116 Blick »Wir wir zum Reisen gekommen sind«

Wie wir zum Reisen gekommen sind

Man reist ja nicht, um anzukommen, sondern um zu reisen», schrieb Goethe (1749–1832). Das war nicht immer so. Reisen hatte jahrtausendelang stets einen ganz bestimmten Zweck. Unsere Vorfahren waren Nomaden, immer unterwegs nach neuen Regionen, wo es genügend Nahrung gab. Auch Umweltkatastrophen zwangen sie zum Reisen beziehungsweise zum Verreisen. Bis sie schliesslich vor rund zehntausend Jahren sesshaft wurden und Viehzucht und Ackerbau betrieben.

In der Antike reiste man zu den Tempeln der Götter, wie man heute nach Santiago de Compostela oder Mekka pilgert. Nebst den Händlern, die berufsmässig reisten, waren Ferienreisen den Wohlhabenden vorbehalten, sie suchten im Sommer ihre Zweitwohnsitze am Meer auf. Allen anderen fehlten die Zeit und das Geld dazu.

Legionäre und Nichtadlige reisten meistens zu Fuss und legten dabei ca. 30 Kilometer am Tag zurück, in etwa die Distanz von Zürich nach Winterthur, eine Strecke, die wir heute mit dem Auto in 30 Minuten bewältigen. Es gab so was wie ein Fernstrassennetz mit Herbergen, die Reisende und die Pferde der Postboten und Kutscher versorgten und nebst Speis und Trank auch sexuelle Dienste anboten.

In der Renaissance (ca. 1400 bis 1620) sandte der europäische Adel seine Söhne auf die grosse Bildungsreise, die Grand Tour, die meistens nach Italien führte. Dass Reisen bildet, galt schon damals als Binsenweisheit. Unter Bildung verstand man auch das Sammeln erotischer Erfahrungen.

Mit dem britischen Reisepionier Thomas Cook (1808–1892) wurden erstmals Pauschalreisen in die entlegenen Kolonien des British Empire angeboten, das nach dem Ersten Weltkrieg sagenhafte 35 Millionen Quadratkilometer umfasste. Der technische Fortschritt der industriellen Revolution machte es möglich, dass nun Reisen dank Automobil, Eisenbahn und Dampfschiff günstiger und somit auch für den Mittelstand erschwinglich wurden. Die entstehende Tourismusbranche schaffte neue Jobs, die Reiseliteratur boomte, und Louis Vuitton (1821–1892) fabrizierte robuste Reisetruhen.

Doch erst in den 1960er-Jahren setzte dank höheren Realeinkommen, mehr Freizeit und günstigen Charterflügen der Massentourismus ein: Man reiste nicht mehr, «um anzukommen, sondern um zu reisen».


Am 22. August erscheint der neue Thriller DIRTY TALKING.


 

© Privilegierte Asphaltkleber

Die »Letzte Generation« klebt sich auf befahrene Strassen und legt den Verkehr lahm. Auf ihrer Plattform posten sie ihre Highlights, Videos, die erboste Autofahrer zeigen, die, (im Gegensatz zu den privilegierten Asphaltklebern) unterwegs zur Arbeit sind. Auch Ambulanzen, Feuerwehr und Hochschwangere sind motorisiert unterwegs. Für wen will die »Letzte Generation« also das Klima retten, wenn ihnen die Mitmenschen derart egal sind?

 

Oder geht es eher um die Jagd nach Selfies, wie der junge Aktivist Clemens Traub in seinem Buch »Future for Fridays« selbstkrititisch bemerkt? 

 

Die Rücksichtslosigkeit gegenüber der arbeitenden Bevölkerung halten sie für rechtens, bis ihre Forderungen erfüllt sind. Erpressungen, die in Hotel Mama funktionierten, »Nike-Schuhe oder Terror«, sind in der Öffentlichkeit nicht immer erfolgreich. Wer seine Lifestyle-Moral über den Rechtsstaat stellt, verkommt zur Sekte.

 

Tadzio Müller, einer der Wortführer, findet es legitim, in Zukunft Autos zu zerstören und Gaskraftwerke zu sabotieren. Er droht mit einer »Grünen Armee Fraktion« im Stil der »Roten Armee Fraktion«, die in den 1970er-Jahren Staat und Bevölkerung terrorisierten. Doch das Einzige, was die RAF damals errreichte, waren (nebst 33 Morden) schärfere Gesetze.

 

Die gute Nachricht zum Schluss: Es wird noch tausende Generationen geben, weil die Menschen, die technologische Innovationen entwickeln, nicht auf dem Asphalt kleben, sondern forschen und arbeiten.

 

© Agentur C – die Story

1985 gründete der erfolgreiche Schweizer Firmengründer Heinrich Rohrer (Sipuro – Rohrreinigung – SI phon PU tz – RO hrer) mit einigen Freunden den Verein »Agentur C« um mit Plakatkampagnen schweizweit Bibelverse zu verbreiten.

1998 starb der millionenschwere Exzentriker, der auf seinem Anwesen einen Venom-Kampfjet und eine Radgürtelkanone geparkt hatte.

Seitdem produziert der Verein allerlei Merchandising mit Bibelversen, vom Regenschirm bis zum Zuckerbeutel, verschenkt Bibeln und hängt regelmässig neue Plakate auf.

