Panini sei Dank

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© Die Weltwoche; 14.04.2016

Es gibt einen ganz speziellen Grund, weshalb ich auch als Erwachsener hinter Panini-Alben her bin. 

Als ich kürzlich das neue Panini-Album «Uefa Euro 2016» kaufte, fragte die Kioskverkäuferin: «Bilder?» – «Keine Bilder», antwortete ich, «nur das leere Album.» Ich sah ihr förmlich an, wie sich ihre Schläfenarterien verengten und sie angestrengt darüber nachdachte, wer von uns beiden heute Morgen seine Pillen vergessen hat.

Normale Menschen besorgen sich ein Panini-Album und kaufen dann so lange Bilder, bis das Album voll ist. Manchmal verzweifeln die Schüler an fehlenden Bildchen und bieten für einen Ronaldo ein Date mit der grossen Schwester an. Aber ein Panini-Album ist wesentlich mehr, kann wesentlich mehr sein; das hängt natürlich vom Abstraktionsvermögen des Betrachters ab. Für mich waren Panini-Alben immer der ultimative Beweis dafür, wieso Hardcore-Sozialismus weder als Brettspiel noch in der realen Welt funktioniert: Panini, das ist die Jagd nach Trophäen, das Sammeln, der Wettlauf gegen die andern, der Wunsch, der Erste zu sein, der das Album bis auf den letzten Kicker vollgeklebt hat. Jagen und Sammeln sind (nach dem unstillbaren Fortpflanzungstrieb) zwei jener Urinstinkte, die den Menschen antreiben, seit er von den Bäumen runtergestiegen ist und den aufrechten Gang geprobt hat, um sich einen ersten Überblick über seine neuen Jagdgründe zu verschaffen. Würde der Staat jedem Bürger bedingungslos ein leeres Album und ein komplettes Set an Bildchen nach Hause liefern, wäre der Spass nur halb so gross. Man mag später den Hochzeitstag vergessen, aber das erste Panini-Album, das vergisst man nie.

Die Gebrüder Panini tricksen nicht

Ich besorgte mir 1970 mein erstes Panini-Album, «Mexico». Damals waren die Alben noch gratis, hinterlistige Marketingstrategen hatten gerade mal das «Anfixen» erfunden und dadurch manches Haushaltsbudget während der Weltmeisterschaften in Schieflage gebracht. Ich konnte mir keine Bildchen leisten, erhielt aber aus Mitleid von meinen Mitschülern dreimal Víctor Espárrago von Nacional Montevideo, weil es diesen schmalgesichtigen Uruguay-Stürmer in Panini-Form angeblich öfter gab als Fussballgott Pelé oder den Rechtsaussen (ist sportlich gemeint) Jairzinho. 1970 war nicht nur die Geburt des ersten WM-Panini-Albums, sondern auch die Geburt des Gerüchts, laut dem die Gebrüder Panini tricksen würden. Angeblich seien Superstars seltener als No-Name-Kicker. Das Gerücht hielt sich derart hartnäckig, dass die Mathematiker Sylvain Sardy und Yvan Velenik von der Universität Genf der Sache mit wissenschaftlichen Methoden auf den Grund gingen. Wenig überraschend war die Erkenntnis, dass es sich beim allerersten Bild nie um eine Doublette handelt. Mit jedem eingeklebten Sticker sinkt natürlich die Wahrscheinlichkeit, ein fehlendes Bild zu ergattern. Um zu testen, ob alle 640 (bis 660) Bilder mit derselben Regelmässigkeit auftauchen, kauften die Wissenschaftler zwölf Boxen à hundert Päckchen mit jeweils fünf Bildern, also insgesamt 6000 Sticker. Das Ergebnis war für Verschwörungstheoretiker eine herbe Enttäuschung: Jeder Spieler kam neun Mal vor. Die Panini-Gruppe, die heute mit rund tausend Mitarbeitern in über hundert Ländern einen Umsatz von zirka 800 Millionen Euro erzielt, trickst also nicht.

Tauschhandel dringend empfohlen

Da Verschwörungstheorien nebst Kochen und Fitness zu den neuen Ersatzreligionen des 21. Jahrhunderts gehören, hält sich das Gerücht dennoch weiterhin. Aber die Wissenschaft hatte es schon immer schwer gegen Gläubige und Abergläubische.

Für die ersten 550 Bildchen benötigt man gemäss den beiden Mathematikern 233 Tüten, für die nächsten neunzig Abziehbildchen weitere 233 Tüten. Das gilt auch für die allerletzten drei fehlenden Bildchen. Somit ist Tauschhandel dringend empfohlen.

