#chronos (1982)

Unknown-11982 hörte Lucky Luke mit dem Rauchen auf. Nachdem er seit 1946 in 30 Millionen Alben geraucht hatte, beugte er sich der Political Correctness und verwandelte den Wilden Westen in eine No Smoking Area. Von 1955 bis 1977 hatte übrigens Asterix-Sprechblasenkünstler René Goscinny die Storys getextet. Leider fiel er ausgerechnet bei einem Gesundheitscheck tot vom Fitnessvelo.

«Kompanieführer ruft Rambo! Melde dich Junge!» 1982 erschien der Klassiker des ­Faustrechts in den Kinos. Sylvester Stallone kämpfte sich als One-Man-Army durch British Columbia und übte Selbstjustiz. Am Ende erlitt er ein Burn-out und die Duden-Redaktion nahm «Rambo» ins Lexikon auf. Der Name geht auf eine Apfelsorte zurück, einige behaupten, es sei eine Verballhornung des rebellischen Dichters ­Rimbaud, der mit englischem Akzent gesprochen wie «Rambo» klingt.

Friedfertiger war ein grossartiger Ben Kingsley in der Rolle des indischen Unabhängigkeits­kämpfers und Pazifisten Mohandas Gandhi. Die mit beinahe 300 000 Statisten gedrehte Film­biografie von Richard Attenborough wurde mit acht Oscars ausgezeichnet.

1982 präsentierte Nokia mit dem «Mobira Senator» das erste Mobile der Welt. Es wog ­lediglich 9,8 Kilo und verlangte erst nach drei Stunden nach einer Steckdose. Das 1865 von einem Finnen gegründete Unternehmen produzierte ursprünglich Gummistiefel und Radmäntel für Rollstühle. Bis 2011 war Nokia Markt­führer für Mobiles, 2014 schluckte Microsoft das ­Unternehmen, verschluckte sich daran und stellte ein Jahr später die Handysparte von Nokia ein. Wer nach 1982 geboren ist, fragt sich, wie die Menschen früher ohne Handy ihr Leben gemeistert haben.

1982 besetzten 5000 argentinische Soldaten die Falklandinseln im ­Südatlantik und nahmen 79 britische Marine­soldaten gefangen. Die Inselgruppe, die seit ihrer ersten Besetzung im Jahre 1690 abwechselnd Franzosen, Spaniern und Briten gehörte, wurde seit dem 19. Jahrhundert sowohl von Argentinien als auch von England beansprucht. Die britische Premierministerin Margaret Thatcher sandte ­umgehend 36 Kriegsschiffe mit 5000 Mann ­Besatzung auf ihre 13 000 Kilometer entfernte Kronkolonie. Nach Luftangriffen und über 1000 Toten, ­kapitulierte Argentinien und überliess seine ­hunderttausend Schafe und Pinguine den Briten. Die nationale Schmach führte zum Sturz der ­Militärjunta und zur Wiederherstellung der Demokratie. In einem späteren Referendum ­sprachen sich 99,8 Prozent der 1672 wahl­berechtigten Insulaner für einen Verbleib bei ­England aus, doch seit 60 Milliarden Barrel Öl vermutet werden, steht einem erneuten ­militärischen Konflikt nichts mehr im Wege.

1982 kam der erste Commodore 64 auf den Markt und brachte den «Brotkasten» in die ­Kinderzimmer. Das Magazin Der Spiegel titelte: So schön kann hässlich sein. Noch hässlicher war das erste Computervirus Elk Cloner, das der 16-jährige Rich Skrenta in Umlauf brachte. Das Time Magazine wählte den Computer zur «Person of the year» und bildete eine anonymisierte Person vor einem PC ab.

«Hundert Jahre Einsamkeit». Gabriel García Márquez erhielt den Nobelpreis für Literatur. Der Kolumbianer prägte den Stil des «Magischen ­Realismus» und thematisierte die Einsamkeit des Individuums, aber auch die Isolation Latein­amerikas in seinen Werken.

Einsam war auch E.T., die Filmfigur, die von ihren ausserirdischen Kumpels auf der Erde ­vergessen wurde und sich unter der Leitung von Steven Spielberg nach ihrer drei Millionen ­Lichtjahre entfernten Heimat sehnte. Er hatte nur einen Wunsch: «Nach Hause telefonieren.»

Claude Cueni ist Schriftsteller und lebt in Basel.

www.cueni.ch

© Basler Zeitung; 18.12.2015

Textauszug, Roman: Pacific Avenue / Imelda Marcos

Tirona#ImeldaMarcos #PacificAvenue #Philippinen

Morgen (17.12.15) in der #Weltwoche: Mein 4seitiger Bericht über den Wahlkampf auf den Philippinen.

Die Witwe des philippinischen Diktators Ferdinand Marcos hat auch in der Pacific Avenue ihren Auftritt. Textauszug: Klick auf Bild.

Am 24. Dezember bringt Spiegel TV eine 50minuten Doku (2015) um 21.10. Die Serie heisst: Despot Housewives / Klepto Ladies: Imelda Marcos.

