#chronos (1815)

Satirische Jahresrückblicke in 100 Sekunden, Folge 2 / 99

chronos_1815_cueniWaterloo. Die Schlacht fand am 18. Juni 1815 bei Belle-Alliance statt. Arthur Wellesley, 1. Duke of Wellington, beendete gemeinsam mit dem preussischen Generalfeldmarschall Blücher das erste Französische Kaiserreich. Napoleon überlebte die Schlacht und fiel auf der Atlantikinsel St. Helena dem Bakterium Helicobacter pylori zum Opfer. Zwei Haare stützten Verschwörungstheorien, wonach der Korse («Mon foie!») mit Arsen vergiftet worden sei, doch erwiesen ist lediglich, dass sein Hut heute im Deutschen Historischen Museum zu besichtigen ist.

Erhalten blieb aber auch das Filet de boeuf en croûte, das sich der Freimaurer Wellington angeblich nach der Schlacht servieren liess. Später reklamierte der Schweizer Küchenchef Charles Senn, anlässlich einer internationalen Kochkunstausstellung, die Urheberschaft. Wer hats erfunden? Weder Ricola noch Roger Schawinski.

Nebst dem Filet Wellington blieb uns der edle Margaux Château Palmer erhalten. 1961 erhielt er gar 99 Parker-Punkte. Wellington schenkte das französische Weingut seinem treuen General Charles Palmer, der trotz enormer Anstrengungen in den Rebbergen von Bordeaux sein Waterloo erlebte. Gebodigt hatten ihn weder die Reblaus noch desertierte französische Soldaten, sondern die Bank, die ihm die Verlängerung der Hypothek verweigerte. Cobbler, stick to your trade!

«Schuster bleib bei deinem Leisten» beherzigte hingegen der Bankier Nathan Rothschild, der während der Schlacht das Gerücht verbreitete, Napoleon habe gesiegt, worauf die Londoner Börse crashte. Rothschild kaufte enorme Mengen britischer Staatsanleihen zum ­Schleuderpreis auf. Nach Napoleons Niederlage ­schossen die Papiere wieder in die Höhe, Rothschild stiess sie wieder ab und wurde der reichste Mann der Welt. Heinrich Heine notierte: «Geld ist der Gott unserer Zeit und Rothschild sein Prophet.»

1815 tagte der Wiener Kongress, um die Grenzverläufe in Europa neu zu definieren. Die Schweiz blieb Republik innerhalb der napoleonischen Grenzen, obwohl auch ein Königreich ­Helvetien zur Diskussion gestanden hatte. Über 200 Europapolitiker debattierten acht Monate lang. Möglich, dass das vergnügliche Begleitprogramm den Abschluss verzögerte. Charles Joseph de Ligne spottete: «Der Kongress tanzt, aber er kommt nicht vorwärts. Es sickert nichts durch als der Schweiss dieser tanzenden Herren.» Der begnadete Satiriker, Offizier und Brieffreund von Voltaire und Rousseau starb noch während des Kongresses. Ob er vor Langeweile verstorben ist oder an einem Übermass Rosé Champagner, ist in den Protokollen nicht vermerkt.

© Basler Zeitung; 14.11.2014

#chronos (1971)

 

HI-Tech-HD-Wallpapers-140-MgPic.com_Am 15. August 1971 sang Johnny Cash «Man in Black». Viele Menschen sassen vor ihrem neuen Farbfernseher, obwohl Darryl F. Zanuck, Chef von 20th Century Fox, 1946 behauptet hatte, dass «sich der Fernseher auf dem Markt nicht durch­setzen würde, weil die Menschen sehr bald müde würden, jeden Abend auf eine Sperrholzkiste zu starren». Die Menschen wollten aber die nächste Folge von «Bonanza» sehen, der ­Strassenfeger der 70er-Jahre. Gleich würden die vier Cartwrights in die Wohnstube reiten und sich einzeln vorstellen: Lorne Green, Dan Blocker, ­Pernell Roberts, Michael Landon.

Doch stattdessen glotzte Richard Nixon in unser Wohnzimmer. Was zum Teufel hatte Richard Nixon auf der Ranch zu suchen? Er war sichtlich nervös. Die Menschen dachten, oh my god, der teilt uns bestimmt mit, dass Lorne Green erschossen worden ist. Oder noch schlimmer, Dan Blocker hat sich zu Tode gefressen, wie damals Michel Piccoli in «La Grande Bouffe». Aber Nixon erklärte der Nation, dass es einen geheimen Krieg gegen den amerikanischen Dollar gebe. Er habe seinem Finanzminister John Connally den Auftrag gegeben, die Konvertierbarkeit des Dollars in Gold vorübergehend aufzuheben. Aber vorübergehend bedeutet in der Politik immer for ever.

Der 15. August 1971 war somit das Ende des altbewährten Währungssystems, das seit 1944 funktioniert hatte. Man hatte Vertrauen in den ­Dollar, weil für jeden gedruckten Dollar ein paar Gramm Gold gebunkert waren. Ohne Gold basierte der Dollar nur noch auf der Wirtschaftsleistung. Oder genauer: auf dem Blabla von Politikern, deren einziges Ziel die eigene ­Wiederwahl war. Von da an warfen rechte und linke Regierungen abwechselnd die Notenpresse an, um die nicht finanzierbaren Wünsche einer verwöhnten Wählerschaft zu befriedigen. Der Geldsegen flutete die Märkte und verursachte eine Spekulationsblase nach der andern, denn jede Blase nährt die nächste. Brown Sugar, how come you taste so good, Brown Sugar, just like a young girl should. Die Rolling Stones gingen meilenweit für eine Camel, Little Big Man überlebte den Little Big Horn, der deutsche Innenminister Genscher ­ordnete an, dass ein Fräulein nun Frau genannt werden müsse, doch die Menschen interessierten sich eher für den Jahrhundertfight, der am 8. März in New York stattfand. Joe Frazier besiegte Muhammad Ali. Und George Harrison fragte: «What is life?» 

© Basler Zeitung; 31.10.2014