*Kolumne »Champagner und clevere Witwen«

Die erste Champagner-Flasche explodierte wie eine Bombe. Das dünne Glas hielt dem Druck, der beim zweiten Gärungsprozess stattfindet, nicht stand. Im 17. Jahrhundert schützten sich Kellermeister deshalb vorsorglich mit einer schweren Eisenmaske. Es war ausgerechnet einer jener Männer, die am liebsten Wasser predigen, der auf die Idee kam, dickeres Glas herzustellen. Pierre Pérignon, ein französischer Mönch, hatte das Verfahren der Flaschengärung weiterentwickelt und dickwandige Glasflaschen mit verschnürbaren Korken in Auftrag gegeben. Als er 1715 starb, hinterliess er ein umfangreiches Schriftwerk, aber sein prickelnder Schaumwein blieb ziemlich trüb.

Es war schliesslich die 27-jährige Witwe Barbe-Nicole Clicquot-Ponsardin, die ein Verfahren erfand, um die Heferückstände zu beseitigen. Nach dem plötzlichen Tod ihres Ehegatten musste sie eine Weinhandlung übernehmen, die jährlich hunderttausend Flaschen Champagner produzierte.

Doch die Witwe Clicquot gab dem edlen Tropfen nicht nur ihren Namen, «Veuve (Witwe) Clicquot», sie prägte als erste Frau an der Spitze eines Champagnerhauses auch den Mythos des Savoir-vivre und präsentierte ihren Champagner selbstbewusst an allen Höfen Europas. Die resolute Unternehmerin setzte sich in der Männerwelt durch, kaufte Weinberge hinzu und gründete eine Bank. Und das in einer Zeit, in der Frauen nicht einmal ein eigenes Bankkonto eröffnen durften. Als sie 1866 starb, produzierte ihre Firma bereits 750 000 Flaschen im Jahr.

Nur gerade acht Jahre später sorgte eine weitere Französin mit dem prickelnden Traubensaft für Furore. Louise Pommery war 41, als auch sie ihren Ehemann verlor. Sie überwand die Trauer und produzierte den ersten Champagner «Brut».

Heute werden jährlich etwa 390 Millionen Flaschen Champagner produziert, aber den Namen «Champagner» dürfen nur jene tragen, die ihre Rebwurzeln auch tatsächlich in der französischen Champagne haben. Jede zweite Flasche trinken die Franzosen gleich selbst, ein Grossteil geht nach England und in die USA und fast eine Million an ein Land, das Alkohol verbietet und verurteilte Frauen hinrichtet: die Vereinigten Arabischen Emirate.


*erschien erstmals im Januar 2019 und wird aus Aktualitätsgründen nochmals gepostet


 

101 Blick »Grittibänz, Sexist im Hefeteig

 


Kolumne 101


Eigentlich ist der Grittibänz ein Männlein aus Mehl, Zucker, Salz, Butter und Hefe (Stuten), weshalb man ihn auch Stutenkerl nennt. Im Mittelalter gehörte er zu den Gebildebroten, die man Kranken nach Hause brachte, wenn sie nicht mehr in der Lage waren, die Eucharistie zu empfangen. Der vom Priester gesegnete Grittibänz trug die stilisierte Mitra des Bischofs und einen gekrümmten Bischofsstab in der Rechten. Der Kranke biss nun dem süssen Gottesmann den Kopf ab, verspeiste die gezuckerten Beine und Arme, und wenn er allmählich gesundete, hatte der Grittibänz Wunder bewirkt.

Dass man Gesegnetes verspeist, ist in vielen Religionen business as usual. Katholiken mögen Weizenbiskuits aus ungesäuertem Brotteig, aber im Ernstfall ziehen sie dann doch Pillen und Infusionen vor. Nicht gesegnet, aber ärztlich verordnet.

Im Laufe der Jahrhunderte setzte der Zeitgeist dem Grittibänz zu. Sein Bischofsstab wurde durch eine Tonpfeife ersetzt. Doch im 20. Jahrhundert schlug der Zeitgeist erneut zu, und der Grittibänz wurde Nichtraucher.

Überlebt hat der «Gritti». So bezeichnete man früher einen alten Mann, der mit gespreizten Beinen frei herumläuft. Eigentlich ein Fall von toxischer Männlichkeit, ein Sexist im Hefeteig. Man könnte ihn jetzt mit dunkler Schokolade übergiessen, denn ein schwarzer Schoko-Grittibänz mit gespreizten Beinen würde eher toleriert. Man dürfte ihn einfach nicht Grittimohr nennen.