#chronos (1952)

4 R

4 R

1952 standen Marlon Brando und Anthony Quinn am Rio Grande und urinierten in den Fluss. Sie urinierten um die Wette. Wer am weitesten konnte, sollte die Rolle eines mexikanischen ­Bauern spielen. Marlon Brando gewann und spielte unter der Regie von Elia Kazan den ­mexikanischen Volkshelden Zapata.

Ein Kräftemessen ganz anderer Art spielte sich zwischen den USA und der Sowjetunion ab. Nach dem Tod des Diktators und Massenmörders Josef Stalin übernahm Nikita Chruschtschow die ­Führung und lieferte sich mit dem neu gewählten amerikanischen Präsidenten Dwight David ­Eisenhower einen «kalten Krieg», der in ein ­ruinöses Wettrüsten ausuferte. Gleichzeitig ­führten Nord- und Südkorea einen ­Stellvertreterkrieg mit den USA und China als Verbündeten. Die Menschen in Europa befürchteten einen dritten Weltkrieg.

Eisenhower zündete zur Einschüchterung auf dem Eniwetok-Atoll im Westpazifik die erste ­Wasserstoffbombe. Die freigesetzte Energie wurde auf 10,4 Millionen Tonnen konventionellen Sprengstoffs geschätzt – was einer ­Zerstörungskraft von mehr als 500 Hiroshima-­Bomben entsprach. Bereits fünf Jahre später konterte die Sowjetunion mit der Atombombe Zar, die eine um das ­Fünffache höhere ­Sprengleistung hatte. Ein Jahr später gestand Eisenhower: «Eine Welt unter Waffen verpulvert nicht nur Geld allein. Sie ­verpulvert auch den Schweiss ihrer Arbeiter, den Geist ihrer ­Wissenschaftler und die ­Hoffnung ihrer Kinder.»

Die Welt kam nicht zur Ruhe. Um die Verstaatlichung britischer Ölfirmen in Iran abzuwenden, gab Eisenhower den Befehl für einen Putsch und für die Einsetzung von Schah Mohammad Reza ­Pahlavi auf dem Pfauenthron. Auf Kuba putschte sich ­Fulgencio Batista an die Macht und regierte als ­Diktator. In Bolivien gelang Víctor Paz Estenssoro ein erfolgreicher Militärcoup. Im Nahen Osten stürzte das ägyptische Militär seinen König Faruq, in Jordanien ereilte König Talal das ­gleiche Schicksal. In Afrika formierten sich Unabhängigkeitsbewegungen gegen die britischen und französischen Kolonialherren.

Während in London eine Smog-Katastrophe mehrere Todesopfer forderte, wurde erstmals im Londoner West End die «Mausefalle» von Agatha Christie aufgeführt. Mit einer Laufzeit von ­mittlerweile 63 Jahren ist die »Mausefalle« das am längsten ununterbrochen gespielte ­Theaterstück der Welt.

Die Deutsche Demokratische Republik (DDR) zog eine fünf Kilometer breite Sperrzone entlang der Demarkationslinie zur Bundesrepublik Deutschland (BRD). Damit sollte verhindert ­werden, dass die Bürger das sozialistische ­Paradies verlassen, 12 000 Anwohner wurden umgesiedelt und die Telefonleitungen nach ­Westberlin zerschnitten. Im freien Westen lebten mittlerweile 9,6 Millionen Flüchtlinge.

In Deutschland erschien erstmals eine Tageszeitung mit grossen Lettern für Menschen mit verminderter Sehschärfe. Die Bild startete mit einer Auflage von 455 000 Exemplaren. Bereits vier Jahre später erreichte sie eine Auflage von 2,5 Millionen Exemplaren und kostete 10 Pfennig. Nach einer Steigerung auf ca. 4,5 Millionen im Jahr 1998, sank sie wieder auf 2 Millionen Exemplare.

In einer kleineren Schriftgrösse erschien Ernest Hemingways «Der alte Mann und das Meer». Er vertrat die Meinung, dass Glück eine gute Gesundheit und ein schlechtes Gedächtnis voraussetze. Und jungen Autoren gab er den ­Ratschlag, stehend an einem Pult zu schreiben. Dann würden ihnen von selbst nur noch kurze Sätze einfallen.

Und Doris Day sang «A guy is a guy»: He followed me down the street like I knew he would. Because a guy is a guy wherever he may be.

 

Claude Cueni ist Schriftsteller und lebt in Basel.

© Basler Zeitung; 04.12.2015

#chronos (2002)

 

images-1Am 1. Januar wurde das Euro-Bargeld in Umlauf gebracht, es war bereits 1999 als Buchgeld ­eingeführt worden. «Dieses Geld wird eine grosse Zukunft haben», sagte Helmut Kohl und ­beteuerte, dass «eine Überschuldung eines Euro-Teilnehmerstaates von vornherein ausgeschlossen» werden könne. Wilhelm Hankel, der vor dem Bundesverfassungsgericht gegen die Einführung des Euro geklagt hatte, meinte ­dagegen: «Der Euro wird zum Symbol der ­Wirtschaftskrise.» George Soros orakelte: «Der Euro ist dazu bestimmt, eine schwache Währung zu sein», und der damalige Fed-Chef, Alan Greenspan, sagte der International Herald Tribune: «Der Euro wird kommen, aber er wird keinen Bestand haben.» Seit seinem Höchststand im Jahre 2008 (1,6038), hat der Euro im Verhältnis zum Dollar um 67 Prozent an Wert verloren.

