089 Blick »Greenpeace: Einst gemeinnützig, heute oft gemeingefährlich«

25. Juni 2021

©Blick-Kolumne von Claude Cueni über die Radikalisierung von Greenpeace.


Statt die Umwelt zu schützen fungiert Greenpeace heute als Selbstverwirklichungsplattform für Risikosportler, die sich ihre Abenteuer mit Spendengeldern finanzieren lassen. Rechtsbruch gehört zum System.


Claude Cueni


1978 hörte erstmals eine breite Öffentlichkeit von der 1971 gegründeten Umweltschutzorganisation Greenpeace (grüner Frieden). Mit einem Fisch-Trawler protestierten sie gegen den isländischen Walfang, gegen die Robbenjagd auf den Orkney-Inseln und gegen die Entsorgung von radioaktivem Müll in den Ozeanen. Ich fand das toll und spendete Geld, obwohl ich damals kaum welches hatte. 

Paul Watson, der Co-Gründer von Greenpeace, nannte sein Baby rückblickend die «grösste Wohlfühlorganisation der Welt», ihr Geschäft bestünde darin, den Menschen ein gutes Gewissen zu verkaufen. Ja, ich fühlte mich gut und hielt es für üble Nachrede, wenn Aussteiger wie Watson behaupteten, Greenpeace sei mehr am Spendensammeln interessiert als an der Rettung der Natur.

Mit dem Abgang der Realos kam die Radikalisierung

Auch Co-Gründer Patrick Moore warf nach 15 Jahren das Handtuch: «Greenpeace hat sich von Logik und Wissenschaft verabschiedet», Ideologen würden dominieren, jeder, der auch nur geringfügig von der Linie abweiche, würde als Öko-Judas diffamiert. Sind alle Realos weg, bleibt ein radikaler Kern übrig, der jede Verhältnismässigkeit verliert, weil ihm das Korrektiv fehlt. 

Einst gemeinnützig, heute oft gemeingefährlich. Straftaten häufen sich: Hausfriedensbruch, Sachbeschädigung, versuchte Nötigung, besonders schwere Fälle von Diebstahl, gefährliche Eingriffe in den Strassenverkehr, gefährliche Körperverletzung. Mit solchen Aktionen erwirtschafteten die «Gewaltfreien» 2019 einen Umsatz von 368 Millionen Dollar (das meiste davon Spenden) und zahlten ihrer Angestellten Jennifer Morgan 168’000 Euro Lohn. 2014 verzockte die grüne Geldmaschine mit hochspekulativen Termingeschäften 3,8 Millionen Dollar an der Börse.

Der Kämpfer gegen VW fährt selber einen VW

Greenpeace ist heute attraktiv für selfiehungrige Risikosportler, die sich ihre Abenteuer mit Spendengeldern finanzieren lassen und «dem Klima zuliebe» um die Welt jetten.

Der 38-jährige Chirurg, der kürzlich mit seinem motorisierten Gleitschirm über das mit 14’000 Zuschauern besetzte Münchner Stadion crashte, nahm für eine altbekannte Message Tote in Kauf. War das gemeinnützig? Diente die Aktion der Umwelt oder eher der Spendenakquisition? Der uneinsichtige Wiederholungstäter protestierte gegen VW. Und fährt selbst einen VW Golf.


Claude Cueni (65) ist Schriftsteller und lebt in Basel. Im März erschien im Verlag Nagel & Kimche «Hotel California», ein Lebensratgeber in Romanform für seine Enkelin. Cueni schreibt jeden zweiten Freitag im Blick.


 

»Wir haben Monopoly gespielt«

© Die Weltwoche – 24. Juni 2021


Der Untergang der Moorhuhn-Schmiede Phenomedia (2001) wäre Stoff für eine Komödie, der Finanzskandal von Wirecard (2021) der Plot für einen internationalen Thriller. Beide Gründer waren Schulabbrecher aus einfachen Verhältnissen. Vieles verlief ähnlich, aber eine Sache war anders.


von Claude Cueni


Was da passiert ist, hatte mit normalen Welten nichts zu tun. Es war völlig verrückt», gestand Markus Scheer, der Gründer der «Moorhuhn»-Schmiede Phenomedia, «wir haben ‹Monopoly› gespielt. Aber mit richtigem Geld.» Fünf Jahre nach dem Börsengang stand er 2004 vor den Richtern der 6. Strafkammer des Bochumer Landgerichts. Sie warfen dem damals 35-Jährigen Bilanzschwindel, Insiderhandel, Steuerhinterziehung und Erpressung vor. Er soll mit fünf Kumpels den Umsatz mit einem «raffinierten System aus Luftbuchungen» frisiert haben, um den Aktienkurs in die Höhe zu treiben. Beim Börsengang im Herbst 1999 war seine Phenomedia-Aktie mit 22,90 Euro am Neuen Markt gestartet. Zwischenzeitlich hatte sie 90 Euro erreicht und war schliesslich auf 86 Cent gecrasht. Erst nach vier Jahren Prozessdauer gestand Scheer, er habe «Fehler gemacht, schlimme Fehler». Nach 120 Prozesstagen landeten er und sein Finanzvorstand für drei Jahre hinter Gittern.

Markus Scheer war wie viele erfolgreiche Firmengründer ein Schulabbrecher, der den Schulstoff für weitgehend unnütz hielt, weil er von Anfang an genau wusste, was er wollte: Scheer wollte Spiele programmieren. Das Handwerk hatte er sich als Kind am legendären Spielecomputer C64 beigebracht.

