er zu Wilson hoch und sagte leise, ein Mann müsse wissen, wann er zu weit gehe. Sagt Ihnen der Name Marcial Maciel Degollado etwas?«

»War Delgado nicht ein argentinischer Fussbalspieler?«

»Degollado! Marcial Maciel Degollado! Er war mein Onkel. In meinen Adern fliesst sein Blut, das Blut der Degollados. Nehmen Sie sich in Acht. Was mein Onkel einst gesät hat, ist zu einem kräftigen Baum herangewachsen. Schon mancher ist von seinen Ästen erschlagen worden. Sie werden in der Hölle schmoren.«

»Dann freue ich mich auf das Wiedersehen, Hochwürden.«

Mehr Textproben – Seiten 1-14: Lesen

Mehr über den Roman

146 Blick »Es fährt ein Zug nach Nirgendwo«

1972 sang man noch die Hymne auf die Wirtschaftslokomotive Deutschland. 50 Jahre später gilt der damalige Hit von Christian Anders: «Es fährt ein Zug nach Nirgendwo.» Die deutsche Kavallerie lahmt, das Internet lahmt, der Wirtschaftsmotor stottert, die Infrastruktur lottert, auf den Baustellen sieht man mehr Dixie-Klos als Arbeiter, Behördengänge sind so kafkaesk wie auf den Philippinen, Kölner Silvesternächte gibt es das ganze Jahr über, Bildungsfremde strömen ins Land, deutsche Fachkräfte fliegen ins Ausland. Immer mehr Deutsche sind Analphabeten, immer mehr Analphabeten werden Deutsche. Passiv-Kanzler-Scholz nennt die Kernkraft «ein totes Pferd», jetzt importiert er das tote Pferd. 

Laut OECD liegt Deutschland inzwischen auf dem letzten Platz der G7-Staaten. Staatliche Überregulierung und ideologische Borniertheit lähmen den Alltag. Mittlerweile erlebt auch die Bevölkerung die Deindustrialisierung aufgrund der enormen Stromkosten. Die Kaufkraft schmilzt. 73 Prozent glauben, dass die unqualifizierteste Regierung der Nachkriegszeit nicht fähig ist, ihre Aufgaben zu erfüllen. «Denk ich an Deutschland in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht» (Heine). 

Der «U.S. News Best Countries Report 2023» hat schon wieder die Schweiz aufgrund von 73 Kriterien zum besten Land der Welt erkoren. Obwohl wir in allen sozialen, politischen und wirtschaftlichen Belangen erfolgreicher sind als der Nettozahler der europäischen Verschuldungsunion, lassen wir uns von «unseren Freunden» einschüchtern. Wir leisten uns eine direkte Demokratie, Deutschland würde sich das nie getrauen, die Regierung hat sich längst von der Bevölkerung verabschiedet. Das Einzige, was uns die Politelite im Norden voraushat, sind 178 Lehrstühle für Genderforschung und die Chuzpe, die Führerschaft in Europa für sich zu beanspruchen.

Helmut Schmidt (SPD) warnte 1980: «Wer die Grünen wählt, wird sich später bitterst Vorwürfe machen.» Grüne wie Aussenministerin Annalena Baerbock («Egal, was meine Wähler denken») und Wirtschaftsminister Robert Habeck («Was ist eine Insolvenz») lösen keine Probleme. Sie benennen sie um und radeln das Land gendergerecht gegen die Wand. Die AfD kann sich Wahlwerbung sparen. 

145 Blick »Hannibal und menschengemachte Algorythmen«

Futurist David Shrier glaubt, dass innerhalb von 5 bis 7 Jahren zwischen 30 und 80 Prozent der Arbeitsplätze durch künstliche Intelligenz ersetzt werden. Eher 30 oder eher 80 Prozent? Das hängt vom Modell ab und somit vom eingesetzten Algorithmus, der von Menschen mit handverlesenen Daten gefüttert wird.