«Stirb an einem anderen Tag» («Die Another Day») empfahl hingegen Pierce Brosnan im 20. James-Bond-Film, als er in Nordkorea in geheimer Mission unterwegs war. Halle Berry war seine Partnerin. Als sie (wie damals Ursula Andress) im Bikini aus den Fluten stieg, sagte James: «Sex zum Dinner und Tod zum Frühstück, das wird mit mir nicht funktionieren.»

«Tod zum Frühstück» ereilte nach dem Platzen der Dotcom-Blase über 41 000 Unternehmen. Die weltweit drittgrösste Telefongesellschaft, WorldCom, beantragte beim Insolvenzgericht in New York Gläubigerschutz nach Chapter 11 und offenbarte einen der grössten Börsenskandale: Bilanzfälschungen in der Höhe von elf Milliarden. Dafür gabs für Firmengründer und CEO ­Bernard Ebbers 25 Jahre Gefängnis. Auch das mit über 6,5 Milliarden überschuldete Medienimperium Kirch Media musste die Bilanz deponieren.

Erfolgreicher waren die Genforscher. Sie entschlüsselten vollständig die Genome der Malariaerreger Plasmodium yoelii yoelii und das Genom der Stechmückenart Anopheles gambiae.

Die mit Al Qaida und den philippinischen Abu-Sayyaf-Terrormilizen verbündeten Islamisten der Jemaah-Islamiyah-Gruppe beriefen sich auf den Koran, als sie auf Bali einen Bombenanschlag auf mehrere Nachtclubs verübten und 202 «Ungläubige» töteten.

Tagelange Regenfälle verursachten die Jahrhundertflut, die sich über weite Teile Mitteleuropas ergoss. Umweltschützer sahen die Ursache in der Erderwärmung, Städteplaner in der zunehmenden Einengung der Flussläufe und Historiker verwiesen auf die Jahrhundertfluten in den Jahren 1342, 1501, 1787, die «sächsische Sintflut von 1845» und die Jahrhundertflut im Jahre 1954.

Im Februar heiratete der niederländische Kronprinz Willem-Alexander trotz Widerstand von Familie und Öffentlichkeit die Argentinierin Maxima Zorreguieta. Ihr Vater Jorge Zorreguieta hatte als Minister der Militärregierung von General Jorge Rafael Videla angehört, die für das Verschwinden von 30 000 Regimegegnern verantwortlich ist. Willem-Alexander war bereit, aus Liebe zu seiner Maxima auf die Thronfolge zu verzichten, und setzte sich durch. Standvermögen bewies er auch Jahre später in seiner ersten Thronrede. Er verkündete, was jeder Politiker in Europa längst weiss, aber nicht öffentlich zu sagen wagt: Um die Finanzkrise zu beenden, müssten in Zukunft alle selbst die Verantwortung für ihre Gesundheits- und Altersvorsorge übernehmen.

2002 starb der Regisseur und Drehbuchautor Billy Wilder im Alter von 96 Jahren an einer Lungenentzündung. Er hatte in 50 Jahren über sechzig Filme gedreht und dafür 21 Oscar Nominierungen und sechs Oscar-Auszeichnungen erhalten.

«Ist es erforderlich, dass ein Regisseur auch gut schreiben kann?»

«Nein, aber es hilft, wenn er lesen kann.»

© Basler Zeitung; 20.11.2015

Claude Cueni

#chronos (1969)

Unknown«Houston, Tranquility Base here. The eagle has landed.» Am 20. Juli 1969 landete «Apollo 11» auf dem Mond. Der Astronaut Edwin «Buzz» Aldrin wollte nicht als Erster den Mond betreten, er fürchtete die spätere Publizität. Er liess Neil ­Armstrong den Vortritt. Nach der Rückkehr behaupteten die üblichen Verschwörungstheoretiker, Stanley Kubrick habe die Landung in einem Studio gefakt, andere glaubten, eine UFO-­Landebasis entdeckt zu haben. «Buzz» sagte ­später: «Was danach kommt, nenne ich die ­Melancholie der erfüllten Aufgabe.» Er wurde Alkoholiker.

Verschwörungstheorien gab es auch nach dem tödlichen Autounfall auf einer Brücke in ­Chappaquiddick Island. Senator Edward Kennedy verfehlte nach einer Partynacht die Brücke und stürzte mit der 28-jährigen Sekretärin Mary Jo Kopechne in den Kanal. Er konnte sich retten, seine Begleiterin starb qualvoll. Richter Boyle bezichtigte Kennedy später der Lüge und ­verurteilte den «Löwen des US-Senats» (Obama) zu zwei Monaten Haft auf Bewährung, weil er sich unerlaubt vom Unfallort entfernt hatte.

Nebst Apollo-11- und Chappaquiddick-Büchern erschien auch der Bestseller «Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung – das Beispiel Summerhill». Seitdem erntet jeder ­Politiker Lachsalven, wenn er von roten Linien spricht. Staatsmännisch verkündete Red Lines haben nicht mehr Bestand als der Rasierschaum der Schiedsrichter.