Als Kompromiss könnte man zusätzlich eine weibliche Figur backen. Zur eindeutigen Identifikation müsste man sich auf biologische Merkmale beschränken. Der Mann hätte einen Penis, die Frau zwei Brüste, doch beides könnte nach Ablauf der Backzeit ungeahnte sexistische Formen angenommen haben. Also lieber nicht. Ich habe mit Teigmodellieren so meine Erfahrungen gemacht.

Doch selbst wenn eine Bäckerei in Zukunft Grittifrau und Grittimann in die Auslage stellt, ist sie nicht gefeit vor Schmierereien oder gar Todesdrohungen. Denn es fehlt die Inklusion non-binärer Grittis.

Vielleicht sollten wir den Hefeklumpen gescheiter zu einer geschlechtsneutralen Kugel formen und mit Mandelsplittern bestücken, bis sie aussieht wie das Spike-Protein der Virusvariante B.1.1.529.


Soeben erschienen / Dezember 2021:

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Highnoon im Wilden Westen Asiens

 


Besser lesbarer Text escheint nach dem Zeitungsausschnitt.


 



Am 9. Mai 2021 wählen die Philippinen einen neuen Präsidenten. Rodrigo Duterte kann kein zweites Mal antreten. Die »election period« beginnt am 9. Januar 2022 und endet am 8. Juni 2022. In dieser Zeit ist das Tragen von Feuerwaffen verboten. Aus einem guten Grund. Im Wilden Westen Asiens wurden in den bisherigen Wahljahren jeweils zwischen 120 und 310 Menschen erschossen.


Blick – 06. Dezember 2021

CLAUDE CUENI

Alle grossen Männer haben viele Feinde», lacht Ferdinand Marcos Jr. (64) in die Kamera, als ihn die Schauspielerin Toni Gonzaga in ihrer TV-Show «Toni Talks» fragt, wie er das Kriegsrecht unter seinem Vater, dem Diktator Ferdinand Marcos (1917– 1989), erlebt hat.

«Viele Feinde» – das sind wie viele? Spätere Regierungen haben 75 000 Verbrechen dokumentiert, 70 000 Menschen wurden in Militärlagern interniert, davon 34 000 gefoltert, 3240 ermordet und einige Tausend sind spurlos verschwunden.

Marcos Jr. ist in den sozialen Medien omnipräsent. In bisher 188 Videoblogs schwärmt er gut gelaunt von seinem grossartigen «Dad». Wir erfahren, dass er die gleiche Kleidergrösse hat wie sein Vater, die gleiche Stimme, und dass er und sein «Dad» praktisch identisch seien. Bereits als 23-Jährigen ernennt ihn sein Vater zum Vizegouverneur der Heimatprovinz Ilocos Norte, sechs Jahre später zum Gouverneur. Als Strohmann der Telekommunikationsfirma Philcomsat bezieht er ein für die damalige Zeit astronomisches Jahresgehalt von rund 1,16 Millionen Dollar.

Dass er nun für das Amt des philippinischen Staatspräsidenten kandidiert, hat praktische Gründe. Es ist für den Marcos-Clan die letzte Möglichkeit, den Malacañang-Palast zurückzuerobern.

2016 kandidierte Marcos Jr. für das Amt des Vizepräsidenten. Er unterlag knapp. Rodrigo Duterte (76) wurde Präsident und bezeichnete Marcos als seinen fähigsten Nachfolger für die Wahlen 2022. Auf den Philippinen ist nur eine einzige Amtsdauer möglich, sie dauert sechs Jahre.

Wo Duterte draufsteht, steckt der Marcos-Clan drin, eine Oligarchen-Dynastie, die seit Generationen die Provinz Ilocos Norte beherrscht. Bereits Duter-tes Vater Vicente diente unter dem Diktator. Die Marcos finanzierten 2016 einen Teil des Wahlkamps von «Dirty Harry», wie die «Financial Times» Duterte nennt. Als Gegenleistung durften sie nach dessen Wahlsieg den einbalsamierten Leichnam des Diktators auf dem Heldenfriedhof begraben. Seit 1993 war der Patriarch auf dem Familienanwesen in einem Glassarg aufbewahrt. Die «National Historical Commission of the Philippines» und zahlreiche Opfer protestierten vehement gegen die Verlegung. Vergebens.