1992 lernte ich, was ein Algorithmus kann. Zusammen mit Ingo Mesche, dem Vater des Moorhuhns, und Andy Seebeck, dem Vater der interaktiven TV-Telefonie-Spiele in Europa, entwickelte ich «Hannibal», ein Strategiespiel für DOS- und Amiga-Computer. Das Game basierte auf den Bevölkerungszahlen und Anbauflächen von 756 historischen Städten, die der Althistoriker Karl-Julius Beloch 1886 publiziert hatte.

 

Hintergrund war der Zweite Punische Krieg (218 und 201 v. Chr.). Andy Seebeck programmierte einen Algorithmus, der jeweils hochrechnete, wie sich Regendauer und Niederschlagsmenge auf Reisedauer und Nahrungsmittelproduktion auswirken. Die Wetterdaten entnahm er einem geschätzten Jahresdurchschnitt. Drehte man geringfügig am Rad des Algorithmus, bremste der Schlamm die Geschwindigkeit der Armee, drehte man das Rad etwas zurück, brachte das Wetter Dürre, Ernteausfälle und Hungersnöte, was wiederum die Armee schwächte. Bei Temperaturen über 40 Grad wurde die Wetterkarte als Warnung blutrot eingefärbt. Alles war miteinander verzahnt. Wir hatten eine klare Vorstellung vom Schwierigkeitsgrad. War dieser zu hoch, demotivierte man Spieler, war er zu niedrig, verlor man die Hardcore-Gamer. Die Lösung: drei unterschiedliche Schwierigkeitsgrade, also drei von Menschenhand programmierte Algorithmen. Der Spieler hatte die Wahl.

 

Heute basiert alles auf Algorithmen, vom Währungsrechner über den Body Mass Index (BMI) bis zu Corona- und Klimaprognosen. Das ist hilfreich, weil man durch Veränderung der Parameter Optimierungspotenzial entdeckt. Forschungsgelder erhalten mehrheitlich jene Teams, die belegen, was politisch gewünscht wird. Es ist jedoch nicht hilfreich, wenn alle vom Mainstream abweichenden Modelle von der öffentlichen Debatte ausgeschlossen werden. Die Bevölkerung will sämtliche Argumente hören. Wir sind keine Deppen, die sich keine eigene Meinung bilden können.

NZZ Porträt: »Ich bin der Autor, der niemals stirbt.«

NZZ Interview – Matthias Niederberger                                                    28.7.2023

 

– Wie geht es Ihnen?

 

Es geht mir gut, aber auf tiefem Niveau.

 

– Schreiben Sie derzeit an einem Buch oder auf sonst eine Weise literarisch?

 

Ich wollte dieses Jahr meinen Roman »Bonnie & Clyde & der Achtzylinder« beenden, der Verlag hatte bereits den Publikationstermin für nächstes Jahr reserviert, aber die Polyneuropathie, eine Spätfolge der erfolgreichen Leukämiebehandlung, hat mittlerweile die Nerven in meinen Fingern geschädigt. Wenn das Tippen auf der Tastatur für einige Finger so schmerzhaft ist wie eine Zahnwurzelbehandelung, beenden Sie keinen 450seitigen Roman mehr. Auch nicht mit einem Gummistift. Der reicht nur für kürzere Texte. Ich habe deshalb aus dem Manuskript eine Shortstory für das Kulturmagazin »Literarischer Monat« geschrieben. Erscheint Ende Jahr. Da ich mein ganzes Leben täglich geschrieben und noch nie ein weisses Blatt angestarrt habe, leide ich natürlich unter Entzugserscheinungen. Aber ich habe noch genug zu tun. Daniel Bodenmann hat das englische Kinodrehbuch zu meinem autobiographischen Roman »Script Avenue« verfasst, das bereits in Los Angeles, New York, Tokio, Berlin und auf anderen Festivals ausgezeichnet wurde. Jetzt gilt es, Produzenten zu überzeugen.

