Der Untergang der Moorhuhn-Schmiede Phenomedia (2001) wäre Stoff für eine Komödie, der Finanzskandal von Wirecard (2021) der Plot für einen internationalen Thriller. Beide Gründer waren Schulabbrecher aus einfachen Verhältnissen. Vieles verlief ähnlich, aber eine Sache war anders.
von Claude Cueni
Markus Scheer war wie viele erfolgreiche Firmengründer ein Schulabbrecher, der den Schulstoff für weitgehend unnütz hielt, weil er von Anfang an genau wusste, was er wollte: Scheer wollte Spiele programmieren. Das Handwerk hatte er sich als Kind am legendären Spielecomputer C64 beigebracht.
Bereits als Teenager wurde er Chefentwickler bei der 1988 gegründeten Firma Starbyte, die mit ihren Wirtschaftssimulationen den entstehenden Computerspielemarkt aufmischte und Kultstatus erreichte. 1992 teilte Starbyte das Schicksal vieler Pioniere, denn nicht selten bestraft das Leben auch jene, die zu früh kommen. Starbyte schlitterte in die Insolvenz. Scheer gründete eine neue Firma und fokussierte auf kleine Werbespiele, die im Auftrag von Firmen produziert wurden. Eines dieser advertising games war ein Shooter für Johnnie Walker. Attraktive Hostessen forderten abends Barbesucher zum Spielen auf dem Notebook auf. Wer genügend virtuelle Moorhühner abschoss, erhielt einen Drink spendiert. Der Erfolg war überschaubar.
Wesentlich interessanter schien Scheer, was sich an der Deutschen Börse abspielte. 1997 wurde nach dem Vorbild der amerikanischen Technologiebörse Nasdaq ein Aktienindex für neue Technologien ins Leben gerufen: der Nemax. Viele junge Firmen nutzten den Neuen Markt zur Beschaffung von frischem Kapital für eine schnellere Expansion. Nur brauchte es für einen erfolgreichen Börsengang Fleisch am Knochen, Content, ein prall gefülltes Portfolio. Scheer vereinigte kleinere Spieleproduzenten unter dem Namen Phenomedia und wagte 1999 mit einem bescheidenen Jahresumsatz von 4,8 Millionen Euro den Gang an den Neuen Markt. Im Börsenprospekt hatte er interaktives Fernsehen, Handy-Games und all das versprochen, was die Fantasie von Analysten und Anlegern beflügelte. Über Nacht spülte das IPO (Initial Public Offering) 22 Millionen Euro in die Firmenkasse. Scheer löste seine Versprechen ein und kaufte weitere kleine, aber innovative Firmen zusammen, er kaufte Wachstum. Der redegewandte Scheer und seine Jungs gehörten bald zu den Lieblingen der Finanzpresse. Der allgemeine Hype am Neuen Markt befeuerte den Aufstieg enorm. Plötzlich hatte jede Metzgerei eine Internetadresse, und das berühmte Hausmädchen begann erstmals in seinem Leben Aktien zu kaufen. Only the sky is the limit. Es war schliesslich das reanimierte Moorhuhn des Digital Artist Ingo Mesche, das den Aktienkurs durch die Decke brechen liess. Der Pressesprecher der Phenomedia hatte diversen TV-Journalisten gesteckt, dass in einigen Firmen kaum noch gearbeitet würde, weil angeblich auf den Firmencomputern nur noch Moorhühner gejagt würden. Die Fake News verbreiteten sich wie ein Lauffeuer. Wie gut musste ein Spiel sein, wenn moorhuhnsüchtige Angestellte sogar ihre Kündigung in Kauf nahmen?
Bereits im März 2001 wurde in einer Ad-hoc-Mitteilung bekanntgegeben, dass für das Jahr 2000 ein Rekordergebnis verzeichnet worden sei, eine Umsatzsteigerung von erstaunlichen 236 Prozent auf 31,9 Millionen Euro. Die Aktie stieg um 6,5 Prozent. Noch wussten die begeisterten Anleger nicht, dass Phenomedia in Wirklichkeit einen Verlust von 8,3 Millionen eingefahren hatte. Scheer ahnte, dass auch Moorhühner nicht ewig lebten und dass bei weiteren Verlusten die Aktie das Schicksal der Moorhühner teilen würde.