Auf den Philippinen gilt «utang na loob», die gegenseitige Bringschuld. Was im familiären Umfeld die Bande stärkt und das fehlende Sozialsystem ersetzt, fördert in der Politik die Korruption. Diktator Marcos hatte bereits 1965 nach seinem Einzug in den Malacañang-Palast mit der gezielten Plünderung des Landes begonnen und bei ausländischen Banken Konten eröffnet. Auch bei der damaligen Schweizerischen Kreditanstalt (heute Credit Suisse), die nach dem Sturz des Diktators 700 000 Franken an die neue Regierung zurücküberwies.

Bei seinem Amtsantritt hatte Marcos noch ein Vermögen von 30 000 Dollar deklariert, als Präsident verdiente er jährlich 63 000. Als er 1986 aus dem Land verjagt wurde, hatte er bereits zehn Milliarden Dollar geraubt, nach heutigem Wert etwa 50 Milliarden Dollar. Egal, ob Japan Kriegsreparationen leistete, die Weltbank ein Darlehen überwies oder jemand eine Baubewilligung beantragte, «Mister 15 Prozent» zweigte jedes Mal eine Provision ab. Als er 1972 das Kriegsrecht erklärte, galten die Philippinen als das zweitkorrupteste Land der Welt.

Der Junior verspricht keinen Neuanfang. Er will das Werk seines Vaters fortsetzen. Als Vizepräsidenten hat er jedoch nicht Duterte gewählt, sondern ausgerechnet dessen Tochter Sara (43). Seitdem nennt ihn Duterte einen verwöhnten Kokainkonsumenten, der zu schwach sei für das Amt des Präsidenten.

Nun hat Duterte ein Problem. Ihn erwarten nach Ablauf seiner Amtszeit zahlreiche Anklagen. Der internationale Strafgerichtshof in Den Haag ermittelt wegen 7000 Morden, je nach Quelle fielen über 20 000 Menschen Dutertes «War on Drugs» zum Opfer. Duterte kennt die Spielregeln. Als er 2016 Präsident wurde, liess er gleich die Justizministerin Leila de Lima (62) medienwirksam im Parlament verhaften. Sie sitzt seitdem in Untersuchungshaft.

Auch Marcos Jr. hat ein Problem. Er wurde wegen Steuerhinterziehung zweimal rechtskräftig verurteilt, sein Bachelor der Universität Oxford ist genauso erfunden wie die Kriegsauszeichnungen seines Vaters. Mutter Imelda (92) hatte bereits 901 Klagen am Hals. In letzter Instanz wurde sie jeweils freigesprochen. «Die Königin der Diebe», wie sie im Volksmund heisst, wohnt mit vier Dienern in einer der teuersten Wohnungen der Philippinen, ausgestattet mit Gemälden von Michelangelo, Gauguin und Picasso. In Interviews klagt sie tränenreich, dass sie verarmt sei und von einer kläglichen Kriegswitwenrente lebe.

Die Marcos kämpfen an allen Fronten um die Rückkehr in den Malacañang-Palast. Mit Estelito Mendoza (91) führt der Superstar der philippinischen Anwälte die juristischen Schlachten: Er war Justizminister unter Diktator Marcos und rechtfertigte das blutige Kriegsrecht. Jetzt will er dem Junior zur Macht verhelfen. Er intervenierte bei der Wahlaufsichtskommission, um zu verhindern, dass Marcos wegen Steuerbetrugs disqualifiziert wird.

Am 9. Mai 2022 wird gewählt. Nach heutigem Stand liegt das Tandem Marcos/Duterte deutlich in Führung. Für westliche Medien schwer verständlich.

Mit einem Durchschnittsalter von 23 (Schweiz: 42,7) haben die Philippinen eine sehr junge Wählerschaft. Sie hat die Diktatur nicht am eigenen Leib erfahren und bezieht ihre Informationen aus den sozialen Medien. Eine junge Filipina sagt mir, sie wähle Marcos, weil er jeder Studentin pro Semester 6000 Pesos (120 Franken) schenke. Ein Schullehrer erklärt mir, alle Gräueltaten, die man den Marcos nachsage, seien Fake News. Ein Taxifahrer in Manila fragt, wozu Geschichte eigentlich gut sei, das sei doch alles vorbei. Wenn er sich bloss nicht täuscht.


Claude Cueni (65) ist Schriftsteller, Blick-Kolumnist und lebt in Basel. Er schrieb den Philippinen-Roman «Pacific Avenue». Zuletzt erschienen bei Nagel & Kimche «Genesis – Pandemie aus dem Eis» (2020) und «Hotel California» (2021).