 

– In «Script Avenue» heisst es: «Solange ich schreibe, werde ich nicht sterben.» Können Sie das etwas genauer erläutern, und stimmt das auch heute noch?

 

Früher erkrankte ich oft nach Abschluss eines grossen Projekts an einem Infekt.  Das wollte ich vermeiden und flüchtete in meine fiktiven Welten. Kaum hatte ich einen Roman beendet, schrieb ich bereits den nächsten, fast jedes Jahr ein neues Buch. Das Schreiben gab mir eine Struktur, ein Ziel. Was ich anfange, will ich auch zu Ende bringen. Disziplin und Durchhaltewillen sind wichtig. Ich stehe täglich, wenn auch nicht freiwillig, um zwei Uhr morgens auf, beginne mein Rehabprogramm und lese zwei bis drei Stunden die internationale Presse. Wer nur ein Medium konsumiert erfährt nur einen Teil der Fakten. Halbe Wahrheiten sind keine Basis für eine Debatte.

 

– Sie haben Ihr letztes Buch eigentlich schon geschrieben. Nun war es doch nicht das letzte. Wie fühlt sich das an?

 

Etwas merkwürdig. »Hotel California« war tatsächlich als »letztes Buch« geplant, der Roman war ein Lebensratgeber für meine damals noch ungeborene Enkelin. Mein Arzt sagte mir kürzlich, mein Krankheitsverlauf sei in der Tat ungewöhnlich. Ich bin mittlerweile der Autor der niemals stirbt. Aber das ist nicht mein Verdienst. Ich habe eine grossartige Frau an meiner Seite, einen wunderbaren Sohn und geniesse im Zellersatzambulatorium der Basler Hämatologie eine hervorragende Pflege und Betreuung.

 

– Zu SRF sagten Sie vor einigen Jahren: «Je beschissener eine Biografie, desto besser wird das Buch.» Schreibt man besser, wenn man ein Leben mit vielen Schicksalsschlägen hat? Inwiefern bezieht sich das auf Sie selbst?  

 

Ich weiss nicht, ob man besser schreibt. Aber sicher authentischer, und das ist etwas das die Leserinnen und Leser schätzen. Ich kriege regelmässig Mails von Menschen, die sich für einen Roman bedanken, weil er ihnen Mut gemacht hat, Mut, nicht aufzugeben. Besonders berührt hat mich die Mail eines mexikanischen Spastikers. Nach der Lektüre der spanischen Uebersetzung von »Cäsars Druide« hatte er nach Jahren wieder den Mut gefasst, sich um einen Job zu bemühen und einen gefunden. Die Hauptfigur in dieser Dramatisierung des Gallischen Krieges ist ein junger, keltischer Spastiker, der in Caesars Schreibkanzlei anheuert. Fast alle meine Romane sind Mutmacher. In gewissem Sinne habe ich mir meine Vorbilder selber erschaffen. Ich wurde mein eigener Motivator, Unterhalter und Hofnarr.

 

– Bekannt wurden Sie mit historischen Romanen: Blicken Sie lieber in die Vergangenheit als in die Zukunft?

 

Wer die Vergangenheit kennt, versteht die Gegenwart besser und kann sich eher ein Bild von der Zukunft machen. Mich fasziniert seit Teenagertagen die Universalgeschichte. Je mehr man weiss, desto mehr will man wissen.

 

– Sie veröffentlichen regelmässig eine Kolumne im Blick, schreiben über Klimakleber, Schuhe, ChatGPT. Ihre Zeit ist befristet und wertvoll. Weshalb tun sie genau das? 