Durchbruch mit Fake News

Bereits als Teenager wurde er Chefentwickler bei der 1988 gegründeten Firma Starbyte, die mit ihren Wirtschaftssimulationen den entstehenden Computerspielemarkt aufmischte und Kultstatus erreichte. 1992 teilte Starbyte das Schicksal vieler Pioniere, denn nicht selten bestraft das Leben auch jene, die zu früh kommen. Starbyte schlitterte in die Insolvenz. Scheer gründete eine neue Firma und fokussierte auf kleine Werbespiele, die im Auftrag von Firmen produziert wurden. Eines dieser advertising games war ein Shooter für Johnnie Walker. Attraktive Hostessen forderten abends Barbesucher zum Spielen auf dem Notebook auf. Wer genügend virtuelle Moorhühner abschoss, erhielt einen Drink spendiert. Der Erfolg war überschaubar.

Wesentlich interessanter schien Scheer, was sich an der Deutschen Börse abspielte. 1997 wurde nach dem Vorbild der amerikanischen Technologiebörse Nasdaq ein Aktienindex für neue Technologien ins Leben gerufen: der Nemax. Viele junge Firmen nutzten den Neuen Markt zur Beschaffung von frischem Kapital für eine schnellere Expansion. Nur brauchte es für einen erfolgreichen Börsengang Fleisch am Knochen, Content, ein prall gefülltes Portfolio. Scheer vereinigte kleinere Spieleproduzenten unter dem Namen Phenomedia und wagte 1999 mit einem bescheidenen Jahresumsatz von 4,8 Millionen Euro den Gang an den Neuen Markt. Im Börsenprospekt hatte er interaktives Fernsehen, Handy-Games und all das versprochen, was die Fantasie von Analysten und Anlegern beflügelte. Über Nacht spülte das IPO (Initial Public Offering) 22 Millionen Euro in die Firmenkasse. Scheer löste seine Versprechen ein und kaufte weitere kleine, aber innovative Firmen zusammen, er kaufte Wachstum. Der redegewandte Scheer und seine Jungs gehörten bald zu den Lieblingen der Finanzpresse. Der allgemeine Hype am Neuen Markt befeuerte den Aufstieg enorm. Plötzlich hatte jede Metzgerei eine Internetadresse, und das berühmte Hausmädchen begann erstmals in seinem Leben Aktien zu kaufen. Only the sky is the limit. Es war schliesslich das reanimierte Moorhuhn des Digital Artist Ingo Mesche, das den Aktienkurs durch die Decke brechen liess. Der Pressesprecher der Phenomedia hatte diversen TV-Journalisten gesteckt, dass in einigen Firmen kaum noch gearbeitet würde, weil angeblich auf den Firmencomputern nur noch Moorhühner gejagt würden. Die Fake News verbreiteten sich wie ein Lauffeuer. Wie gut musste ein Spiel sein, wenn moorhuhnsüchtige Angestellte sogar ihre Kündigung in Kauf nahmen?

Vorlage für eine Komödie

Bereits im März 2001 wurde in einer Ad-hoc-Mitteilung bekanntgegeben, dass für das Jahr 2000 ein Rekordergebnis verzeichnet worden sei, eine Umsatzsteigerung von erstaunlichen 236 Prozent auf 31,9 Millionen Euro. Die Aktie stieg um 6,5 Prozent. Noch wussten die begeisterten Anleger nicht, dass Phenomedia in Wirklichkeit einen Verlust von 8,3 Millionen eingefahren hatte. Scheer ahnte, dass auch Moorhühner nicht ewig lebten und dass bei weiteren Verlusten die Aktie das Schicksal der Moorhühner teilen würde.

Auf Scheers Schreibtisch standen stets zwei Computer. Auf dem zweiten lief eine seiner geliebten Wirtschaftssimulationen. Gründete man als virtueller Firmenboss dreissig Tochterfirmen und schickte eine Million im Kreis herum, konnte jede Firma jeweils einen Umsatzzuwachs von einer Million verbuchen, und jeder Rundgang brachte dem virtuellen Mutterhaus zwar nicht mehr Gewinn, aber dreissig Millionen mehr Umsatz. Am Neuen Markt waren tiefrote Zahlen okay. Solange der Umsatz stieg. Amazon war der beste Beweis. Konnte das, was in einem Computerspiel zum Erfolg führte, auch in der Realität funktionieren? Scheer konnte nicht widerstehen. Mit Scheinfirmen, Luftbuchungen und Bilanzschwindel blähte er den Umsatz auf. Die Banken, so Scheer, brachten ihm «schubkarrenweise frisches Geld» und rieten ihm angeblich davon ab, einen erfahrenen Senior Manager beizuziehen. Dass Phenomedia als Anbieter von Handy-Games die Firmenzentrale ausgerechnet in einem Bochumer Funkloch gebaut hatte, sah man den Newcomern nach. Ihr smarter Kundenakquisiteur erklärte den Erfolg wie folgt: »Wir ziehen unsere geilen Anzüge an und quatschen ein bisschen über Phenomedia.» Das Einzige, worüber alle genau Bescheid wussten, war der aktuelle Aktienkurs. Insiderhandel war später ein weiterer Anklagepunkt. «Geile Anzüge», das war einem externen Wirtschaftsprüfer zu wenig. Er deckte auf, was man bei Computerspielen cheat nennt, in der Realität aber Betrug ist. Scheer reagierte umgehend und stellte den Unbequemen als Finanzchef ein. Der Absturz war nur aufgeschoben. Im nächsten Jahr schlug ein neuer Wirtschaftsprüfer Alarm, die Staatsanwaltschaft liess sechs Führungskräfte verhaften, die Aktie verkam zum Pennystock und hinterliess Tausende von geprellten Kleinanlegern, Investoren, Kreditgebern und jungen Arbeitslosen.

Während die Phänomedialen die Bilanzen «lediglich» um fünfzehn Millionen aufgebläht hatten, betrug der mutmassliche Finanzschwindel beim deutschen Zahlungsabwickler und Finanzdienstleister Wirecard 1,9 Milliarden Euro. Auch das untergetauchte Wirecard-Vorstandsmitglied Jan Marsalek wuchs in einfachen Verhältnissen auf und brach frühzeitig die Schule ab. Markus Scheer sagte vor Gericht, er habe mächtig sein wollen, das hatte auch Jan Marsalek gewollt. Er gilt als Hauptverdächtiger im Finanzskandal der Wirecard.