 

 

*Kolumne »Der Wein der Papst wurde«

1299 kaufte der französische Mönch Bertrand de Goth eines der ältesten Weingüter in Bordeaux und kelterte Wein. Bereits sechs Jahre später machte ihn sein Freund, der skrupellose König Philipp IV., zum Papst. Ihre Majestät hatte zuvor ihren Dauerrivalen, den italienischen Papst Bonifaz VIII., zum Allmächtigen geschickt.

Bruder Bertrand, der nun Papst Clemens V. geworden war, galt als intelligent, aber auch als hypochondrisch veranlagt, weil er dem Schutz des lieben Gottes eben doch nicht so richtig traute. Er vermachte die Rebberge seinen Mönchsbrüdern, die den Wein gleich umtauften.

In den Armen der Comtesse

Der neue Papst hatte bereits ein besseres Geschäft gewittert, er verkaufte Kardinalshüte dem Meistbietenden und verlegte seinen Sitz nach Avignon. Im Zuge des «klementinischen Jahrmarktes» beschenkte er seine adligen Verwandten mit allerlei Privilegien und genoss ein ausschweifendes Leben in den Armen der bildschönen Comtesse de Foix Talleyrand de Périgord. Sie soll kostspieliger gewesen sein als «das ganze Heilige Land».

Während Weintrinker den Namen Pape Clément eher mit einem Bordeaux assoziieren, erinnern sich Verschwörungstheoretiker an die Auflösung des Templerordens, die der König mit Hilfe des willensschwachen Papstes durchsetzte. Man warf den reichen Tempelrittern, die immer wieder den König vor dem Bankrott gerettet hatten, Homosexualität und Blasphemie vor, um sie enteignen zu können.

«Never give up»

Jacques de Molay, der letzte Grossmeister des Templerordens, gestand unter der Folter und wurde öffentlich verbrannt. Auf dem Scheiterhaufen widerrief er und verfluchte den Papst. Der trinkfreudige Diener Gottes folgte ihm ein paar Tage später ins Himmelreich.

Überlebt hat hingegen die Reblaus, die Mitte des 19. Jahrhunderts grosse Teile der französischen Weinanbaugebiete zerstörte. Während des Zweiten Weltkriegs beherzte der Agraringenieur Paul Montagne Winston Churchills Devise «never give up», kaufte das marode Weingut und produzierte nach etlichen Rückschlägen den heutigen Pape-Clément.

100 Prozent Papst

Robert Parker, der Papst der Weingläubigen, bewertete ihn in seiner Weinbibel auch schon mit dem Punktemaximum. Die Bestandteile: 60% Cabernet Sauvignon, 40% Merlot, 100% Papst.


*erschien 2018

Alle vierzehn Tage erscheint eine neue Blick-Kolumne.

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100 Blick »Mein Jahresrückblick«

Kim Jong Un rüstet ab, leider nur gewichtsmässig.

Brexit & Exodus. Das britische Königshaus sorgt sich ums Klima. Innerhalb und ausserhalb der Familie.

Angela Merkel geht, ihre Fachkräfte bleiben.

Taiwan fürchtet chinesische Aggression, Amerika Joe Bidens fortschreitende Demenz. Darmspiegelung beweist: Biden ist nicht dement.

Nicht überraschend: Antike Genome belegen Sex zwischen Neandertalern und ersten Europäern.

Neurowissenschaftler beweisen: Mit Darmbakterien junger Mäuse lassen sich Gehirne alter Mäuse deutlich verjüngern. Müssen wir Scheisse essen?

Smalltalk mit Apéro riche an der Uno-Klimakonferenz in Glasgow. Gefragt sind Flugzeugtaxis, Fünf-Sterne-Küche und Escort-Dienste.

Chinas CO2-Emissionen übertreffen die aller OECD-Länder zusammen. Demonstrationen erlaubt. Aber nur in der Zelle.

Greta wird pragmatisch. Sie modelt für «Vogue Scandinavia», tanzt und singt wie Mutter Malena, macht Fotoshootings mit Hund und ohne Hund.

Die Weltbevölkerung wächst weiter, der Planet hingegen nicht. Wo Kinderreichtum ein Statussymbol ist, bleiben Europas Sozialsysteme die Traumdestination.

In der Kultur zählt nur noch die richtige Gesinnung. Preisträger müssen weiblich sein, farbig oder mindestens einen non-binären Gärtner mit Migrationshintergrund haben.

Taliban erobern Afghanistan und versprechen: Jetzt wird alles anders. Sie erschiessen in Nangarhar 13 Hochzeitsgäste. Sie haben Musik gehört. Früher hätten sie gleich alle massakriert.

China entwickelt Hyperschallraketen, der Westen beanstandet Ananas auf der Pizza Hawaii.