Aber mit wem sollte ich meine drei Víctor Espárragos tauschen? Dafür kriegte ich höchstens einen Ersatzspieler aus der damaligen Sowjetunion. Aber mein eigentliches Problem war Julius Cäsar. Wegen einer Zwei in Latein (grosszügig aufgerundet) wurde mein mitleiderregendes Panini-Album zwischen Kartoffelschalen und Kaffeesatz versenkt, Mülltrennung hatte die Dudenredaktion noch nicht ins Wörterbuch aufgenommen. Trotz dieser gutgemeinten erzieherischen Massnahme endete mein «De bello Gallico» bei Bibracte. Ich interessierte mich darauf mehr für Frauenfussball, aber eher ausserhalb des Spielfeldes. 1990, Italien, da schlug ich richtig zu, nicht aus Trotz, sondern weil mein achtjähriger Sohn vom Fussballfieber besessen war. Wir gingen zum nächsten Kiosk, und er blickte voller Bewunderung zu mir hoch, als ich die Kioskfrau fragte: «Wie viele Boxen haben Sie an Lager? Drei? Wir nehmen alle drei.»

«Habe ich jetzt zwei Kinder?», fragte meine (2008 verstorbene Frau), als wir erhobenen Hauptes nach Hause zurückkamen. Ich erklärte ihr, dass wir all diese Bildchen brauchten, um unseren Sohn für das tägliche, mehrstündige Reha-Programm zu motivieren. Nach kurzer Zeit brauchte es bereits zwei Bilder für eine Reha-Stunde, und kurz bevor mein Sohn alles hinschmeissen wollte, kapitulierte ich und schmiss, wie damals Vercingetorix sein Schwert, ihm die letzte Box vor die Füsse. Als das Album voll war, gab es Schwierigkeiten mit der Motivation. Später lernte ich, dass Kinder, die fürs Malen bezahlt werden, rasch den Spass an der Sache verlieren, während Kinder, die ohne Bezahlung malen, die Freude am Malen behalten. Parallelen zur Kulturförderung sind rein zufällig.

1994 war mein Sohn schon ein bisschen aus dem Alter heraus, ich noch mittendrin – vermutete jedenfalls die Kioskfrau, denn ich kaufte immer noch bei jeder WM das neue Panini-Album. Aber ab 1994, «USA», wieder ohne Bildchen.

Es war ein Italiener aus Mailand, der schliesslich hinter mein dunkles Geheimnis kam. «Ist es Zufall», fragte er, «dass in Ihrem Vatikanthriller ‹Gehet hin und tötet› fast alle Kardinäle und Mafiosi die Spielernamen der italienischen Nationalmannschaft von 1990 haben?»

Ich gestand ihm, dass ich die Namen für meine Film- und Romanfiguren den Panini-Alben entnehme, jeweils zwei Spielernamen für einen Romannamen. Von Salvatore Schillaci (Juventus) nahm ich den Vornamen, von seinem damaligen Klubkollegen Roberto Baggio den Nachnamen; Luigi De Agostini gab dem Vertrauten des Papstes den Vornamen, Franco Baresi von der AC Milan einem Mafioso den Nachnamen, und so erhielten alle Figuren beim ersten gedanklichen Casting ihre Namenstaufe.

Das ist der wahre Grund, wieso ich heute noch Panini-Alben kaufe. Zu oft gab es in den Fernsehredaktionen Diskussionen, weil ihnen ein russischer oder schwedischer Name eher spanisch vorkam. In solchen Situationen fragte ich jeweils scheinheilig in die Runde, ob nicht ein Ronald Koeman 1990 für die holländische Nationalmannschaft gespielt habe, Koeman sei doch ziemlich holländisch wie auch de Boer oder de Goey.

Wie sage ich es der Kioskdame?

Natürlich müsste ich heute keine Panini-Alben mehr kaufen. Sucht man zum Beispiel nach philippinischen Vor- und Nachnamen, googelt man die Liste der Senatoren in Manila oder die der Angestellten der Stadtverwaltung von Bacolod oder abonniert gleich das E-Paper des Philippine Daily Inquirer. Zwei Personen ergeben jeweils einen Namen, das ist nach wie vor Standard. Da aber nicht alle Kulturen unsere Schriftzeichen haben, bleiben Panini-Alben weiterhin integraler Bestandteil einer seriös geführten Autorenbibliothek.