Während der Niedergang der Phenomedia lediglich eine Fussnote in der Geschichte der New Economy bleiben wird, ist Wirecard der «grösste Börsen- und Finanzskandal der deutschen Nachkriegszeit». Phenomedia könnte die Vorlage für eine Komödie sein, Wirecard ist hingegen der Plot für einen internationalen Thriller im Umfeld von Marsaleks dubiosen Aktivitäten in Libyen, geheimdienstlichen Kontakten und gefakten Firmensitzen, die mit Schauspielern besetzt wurden. Doch in einem Punkt unterscheiden sich die beiden Skandale ganz erheblich: Wirecard genoss einen besonderen Schutz. Die Münchner Staatsanwaltschaft, die Finanzaufsicht Bafin, die Wirtschaftsprüfer: Sie alle wollten jahrzehntelang nicht wahrhaben, was immer offensichtlicher wurde. Bereits 2003 stellte der Blogger Jigajig die Ungereimtheiten in der Wirecard-Bilanz online. Seine Beiträge wurden gelöscht. Vergebens. Die Betrugsvorwürfe häuften sich in den folgenden Jahren. 2016 startete Matthew Earl, Managing Partner bei Shadow Fall Capital, seine Serie vernichtender Blog-Beiträge. Er wurde verfolgt und bedroht. Anfang 2019 verbreitete die Financial Times in einer Artikelserie die Vorwürfe des Wirecard-Juristen Pav Gill, der als Senior Legal Counsel für Wirecard Asia Pacific zuständig war. Die Dokumente wurden weltweit verbreitet. Die Münchner Staatsanwaltschaft eröffnete ein Strafverfahren, aber nicht gegen die Chefetage von Wirecard, sondern gegen den Whistleblower Pav Gill. Zuerst wurde ihm Geld angeboten. Pav Gill lehnte ab. Dann folgte ein Psychoterror der üblen Sorte. Gills Mutter erlitt einen Schlaganfall.

Unterstützung von Merkel

Erstaunlich, dass sich Angela Merkel noch im September 2019 in China für Wirecard ins Zeug legte. Auch wenn sie im April vor dem Untersuchungsausschuss wie üblich jedes Fehlverhalten von sich wies, entstand doch der Eindruck, als hätten Deutschland und seine Finanzinstitutionen aus falsch verstandenem Patriotismus ein Unternehmen geschützt, das die Bundesrepublik zum europäischen Silicon Valley hätte upgraden sollen. Wieso auch erfahrene Wirtschaftsprüfer zehn Jahre lang geschwiegen haben, wird wohl Gegenstand der Ermittlungen sein.

Markus Scheer hat seine Strafe abgesessen und wieder als Unternehmer Fuss gefasst, Jan Marsalek und einige seiner Komplizen sind untergetaucht. In Sicherheit sind sie nicht. Gefahr droht ihnen nicht nur von der Justiz, sondern auch von all den geschädigten «Geschäftspartnern», die nun zur Jagd blasen. Es gibt für Kriminelle nichts Verlockenderes, als geraubtes Geld zu stehlen. Jan Marsalek wird gejagt, er ist das neue Moorhuhn. Auf den Philippinen kostet ein Auftragskiller in Polizeiuniform gemäss Cebu Daily News fünfzig Dollar.


 Claude Cueni ist Schriftsteller und lebt in Basel. Im März erschien von ihm im Verlag Nagel & Kimche «Hotel California», ein Lebensratgeber in Romanform für seine Enkelin.

 

Rezension: Hotel California

Literatur & Kunst / Weltwoche vom 10. Juni 2021

Vermächtnis für die Enkelin

Von Rolf Hürzeler

Claude Cueni: Hotel California. Nagel&Kimche. 160 S., Fr. 27.90

Wer im Hotel «California» eincheckt, kommt nie mehr heraus. Denn das Haus steht für das Ende des menschlichen Daseins. Der Schriftsteller Claude Cueni hat die Metapher gewählt, weil er vor mehr als zehn Jahren an den Folgen einer Leukämie schwer erkrankt ist und ohne Aussicht auf Genesung lebt. Mit seinem neuen Buch «Hotel California» hat er nun einen feinfühligen Text für seine ungeborene Grosstochter geschrieben. Das Buch trägt den erklärenden Untertitel «One more thing: Meine Botschaft an Elodie». Die Enkelin begegnet der Leserschaft als wachsender Fötus, den Cueni auf das Leben vorbereitet. Eine eigentliche Handlung hat die Novelle nicht, aber die Irrungen und Wirrungen rund um das Hotel zieht der Autor als roten Faden durch eine widersprüchliche, zum Teil schwerverständliche Welt.

Kraft und Kreativität

Denn zu dieser gehört Cuenis Unterbewusstsein. Immer wieder erlebt der Erzähler albtraumartige Begegnungen, etwa mit einer Pythonschlange: «Ich sass plötzlich auf einem schuppenartigen Ding …» Was witzig beginnt, endet apokalyptisch: «Es wurde dunkel um mich herum, als sie meinen Kopf verschlang und mühsam durch ihren engen Körper nach hinten presste …» Neben diesen absurden Halluzinationen gibt Cueni seiner Enkelin Elodie praktische Ratschläge für das Leben, die nur jemand mit viel eigener Lebenserfahrung erteilen kann; so, wenn er vom Wert des Geldes berichtet. Er relativiert die Bedeutung des Besitztums und rät dagegen, menschlichen Beziehungen umso mehr Sorge zu tragen. Am wichtigsten ist ihm jedoch die Bereitschaft, den Überlebenskampf nicht zu scheuen: «Als ich Hals über Kopf aus meinem Elternhaus floh und keine Schulen mehr besuchte, trug ich Flip-Flops und fünf Franken im Sack.» Später verdiente Cueni ein Vermögen mit Computergames und seinen Romanen. Immer wieder arbeitet der Autor mit Versatzstücken aus seinen früheren, weitgehend autobiografischen Büchern. Cueni wählte den Titel des Buches «Hotel California» nach dem Ohrwurm der Band Eagles aus dem Jahr 1976, deren Musik ihm in der Jugend offenbar wichtig war. Noch heute findet er in Erinnerungen wie diesen Halt und Zuversicht. Was dieses Buch auszeichnet, sind die Kraft und die Kreativität, die Cueni aus seinem Schicksal schöpft; damit macht er seiner Leserschaft Mut.