 

Weil es mir Freude macht. Weil ich gerne recherchiere. Das würde ich auch ohne Auftrag tun. Ich bin mir bewusst, dass mir meine teilweise politisch nicht korrekten Kolumnen im Kulturbetrieb dauerhaft geschadet haben. Meine Bücher werden seitdem in der Schweiz kaum noch besprochen. Viele Kollegen teilen zwar meine Ansichten, aber in der Oeffentlichkeit tun sie so, als hätten sie immmer noch ihr Che-Guevara Poster auf dem Klo. Sie fürchten vielleicht den Verlust von Werkbeiträgen und Literaturpreisen. Ich werde nie verstehen, wieso Schriftstellerinnen und Schriftsteller ihren Rohstoff, die Sprache, verhunzen. Die Neue Political Correctness hat uns zu einer Gesellschaft von Heuchlern, Duckmäusern und Feiglingen gemacht.

 

– Der Schweizer Strafrechtsprofessor und Autor Peter Noll sagte einmal, es lebe sich besser, wenn man den Tod vor Augen habe. Wie denken Sie darüber?

 

Es lebt sich anders. Manchmal fühlt man sich wie ein Ausserirdischer auf einem fremden Planeten, weil man grenzwertige Erfahrungen gemacht hat, die anderen fremd sind. Das trennt. Man wird bescheiden und etwas stiller, man zieht sich zurück. Man wird auch gelassener, weil man weiss: Vieles ist bedeutungslos. Peter Noll kann ich sehr gut verstehen.

 

– Wie wichtig ist Humor in Ihrer Situation?

 

Mit Humor, egal wie schwarz er ist, meistert man auch grenzwertige Situationen besser. Humor verhindert, dass man in Selbstmitleid zerfliesst. Humor entspannt.

 

– In einem Interview sprachen Sie einmal von der «narzisstischen Selfie-Gesellschaft.» Nehmen wir uns selbst zu wichtig?

 

Auf jeden Fall. Der junge Clemens Traub und ehemalige Friday for Future Aktivist, nannte Kapitel 8 seines Bestsellers: »Die Jagd nach dem nächsten Selfie. Arzttochter sucht Anwaltssohn«. Der Asphalt ist für etliche Klimakleber eher eine Datingplattform und Selfie-Kulisse, mal Asphalt, mal Palmenstrand. Die »Letzte Generation« ist ohne Zweifel die letzte Generation, die derart privilegiert und verwöhnt aufwachsen durfte. In meiner Muttersprache nennt man sie »pourri gâté«, wobei gâtè sowohl verwöhnt als auch beschädigt bedeutet. Pourri ist die Steigerungsform und bedeutet verfault. Auch meine Generation wurde seinerzeit als »pourri gâté« bezeichnet. Verweigerung, Rebellion und Opposition gehören zur Pubertät, aber damals wurden die Kids nicht zu egoistischen Prinzen und Prinzessinen erzogen, die glauben, man könne die arbeitende Bevölkerung verärgern, um die Regierung zu erpressen.

 

– In der Schweiz geht es uns so gut wie noch nie, wir haben alles was wir brauchen ­– und noch mehr. Da bleibt nur noch Selbstoptimierung.

Haben wir zu grosse Erwartungen an uns selbst und an das Leben? Und haben wir vielleicht auch Bescheidenheit verlernt?

 

Kinderzimmer sehen bei uns aus wie Abteilungen von Franz Karl Weber, während Kinder in ärmeren Ländern mit dem spielen, was die Natur hergibt und dabei wesentlich zufriedener sind. Ich habe seit 13 Jahren täglich Kontakt mit meiner Grossfamilie in der philippinischen Provinz. Mehrmals wöchentlich fällt in den umliegenden Dörfern der Strom aus oder fliesst kein Wasser. Bei uns jammert man gendergerecht über ein zu kurzes iPhone-Kabel. Wir haben jegliche Verhältnismässigkeit verloren. Vor lauter Ichbezogenheit sehen wir nicht mehr über den eigenen Tellerrand hinaus, sehen nicht, dass die westliche Welt und ihre Werte laufend an Bedeutung verlieren. Deutschland, das immer wieder die Führerschaft Europas für sich reklamiert, marschiert auch beim Niedergang voran. Aber die Welt wird deshalb nicht untergehen, denn der Westen ist nicht die Welt.