Das alles hätte ich gerne der Kioskdame erklärt, aber hinter mir drängten ein paar fiebrige Jungs, die dringend Bildchen kaufen mussten.

© Die Weltwoche; 14.04.2016

 

#chronos (1976)

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«Warum willst du den Job?»

«Ich kann nachts nicht schlafen», antwortete der «Taxi Driver» Travis Bickle (Robert De Niro) im gleichnamigen Film von Martin Scorsese. Der preisgekrönte und kontrovers diskutierte Film zeigte die psychische Deformation von «Gottes einsamstem Mann», das Abgleiten von Frustration in einen zerstörerischen Wahn: «Hört zu, ihr Wichser, ihr Scheissköpfe. Hier ist ein Mann, der sich nicht mehr alles gefallen lässt.»

Aufsehen erregte 1976 auch eine Studie der US-Regierung, wonach weltweit pro Kopf 12 330 Dollar für Rüstungsgüter und nur gerade mal 129 Dollar für Schulbildung ­ausgegeben ­werden.

Erkenntnisse anderer Art erlangte ein ­Unterausschuss des US-Senats in der Lockheed- Affäre: Angehörige der Geschäftsführer des ­Flugzeugbauers hatten insgesamt 22 Millionen Bestechungsgelder bezahlt, um den Verkauf von Militärflugzeugen «argumentativ» zu unterstützten. Die Millionenbeträge waren an «Volks­vertreter» nach Deutschland, Italien und Japan ­geflossen und hatten Rücktritte und Verur­teilungen zur Folge. In den Niederlanden wurde Prinz Bernhard gezwungen, alle öffentlichen ­Ämter abzugeben. Der Partylöwe bestritt stets, 1,1 Millionen Dollar Schmiergelder erhalten zu haben. Nach seinem Tod wurde es öffentlich: Er hatte doch.

«Das Dogma ist weniger wert als ein Kuhfladen», hatte der chinesische Diktator ­philosophiert, der 1976 von geschätzten 1,5 Millionen Menschen zu Grabe getragen wurde. Wie gross die Wunden sind, die der kommunistische Staatsgründer und Massenmörder Mao Zedong mehreren Generationen zugefügt hat, zeigte ein Ereignis im Jahre 2016: In der Provinz Hanan wurde eine gigantische Mao-Statue von 37 Metern Höhe errichtet. Bereits nach wenigen Tagen war sie zerstört. Von Vandalen sagten die einen, wegen einer fehlenden Baubewilligung sagte die Regierung.

1976 ereignete sich in den Produktionshallen der italienischen «Todesfabrik» (La Republica) Icmesa eine Explosion. Erst nach neun Tagen ­meldete die Eigentümerin Hoffmann-La Roche/Givaudan die Zusammensetzung der Giftwolke: Dioxin. Inzwischen waren in Seveso die Blätter der Bäume vergilbt und Haustiere gestorben. Über 600 Menschen wurden evakuiert, die Zahl der Missgeburten vervierfachte sich darauf. Die ­Ursachen des bisher grössten Giftgasunglücks der ­Nachkriegszeit waren mangelhafte Technik und unqualifizierte Hilfskräfte. Roche weigerte sich, Entschädigungen in Höhe von 300 Millionen zu bezahlen. Die ersten Todesopfer kommentierte der damalige Roche-Chef Adolf Jann so: «Die Frau, die leider gestorben ist, litt unter Asthma.» Erst nach einem Jahr zahlte Roche 30 Millionen in einen «Soforthilfefonds»: «Wir haben nicht die Absicht, die Schulden der ganzen Lombardei zu bezahlen.»

Ein ganz anderes Gift besang die Rockband Eagles auf ihrem fünften Album. War der Song «Hotel California» eine Metapher für die Drogensucht, ein Hotel, das scheinbar jeden Wunsch erfüllt und aus dem es kein Entrinnen mehr gibt?

«You can checkout any time you like, but you can never leave!» Songwriter Don Felder schrieb später in seiner Autobiografie, «Hotel ­California» sei immer das, was die Menschen darin sehen möchten.

1976 gründeten Steve Jobs, Steve Wozniak und Ronald Wayne mit einem Startkapital von 1300 Dollar die Garagenfirma Apple. Wayne stieg am nächsten Tag gleich wieder aus. Wer zu früh geht, den bestraft das Leben auch. Aber wieso «Apple»? Wozniak schrieb in seiner Auto­biografie, dass Jobs gerade eine Apfeldiät machte und der Name dann vor dem Konkurrenten Atari im Telefonbuch stehen würde.