Fallschirmjäger Denny Vinzing warnt nach seiner Rückkehr aus Afghanistan: «Die meisten halte ich nicht für integrierbar. Sie leben nach ganz anderen Werten. Die Stellung der Frau ist radikal anders. Die kommen hier nicht zurecht.»

Auf Herbst 2015 folgt Herbst 2021. Hersteller von «Red Pepper»-Ladysprays verzeichnen steigende Umsätze.

Pandemie: Kann man verlorenes Vertrauen mit einer Tüte Haribo wiederherstellen?

Weltuntergänge im Konjunktiv. Japan entwickelt genmanipulierte Tomaten, die beruhigend wirken. Experten empfehlen Tomatenkonsumpflicht und Tomatenzertifikate.


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*Kolumne »Die einen haben Uhren, die andern Zeit.«

 

Zeit ist Geld», schrieb Benjamin Franklin 1748 in seinem «Leitfaden für junge Kaufleute». Der Graf von Rumford kritisierte die «unglaubliche Bummelei» in Verwaltung und Produktion und forderte Arbeitszeitkontrollen, denn nur mit einer exakten Zeitmessung könne man planen und Ziele festlegen.

Während man sich in der Landwirtschaft noch nach Sonnenaufgang und Sonnenuntergang richtete, gerieten die Fabrikarbeiter im Zuge der Industrialisierung im 19. Jahrhundert unter das Diktat der Zeitmessung. Maschinen sollten 60 bis 80 Stunden die Woche «arbeiten». Die Kontrolluhr wurde zum «Herzschlag des Kapitalismus» (Karl Marx), sie gab an den Fliessbändern den Takt an. Die neue Pünktlichkeit wurde zur neuen Tugend. Sie bedeutete mehr Effizienz, höhere Gewinne und schaffte einen entscheidenden Vorteil gegenüber Ländern ohne Zeitdisziplin.

Das ist bis heute so. In einem Vergleich mit 31 Ländern belegt die Schweiz Platz eins. Nirgends laufen die öffentlichen Uhren genauer, nirgends sind die Wartezeiten kürzer. Am Ende der Skala finden sich weniger industrialisierte Länder in Afrika, Asien, dem Nahen Osten und Lateinamerika. Das Schlusslicht ist Mexiko. Dort durchdringt die Langsamkeit das tägliche Leben bis ins Mark. Pünktlichkeit gilt bei privaten Einladungen als unhöflich, weil man damit rechnet, dass der Gast ein bis zwei Stunden «zu spät» kommt.

Ein lockeres Zeitgefühl und die kulturelle Eigenart, alles auf morgen zu verschieben, sind enge Geschwister. In diesen Ländern besteht der Alltag zu einem beträchtlichen (unproduktiven) Teil aus Warten. Warten auf verspätete Busse, Züge, Amtspapiere, warten auf andere Leute. Es versteht sich von selbst, dass langsame Kulturen im Laufe der letzten 200 Jahre abgehängt wurden und scheiterten.

Ein junger nordafrikanischer Migrant beklagte in einer Doku, dass Europa ihn stresse, weil hier alles organisiert sei, nie gehe eine Maschine kaputt, nie könne man Pause machen. Ironischerweise suchen Wirtschaftsmigranten in Europa ein besseres Leben und bringen ausgerechnet jene Kultur der Langsamkeit mit, die (nebst anderen Faktoren) mitverantwortlich ist für das Scheitern ihrer Heimatländer. Die einen haben Uhren, die andern haben Zeit.


*erschien 2018

Alle vierzehn Tage erscheint eine neue Blick-Kolumne und an den kolumnenfreien Freitagen erscheinen ältere Kolumnen, deren Themen immer noch sehr aktuell sind.


 

099 Blick »Der Mann, der niemals schlief«

Sein Logo war ein wachendes Auge, sein Wahlspruch: «We never sleep» (Wir schlafen nie). Der Schotte Allan Pinkerton (1819–1884) war der Sohn eines Polizisten und gehörte in jungen Jahren zu den Arbeiterführern, die sich für die Zulassung von Gewerkschaften, die Einführung von Frauenrechten und die Reduktion der Arbeitszeit auf zehn Stunden einsetzte. Um einer bevorstehenden Verhaftung zu entkommen, floh er nach Chicago.