 

– Was zählt wirklich im Leben? Können wir uns dessen überhaupt bewusst sein, wenn der eigene Tod gefühlt in weiter Ferne liegt?

 

Als ich damals während der Knochenmarktransplantation extrem hohes Fieber entwickelte und die Krankenschwester meiner Frau sagte, man könne jetzt leider nichts mehr tun, fragte ich mich nicht, wie viele Romane ich geschrieben habe, sondern was ich für andere Menschen getan habe. Denn was am Ende übrigbleibt, das sind die Gene, die man weitervererbt hat und die guten Taten. Ich bin weder religiös noch abergläubisch, aber ich denke, dass im reiferen Alter Schenken mehr Freude und Befriedigung schafft als Beschenktwerden. Deshalb finanziere ich seit 13 Jahren u.a. Stromgeneratoren, Wasserpumpmaschinen und Schulausbildungen auf den Philippinen.

 

– Was sind Ihre Wünsche? Haben Sie noch Ziele?

 

Meine Wünsche sind längst erfüllt. Als junger Autor wünschte ich mir beruflichen Erfolg. Später hoffte ich, dass mein Sohn trotz Handicap ein gutes Leben hat und dass ich nach dem Krebstod meiner ersten Frau nochmals die ganze grosse Liebe erfahre. Dies alles ist in Erfüllung gegangen. Schmerzfreie Nächte bleiben eine Illusion, die Ziele sind bescheidener geworden. Ich nehme einen Tag nach dem andern, gemäss dem Motto von Winston Churchill: »If you’re going through hell, keep going«.

 

Claude Cueni 28.7.2023

 

 

 

Claude Cueni: «Ich bin der Autor, der niemals stirbt»


Er leidet an einer unheilbaren Krankheit. Trotz Muskelkrämpfen schreibt Claude Cueni jeden Tag. Er entwickelte über die Jahre Computerspiele, schrieb Drehbücher für den «Tatort», seine Romane verkauften sich tausendfach. Im schweizerischen Literaturbetrieb bleibt er jedoch ein Aussenseiter.


Von Matthias Niederberger


«Ich wurde mein eigener Motivator, Unterhalter und Hofnarr.» – Claude Cueni. Karin Hofer / NZZ


Claude Cuenis Küche wird streng bewacht. In einer Ecke, gleich neben dem Bartresen, steht eine lebensgrosse Figur von John Law, dem Erfinder des Papiergeldes. Law ist die Hauptfigur von Cuenis bekanntestem Roman, «Das grosse Spiel». Mit ihrem langen Lockenhaar und der gemusterten Weste bildet die Figur einen krassen Gegensatz zum glatzköpfigen, Schwarz tragenden Cueni, der gleich daneben am Esstisch sitzt und ein kleines Mikrofon installiert.

Das Mikrofon ist nötig, weil Cueni schlecht hört. Die Krankheiten haben seinen Körper malträtiert. Das sieht man ihm auf den ersten Blick nicht unbedingt an. Zumindest heute nicht. Für einen Todkranken bewegt er sich auffällig mühelos, seine Stimme klingt kräftig. Auf die Frage, wie es ihm gehe, sagt er: «Gut, aber auf tiefem Niveau.»

2009 erkrankte Cueni an Leukämie, kurz nachdem seine damalige Frau gestorben war. Es folgten Chemotherapien, Bestrahlungen und eine Knochenmarktransplantation. Seither gehören Schmerzen zu Cuenis Alltag. Um zu verhindern, dass seine Lunge abgestossen wird, wird das Immunsystem künstlich niedergehalten. Seit 2010 hat Cueni über 50 000 Tabletten geschluckt. Den Winter verbringt er jeweils in Quarantäne, nicht erst seit der Corona-Pandemie.