»Schweiz entköppeln«

IMG_0967Das Theater Neumarkt rief zur nationalen „Ent-Köppelung“ auf, um mit Flüchen den bösen Geist des Julius Streicher aus der Seele von Weltwoche Chef Roger Köppel zu vertreiben. Wer ist Julius Streicher?

Julius Streicher (1885 – 1946) war ein furchtbarer Nazi, der selbst Mitgliedern der NSDAP zu rechtsextrem war. Das NSDAP-Mitglied war Herausgeber des antisemitischen Hetzblattes „Der Stürmer“ und leitete ab 1933 das „Zentralkomitee zur Abwehr der jüdischen Greuel- und Boykotthetze“, 1935 publizierte Streicher das Plakat „Todesstrafe für Rassenschande“. Nach Kriegsende wurde er wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zum Tod verurteilt und hingerichtet. Wer zwischen Streicher und Köppel keinen Unterschied sehen will, trivialisiert die grauenhaften Verbrechen der Nazis.

Einer, der sich wie Roger Köppel gerne exponiert und provoziert, bietet seinen Gegnern genügend Angriffsflächen für substanstielle Kritik. Es gehört jedoch zum Repertoire populistischer Kulturschaffender, jeden rechtskonservativen Journalisten mit Nazischurken gleichzusetzen. Ein „rechter Journalist“ ist stets einer, der rechts vom eigenen Standort steht. Wer sich einredet, er verfüge über die moralische Lufthoheit, braucht keine Argumente, er kann sich mit launischen Stammtischparolen begnügen und erntet im eigenen Umfeld stets Applaus.

Mit dem Wortspiel „ent-köppeln“ ist wahrscheinlich „ent-köpfeln“, bzw „ent-haupten“ gemeint. Die Besucher der Homepage werden eingeladen, ihr geliebtes Hassobjekt zu verfluchen. Zur Auswahl standen unter anderem folgende Flüche: Querschnittlähmung, Ebola, Verkehrsunfall. Die Initianten versprachen, den Wünschen der Abstimmungsteilnehmer nachzukommen… Ist das nun Satire, geschmacklose Satire oder bereits ein Fall für die Gerichte? Man stelle sich den Aufschrei bei vertauschten Rollen vor. Welchen historischen Vergleich würden die Initianten ziehen, wenn plötzlich Rechtsextreme zum Marsch auf das Theater Neumarkt in Zürich blasen würden?

Köppel-Bashing ist sehr beliebt, weil es absolut ungefährlich ist und die Initianten zu ernsthaften Kandidaten für kulturelle Auszeichnungen macht. Gefährlicher wäre eine Satire gegen Islamisten, die in Schweizer Innenstädten Hetzschriften (»Buch der einfachen Rechtswissenschaft“) verteilen, die zur Ermordung von Juden, Schwulen und Ungläubigen aufrufen. Aber was die Initianten antreibt ist eben nicht die Sorge um unseren demokratischen Rechtsstaat, sondern das Bemühen um Publicity ohne Leistung.

Es braucht gerade für Kulturschaffende wesentlich mehr Mut, diese Aktionen zu kritisieren, als mit einer selbstverliebten Herde zu blöcken, die jeden Kritiker in den eigenen Reihen als 1/16 Nazi diffamiert und exkommuniziert.

Wir alle lesen Artikel, die uns nerven, vielleicht nervt auch dieser Text, aber man muss ihn nicht zu Ende lesen und wenn man es dennoch tut, muss man ihn aushalten und dabei nicht vergessen, dass Andersdenkende, die sich innerhalb des demokratischen Spektrums artikulieren, keine Feinde sind, sondern einfach Leute, die, aus welchen Gründen auch immer, andere Ansichten vertreten.

Nachtrag: Uebrigens: 500.000 Likes (oder Flüche) gibts für einige hundert Dollar. Sollte für ein subventioniertes Theater kein Problem sein.

© 2016 Blick

#chronos (1948)

Bildschirmfoto 2016-03-11 um 04.15.32«Falls andere das können, kannst du es auch.» Bill Rosenberg (1916–2002), Sohn jüdischer Einwanderer, hatte nach dem Krieg Fabrikarbeiter in Boston mit Snacks und Kaffee beliefert. Als er 1948 bereits zweihundert Catering-Fahrzeuge im Einsatz hatte, eröffnete er die Imbissbude «Open Kettle» (Offene Kanne). Er servierte Donuts mit bunten Fett-Zucker-Glasuren, aber nicht in den üblichen fünf Variationen, sondern in 52 ­verschiedenen Ausführungen. Zwei Jahre später nannte er seinen Betrieb «Dunkin’ Donuts». Heute arbeiten 120 000 Mitarbeiter in 55 Ländern für das Franchise-Unternehmen und Homer Simpson schwärmt immer wieder: «Mmmm, donuts.»