 

Dort gründete er eine Fassbinderei und hatte bald einmal zehn Angestellte, die allerdings nicht die Arbeitsbedingungen hatten, für die er einst gekämpft hatte. Seine Beobachtungsgabe war legendär. Als er dem Sheriff eine versteckte Fälscherei meldete, machte ihn dieser zum Polizeidetektiv. Die rückständigen Fahndungsmethoden brachten den Selfmademan zur Weissglut. Er gründete die erste private Detektei der USA, die Pinkerton Agency. Sie wurde zum Vorbild für die spätere US-Bundespolizei FBI. Von Anfang an nutzte er die aufkommende Fotografie und legte Verbrecherkarteien an.

 

Eisenbahngesellschaften wurden seine besten Kunden. Da die Zugverbindungen von Ost nach West durch unbewohntes Gebiet führten, hatten Outlaws ein einfaches Spiel. Bald jagten Pinkertons Männer die Legenden des Wilden Westens: die Dalton-Brüder, Jesse James, Butch Cassidy und Sundance Kid. Seine Erfolge hallten bis nach Washington.

 

Er erhielt einen neuen Job. Während des Amerikanischen Bürgerkriegs (1861–1865) spionierte er als «Secret Agent» die Truppen der Südstaatler aus. Als der James Bond des Wilden Westens einen Mordanschlag auf US-Präsident Abraham Lincoln aufdeckte, ernannte ihn dieser zu seinem persönlichen Leibwächter.

Nach dem Krieg baute der einstige Sozialist sein Agenturnetz aus und liess im Auftrag von Fabrikbesitzern Streikende verprügeln. An einem einzigen Tag kamen dabei neun Arbeiter und sieben Detektive ums Leben.

 

Pinkerton starb mit 65, nicht etwa an einer Schussverletzung, sondern an einem bakteriellen Infekt. Er hatte sich bei einem Sturz auf die Zunge gebissen und sich geweigert, einen Arzt aufzusuchen. So kam der Arzt zu ihm und stellte den Tod fest.

 

Überlebt hat jedoch die Pinkerton-Detektei. Sie wurde 1999 vom schwedischen Sicherheitskonzern Securitas AB übernommen.

098 Blick »Zum fressen gern«

Es gibt fast so viele Formen von Kannibalismus wie Sportarten. In einigen Kulturen verspeiste man die Feinde, um sicherzugehen, dass sie kein Comeback versuchen, in anderen Regionen ass man geliebte Verwandte, damit sie in einem weiterleben. Azteken opferten ihren Göttern menschliche Herzen, um sie milde zu stimmen. Katholiken nehmen noch heute symbolisch den «Leib Christi» zu sich.

 

Mythologien, Sagen und Literatur sind voll von Geschichten über Menschen und Wesen, die sich gegenseitig auffressen. Robinson rettet Freitag vor dem Suppentopf der Kannibalen, in Slawomir Mrozeks Theaterstück «Auf hoher See» stimmen drei Schiffbrüchige darüber ab, wer von ihnen zuerst gefressen wird.

 

Einige Geschichten basieren auf wahren Gegebenheiten. Als die uruguayische Rugby-Mannschaft 1972 in den Anden abstürzte und die Männer 72 Tage lang von der Zivilisation abgeschnitten waren, begannen sie sich gegenseitig aufzuessen. Ähnliches wird aus dem abgeriegelten Leningrad während des Zweiten Weltkrieges berichtet. Kannibalismus war fast immer die Folge von ausserordentlichen Notsituationen oder Ausdruck von religiösem Aberglauben.

 

Kannibalismus ist heute eher selten. 2017 berichtete das Beratungsgremium Emrip der Uno, dass im Kongobecken immer noch Menschenfleisch verspeist wird. Bei uns machen Psychopathen gelegentlich von sich reden wie zuletzt der Rotenburger Armin Meiwes (2001) oder «Der Kannibale von Pankow» (2021).

 

Im Reich der Tiere gibt es die «Selbstversorger», die den eigenen Nachwuchs fressen, «narzisstische» Schlangen», die sich gleich selbst verschlingen, und Bären und viele andere, die ihre Artgenossen verspeisen.

 

Überlebt hat der Kannibalismus in der Sprache. In der Wirtschaft spricht man von Kannibalisierung, wenn ein Unternehmen gleichartige Produkte zu verschiedenen Preisen anbietet. Privat kokettieren wir damit, dass wir unseren Partner «zum Fressen gern» haben, seinen Po knackig finden, seine Ohrläppchen süss, und nicht selten verwechseln wir beim Sex den Partner mit einem Big Mac, wenn wir ihm in Draculamanier in den Hals beissen.

 

Wer davon nicht satt wird, kann sich im Supermarkt Mönchsköpfe (Tête de Moine) kaufen und, auf eigene Gefahr, Frauenschenkel oder Mohrenköpfe.