088 Blick »Trickst Panini?«

Es begann mit einem Flop. Die Gebrüder Panini druckten Sammelalben mit Blumenbildern zum Einkleben. Damit umdribbelten sie wohl alle möglichen Zielgruppen: Erwachsene kaufen keine Alben, und Kinder mögen Superman mehr als Orchideen.

 

1961 brachte Panini deshalb ein Sammelalbum mit 90 Aufklebebildern italienischer Fussballmannschaften heraus. Mit Erfolg. Bereits an der WM 1970 in Mexiko kam die Verpackungsmaschine Fifimatic zum Einsatz, um zu verhindern, dass in einem 5er-Päckchen zweimal das gleiche Bild vorkam. Je mehr Päckchen man kaufte, desto höher war die Wahrscheinlichkeit, dass man zweimal den gleichen Spieler hatte.

 

Für viele Kids war es wohl ein Schock, dass sie ausserhalb von Hotel Mama der harten Realität ausgesetzt waren und aus fünfzig Tüten viermal Víctor Espárrago von Nacional Montevideo zogen und kein einziges Mal Pélé. Der Frust gebar die Verschwörungstheorie, wonach Panini trickste und ein Ersatzspieler öfter vorkam als ein Weltstar.

 

Zwei Mathematiker der Uni Genf gingen der Sache nach und kauften zwölf Boxen à hundert Päckchen mit jeweils fünf Bildern, also insgesamt 6000 Sticker. Das Ergebnis: Jeder Spieler kam exakt neun Mal vor.

 

Bis zur WM 2006 kaufte ich jedes Jahr ein Sammelalbum. Ohne Bilder. Die Kioskverkäuferinnen reagierten oft irritiert: «Sie brauchen wirklich keine Bilder?»

 

Es war ein Italiener aus Mailand, der schliesslich hinter mein Geheimnis kam. «Ist es Zufall», mailte er, «dass in Ihrem Vatikanthriller ‹Andate e uccidete› (Gehet hin und tötet) fast alle Kardinäle und Mafiosi die Spielernamen der italienischen Nationalmannschaft von 1990 haben?»

 

Ich gestand, dass ich die Namen für meine Film- und Romanfiguren jeweils den Panini-Alben entnehme. Damit gehe ich sicher, dass russische oder argentinische Namen authentisch sind. Von Salvatore Schillaci (Juventus) lieh ich zum Beispiel den Vornamen, von Franco Baresi (AC Milan) den Nachnamen. Panini-Fussballalben waren integraler Bestandteil meiner Autorenbibliothek.

 

Mittlerweile kann man die Namen googeln, und die Panini-Gruppe erwirtschaftet in über 120 Ländern mit rund tausend Mitarbeitern einen Umsatz von über einer Milliarde Euro. Egal, wer die EM gewinnt, Panini bleibt Weltmeister.

087 »Braucht eine Regierung Fußfeßeln?«

© Blickkolumne vom 28. Mai 2021

Fussketten aus Bronze kennt man seit über 4000 Jahren, also seit Menschen fähig sind, Metalllegierungen aus Kupfer und Zinn herzustellen. Aus der römischen Antike sind derart viele Exponate erhältlich, dass man sie bereits für 900 Franken erwerben kann. 

Während der Pandemie wurde eine neue Variante notwendig: die unsichtbare Fussfessel, die unbescholtenen Bürgern nicht viel mehr Freiheiten einräumt als Straftätern mit elektronischen Fussfesseln.

Am 13. Juni stimmt das Volk über das Covid-19-Gesetz ab, da auch das Notrecht ein Verfalldatum hat: sechs Monate. Wie üblich versteckt man eine Kröte in einem Bündel guter Massnahmen. Die Kröte räumt dem Bundesrat auch in Zukunft weitreichende Befugnisse ein und schwächt somit Parlament und Demokratie. Man kann das Gesetz trotzdem annehmen. Sofern man der Regierung traut.

Aber Vertrauen muss man sich verdienen. Während der Pandemie wurde es teilweise verloren. Aufgrund der widersprüchlichen und teils völlig unlogischen Massnahmen kamen Zweifel an der Kompetenz der stets zaudernden Akteure auf. Nach vorsätzlichen Falschinformationen (Maskenlüge etc.) ist der Schaden irreparabel. Auch ein Borsalino-Hut kann keine Pinocchio-Nase verdecken. Massnahmen zur Kompensierung von Erwerbsausfällen können auch auf parlamentarischem Weg aufgegleist werden, und Medienförderung gehört nicht in ein Pandemiegesetz. 

Gesundheitsminister Alain Berset droht wie üblich und warnt davor, dem Bundesrat mit einem Nein einen Denkzettel verpassen zu wollen. Seine Befürchtung ist berechtigt. Ein Teil der Bevölkerung ist nachhaltig verärgert über ihren Angestellten, den sie jährlich mit rund 460’000 Franken entlöhnt. 