In Mexiko-Stadt gab es am 26. Juni jedoch eine Fussballpartie zwischen Honduras und El Salvador, die auch mit zehn Dosen Rasierschaum nicht hätte gebändigt werden können. Sie ging mit ­gewalttätigen Auseinandersetzungen ausserhalb des ­Stadions in die Verlängerung. Unterstützt wurde das ­salvadorianische Team von der Luftwaffe, worauf auch Honduras Kampf­flieger ins Feld schickte. Nach vier Tagen endete die angeblich schönste Nebensache der Welt mit 2100 Toten und über 6000 Verletzten.

Am 15. März 1969 griff die Sowjetunion ­chinesische Truppen an und eroberte die Insel Zhenbao Dao. Bereits ein halbes Jahr früher ­startete die Sowjetunion mit ihren Verbündeten die grösste Militäroperation in Europa seit Ende des Zweiten Weltkrieges. Eine halbe Million ­Soldaten besetzten innerhalb weniger Stunden die Tschechoslowakei und beendeten den «Prager Frühling».

«Make Love Not War» war das Credo der ­jungen Generation, die weltweit gegen den ­Vietnamkrieg demonstrierte. Der Stellvertreterkrieg der beiden Grossmächte tötete oder ­verstümmelte über fünf Millionen Vietnamesen. Der grossflächige Einsatz des dioxinhaltigen ­Entlaubungsmittels «Agent Orange» verseuchte die Agrarflächen der Bevölkerung. Noch heute ­werden Kinder mit schwersten Missbildungen geboren. Eine Sammelklage von Geschädigten wurde 2005 in den USA mit der Begründung abgewiesen, dass es sich beim Einsatz von «Agent Orange» nicht um «chemische Kriegsführung» gehandelt habe und dass ­deshalb kein Verstoss gegen internationales Recht vorliege.

«All we are saying, is: give peace a chance», sagte John Lennon den Journalisten, die seiner Einladung zum «Bed-in» ins Queen Elizabeth Hotel in Montreal gefolgt waren. In Woodstock trafen sich Jugendliche zum legendären Festival. Für die Veranstalter war es zuerst ein finanzielles Desaster, später, dank Kinofilm und Alben, ein grosser finanzieller Erfolg. Die «Easy Riders» Peter Fonda und Dennis Hopper hatten mehr Bock auf LSD und fuhren auf ihren Scrambler-­Motorrädern durch Amerika: «Don’t bogart that joint, my ­friend, pass it over to me, roll another one, just like the other one.»

Claude Cueni ist Schriftsteller und lebt in Basel.

© Basler Zeitung; 06.11.2015

#chronos (1899)

March - April 1899

March – April 1899

1899 erschien eins der meistgelesenen ­Sachbücher des 20. Jahrhunderts, die ­«Traumdeutung» des Tiefenpsychologen Sigmund Freud (1856–1939). Er bezeichnete sich als Feind der Religion «in jeder Form und ­Verdünnung» und hielt Religiosität für eine ­«Kindheitsneurose». Er vertrat auch die Meinung, wonach «sich hinter jeder starken Frau ein ­tyrannischer Vater ­versteckt».

Emanzipation und Gleichberechtigung ­machten weitere Fortschritte: Im Deutschen Reich wurden erstmals Frauen zu den Staatsprüfungen der Medizin, Zahnmedizin und Pharmazie ­zugelassen und im Sing-Sing-Gefängnis setzte man Martha M. Place, auch sie die erste Frau, auf den elektrischen Stuhl.

In diesem Jahr wurden auch drei Männer geboren, die wenig von Gleichberechtigung ­hielten: Humphrey Bogart («Ein kluger Mann widerspricht nie einer Frau. Er wartet, bis sie es selbst tut.»), Ernest Hemingway («Man braucht zwei Jahre, um sprechen zu lernen, und fünfzig, um schweigen zu lernen») und Alfred Hitchcock: «Ich habe nie gesagt, dass ich Schauspieler für dumme Kühe halte, ich sagte bloss, man müsse sie so behandeln. Aber wichtiger ist, dass die Länge eines Film im direkten Verhältnis zum Fassungsvermögen der menschlichen Blase ist.»

Es ist nicht überliefert, ob die Firma Bayer AG angesichts dieser Weisheiten Aspirin beim Kaiserlichen Patentamt als Marke eintragen liess. Seitdem nennt man im Volksmund die Acetylsalicylsäure (ASS) Aspirin.