Auf Scheers Schreibtisch standen stets zwei Computer. Auf dem zweiten lief eine seiner geliebten Wirtschaftssimulationen. Gründete man als virtueller Firmenboss dreissig Tochterfirmen und schickte eine Million im Kreis herum, konnte jede Firma jeweils einen Umsatzzuwachs von einer Million verbuchen, und jeder Rundgang brachte dem virtuellen Mutterhaus zwar nicht mehr Gewinn, aber dreissig Millionen mehr Umsatz. Am Neuen Markt waren tiefrote Zahlen okay. Solange der Umsatz stieg. Amazon war der beste Beweis. Konnte das, was in einem Computerspiel zum Erfolg führte, auch in der Realität funktionieren? Scheer konnte nicht widerstehen. Mit Scheinfirmen, Luftbuchungen und Bilanzschwindel blähte er den Umsatz auf. Die Banken, so Scheer, brachten ihm «schubkarrenweise frisches Geld» und rieten ihm angeblich davon ab, einen erfahrenen Senior Manager beizuziehen. Dass Phenomedia als Anbieter von Handy-Games die Firmenzentrale ausgerechnet in einem Bochumer Funkloch gebaut hatte, sah man den Newcomern nach. Ihr smarter Kundenakquisiteur erklärte den Erfolg wie folgt: »Wir ziehen unsere geilen Anzüge an und quatschen ein bisschen über Phenomedia.» Das Einzige, worüber alle genau Bescheid wussten, war der aktuelle Aktienkurs. Insiderhandel war später ein weiterer Anklagepunkt. «Geile Anzüge», das war einem externen Wirtschaftsprüfer zu wenig. Er deckte auf, was man bei Computerspielen cheat nennt, in der Realität aber Betrug ist. Scheer reagierte umgehend und stellte den Unbequemen als Finanzchef ein. Der Absturz war nur aufgeschoben. Im nächsten Jahr schlug ein neuer Wirtschaftsprüfer Alarm, die Staatsanwaltschaft liess sechs Führungskräfte verhaften, die Aktie verkam zum Pennystock und hinterliess Tausende von geprellten Kleinanlegern, Investoren, Kreditgebern und jungen Arbeitslosen.
Während die Phänomedialen die Bilanzen «lediglich» um fünfzehn Millionen aufgebläht hatten, betrug der mutmassliche Finanzschwindel beim deutschen Zahlungsabwickler und Finanzdienstleister Wirecard 1,9 Milliarden Euro. Auch das untergetauchte Wirecard-Vorstandsmitglied Jan Marsalek wuchs in einfachen Verhältnissen auf und brach frühzeitig die Schule ab. Markus Scheer sagte vor Gericht, er habe mächtig sein wollen, das hatte auch Jan Marsalek gewollt. Er gilt als Hauptverdächtiger im Finanzskandal der Wirecard.
Während der Niedergang der Phenomedia lediglich eine Fussnote in der Geschichte der New Economy bleiben wird, ist Wirecard der «grösste Börsen- und Finanzskandal der deutschen Nachkriegszeit». Phenomedia könnte die Vorlage für eine Komödie sein, Wirecard ist hingegen der Plot für einen internationalen Thriller im Umfeld von Marsaleks dubiosen Aktivitäten in Libyen, geheimdienstlichen Kontakten und gefakten Firmensitzen, die mit Schauspielern besetzt wurden. Doch in einem Punkt unterscheiden sich die beiden Skandale ganz erheblich: Wirecard genoss einen besonderen Schutz. Die Münchner Staatsanwaltschaft, die Finanzaufsicht Bafin, die Wirtschaftsprüfer: Sie alle wollten jahrzehntelang nicht wahrhaben, was immer offensichtlicher wurde. Bereits 2003 stellte der Blogger Jigajig die Ungereimtheiten in der Wirecard-Bilanz online. Seine Beiträge wurden gelöscht. Vergebens. Die Betrugsvorwürfe häuften sich in den folgenden Jahren. 2016 startete Matthew Earl, Managing Partner bei Shadow Fall Capital, seine Serie vernichtender Blog-Beiträge. Er wurde verfolgt und bedroht. Anfang 2019 verbreitete die Financial Times in einer Artikelserie die Vorwürfe des Wirecard-Juristen Pav Gill, der als Senior Legal Counsel für Wirecard Asia Pacific zuständig war. Die Dokumente wurden weltweit verbreitet. Die Münchner Staatsanwaltschaft eröffnete ein Strafverfahren, aber nicht gegen die Chefetage von Wirecard, sondern gegen den Whistleblower Pav Gill. Zuerst wurde ihm Geld angeboten. Pav Gill lehnte ab. Dann folgte ein Psychoterror der üblen Sorte. Gills Mutter erlitt einen Schlaganfall.
Erstaunlich, dass sich Angela Merkel noch im September 2019 in China für Wirecard ins Zeug legte. Auch wenn sie im April vor dem Untersuchungsausschuss wie üblich jedes Fehlverhalten von sich wies, entstand doch der Eindruck, als hätten Deutschland und seine Finanzinstitutionen aus falsch verstandenem Patriotismus ein Unternehmen geschützt, das die Bundesrepublik zum europäischen Silicon Valley hätte upgraden sollen. Wieso auch erfahrene Wirtschaftsprüfer zehn Jahre lang geschwiegen haben, wird wohl Gegenstand der Ermittlungen sein.
Markus Scheer hat seine Strafe abgesessen und wieder als Unternehmer Fuss gefasst, Jan Marsalek und einige seiner Komplizen sind untergetaucht. In Sicherheit sind sie nicht. Gefahr droht ihnen nicht nur von der Justiz, sondern auch von all den geschädigten «Geschäftspartnern», die nun zur Jagd blasen. Es gibt für Kriminelle nichts Verlockenderes, als geraubtes Geld zu stehlen. Jan Marsalek wird gejagt, er ist das neue Moorhuhn. Auf den Philippinen kostet ein Auftragskiller in Polizeiuniform gemäss Cebu Daily News fünfzig Dollar.