Die Regierung braucht nicht mehr Machtbefugnisse, sondern krisenerprobte Macher mit Unternehmerblut, die mehr am Schutz der eigenen Bevölkerung interessiert sind als an der Selbstdarstellung. Es braucht Aktiv-Bundesräte, die sich nicht der Geschwindigkeit eines hochverschuldeten Bürokratiemonsters anpassen, das im Schlafwagen zwischen Brüssel und Strassburg hin- und herpendelt und selten durch die Kraft des Handelns überzeugt.

Am 13. Juni geht es um Vertrauen. Auch Volksvertreter brauchen Fussfesseln, sonst wird messerscharf wieder butterweich. 

Claude Cueni (65) ist Schriftsteller und lebt in Basel. Soeben erschien im Verlag Nagel & Kimche «Hotel California», ein Lebensratgeber in Romanform für seine Enkelin. Cueni schreibt jeden zweiten Freitag im Blick.

086 Blick »Zerstört eure Armbanduhren!«

© Blick– 14. Mai 2021 – Kolumne Geschichte von Claude Cueni


Zerstört eure Armbanduhren!

Falls Sie an Ihrem Handgelenk eine Armbanduhr mit römischem Zifferblatt haben, sollten Sie diese Kolumne zu Ende lesen. Es geht um Ihre Reputation, denn an einer Uhr kann man nicht nur die Zeit ablesen (und die Vergänglichkeit des Daseins), sondern auch Ihre Haltung. Sind Sie tatsächlich «woke» (aufgewacht) oder frönen Sie noch dem selbstgerechten Schlaf der «White Supremacy», der weissen Überlegenheit?

Wir müssen über römische Ziffern reden. Sie sind das Erbe älterer italischer Völker und wurden von den Etruskern und Römern übernommen. Heute verwendet man diese Zahlschriften für die Zählung von Päpsten, Königen und oft auch für Kapitelüberschriften in Büchern.

Nachdem wir gelernt haben, dass auch Schach, Jasskarten, Mathematik, klassische Musik und Fotografie rassistisch sind, haben die «Aufgeweckten» ihre Realsatire mit einer weiteren Episode fortgesetzt und den römischen Zahlen den Krieg erklärt.

Pariser Museen, die eigentlich Kulturgut konservieren sollten, haben begonnen, die römischen Ziffern auf den Museumstäfelchen durch die bei uns gebräuchlichen indischarabischen Zahlen zu ersetzen. Der Sonnenkönig Louis XIV. ist nun Louis 14. Begründung: Man wolle niemanden ausgrenzen.

Werden jetzt auch Pariser Museumstafeln in alle rund 6900 Sprachen übersetzt? Damit niemand ausgegrenzt wird? Fühlen Sie sich eigentlich ausgegrenzt, wenn Sie indische Gurmukhi-Schriftzahlen, ägyptische Hieroglyphen oder eine chinesische Speisekarte nicht entziffern können?

Egal, ob Sie diese Entwicklung als Zeichen intellektueller Verblödung halten oder gar als Hinweis auf einen kulturellen Niedergang: Durchsuchen Sie Ihre Wohnung nach römischen Zifferblättern, zerschmettern Sie Opas Kettenuhr, reissen Sie Ihrer antiken Standuhr mit einer Beisszange die römischen Ziffern aus und vergessen Sie nicht, die Trümmer auf Facebook zu posten!

Was nützt Ihr Woke-Sein, wenn es andere nicht erfahren? Sollten die Medien auf Ihre Zivilcourage aufmerksam werden, erleben Sie fünfzehn Minuten Berühmtsein und animieren einige unterbeschäftigte Mitmenschen, Kirchtürme zu stürmen, um in Talibanmanier die Zifferblätter zu säubern. Fortsetzung folgt? Aber sicher.


Claude Cueni (65) ist Schriftsteller und lebt in Basel. Soeben erschien im Verlag Nagel & Kimche «Hotel California», ein Lebensratgeber in Romanform für seine Enkelin.

Weltwoche: Cancel Culture bei Playmobil

Cancel Culture bei Playmobil

 

Spielzeug ist ein Spiegel der Kultur. Veränderten sich die Figuren früher jahrzehntelang nicht, müssen die Hersteller heute ihr Sortiment oft innert Stunden dem Zeitgeist anpassen.

 

Claude Cueni

Spiel- und Actionfiguren spiegeln den Zeitgeist. Bereits in der Steinzeit gab es figürliche Darstellungen aus Holz, Lehm, Knochen, Ton oder Stein, wobei man sich bei einzelnen Objekten nicht einig ist, ob es sich um kultische Objekte oder Spielzeug handelt.

Im Mittelalter wurden Spielfiguren geschlechtsspezifischer und dienten auch dazu, die Kinder der Adligen auf ihre spätere Rolle vorzubereiten: Buben erhielten Ritterfiguren, Mädchen Puppen. Die meisten Kinder mussten jedoch mit dem spielen, was die Natur hergab. In weiten Teilen der Welt ist das immer noch so.

Nach dem Siebenjährigen Krieg (1756–1763) wurden Zinnsoldaten aus Weissmetall populär, und mit dem Aufkommen des Bürgertums entstanden die ersten Werkstätten, die für den Nachwuchs des neuen Mittelstandes produzierten.

Winnetou statt Hitler

Um 1900 bastelten Otto und Max Hausser Spielzeugsoldaten aus Sägemehl und Leim und verstärkten sie innen mit einem Draht. Was im Kinderzimmer Spiel war, wurde für Max Realität. Er fiel 1915 als deutscher Soldat an der Westfront. Sein Bruder Otto machte alleine weiter und produzierte in den 1930er Jahren drei Millionen Elastolin-Figuren jährlich.

Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges besetzten Hitler und Co. die Vitrinen in den Spielzeugläden, sie hatten fein modellierbare Köpfe aus Porzellan, um den Erkennungswert zu steigern. Nach Kriegsende wurden die kleinen Goebbels und Mussolinis aus den Regalen verbannt, mancher SS-Scherge fiel zu Hause diskret Mamas Staubsauger zum Opfer.