In den USA tobte der ­Kongress, weil die Regierung dem Erzfeind Spanien 7101 philippinische Inseln abkaufte. Es widersprach dem Selbstverständnis einer Nation, die durch Rebellion gegen das Mutterland ­entstanden war. Zwei Tage nach der «wohlwollenden Annexion» (US-Präsident ­William McKinley) riefen Revolutionäre die ­Philippinische Republik aus. Die USA schickten umgehend 26 Generäle, die sich während der Indianerkriege durch besondere Grausamkeiten ausgezeichnet hatten. Sie besetzten mit ihren ­Truppen die neue Kolonie. Oberbefehlshaber General Jacob H. Smith, ein Veteran des Wounded-­Knee-Massakers, wollte die ganze ­Inselgruppe in eine «heulende Wildnis» verwandeln: «Ich wünsche keine Gefangenen. Ich ­wünsche, dass ihr tötet und niederbrennt; je mehr getötet und niedergebrannt wird, umso mehr wird es mich freuen.» Er schlachtete über eine Million Zivilisten ab, 20 Prozent der gesamten philippinischen Bevölkerung endeten in Massengräbern. Erst Jahre später empörten sich die ­amerikanischen Medien und Smith kam vor Gericht. Nach Abzug der amerikanischen Truppen setzten die Japaner während des Zweiten ­Weltkrieges die Massaker auf den strategisch wichtigen Inseln fort.

Das britische Weltreich stand den Gräueltaten der amerikanischen Kolonisten in nichts nach. Das British Empire wollte als «führende Rasse (Cecil Rhodes)» die Pax Britannica weltweit durchsetzen. Im rohstoffreichen (Gold, ­Diamanten) Südafrika kämpften sie während des zweiten Burenkrieges erbitterte Schlachten und trieben in British India Millionen von Menschen in den Hungertod.

1899 beschleunigte sich der weltweite ­Informationsaustausch, AT&T kaufte American Bell und verschafft sich damit das Telefon­monopol in den USA. Guglielmo Marconi gelang die erste drahtlose telegrafische Verbindung über den Ärmelkanal. Charles H. Duell, der Beauftragte des US-Patentamtes, frohlockte: «Alles, was ­erfunden werden kann, ist erfunden worden.»

Jules Verne (1828–1905) widersprach ihm jedoch und schrieb: «Alles, was ein Mensch sich vorzustellen vermag, werden andere Menschen verwirklichen können.»

Claude Cueni ist Schriftsteller und lebt in Basel.

www.cueni.ch

 

 23. Oktober 2015 / Folge 26

#chronos (1944)

513EofHcYeL._SY450_„Der Stauffenberg, das war ein Kerl! Um den ist es beinahe schade. Welche Kaltblütigkeit, welche Intelligenz, welch eiserner Wille! Unbegreiflich, daß er sich mit dieser Garde von Trotteln umgab«, sagte Joseph Goebbels, Hitlers Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda, nach dem gescheiterten Hitler Attentat vom 20. Juli 1944.

Oberst von Stauffenberg hatte als glühender Nationalsozialist und Antisemit die ersten Kriegsjahre mitgetragen und seiner Schwester geschrieben: „Die Bevölkerung hier ist ein unglaublicher Pöbel, sehr viele Juden und sehr viel Mischvolk.“ Stauffenberg änderte seine Meinung später und schloss sich den Widerstandskämpfern an, um das NS-Regime zu beseitigen und dadurch den Krieg zu beenden. Er wurde einen Tag nach dem misslungenen Attentat standrechtlich erschossen.

Knapp zwei Monate zuvor, am 6. Juni, waren die Allierten in der Normandie gelandet und hatten mit der Invasion den Zusammenbruch des Deutschen Reiches eingeleitet. Das Unternehmen »Overlord« war die grösste Landeoperation der Geschichte.

Während im gleichen Monat Rom von den Faschisten befreit wurde und die Sowjetunion ihre Sommeroffensive startete, trafen sich im Mount Washington Hotel in New Hampshire 733 Delegierte aus 44 Ländern, um für das nächste Jahrhundert eine folgenreiche Entscheidung zu treffen. In Bretton Woods, am Fusse der White Mountains, wurde bereits ein neues internationales Währungssystem für die Nachkriegszeit beschlossen. Der Dollar sollte als weltweite Ankerwährung festgelegt werden und durch Gold gedeckt sein. Zur Durchsetzung der Beschlüsse wurden die Weltbank und der Internationale Währungsfonds (IWF) gegründet. Nach Bretton Wood waren die USA als neue Weltmacht gesetzt und das einstige Britische Imperium nur noch Geschichte.

Harry Dexter White, der Vater des Bretton Woods Systems, kam später als sowjetischer Spion vor Gericht. Er hatte fälschlicherweise angenommen, dass die beiden grossen Siegermächte nach dem Krieg weiterhin Verbündete sein würden. Und geplaudert. Mit einem Herzinfarkt rettete er sich vor der bevorstehenden Verurteilung.

Obwohl der Krieg auch im September noch tobte, teilten die späteren Siegermächte Deutschland bereits in Besatzungszonen ein und regelten im ersten Londoner Zonenprotokoll die Grenzen zwischen den sowjetischen und westlichen Einflussbereichen.

Während die Allierten im September deutschen Boden betraten, erreichte die Rote Armee im Oktober die deutsche Grenze. Die NSDAP mobilisierte noch alle waffenfähigen Männer im Alter von 16 bis 60 Jahren und opferte über 170.000 Menschen für einen bereits verlorenen Krieg. Von den 6 Millionen Volkssturmpflichtigen hatten sich die meisten freiwillig gemeldet…

Um die Widerstandskraft zu brechen, deckten die Allierten deutsche Städte mit einem Bombenteppich ein und machten viele davon dem Erdboden gleich.