Dina, Claude Cuenis zweite Frau, bringt Wasser und Kaffee an den Tisch. Seit 13 Jahren sind sie verheiratet. Kennengelernt haben sie sich in der U-Bahn von Hongkong. Während des Gesprächs betont Cueni mehrmals, dass er kein Pflegefall sei. «Aber ohne Dina hätte ich schon längt aufgegeben.»

Tippen mit dem Gummistift

1980 schrieb Cueni sein erstes Buch. Er veröffentlichte historische Romane, Kriminalromane, Hörspiele und Theaterstücke, schrieb über 50 Drehbücher, unter anderem für Fernsehserien wie «Alarm für Cobra 11», «Peter Strohm» und den «Tatort». Ausserdem entwickelte er Computerspiele und gründete eine Firma, die 1991 das erste interaktive TV-Telefonie-Format in Europa entwickelte. Cuenis Roman «Das grosse Spiel» über den Papiergeld-Erfinder John Law landete 2006 auf Platz eins der Schweizer Bestsellerliste. Das Buch wurde in 12 Sprachen übersetzt, die deutsche Version verkaufte sich 35 000 Mal.

Mit seinen 67 Jahren könnte Cueni längst im Ruhestand sein. Aber er schreibt immer noch so viel, wie es sein Körper zulässt. Häufig wird er um zwei Uhr morgens von Muskelkrämpfen geweckt. Sind sie erst einmal abgeklungen, liest er zwei bis drei Stunden die internationale Presse, bevor er schreibt. Weil seine Finger schmerzen, tippt er mit einem Gummistift auf die Computertasten. Eine mühselige Angelegenheit.

Eigentlich habe er dieses Jahr seinen Roman «Bonnie & Clyde & der Achtzylinder» beenden wollen, sagt Cueni, eine Entmythologisierung des amerikanischen Verbrecherduos. Doch die Polyneuropathie, eine Spätfolge der erfolgreichen Leukämie-Behandlung, hat mittlerweile die Nerven in seinen Fingern geschädigt. «Wenn das Tippen auf der Tastatur so schmerzhaft ist wie eine Zahnwurzelbehandlung, beenden Sie keinen 450-seitigen Roman mehr.» Deshalb schreibt Cueni nur noch kurze Texte, eine alle zwei Wochen in der Schweizer Boulevardzeitung «Blick» erscheinende Kolumne beispielsweise.

Das Schreiben, erklärt Cueni, gebe ihm eine Struktur. Früher sei er oft nach Abschluss eines grossen Projekts an einem Infekt erkrankt. «Das wollte ich vermeiden und flüchtete in meine fiktiven Welten.» Kaum hatte er einen Roman beendet, schrieb er bereits den nächsten – fast jedes Jahr ein neues Buch.

Vom Leben geplagt

Schon bevor er erkrankte, hatte Cueni ein schwieriges Leben. Als Kind litt er unter der Repression seiner streng katholischen Eltern. Cueni spricht von einem «gewalttätigen, religiösen Irrenhaus». Später brach er die Schule ab, um Schriftsteller zu werden, und schlug sich zeitweise mit Gelegenheitsjobs durch. Cuenis Sohn erlitt nach der Geburt eine spastische Lähmung. Seine erste Frau und Jugendliebe starb 2008 an Krebs.

Schreibt man besser, wenn die eigene Biografie derart viele Schicksalsschläge aufweist? Er wisse es nicht, sagt Cueni, «aber sicher authentischer. Das ist etwas, das die Leserinnen und Leser schätzen.» Fast alle seine Romane sind Mutmacher. In gewissem Sinne habe er sich seine Vorbilder selbst erschaffen: «Ich wurde mein eigener Motivator, Unterhalter und Hofnarr.»

Humor sei für ihn enorm wichtig. Er und seine jetzige Frau Dina könnten sogar über seine schmerzhaften Krampfanfälle lachen. Mit Humor, egal, wie schwarz er sei, meistere man grenzwertige Situationen besser, ist Cueni überzeugt: «Er entspannt und verhindert, dass man in Selbstmitleid zerfliesst.»