Nazis, das waren die andern gewesen. Otto Hausser zog der Wehrmacht die Porzellanköpfe wie der Zahnarzt die Weisheitszähne. Er ersetzte sie durch neutrale Häupter. Die Kleider wurden mit den Farben von Schweizer Armeeuniformen übermalt, und Hausser widmete sich unverfänglichen Themen: Winnetou statt Hitler.

In den 1970er Jahren produzierten Hersteller wie Hausser Elastolin-, Britains-, Starlux-, Timpo-, Marx- und Airfix-Plastikfiguren aus allen Epochen, vom keltischen Druiden bis zum Zulu-Krieger. Doch als die US-Armee die ersten Napalmbomben über Vietnam abwarf und Millionen gegen den Krieg protestierten, kam erneut Mutters Staubsauger zum Einsatz. Nur Farmtiere überlebten.

Erst viel später gelang den kleinen Buffalo Bills und Ivanhoes eine digitale Auferstehung. Der Wilde Westen wurde ins Weltall gebeamt, und Roboter waren die neuen Ritter.

Zuvor hatte 1973 die Ölkrise die Weltwirtschaft erschüttert. Die Preise für Kunststoffe explodierten, und Horst Brandstätter (1933–2015), der Urenkel von Playmobil-Gründer Andreas Brandstätter, stand am finanziellen Abgrund. Bisher hatte er Kindermöbel aus Kunststoff hergestellt. Was nun?

Wenn der Markt die Karten neu mischt, erkennt man den wahren Unternehmer. Brandstätter zauderte nicht, wie wir das von schöngeistigen Politikern gewohnt sind, er überzeugte durch die Kraft des Handelns und akzeptierte die veränderte Situation als neue Normalität. Die Krise zwang ihn zu mehr Kreativität.

Hatte er bis anhin auf grossflächige Kunststoffartikel gesetzt, entschied er sich nun für kleine Spielfiguren, die kaum Kunststoff benötigten. Er gab seinem Entwicklungsleiter, Hans Beck (1929–2009), einem gelernten Tischler, der als Neunzehnjähriger aus der sowjetischen Besatzungszone in den Westen geflüchtet war, den Auftrag, ein Spielkonzept zu entwickeln, das man laufend ausbauen konnte. Beck winkte die Chance seines Lebens.

Mit dem Erfolg kam der Ärger

Bereits als Jugendlicher hatte er für seine Geschwister Modellbauten und kleine Spielzeuge hergestellt, nun konnte er seine Leidenschaft zum Beruf machen. Er entwickelte einen kleinen Bauarbeiter mit Babyface. 1974 präsentierten Brandstätter und Beck anlässlich der Nürnberger Spielwarenmesse Figurengruppen von Bauarbeitern, Rittern und niedlichen Indianern. Der enorme Erfolg rettete Brandstätter vor dem Konkurs.

1976 folgten weibliche Figuren, ab 1981 Kinder und Babys, später Tiere, Bauten, Autos und Eisenbahnen. Der Vollblutunternehmer Brandstätter und der wortkarge Beck waren ein perfektes Duo, der eine ein begnadeter Verkäufer und Macher, der andere der verspielte Kreative.

Die beiden legten den Grundstein für die Neuausrichtung einer Firma, die heute mit einer Jahresproduktion von über hundert Millionen Playmobil-Figuren mehr als eine halbe Milliarde Umsatz generiert und weltweit knapp 5000 Menschen beschäftigt: Mittlerweile tummeln sich über 2,8 Milliarden dieser abstrakten Figuren in Kinderzimmern, Sandkästen und Staubsaugersäcken.

Mit dem Erfolg kam der Ärger. Gleich mit der ersten Figur, einem Bauarbeiter. Beck hatte ihm eine Bierkiste in den Schubkarren gelegt, weil Bauarbeiter im Sommer gerne ihren Durst mit einem Bier löschen. So viel Realität wollten einige Freizeitpädagogen den Kinderaugen ersparen. Brandstätter gab nach. Die Playmobil-Welt wurde zur alkoholfreien Zone.

Bald darauf erregte das Playmobil-Set mit der Flughafen-Sicherheitskontrolle den Unmut amerikanischer Eltern. Die Szene mit bewaffneten Flughafenpolizisten, Metalldetektor und Röntgenmaschine verhindere angeblich, dass Kinder den staatlichen Sicherheitsapparat hinterfragen. Was Kinder bei jedem Ferienflug erleben, sollte ihnen zu Hause erspart bleiben.

Die New York Times bot den Entrüsteten eine Plattform, um den deutschen Spielzeughersteller in die Knie zu zwingen. Obwohl den US-Kids die Figuren viel zu brav sind und die USA deshalb nie ein starker Absatzmarkt waren, nahm Playmobil das Set aus dem Handel.

Jedes Nachgeben ermuntert Nachahmer zum nächsten Shitstorm. So auch eine Mutter aus Kalifornien. Sie stellte mit Entsetzen fest, dass im Piraten-Set ihrer Kinder nebst Papageien, Säbel und Augenklappe auch ein winzig kleiner silbergrauer Ring beigelegt war, den man gemäss Booklet an den Hals eines dunkelhäutigen Seeräubers stecken konnte.

Die schockierte Mutter hätte das Teil in den Müll werfen oder sich mit der karibischen Sklavenrepublik des 17. Jahrhunderts befassen können. Damals kaperten Piraten zahlreiche Sklavenschiffe, nahmen den Unglücklichen die Halsringe ab und boten ihnen die Chance, sich ihnen als gleichberechtigte Piraten anzuschliessen. Somit konnten Kinder mit dem Set Sklavenbefreiung spielen.