Leider hat das Jahr 1944 kaum Erfreuliches zu bieten. Es widerlegt die christliche These, wonach gläubige Menschen ein anstädigeres Leben führen als Ungläubige. Ueber 90 Prozent der Nazis waren gläubige Christen…

Die Gottlosigkeit dieses Jahrzehnts widerspiegelt sich auch in Billy Wilders stilprägendem Film-Noir »Frau ohne Gewissen« (Double Idemnity) wider. Den Drehbuchautoren Raymond Chandler und Billy Wilder gelang das Kunststück, einen amoralischen Helden zu zeichnen, dem die Zuschauer willig folgen. Der Film begann mit der legendären Dialogzeile: „I killed him for money – and for a woman. I didn’t get the money. And I didn’t get the woman.“

 

 

#chronos (1972)

Unknown«Mein Na­me ist Moe Green! Ich hab schon den Ers­ten um­ge­bracht, als du noch in den Win­deln lagst!» Die ers­te Fol­ge der Tri­lo­gie «The God­fa­ther» kam 1972 in die Ki­nos. Pa­ra­mount hat­te dem Schrift­stel­ler Ma­rio Pu­zo die Film­rech­te an sei­nem gleich­na­mi­gen Ro­man für 12 500 US-­Dol­lar ab­ge­kauft und den da­mals 31-jäh­ri­gen Fran­cis Ford Cop­po­la mit ei­nem Bud­get von sechs Mil­lio­nen be­traut. Der Film wur­de mit Mar­lon Bran­do in der Hauptrol­le ein Mei­len­stein der Film­ge­schich­te und spiel­te bis heu­te über ei­ne Vier­tel­mil­li­ar­de ein. Ei­ni­ge mein­ten, der Film sei «der bes­te Wer­be­spot für die Ma­fia, der je ge­dreht wur­de». Als kürz­lich der Sarg des Ma­fia­bos­ses ­Vit­to­rio Ca­sa­mo­ni­ca in ei­ner gol­de­nen Kut­sche durch die Stras­sen Roms ge­führt wur­de, er­schall­te der So­undtrack «The God­fa­ther» und em­pör­te die ita­lie­ni­sche Pres­se.

Einen «Bloo­dy Sun­day» er­leb­ten auch 13 un­be­waff­ne­te Zi­vi­lis­ten, die bei ei­ner De­mons­tra­ti­on in Nordir­land von bri­ti­schen Fall­schirm­jä­gern er­schos­sen wur­den. Blu­tig gin­gen auch die ­Olym­pi­schen Som­mer­spie­le in Mün­chen zu En­de. Mit­glie­der der pa­läs­ti­nen­si­schen Ter­ro­r­or­ga­ni­sa­ti­on «Schwar­zer Sep­tem­ber» hat­ten elf is­rae­li­sche Sport­ler des Olym­pia-Teams als Gei­seln ge­nom­men und die Frei­las­sung von 232 Pa­läs­ti­nen­sern ge­for­dert. Bei der ver­such­ten Gei­sel­be­frei­ung ka­men al­le Gei­seln, fünf Ter­ro­ris­ten und ein ­Po­li­zist ums Le­ben.

Un­blu­tig en­de­te die ­Ent­füh­rung ei­nes Jum­bo-Jets von Frank­furt in den Süd­je­men. Die ara­bi­schen Ter­ro­ris­ten er­hiel­ten fünf Mil­lio­nen Dol­lar Lö­se­geld und ­ani­mier­ten wei­te­re Ter­ror­grup­pen zu Flug­zeu­gent­füh­run­gen. In Deutsch­land wur­den mit An­dre­as Baa­der und Ul­ri­ke Mein­hof der Kopf der «Ro­ten Ar­mee Frak­ti­on» ver­haf­tet.

Doch das männ­li­che Ge­schlecht in­ter­es­sier­te sich mehr für das Ma­ga­zin ­Play­boy, das erst­mals in ei­ner deut­schen Aus­ga­be auf den Markt kam, ob­wohl be­reits die ame­ri­ka­ni­sche Aus­ga­be nicht sehr text­las­tig war.

In den USA be­herrsch­ten Vi­et­nam­krieg und Wa­ter­ga­te-Af­fä­re die Schlag­zei­len. In Wa­shing­ton wa­ren fünf Ein­bre­cher beim Ver­such ver­haf­tet wor­den, in das Haupt­quar­tier der De­mo­kra­ti­schen Par­tei ein­zu­bre­chen, um Ab­hör­wan­zen zu in­stal­lie­ren und Do­ku­men­te zu fo­to­gra­fie­ren. Den an­sch­lies­sen­den Ver­tu­schungs­ma­nö­vern und ­Jus­tiz­be­hin­de­run­gen durch die Ni­xon­re­gie­rung folg­ten wei­te­re Ent­hül­lun­gen: Il­le­ga­le Par­tei­spen­den, Ver­kauf von Bot­schaf­ter­pos­ten und Re­gie­rungs­be­schlüs­sen, Steu­er­hin­ter­zie­hun­gen des Prä­si­den­ten.