097 Blick »Long Covid im Mittelalter«

Viele, die noch zu Mittag fröhlich gewesen, sah man des Abends nicht mehr unter den Lebenden.» So beschrieb im Jahre 1834 der Arzt Justus F. C. Hecker in seinem Buch «Der englische Schweiss» eine der merkwürdigsten Seuchen des Mittelalters.

Merkwürdig deshalb, weil sie 1485 zum ersten Mal aus dem Nichts auftauchte, innert Stunden tötete und ebenso plötzlich wieder verschwand. Merkwürdig auch deshalb, weil sie nicht Kranke und Alte dahinraffte, sondern vor allem Gesunde im besten Alter. Zur allgemeinen Verwirrung waren auch sehr viele Adlige und vermögende Kaufleute betroffen. Deshalb, und wohl nur deshalb, ist diese Seuche besonders gut dokumentiert. Den Namen verdankt sie einem von vielen Symptomen: kolossales Schwitzen.

Henry Tudor, der spätere König Heinrich VII., soll die Seuche eingeschleppt haben, als er mit fünftausend Mann in England einfiel und in der Schlacht von Bosworth Richard III. besiegte. Kaum war er ins massiv überbevölkerte London einmarschiert, erkrankten die Einwohner an einem grippeähnlichen Virus und sonderten übel riechenden Schweiss ab.

Mediziner standen vor einem Rätsel. Einige vermuteten eine besonders aggressive Erkältung, andere glaubten an ein unglückliches Zusammen treffen mit den damaligen Pocken- und Pest-Epidemien, Religiöse hielten es für eine Strafe Gottes. Es folgten vier weitere Wellen, jeweils im Abstand von circa zehn Jahren. Und jedes Mal berichteten Chronisten über Langzeitfolgen. Long Covid im Spätmittelalter.

Allen fünf Wellen ging Starkregen voraus, der gewöhnlich Ratten aus ihren Löchern treibt. Es folgten sehr heisse Sommer. Wer im Freien arbeitete, atmete zwangsläufig den Staub von getrocknetem Rattenkot ein und erkrankte nach kurzer Inkubationszeit an einem Hantavirus, das die Lunge angreift. Eine von vielen Theorien. Eine gängige Behandlung bestand darin, die Kranken warm einzupacken. Es bewirkte das Gegenteil.

Im Unterschied zu früher starten heute täglich über zweihunderttausend Flugzeuge und bringen Menschen und Viren von einem Ort zum andern. Was früher in eine Epidemie ausartete, wird heute gleich zur Pandemie. Doch heute haben wir Impfstoffe. Deshalb sollten wir «impfen statt schimpfen».

Claude Cueni (65) ist Schriftsteller und lebt in Basel. Er schreibt jeden zweiten Freitag im Blick. Zuletzt erschienen bei Nagel & Kimche «Genesis – Pandemie aus dem Eis» (2020) und «Hotel California» (2021).

©weltwoche »Faust Gottes will Präsident werden«

Manny Pacquiao, philippinischer Boxweltmeister in acht Gewichtsklassen, zieht es in die Politik. Es ist der Fight seines Lebens. Die erste Runde lief schlecht.


Claude Cueni ist Schriftsteller und lebt in Basel. Er ist mit einer Filipina verheiratet und Autor des Philippinen-Romans «Pacific Avenue». Zuletzt erschienen von ihm bei Nagel & Kimche «Genesis» (2020) und «Hotel California» (2021).


Ich habe mein Bestes gegeben, aber mein Bestes war nicht gut genug», gestand der 1,66 Meter kleine philippinische Boxer Manny Pacquiao, 42, nach seiner klaren Niederlage gegen das kubanische Kraftpaket Yordenis Ugás, 35. In jener Augustnacht in Las Vegas stand der Weltmeister in acht Gewichtsklassen wohl zum letzten Mal im Ring. Nach dem Kampf wurde er gefragt, ob er nun für das Amt des Staatspräsidenten kandidiere. Seine Antwort: «Ich weiss es nicht. Es ist sehr viel komplizierter als Boxen.»

Einen ersten Vorgeschmack hatte er bereits 2010 erhalten, nachdem er in den Kongress gewählt worden war. Abgeordnete kritisierten, er habe null Ahnung, interessiere sich nicht für die Dossiers, sondern nur für seine Karrieren als Boxer, Sänger, Model, Schauspieler, Prediger und Markenbotschafter. Als Pacquiao 2016 gar in den Senat gewählt wurde, spotteten einige, das sei weiter nicht schlimm, als Abgeordneter sei er lediglich an vier von 179 Sitzungen erschienen.