Hätten sie können. Denn die geschichtslose Mutter fand eine neue Lebensaufgabe und schwang die beliebte Rassismuskeule. Das Unternehmen erklärte, auf der Verpackung zeige man unmissverständlich, dass der Sklave kein Gefangener sei, sondern ein normales Mitglied der Crew. Niemand wollte es hören, der «Sklavenkragen» verschwand aus dem Sortiment.

Hans Becks Grundsatz war stets: «Kein Horror, keine vordergründige Gewalt, keine kurzfristigen Trends». Nach fünfzig Jahren waren diese Vorgaben kaum noch durchsetzbar. Der Markt verlangte nach neuen, trendigen Themen. Dinosaurier, Drachen und Geisterschlösser säumten nun die Verkaufsregale; Polizisten wurden hochgerüstet, Piraten feuerten aus Kanonen, römische Legionäre formierten sich zur Schlacht. Der Zeitgeist gebar kurzfristige Trends, und das Aufspüren von politisch unkorrekten Spielfiguren erreichte die Attraktivität von Gesellschaftsspielen.

Als Nächstes brachten sich Tierschützer ins Rampenlicht und verlangten die Befreiung des Tanzbären aus dem Mittelalter-Set. Tierdarbietungen gehörten früher zu jedem Mittelaltermarkt wie heute Riesenräder zu Jahrmärkten. Erneut wollte eine geschichtslose Minderheit einem Spielzeughersteller vorschreiben, wie realistisch seine Themenwelten sein dürfen. Playmobil, bereits erprobt im Kniefall, dislozierte die Tanzbären in das Zoo-Set.

Die nächste Kritik betraf die Gleichstellung von Mann und Frau in der Playmobil-Welt. Vielleicht wollte das Unternehmen mit der weiblichen Räuberin im Bankräuber-Set dem Stereotyp des sanften weiblichen Wesens entgegenwirken.

Jeder Shitstorm hat ein Verfalldatum

Was gut gemeint war, wurde als «positiver Sexismus» angeprangert. Dabei hatte Playmobil die Bankräuberin als Identifikationsfigur für Kinder entwickelt, die nicht immer brav sein wollten, Pippi Langstrumpf auf der schiefen Bahn. Das Experten-Magazin Der Spiegel belehrte Playmobil, dass nur fünf Prozent aller Banküberfälle von Frauen verübt würden.

Jetzt wurde mehr Realität gefordert. Hätte sich Playmobil nach realen Statistiken gerichtet und einen bärtigen Mann aus dem Nahen oder Mittleren Osten mit Kalaschnikow produziert, hätten die Spiegel-Inquisitoren wahrscheinlich weniger Realität gefordert.

Ob eine Figur genehm ist oder nicht, entscheidet nicht eine bornierte Minderheit, die sich Firmenbashing zum Hobby gemacht hat, sondern die Käufer beziehungsweise ihre Kinder. Am beliebtesten sind die verschiedenen Polizei-Sets, kaum gefragt sind hingegen Wintersportarten.

Mittlerweile setzt Playmobil auf Multikulti. In allen Themenwelten sehen wir schwarze, braune und weisse Menschen. Das macht durchaus Sinn, werden die Figuren doch in über hundert Ländern verkauft. Um der inflatorisch missbrauchten Rassismuskeule zu entfliehen, ersetzte man nachträglich auch den weissen Zahnarzt (Artikel 6662) durch einen schwarzen Zahnarzt (Artikel 70 198).

Dauerte es früher Jahre, bis gesellschaftliche Veränderungen ihren Niederschlag in der Spielzeugproduktion fanden, werden Spielzeughersteller heute innert Stunden gezwungen, ihr Sortiment dem flüchtigen Zeitgeist anzupassen. Sie sollten widerstehen. Jeder Shitstorm hat ein Verfalldatum. Nicht selten fördert er sogar den Absatz der beanstandeten Produkte. Es geht schliesslich nicht um giftige Farbstoffe, sondern um das Gift der Political Correctness. Wer es im Leben allen recht machen will, sollte am Morgen im Bett bleiben.

 

Claude Cueni (65) ist Schriftsteller und lebt in Basel. Soeben erschien im Verlag Nagel & Kimche »Hotel California«, ein Lebensratgeber in Romanform für seine Enkelin. Nagel & Kimche. 160 S., Euro 18.–.

 

085 Blick »Hungerlöhne im sechsstelligen Bereich«

In der römischen Antike wurden Frauen aus dem normalen Volk schief angesehen, wenn sie versuchten, mit ihrer Schönheit Geld zu verdienen. In fast allen Kulturen haben die Männer strenge Regeln für die Berufstätigkeit der Frauen festgelegt. Trotzdem war es für Modehersteller notwendig, ihre neuen Kreationen mit Models präsentieren zu können. Deshalb wurden in den Villen der Adeligen oft Sklaven für den privaten Catwalk eingesetzt.

Nach dem Ersten Weltkrieg krempelte die Modeschöpferin Coco Chanel die Branche um, ihre Mannequins verliessen die privaten Salons und betraten die öffentliche Bühne unter dem Applaus von Presse, Promis und vermögenden Gästen. Die jungen Frauen, die bisher eher mobile Kleiderständer waren, wurden Models mit eigener Medienpräsenz. Sie waren keine stummen Darstellerinnen mehr, sondern entwickelten sich zu Supermodels, die für Paparazzi genauso lukrativ wurden wie Stars aus der Film- und Musikindustrie. Den erfolgreichsten Frauen gelang die Vermarktung der eigenen Berühmtheit ausserhalb der Modeltätigkeit, sie wurden Markenbotschafterinnen oder erfolgreiche Businessfrauen.

084 Blick »Hört auf, euch ständig zu entschuldigen!«

 
Kolumnist Claude Cueni über den Knigge-Ratgeber und Zeitgeist-Moralisten

Adolph Knigge wurde mit seinem Benimmratgeber weltberühmt. Dabei hielt er selber wenig von Political Correctness. Die Knigges der Gegenwart hingegen sind bornierte Zeitgeist-Moralisten, immer auf der Jagd nach dem nächsten Fauxpas.