Die 70er-Jah­re wa­ren das se­xu­ell ­frei­zü­gigs­te Jahr­zehnt des 20. Jahr­hun­derts, bis Ai­ds 1981 der frei­en Lie­be ein En­de setz­te. Ero­tik do­mi­nier­te auch die US-Charts des Jah­res 1972: Chuck Ber­ry be­sang sein «Ding-A-Ling», die ­bri­ti­sche Rock­band The Sweet ih­ren «Litt­le Wil­ly», Neil Young war im­mer noch auf der Su­che nach ei­nem «He­art of Gold», wäh­rend Gil­bert ­O’Sul­li­van «Alo­ne Again» war.

Die «Gren­zen des Wachs­tums» war kein neu­er Best­sel­ler des da­mals po­pu­lä­ren Se­xon­kels und Best­sel­ler­au­tors Os­walt Kol­le über die erek­ti­le Dys­funk­ti­on, son­dern ein Sach­buch des ­re­nom­mier­ten «Club of Ro­me». Füh­ren­de ­Wis­sen­schaft­ler aus 30 Län­dern hat­ten ein ­düs­te­res Bild un­se­rer Zu­kunft pro­gno­s­ti­ziert: Die Re­vo­lu­ti­on von In­ter­net und Mo­bi­les hat­ten sie zwar nicht vor­aus­ge­se­hen, aber das Auf­brau­chen der welt­wei­ten Roh­stof­fe durch un­ge­zü­gel­tes Wirt­schafts­wachs­tum. Nebst Dür­ren bib­li­schen Aus­mas­ses, soll­te auch die west­li­che Au­to­mo­bil­in­dus­trie durch ja­pa­ni­sche Bil­li­gim­por­te zer­stört wer­den. Ein klei­ner Trost war im­mer­hin, dass wir im Jah­re 2010 eh kei­nen Trop­fen Erd­öl mehr ha­ben wür­den. Wann ha­ben Sie ei­gent­lich das letz­te Mal ge­tankt?

Clau­de Cue­ni ist Schrift­stel­ler und lebt in Ba­sel. www.cue­ni.ch

© Basler Zeitung, 25.9.15

Leben in der Nachspielzeit

Die Weltwoche – 17. September 2015
 

Eigentlich sollte ich längst tot sein. Mein Gesundheitszustand war hoffnungslos. Also habe ich  das Haus verkauft, viele Besitztümer verschenkt. Dass ich noch am Lebenbin, macht mich ratlos.  Von Claude Cueni

Im Januar werde ich sechzig, über dieses Datum ging meine Lebensplanung nie hinaus. Niemand hielt es für möglich, dass ich zuerst die Leukämie und dann noch die Folgen der Knochenmarktransplantation überlebe. Jetzt bin ich einigermassen ratlos, weil ich wider Erwarten noch am Leben bin. Ich habe keine Pläne, mein Koffer war schon gepackt.

Ich hatte mein Haus verkauft, meine DVD-Sammlung verschenkt, die meisten Zeitungsabonnemente gekündigt, ich hatte mit Exit und Lifecircle gesprochen – warten gehört nicht zu meiner Kernkompetenz. Ich hatte trotz negativer Erfahrungen fünfstellige Summen in die Dritte Welt geschickt, Hilfe zur Selbsthilfe und so, gebracht hat es gar nichts. Ich habe meine Autorenexemplare verschenkt, denn wenn das Totenhemd keine Taschen hat, kann man wohl auch keine Bücherboxen mitschleppen, und heutige Särge sind doch ziemlich schmal, und in den Krematorien empfehlen sie für Bücher die Entsorgung als Altpapier. Zum Altpapier schmiss ich auch mein gesamtes Archiv, 48 Plastikboxen mit jeweils zehn Hängemappen, Romananfänge, Short Storys, Exposés und all die Texte, die im Jenseits eh keiner mehr lesen will.

Erotikbildchen unter der Kellertreppe

Ich habe noch alte Jugendfreunde und -freundinnen besucht, ähnlich wie Bill Murray in Jim Jarmuschs «Broken Flowers», die meisten kamen zu mir auf einen Kaffee und desinfizierten sich vor Betreten der Wohnung die Hände mit Sterilium. Die meisten hatte ich seit der Pubertät nie mehr gesehen, und das ist doch schon eine Weile her, so hoffe ich wenigstens. Wir sprachen über Fussball, die FCB-Arena und Karli Odermatt, wir sprachen über die Comics von Hansrudi Wäscher, Sigurd, Falk und die Erotikbildchen unter der Kellertreppe; ich traf auch frühe Liebschaften, aber sie konnten sich kaum noch an das erinnern, was uns damals wirklich Spass gemacht hat. Die meisten waren mittlerweile geschieden, einige hatten erwachsene Kinder, andere noch einen Hund.

Die fremden Knochenmarkzellen, die mich von der Leukämie geheilt hatten, hatte meine Lunge mittlerweile bis auf vierzig Prozent Restvolumen abgestossen, die Haut war mit dem Gewebe darunter verklebt und hatte die Gelenke versteift. Ich kenne mich ein bisschen aus mit Aktienmärkten und Charttechniken, der Trend auf demComputerausdruck des Lungenlabors war eindeutig negativ.