Ein bekennender Donuts-Liebhaber, der sich sogar mit Donuts ablichten liess, war auch US-Präsident Harry S. Truman, der 1948 in seinem Amt ­bestätigt wurde. Er hatte zuvor die Rassen­trennung in den Streitkräften aufgehoben und den Marshallplan unterschrieben, der 5,3 Milliarden Dollar für den Wiederaufbau Europas ­freimachte. Mit den Geldern sollten aber auch neue Absatzmärkte geschaffen und die kommunistische Expansion eingedämmt werden.

Eine halbe Milliarde ging an Deutschland, das im Zuge der Währungsreform die Reichsmark durch die D-Mark ersetzte. Eine Folge davon war die Strafblockade Westberlins durch die ­Sowjetunion. Die Alliierten errichteten eine ­Luftbrücke und versorgten die Berliner aus der Luft. Nebst Nahrungsmitteln brachten die «Rosinenbomber» auch die erste Nummer des Wochenmagazins Stern und die erste Nummer der Masturbationsvorlage Quick unter die Leute. Die Sekretärin des Chefredaktors war Traudl Junge. Kurz vor ihrem Tod diktierte sie ihre ­Memoiren. Der Titel war: «Bis zur letzten Stunde. Hitlers Sekretärin erzählt ihr Leben».

Die neuen Grenz­ziehungen nach dem Zweiten Weltkrieg schafften die Grundlage für zahlreiche neue Kriege. Der UN-Teilungsplan konnte die jüdisch-arabischen Spannungen erwartungs­gemäss nicht entschärfen. Kurz vor Beendigung des britischen Mandats verlas Ben-Gurion am 14. Mai 1948 die israelische Unabhängigkeits­erklärung. Bereits am nächsten Tag griff eine ­arabische Allianz, bestehend aus Ägypten, Syrien, Libanon, ­Jordanien und dem Irak, den neuen Staat an. Sie ­wiesen den UN-Teilungsplan zurück, ­bestritten das Existenzrecht Israels und wollten die neuen Nachbarn vernichten.

Nicht minder kriegerisch ging es in ­Griechenland zu. Hier tobte ein Bürgerkrieg ­zwischen Regierungstruppen und kommunistischen Rebellen, die von der Sowjetunion ­unterstützt wurden. Auch Asien kam nicht zur Ruhe. In China marschiert Maos Volksbefreiungsarmee in die Mandschurei ein; Korea wurde in zwei Staaten aufgespalten: Im Norden terrorisierte fortan die totalitäre «demokratische» ­Volksrepublik ihre Bürger, im Süden wurde die Republik Korea (Südkorea) ausgerufen. Auch die Aufteilung von Britisch-Indien in ein muslimisch dominiertes Pakistan und ein hinduistisch ­geprägtes Indien führte zu kriegerischen ­Auseinandersetzungen um den ehemaligen ­Fürstenstaat Kaschmir. Dabei kam der ­berühmteste Pazifist seiner Zeit ums Leben: der 78-jährige Anwalt, Asket, Revolutionär und «religiöse Atheist» Mahatma Gandhi fiel einem ­Attentat zum Opfer.

1948 brachte der deutsch-französische ­Regisseur Max Ophüls (1902–1990) den Film «Brief einer Unbekannten» in die US-Kinos. Der Film basierte auf der Novelle eines anderen ­Pazifisten: Stefan Zweig (1881–1942). Er war an der «Zerstörung seiner geistigen Heimat Europa» verzweifelt und hatte sich mit einer Überdosis Veronal sechs Jahre zuvor in Brasilien das Leben genommen.

#chronos (1948) Folge 35

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Die ersten 50 chronos Folgen erscheinen Ende Jahr in Buchform

#chronos (1979)

chronos1979«Und sie bewegt sich doch!» 1979 setzte Papst Johannes Paul II. eine Kommission ein, um nach dreieinhalb Jahrhunderten die Rehabilitierung von Galileo Galilei (1564–1642) zu prüfen. Nach Jahren intensiver Forschung kamen die ­vatikanischen Ermittlungsbehörden zum Schluss, dass dem toskanischen Gelehrten Unrecht ­geschehen war und dass die Erde doch ziemlich rund ist. Einige Islamgelehrte wie Bandar ­al-Khaibari predigen heute noch, dass die Erde stillsteht. Wissenschaftliche Erkenntnisse müssen stets gegen die Religion erkämpft werden.

