12-2025 Cueni: Nestlé: Geschüttelt und gerührt

Facebooktwitterredditpinteresttumblrmail

Nestlé, gerührt und geschüttelt

Perrier und die verbotene Filterung. Ein Medienwirksamer

Ethikverstoß – aber kein bilanzielles Erdbeben.


Claude Cueni


Als Anfang 2024 öffentlich wurde, dass Nestlé jahrelang verbotene Filtrationsverfahren bei der Abfüllung seiner französischen Mineralwassermarken angewendet hat, war die Empörung groß. Besonders betroffen war auch Perrier – ausgerechnet die weltweit bekannte, hochpreisige Premiummarke, die seit Jahrzehnten für natürliche Reinheit und Savoir-vivre steht. Wie konnte der 1866 von Henri Nestlé gegründete und mittlerweile größte Nahrungsmittelkonzern der Welt bloß so fahrlässig handeln?

 

In Filmen ist der bad guy schnell gefunden. Es ist ein alter, weisser Mann, der hoch über den Wolken in seiner verglasten Chefetage an seiner Montecristo-Zigarre nuggelt. In Wirklichkeit sind solche illegalen Machenschaften Ausdruck eines rationalisierten, aber fehleranfälligen Mechanismus, der Risiken eingeht, sobald Marktlogik, Technikglaube und interne Schweigekultur dominieren.

 

Die Quellen in Vergèze (Perrier), Contrexéville und Vittel (Contrex, Hépar) waren in den letzten Jahren zunehmend von mikrobiologischen Verunreinigungen belastet. Doch den gesetzlichen Status „natürliches Mineralwasser“ darf nur behalten, wer das Wasser nahezu unbehandelt abfüllt. Nestlé hielt sich nicht daran. Man griff auf Techniken zurück, die im Bereich der Trinkwasseraufbereitung etabliert sind: Aktivkohlefilter, UV-Desinfektion, Mikrofiltration bis 0,2 Mikrometer. Aus technischer Sicht nachvollziehbar, aber rechtlich ein No-Go. Dass diese Praktiken unzulässig sind, war Nestlé bewusst, nachdem Analysen der Qualitätsabteilungen entsprechende Hinweise geliefert hatten. Doch es entstand keine Kehrtwende, sondern ein stillschweigender Konsens. Zahlreiche Mitarbeiter waren involviert – von der technischen Leitung über die Qualitätssicherung bis zu den juristischen Fachabteilungen. Doch niemand wollte den Stecker ziehen. Niemand wollte als illoyal gelten oder gar berufliche Nachteile erleiden. Das Problem wurde nicht gelöst, sondern gemanagt. Eine Kultur des Schweigens sorgte für betriebliche Kontinuität. Doch je mehr Personen davon wussten, desto größer wurde die Wahrscheinlichkeit, dass ein Insider zum Whistleblower wird und publik macht, dass Nestlé Waters die Konsumenten täuscht.

 

Le Monde und Radio France erhielten einen Tipp, begannen gemeinsam zu recherchieren und machten Anfang 2024 die internen Praktiken publik. Kurz darauf reagierte die NGO Foodwatch mit einer Strafanzeige. Die französische Wettbewerbs- und Verbraucherschutzbehörde DGCCRF nahm Ermittlungen auf, die nun – Stand Juli 2025 – in einer formellen Untersuchung münden. Gemäß der französischen Gesundheitsbehörde Region Occitanie fanden die staatlichen Inspektoren Spuren von Fäkalien und Pestiziden im Quellwasser – für Konsumenten ein nicht zu unterschätzendes virologisches Risiko. Nestlé hat die beanstandeten Verfahren inzwischen eingestellt und eine Strafe von zwei Millionen Euro akzeptiert – Peanuts für einen 215-Milliarden-Euro-Konzern.

 

Besonders brisant: Eine Senatskommission stellte fest, dass die französische Regierung – bis hin zum Premierministeramt – seit mindestens 2021 über die Praxis informiert war und dennoch keine unmittelbaren Maßnahmen traf. Den „Volksvertretern“ war der Schutz von Nestlé wichtiger als der Schutz jener Leute, die sie gewählt haben und mit ihren Steuern ihre Löhne bezahlen.

 

Der Fall Nestlé zeigt exemplarisch, wie sich auch in einem Weltkonzern Fehlentwicklungen etablieren können. Es war nicht eine einzelne Entscheidung, nicht ein individueller Rechtsbruch, sondern ein Zusammenspiel aus ökonomischem Druck, technologischer Rationalisierung und fehlender interner Transparenz. Die Praxis war funktional, nicht fahrlässig – aber dennoch klar rechtswidrig und gewissenlos.

 

„Niemand will der Erste sein, der den Stecker zieht“, sagt Wirtschaftsethikerin Dr. Céline Martory. „Wir sehen ein Unternehmen, das nicht aus Bosheit oder Unfähigkeit handelt, sondern in einer Art Systemlogik: Man schützt ein Produkt, rettet eine Marke. Dabei geraten Regeln in den Hintergrund.“

 

„Das war ein medienwirksamer Ethikverstoß – aber kein bilanzielles Erdbeben“, kommentierte ein Analyst die neuerlichen Medienberichte über die illegalen Filterverfahren bei Nestlé Waters in Frankreich. Selbst die Hausdurchsuchung am 10. Juli in der Nestlé-Zentrale in Issy-les-Moulineaux bei Paris hatte kaum Einfluss auf den Börsenkurs. Der Anteil des Wassergeschäfts am Konzernumsatz beträgt lediglich fünf Prozent, während der Anteil bei Tierfutter (Purina PetCare) bei etwa 20 % liegt. Die Premiummarke ist gut fürs Image und wird Daniel Craig in James Bond Filmen wie Casino Royale (2006) und A View to a Kill (1985) serviert, aber für die Bilanz spielt Perrier kaum eine Rolle.

 

Der aktuelle Aktienkurs liegt bei ca. 77 Franken; vor sechs Jahren lag er noch bei 113 Franken. Kursrückgänge betreffen zurzeit die meisten Nahrungsmittelkonzerne und sind dem Umstand geschuldet, dass viele Anleger verkauft haben, um bei den „Magnificent Seven“ einzusteigen – den sieben großen Technologieunternehmen.

 

Meine Nestlé-Aktien, die ich vor 30 Jahren kaufte, werde ich nie verkaufen (sondern vererben), denn Nestlé bleibt ein defensiver Titel mit solider Dividende. Aber als seit 2010 immunsupprimierter Konsument werde ich kein Nestlé-Wasser mehr trinken – egal, wo es produziert oder serviert wird, egal, ob „natürliches Mineralwasser“ draufsteht oder nicht.

Facebooktwitterredditpinteresttumblrmail