Tausend Häuser für die Ärmsten

2016 war auch das Jahr, in dem der bekennende Sozialist Rodrigo Duterte zum Staatspräsidenten gewählt wurde. «Dirty Harry» (Financial Times) überredete Pacquiao zu einem Parteiwechsel und machte ihn später zum Vorsitzenden seiner PDP-Laban-Partei. Die beiden wurden Freunde. Bis zu jenem 5. September, als Pacquiao in einem Live-Interview mit dem Nachrichtenportal Rappler seine Kandidatur für das Amt des Staatspräsidenten ankündigte und seinem einstigen Mentor vorwarf, er schütze die korrupten Politiker, die Milliarden von Pesos aus dem Corona-Fonds verschwinden liessen. Für viele Zuschauer war der Auftritt ihres Nationalhelden, der erneut die Partei gewechselt hatte, irritierend. Pacquiao konnte sich weder differenziert noch pointiert ausdrücken. Man hatte den Eindruck, er verstünde nur mit den Fäusten zu sprechen.

Wer ist dieser Jahrhundertboxer, der dem Staat 2,2 Milliarden Pesos (rund 40 Millionen Schweizer Franken) Nachsteuern schuldet und den Ärmsten in seiner Heimatstadt tausend Häuser schenkte? Die Doku «Manny» von 2014 zeichnet seinen Aufstieg aus den Slums von General Santos City nach und schildert, wie er als Teenager in den Ring stieg, um seine Familie zu ernähren. Für seinen ersten Fight erhielt er zwei Dollar. Mittlerweile hat er im Ring eine halbe Milliarde verdient.

Seinen kometenhaften Aufstieg feierte das Energiebündel früher mit Sex, Drugs and Rock ’n’ Roll. Bis ihm eines Nachts zwei Engel erschienen, «weiss, mit grossen Flügeln». Pacquiao wurde ein strammer Evangelikaler, ein Fundamentalist, der die Bibel wörtlich nimmt. Als er in einem Interview behauptete, Homosexuelle seien «schlimmer als Tiere», verlor er in Umfragen (vorübergehend) nicht nur 12 Prozentpunkte, sondern auch seinen Hauptsponsor Nike. Pacquiao entschuldigte sich und legte gleich nach: Homosexuelle verdienten gemäss der Bibel den Tod. Punkt. Und ja, er ist auch für die Wiedereinführung der Todesstrafe. Kann er dennoch Präsident werden in einem Land, in dem selbst ein Rambo wie Duterte sich für die gleichgeschlechtliche Ehe und den Schutz der LGTB-Community aussprach?

Über ein Dutzend Celebrities, Senatoren und Bürgermeister haben ihre Kandidatur angemeldet. Darunter auch Ferdinand Marcos, 64, der Sohn des gleichnamigen Diktators (1917–1989), der rund 30 000 Kritiker in Militärlagern internieren liess. Die Frist für die Registrierung läuft am 8. Oktober aus. Bei der letzten Umfrage lag Dutertes Tochter, die Rechtsanwältin Sara Duterte-Carpio, 43, in Führung, doch vor ein paar Tagen hat sie sich überraschend um eine dritte Amtszeit als Bürgermeisterin von Davao City beworben. Taktik?

Duterte verzichtet

Last-Minute-Pirouetten sind im Inselstaat nicht ungewöhnlich. Wer für das Amt des Staatspräsidenten kandidiert, ernennt jeweils seinen Vize, obwohl beide nicht als Duo, sondern separat gewählt werden. So kann es sein, dass ein gewählter Präsident den Vize des Gegners kriegt.

Ein amtierender Präsident darf nicht zu einer zweiten Amtszeit antreten. Deshalb bewarb sich Duterte als Vize, doch Pacquiao wollte ihn auch nicht und ernannte Lito Atienza, den achtzigjährigen Sprecher des Abgeordnetenhauses, zu seinem Vize. Dieser war von 1998 bis 2007 Bürgermeister von Manila und ist wie Pacquiao ein radikaler Gegner von Familienplanung und Sexualaufklärung. Letzte Woche hat Duterte überraschend seinen Verzicht erklärt. Taktik?

Bis zum Wahltag am 9. Mai 2022 wird sich das Bewerberfeld nochmals lichten: Schmutzkampagnen, gefakte Lebensläufe und Bestechungsskandale werden einige ausknocken. Manny Pacquiao wird wie üblich sein Bestes geben, aber sein Bestes könnte ausserhalb des Rings nicht genug sein.