«1979» hatte auch für die islamische Welt eine grosse Bedeutung. Es entspricht dem Jahr 1400 des islamischen Kalenders. Gemäss Überlieferung beginnt dann die «Endzeit». Schah Mohammad Reza Pahlavi, der Schah von Persien, setzte sich in Begleitung von Kaiserin Farah Diba ins Ausland ab und überliess den Pfauenthron dem 77-jährigen Religionsführer Ayatollah ­Khomeini. Dieser hob die seit fünfzig Jahren ­geltende Säkularisierung wieder auf, führte die Scharia ein und entzog den Frauen alle Rechte, die sie einst im Zuge der «Weissen Revolution» erhalten hatten.

Auch in Nicaragua wurde ein Alleinherrscher gestürzt. Sandinistische Revolutionstruppen ­marschierten in der Hauptstadt Managua ein und beendeten die 35-jährige Diktatur des Somoza- Clans. Der letzte Somoza floh mit seinem ­Generalstab nach Florida. Die mit grotesker ­Brutalität ­regierende Somoza-Dynastie hatte fast die gesamte ­Wirtschaft des ­Landes unter ihre Kontrolle gebracht. ­Aufgrund ihrer ­antikommunistischen ­Haltung waren sie lange von den USA unterstützt und an der Macht gehalten worden.

Auch in Kambodscha wurde ein Diktator gestürzt: Pol Pot. Die vietnamesische Armee marschierte in Phnom Penh ein und beendete die Terrorherrschaft der ­maoistischen Roten Khmer, die beim Versuch, das Land in eine »blühende kommunistische Zukunft« zu führen, rund zwei Millionen ­Menschen umgebracht hatten. Viele flohen. Ein Frachtschiff nahm die ersten vietnamesischen Flüchtlinge auf und rettete über 11 000 von ihnen vor dem Ertrinken und dem Hungertod. Das Schiff hiess »Cap ­Anamur« und gab der Hilfsorganisation deutscher Notärzte den Namen.

Friedlicher endete die Abspaltung des ­nördlichen Juras vom Kanton Bern nach 165-jähriger Zugehörigkeit. Ganz so gewaltfrei verliefen die Geburtswehen des 26. Schweizer Kantons allerdings nicht: Der Separatist Christophe Bader hatte vor dem Berner Rathaus eine Bombe zünden wollen. Der Sprengsatz detonierte frühzeitig. Er wurde nicht in Stücke gerissen, sondern von der Wucht der Explosion getötet. Als seine Mutter in der Aufbewahrungshalle in Saignelégier vom «letzten Schweizer Terroristen» Abschied nahm, fragte sie den toten Sohn: «Warum hast du das getan? War das dein Leben wert?»

Sowjetische Truppen landeten in Kabul und setzten eine neue kommunistische Führung ein. Es war erst der Auftakt zu einem ­langjährigen Konflikt der das Vietnam der ­Sowjetunion ­werden sollte. Nach dem Abzug 1989 folgte bald einmal ein Bürgerkrieg und der Aufstieg der ­Taliban.

In den USA startete der erste Star-Trek-­Kinofilm: «Wieso arbeiten die Transporter der Enterprise nicht, Mr. Scott?» Marlon Brando ­brillierte in «Apocalypse Now» («Wie nennt man das, wenn Mörder Mörder anklagen?») und ­Ridley Scott inszenierte seinen ersten «Alien». Einer der bedeutendsten Surrealisten des 20. Jahrhunderts hatte das Monster erschaffen: der Schweizer H. R. Giger. Nach dem Oscar­gewinn (1980) erhielt er in der Heimat keine grosse Ausstellung mehr. Erfolg hat viele Neider.

© Basler Zeitung – Claude Cueni ist Schriftsteller und lebt in Basel.

#chronos (1958)

 

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«Spiel gut», riet der dänische Kunsttischler Ole Kirk Christiansen seinem Sohn Godtfred, als er ihm in den 30er-Jahren Holzbauklötze zum Spielen gab. Am 28. Juli 1958 meldete sein ­mittlerweile erwachsener Sohn das Steckprinzip für Spielbausteine zum Patent an. Als Markenname wählte er «Leg godt» (dt.: «Spiel gut»). ­Daraus wurde auf dem Patentamt das besser ­verständliche «Lego». Der Konzern erwirtschaftet heute einen Jahresumsatz von ca. 3,4 Milliarden Euro. Trotz einiger Produkteflops und Shitstorms von Gender-Expertinnen und Umweltaktivisten bewerfen auch heute noch Kinder ihre nicht erziehbaren Eltern mit Lego-Bausteinen und ­zwingen ihre Grosseltern, auf allen vieren nach vermissten Einzelstücken zu suchen.