Ich war mittlerweile ein Sanierungsfall. Punktionen von Knochenmark, Leber, Lunge und hohe Kortisondosen empfand ich inzwischen als Konkursverschleppung. Als Firma hätte ich längst Insolvenz angemeldet und die Bilanz deponiert.

Am Samstag sass ich über Mittag oft mit meiner Frau im «Chez Donati», wir assen Scaloppine in «Purgatorio del Padrone». Die Kellner dachten, ich sei jetzt ganz gross im Geschäft, hätte Erfolg mit meinen Büchern, aber wir besprachen die Zeit danach. Es gibt Lebenspartner, die sich in Erwartung des bevorstehenden Single-Daseins emotional zurücknehmen, aber man kann sich weder schützen, noch kann man auf Vorrat trauern. Meine Frau ersparte mir dieses Gefühl des frühzeitigen Verlassenwerdens. Swerte, der unerschütterliche Optimismus der Filipinas, grenzt an Realitätsverweigerung, aber meine philippinische Nachtigall war entgegen allen medizinischen Prognosen überzeugt, dass ich überlebe. Ich legte einen Ordner an und beschriftete ihn mit «Day After»; ich schrieb alle Briefe, die sie später würde schreiben müssen, ich überlegte, ob ich jeweils schreiben sollte: «Ich bin heute gestorben und bitte Sie deshalb . . .», und meine Frau würde später noch das Datum einsetzen. Ja, wir mussten herzhaft lachen, als sie den Ordner durchblätterte. Den Humor haben wir nie ganz verloren.

Und dann bin ich einfach nicht gestorben. Nein, den Krebs habe ich nicht besiegt, niemand besiegt den Krebs. Ich ärgere mich jedes Mal, wenn ich so etwas in denMedien lese, denn wenn ein Kranker seinen Krebs besiegen könnte, würde es bedeuten, dass jeder, der an Krebs stirbt, sich zu wenig angestrengt hat. Ich habe mich nicht angestrengt, ich war einfach beschäftigt, zuletzt mit der «Pacific Avenue», es ist auch nicht so, dass ich keine Zeit zum Sterben gehabt hätte, ich bin einfach nicht gestorben, that’s it. Ich habe nicht das Geringste dafür getan. Das Verdienst gebührt dem anonymen Knochenmarkspender und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Isolierstation und des Zellersatzambulatoriums der Hämatologie des Universitätsspitals Basel. Sie alle hielten mich am Leben, ermunterten mich, noch diese oder jene Strapaze zu ertragen, und teilten mir nach sechs Jahren Behandlung mit, dass sich die Organabstossungen endlich stabilisiert hätten, auf einem tiefen Niveau, aber damit könne man immer noch schreiben und am Wochenende einen Château Pape Clément entkorken. Das Damoklesschwert wollte jedoch keiner abhängen, theoretisch könnte es morgen wieder losgehen, aber sie gingen nicht davon aus. Ich würde weiterleben. Überleben ist wohl das Wichtigste im Leben.

Ich fuhr nach Hause, setzte mich im Keller auf einen Stapel Weinkisten. Die Bordeaux, die ich mir in den neunziger Jahren als gutverdienender Drehbuchautor und Game-Designer zugelegt hatte, hatte ich behalten und jeweils an Geburtstagen verschenkt. Aber chronisch Kranke haben chronisch wenig Freunde. Man stirbt in seinem Umfeld, bevor man gestorben ist. Ich nahm einen alten Château Palmer und setzte mich im Wohnzimmer in den schwarzen Sessel, in dem ich unzählige Nächte durchgestanden hatte. Eigentlich sollte ich bei all den Pillen, die ich nach wie vor einnehmen muss, keinen Wein trinken. Auf den Packungsbeilagen der Medikamente sind die Kontraindikationen aufgeführt. Ein Château Palmer ist nirgends erwähnt. Ich hatte schier vergessen, wie grossartig ein alter Bordeaux schmeckt. Wäre ich gesund geblieben, wären diese Weine nicht alt geworden.

Goodbye-Modus

Jetzt ist nach der «Script Avenue» noch die «Pacific Avenue» erschienen, und ich frage mich, was ich jetzt noch anfangen soll. Eine Verlängerung war nicht geplant, das Spiel war zu Ende, ich war seit Beendigung der «Script Avenue» im Goodbye-Modus. Manchmal denke ich, ich sollte den anonymen Knochenmarkspender aufsuchen, der mir das Leben gerettet hat, und ihm sagen: «Schau, das bin ich, mit deinem Knochenmark. Danke, dass du all die Unannehmlichkeiten auf dich genommen und gespendet hast, und komm, lass uns was trinken, erzähl mir von deinem Leben.» Aber in Europa müssen die Spender anonym bleiben, bei der Infusion wird sogar die Etikette auf dem Beutel abgedeckt. Falls Sie können, spenden Sie Knochenmark! Es gibt irgendwo da draussen einen Menschen, der Ihnen unendlich dankbar sein wird. Ich werde es immer sein. Und weiterschreiben.