Keine Zeit für Networking

Im Schweizer Literaturbetrieb war Cueni stets ein Aussenseiter . Wenn bekannte Schweizer Autoren aufgezählt werden, fällt sein Name kaum je. Cueni gewann weder einen Literaturpreis, noch wurde er jemals an die Solothurner Literaturtage eingeladen. Dafür gibt es wohl mehrere Gründe. So haben sich zwar einige von Cuenis Romanen gut verkauft, wurden aber in den letzten Jahren kaum noch in den Feuilletons besprochen.

Zudem ist Cueni ein Mann, der in der Öffentlichkeit gerne den Konflikt sucht. In seinen «Blick»-Kolumnen regt er sich über «Klimaheuchler» auf, über die Rot-Grünen, die nicht wahrhaben wollten, «dass man nicht jede Kultur integrieren kann». Und er echauffiert sich über politische Korrektheit: «Viele Kollegen teilen zwar meine Ansichten, aber in der Öffentlichkeit tun sie so, als hätten sie immer noch ihr Che-Guevara-Poster auf dem Klo. Die neue Political Correctness hat uns zu einer Gesellschaft von Heuchlern, Duckmäusern und Feiglingen gemacht.» Er werde nie verstehen, wieso Schriftsteller ihren Rohstoff, die Sprache, verhunzten. Mit solchen Aussagen macht man sich im Literaturbetrieb keine Freunde.

Cueni sieht den Hauptgrund für sein Aussenseiterdasein noch mal woanders: «Ich hatte keine Zeit für Networking.» Wer die richtigen Leute kenne, erhöhe seine Chancen, als ernsthafter Autor wahrgenommen zu werden, massiv. Er habe jahrelang «wie am Fliessband» schreiben und Bücher verkaufen müssen, um die Therapie für seinen handicapierten Sohn zu bezahlen. Abends ging er dann lieber ins Bett als an einen Apéro.

Auf die Philippinen reisen

Mit «Hotel California» hat Claude Cueni sein Abschiedswerk eigentlich schon geschrieben. Der 2021 erschienene Roman war als Lebensratgeber für seine damals noch ungeborene Enkelin gedacht. Mittlerweile ist sie vier Jahre alt, und ihr Grossvater lebt immer noch. Ein Arzt habe ihm kürzlich gesagt, sein Krankheitsverlauf sei ungewöhnlich. Eigentlich müsste er längst tot sein, sagt Cueni: «Ich bin mittlerweile der Autor, der niemals stirbt.» Doch das sei nicht sein Verdienst. Er werde hervorragend betreut: von den Hämatologen des Basler Zellersatzambulatoriums, von seiner Frau und von seinem Sohn.

Schmerzfreie Nächte blieben allerdings eine Illusion. Sonst hätten sich all seine Wünsche längst erfüllt: «Als junger Autor wünschte ich mir beruflichen Erfolg. Später hoffte ich, dass mein Sohn trotz Handicap ein gutes Leben hat und dass ich nach dem Krebstod meiner ersten Frau nochmals die ganze grosse Liebe erfahre.»

Dann äussert Claude Cueni doch noch einen Wunsch: Er möchte die Familie seiner Frau auf den Philippinen besuchen. Zwar würden sie jeden Tag telefonieren, aber physisch hätten sie sich noch nie getroffen. Im Moment lässt sein körperlicher Zustand das nicht zu. Damit er in ein Flugzeug steigen und den geringeren Luftdruck aushalten kann, muss seine Lungenleistung weiter zunehmen. Dafür trainiert er.

Cueni plante, in der Woche nach dem Gespräch auf den 2100 Meter über Meer gelegenen Gotthardpass zu fahren. Er wollte testen, wie sein Körper bei geringerem Luftdruck reagiert. Für den Notfall sollte ein Sauerstoffgerät ins Gepäck.

Dann kam ein Infekt dazwischen. Vorerst kann Claude Cueni nicht mehr reisen.