Auf Spurensuche war auch Mount-Everest-Bezwinger Edmund Hillary, als er den Gipfel erreichte. Er hielt Ausschau nach Hinweisen auf eine eventuell frühere Ersteigung durch die vor 29 Jahren in Gipfelnähe verschollene ­Seilschaft von Mallory und Irvine. Er fand angeblich ­keinerlei Spuren. Einem Zweifler sagte er, dass es nicht darauf ankomme, wer als Erster oben war, sondern wer als Erster wieder unten war, lebendig.

Während auch in Europa während des «Kalten Krieges» Gefriertemperaturen erreicht wurden, erstarkte die Friedensbewegung und marschierte im weltweit ersten «Ostermarsch» auf das Gelände des Kernwaffen­forschungs-Zentrum in Aldermaston (Grossbritannien). Die ­«Campaign for Nuclear ­Disarmament» hatte dazu ­aufgerufen und dem britischen Künstler und Kriegsdienstverweigerer Gerald Herbert Holtom (1914 – 1985) den Auftrag erteilt, ein Logo zu entwerfen. Sein­ ­«Peace»-Zeichen wird heute weltweit als Friedenssymbol verwendet.

Weniger Probleme mit dem Kriegsdienst hatte Elvis Presley, der mit dem Truppentransportschiff General Randall in Bremer­hafen anlegte, um als Soldat einer ­Panzereinheit bei der in Deutschland stationierten US-Armee Wehrdienst zu leisten. Der damals grösste Star der Rock- und Popkultur wurde bei seiner Ankunft von kreischenden Fans frenetisch begrüsst.

Selfies waren noch nicht möglich. In Deutschland kam gerade das erste Autotelefon in den ­Verkauf, es kostete allerdings noch die Hälfte eines Neuwagens. Für Deutschland bedeutsamer war das neue Gleichstellungsgesetz, das Frauen fortan erlaubte, auch ohne die Zustimmung des Ehemannes einen Beruf auszuüben. Da Frauen nun weniger Zeit zum Kochen haben würden, brachte Knorr eine Fertigsuppe mit Champignons auf den Markt, «die wirklich den höchsten ­Anforderungen entspricht».

Den höchsten Anforderungen genügte auch der bisherige Ministerpräsident Charles de Gaulle, den die Franzosen mit grosser Mehrheit (78 Prozent) zum französischen Staats­präsidenten ­wählten. Charles de Gaulle bezeichnete sich selbst als Monarchist: «Je suis un ­monarchiste, la ­République n’est pas le régime qu’il faut à la France.»

«Einer allein fährt manchmal ohne Ziel herum. Zwei zusammen haben meistens ein Ziel» war eine Dialogzeile aus Alfred Hitchcocks ­«Vertigo» mit James Stewart und Kim Novak. Der Film wurde seinerzeit von Filmkritikern als «weit hergeholter Unsinn» bezeichnet und ist heute auf der S&S Liste als einer der besten Filme aller Zeiten aufgeführt. Jede Expertenschaft ist relativ.

Absolut sicher waren sich hingegen die ­Experten bei der Einschätzung eines 17-jährigen Brasilianers, der im WM-Finale gegen Schweden (2:5) zwei Tore zum Sieg beitrug. Nach 1283 Toren in 1364 Spielen sagte Fussballgott Pelé: «Ein Leben ohne Fussball kann ich mir nicht ­vorstellen. Ich hoffe, man kann auch im Himmel Fussball spielen…»

© Basler Zeitung 12.1.2016

#chronos (2008)

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Am 8. Januar 2008 rief der demokratische Senator Barack Obama anlässlich einer Rede im Bundesstaat New Hampshire zum ersten Mal: »Yes, we can!« Obwohl sein Wahlkampfmanager den Slogan »Change can believe in« festgelegt hatte, setzte sich der aus der Kinder TV Serie »Bob der Baumeister« entliehene Slogan durch. Drehbuchautor und Beatles Fan Keith Chapman (*1959) hatte den Zwischenruf am Ende des Songtextes »All you need ist love« genutzt. Der Slogan »Ja, wir können«, oder sinngemäss »Ja, wir schaffen es«, wurde darauf oft kopiert. Zuletzt von einer deutschen Physikerin, die tatsächlich glaubte, es gebe keine Obergrenzen.