«Man soll nie vergessen, dass die Gesellschaft lieber unterhalten als unterrichtet sein will», schrieb ausgerechnet Adolph Knigge (1752–1796), der Sohn einer verarmten Adelsfamilie. Die Mutter starb, als er elf Jahre alt war, der Vater, als er 14 war. Immerhin erbte er. Leider nur Schulden in der Höhe von 130’000 Reichstalern. Wer heute klagt, das Leben spiele nicht fair, findet Trost in historischen Biografien.

Berühmt wurde Knigge mit seinem Benimmratgeber, der seit 1788 unzählige Male dem Zeitgeist angepasst wurde. Ironischerweise hatte er selbst nicht viel übrig für die Political Correctness seiner Zeit, verspottete die «erbärmlichen Hofschranzen» und das ganze «Hofgeschmeisse» in adligen Kreisen. Mit schöner Regelmässigkeit wurde er aus Organisationen und herrschaftlichen Prinzen- und Fürstenhöfen geschmissen.

Die Knigges der Gegenwart sind bornierte Zeitgeist-Moralisten im Umfeld amerikanischer Universitäten. Zeichneten sich bisher kontroverse Debatten durch die intellektuelle Schärfe der Beteiligten aus, triumphiert heute die Lautstärke über das Argument. Die Jagd auf politisch Unkorrekte hat mittlerweile die Attraktivität von Gesellschaftsspielen.

Die Welt ist ein einziges Fettnäpfchen

Wer findet den nächsten Fauxpas? Hat jemand vor 30 Jahren sein Gesicht schwarz bemalt, als er in einem Schultheater den Othello spielte? Blackfacing! Oh, sorry. Darf ich einen Sombrero tragen? Kulturelle Aneignung! Oh, sorry. Darf man Filipinas loben, weil sie die Lebensfreude in den Genen haben? Positiver Rassismus! Oh, sorry. Darf ein Bleichgesicht die Gedichte einer Afroamerikanerin übersetzen? Darf ein Nichtitaliener eine Pizza in den Ofen schieben?

Die Empörungslust kennt keine Grenzen, die Welt, ein einziges Fettnäpfchen. Während auf dem Planeten Milliarden Menschen ohne sauberes Wasser, sanitäre Anlagen und ausreichend Nahrung ihr Dasein fristen, trampelt der Mob der Erleuchteten wie eine wild gewordene Bisonherde durch die Weiten der Internets.

Nachdem sich Knigge überall unbeliebt gemacht hatte, entwickelte er sich zum Satiriker: «Man vergesse nicht, dass das, was wir Aufklärung nennen, anderen vielleicht als Verfinsterung scheint.» Er würde uns heute zurufen: «Hört auf, euch ständig zu entschuldigen!»

Claude Cueni (65) ist Schriftsteller und lebt in Basel. Er schreibt jeden zweiten Freitag im Blick. Soeben erschien bei Nagel & Kimche sein neuer Roman «Hotel California – Meine Botschaft an Elodie».

083 Blick »Macht Geld weniger glücklich?«

 

Varius Marcellus erhielt als Prokurator des kaiserlichen Privatvermögens ein Jahresgehalt von 300’000 Sesterzen, der Augenarzt Decimius Eros Merula hinterliess seinen Erben 500’000 Sesterzen. Woher wir das wissen? Sie liessen ihren Kontostand auf ihren Grabstein meisseln.

Was damals Anerkennung über den Tod hinaus bedeutete, würde heute als Protzerei verspottet. Höchstens Boxer Floyd Mayweather oder Donald Trump könnte so was einfallen. Der Neid auf Menschen, die mehr besitzen, ist je nach Kultur verschieden. Während man in Asien Reiche als Vorbilder sieht, hat im Westen der Rasenmäher Hochkonjunktur. Nur gerade Weltstars wie Kanye West oder Ronaldo gönnt man die Millionen. Und Lottomillionären: Man könnte ja der nächste sein.

Als der reichste Mann Dänemarks bei einem Terroranschlag auf Sri Lanka drei Kinder verlor, stand in jeder Schlagzeile, dass er Milliardär ist. Als wolle man der Leserschaft sagen: Seht, Geld macht auch nicht glücklich. Als hätte ihn ein durchschnittliches Vermögen vor einer derartigen Tragödie bewahrt. Bestraft das Schicksal Glück mit Unglück? Dieser Aberglauben versetzt gemäss Swisslos immer wieder Lottomillionäre in Panik.

Ironischerweise streben die meisten Menschen nach mehr Geld, obwohl sie jenen, die ein paar Tausender mehr haben, pauschal Moral, Empathie und Glücksfähigkeit absprechen.

In der Schweiz besitzen die 300 Reichsten zusammen 707 Milliarden. Einige haben geerbt (letztes Jahr 95 Milliarden). Einige investieren in Firmen (und Arbeitsplätze) oder engagieren sich karitativ, andere sitzen zum Zeitvertreib in Parlamenten oder jetten von Vernissage zu Vernissage

Bringt mehr Geld mehr Glück? In Ländern, wo der Tagesverdienst bei zwei Dollar liegt, ganz bestimmt. In Wohlstandsgesellschaften mit staatlicher Rundumversorgung kokettiert man gerne damit, dass Geld nicht so wichtig ist, weil man genug davon hat, um Dinge zu kaufen, die man nicht braucht, aber trotzdem will, um Leute zu beeindrucken, die man gar nicht mag.

Weltweit belegen Studien, dass das persönliche Glück proportional zum Einkommen steigt. Aber nicht unbeschränkt. Bei uns liegt die Grenze bei einem Monatslohn von ca. 7500 Franken. Ab dann zählen Dinge, die man mit Geld nicht kaufen kann.


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