»Yes, we can« muss sich auch Sotheby’s gedacht haben, als sie 2008 an einer Auktion die »Merda d’artista« des italienischen Konzeptkünstlers Piero Manzoni für 132.000 Dollar versteigerte. Der Künstler hatte 1961 neunzig nummerierte Dosen mit jeweils 30 Gramm seiner Fäkalien gefüllt und zum damaligen Goldkurs von 37 Dollar pro Unze verkauft. Piero Manzoni soll von seinem Vater, einem Dosenfabrikanten, dazu inspiriert worden sein als dieser beim Anblick seiner Kunstwerke sagte: »Deine Arbeit ist Scheisse.« Einer der Kunstsammler konnte nicht widerstehen und zerstörte die Dose, um Klarheit zu schaffen. Es war tatsächlich drinn, was draussen draufstand. Die zerstörte Dose wurde nicht wertlos, sondern zu einem neuen Kunstwerk: »Boîteouverte de Piero Manzoni«.

2008 lag der Unzenpreis für »das barbarische Relikt« nicht mehr bei 37 Dollar, sondern bei über 1000 US Dollar pro Feinunze Gold. Tage zuvor hatte die Investmentbank Lehman Brothers Insolvenz angemeldet und der US Börse den höchsten Tageseinbruch seit Bestehen des Aktienindexes beschert. Der Oelpreis stieg auf über 100 US Dollar (zurzeit unter 30). Die US Aufsichtsbehörde musste die vom Bankrott bedrohten Hypothekarbanken Fannie Mae und Freddie Mac retten.

Ein unglaublicher Fall von Inzest erschütterte die Weltöffentlichkeit: In Oesterreich war eine 40jährige Frau befreit worden, die von ihrem Vater 24 Jahre lang in einem Keller festgehalten und vergewaltigt worden war. Sie hatte während ihrer Gefangenschaft sieben Kinder geboren. Zwei Jahre zuvor hatte bereits der Fall der Oesterreicherin Natascha Kampusch ein weltweites Medienecho ausgelöst. Sie war als Zehnjährige entführt und acht Jahre lang festgehalten worden.

»Ich sterbe fast jeden Tag« spottete Fidel Castro in Anspielung an all die misslungenen Mordanschlägen, »das macht mir viel Spass und ich fühle mich dadurch nur gesünder«. Nach 49 Dienstjahren trat der am längsten regierende nichtmonarchische Herrscher des 20. Jahrhunderts von all seinen Aemtern zurück und übergab das Zepter seinem fünf Jahre jüngeren Bruder Raul. Er sollte das sozialistische Einparteiensystem weiterführen, obwohl seine Tauglichkeit längst von der Geschichte widerlegt worden war.

»I’m alone and I deserve to be all alone«, sagte der 56jährige Mickey Rourke in Darren Aronofskys Veteranen Drama »The Wrestler«. Der Film begeisterte 2008 die amerikanischen Kinozuschauer und bescherte dem Ex-Boxer (»Ich wollte wieder ein Mann sein«) einer seiner zahlreichen unerwarteten Comebacks auf der grossen Bühne. Bob Dylan schrieb über Mickey Rourke: »Er kann dein Herz mit einem einzigen Blick brechen.«

Die britische Sängerin Amy Macdonald erreichte mit ihrer Single »Mr Rock & Roll« die Chartsplazierungen im übrigen Europa. Sie besang die narzistische Selfie Generation: »So called Mr. Rock & Roll, Is dancing on his own again, Talking on his phone again«.

Realität versus Ideologie

Jugendliche-belaestigen-Frauen-in-Kairo-Archivbild-Manchmal muss man seine liebgewonnene Ideologie der Realiltät anpassen.

Als Muslima aufgewachsene Femen-Aktivistin Zana Ramadani: «Das Frauenbild, das uns in der Silvesternacht entgegenschlug, wird im gesamten islamischen Kulturkreis gelebt. In Mazedonien, wo ich herkomme, hätte unter Muslimen genau das Gleiche passieren können. Auch in Pakistan oder Bangladesch. In jedem islamischen Land hätte das passieren können und passiert dort auch täglich. Denn die Werte sind schuld an den Geschehnissen. Es sind die Werte des Islam.»

Die Zivilisastionsstufe einer Kultur ist an der Gleichberechtigung von Mann und Frau abzulesen.