Auf Anfrage wird mir erklärt, dass ihre Zielgruppe alle Menschen in der Schweiz umfasst und leider immer wieder Plakate zerstört werden. Soll ich jetzt Voltaire bzw. seine Biografin zitieren? (Ich teile Ihre Meinung nicht, aber…)

An alle Neandertaler mit unterentwickelten Demokratieverständis: Hört auf, Plakate zu beschädigen. In dieser humorlosen Zeit brauchen wir mehr Comedy im öffentlichen Raum.

© Der Maler Jürg Kreienbühl

Chronist der Endzeit

Zum Tod des Malers Jürg Kreienbühl


© Von Aurel Schmidt


© Quelle: Basler Stadtbuch 2007 / Basler Zeitung vom 3. November 2007


 

 

Zu Jürg Kreienbühls letzten Werken gehört eine Reihe von Bildern, die er in einer <déchetterie>, einer Kehrichtverbrennungsanlage, in der Nähe von Paris gemalt hat. In der auf Hochglanz polierten Welt von heute suchte er seine Motive mit Vorliebe am entgegengesetzten Ende, dort, wo die Armut und die Misere zu Hause sind und sich die so­ zialen Abgründe auftun.

 

Er liebte es, Abfallhaufen zu malen, Friedhöfe, von Ölteppichen verseuchte Häfen. Nichts Schönes, nicht Erbauliches. Er hatte eine bestimmte Vorstellung vom Leben, das er an den dunkelsten Orten suchte, weil er überzeugt war, dass er es nur dort finden würde. Das gab seiner Malerei etwas Düsteres, gelegentlich Pathetisches, aber immer auch Authentisches. Malen hiess für ihn Zeugnis ablegen.

 

Jürg Kreienbühl wurde am 12. August 1932 in Basel geboren. Als junger Mensch hatte er ein Erlebnis, das ihn für das Leben prägte. Der Anblick einer verwesenden, von Maden befallenen Ratte, die er im Jahr 1953 in einer Abfallgrube in Reinach beobachtet hatte, löste in ihm beinahe traumatische Reaktionen aus. Er hat oft davon gesprochen. Mit einem Mal musste er erkennen, dass die Natur eine ungeheuerliche Maschine ist, die alles verschlingt. Sie kam ihm wie etwas Sinnloses vor, wie eine Demütigung des Menschen. Dass der Mensch die Krone der Schöpfung sei, hielt er für blanken Unsinn. Alles stirbt, zerfällt, löst sich auf, geht zu Grunde. Nirgends ist ein Sinn, eine Hoffnung, ein Ausweg.

 

Das waren Kreienbühls nihilistische Jahre. Mit 24 zog er nach Paris, wo er in der Banlieue in einer <roulotte>, einem Wohnwagen, unter Zigeunern, Nordafrikanern, Clochards hauste. Aber unter diesen Gestrandeten erfuhr er eine Menschlichkeit, die ihm den Weg zu einem neuen Verständnis des Lebens eröffnete.

 

Später, als er sich als Künstler einen Namen gemacht hatte, vergass er nie seine Elendsjahre. Clochards in erbärmlichen Verhältnissen, in demolierten Zimmern, an Tischen mit ausgetrunkenen Weinflaschen sitzend, desillusioniert, alles im Detail exakt gemalt, blieben ein bevorzugtes Thema von ihm. Auf diese Weise bekundete er seine Verbundenheit mit den Armen und Benachteiligten und hatte damit – paradoxerweise – Erfolg.

 

Seine Erfahrungen prägten seinen Stil. Er malte in realistischer Weise und liess kaum etwas anderes daneben gelten. Es war für ihn ausgeschlossen, die Welt, die er angetroffen hatte, anders wiederzugeben als in einer krassen Art. Bei allem, was er gesehen und erlebt hatte, gab es für ihn keine Möglichkeit, sich einfach in die ästhetische Unverbindlichkeit zurückzuziehen. Wenn es sein musste, konnte er in künstlerischen Fragen sogar richtig rabiat werden. Rote und blaue Quadrate und Kreise riefen einen heiligen Zorn in ihm hervor. Was kann einer, der nichts zu essen hat, damit anfangen? Dabei muss man sich Jürg Kreienbühl als einen Menschen vorstellen, der sich seinen Freunden gegenüber jederzeit liebenswürdig, grosszügig und hilfsbereit verhielt.

 

Seine grosse Verehrung für den Maler Edouard Vuillard (1868-1940) macht vieles an seinem Werk verständlicher. Doch der Realismus ist heute kein hoch gehandelter Stil. Was aber bedeutete Realismus für Kreienbühl überhaupt? Bedenkt man neben dem Erlebnis mit der toten Ratte und den Erfahrungen in den Bidonvilles auch seine LSD- Versuche, so kann man seine realistische Malweise als Mittel und Methode verstehen, der Essenz, der tieferen Bedeutung auf die Spur zu kommen. Auf die nihilistische Phase seiner Jugend folgte so später eine Zeit, in der er einen Blick hinter die sichtbare Fassade der Erscheinungen warf und eine andere Einstellung zum Leben gewann.

 

Sein Leben lang beschäftigte sich Kreienbühl auch mit den Naturwissenschaften. Viele Jahre malte er in der 1889 erbauten Galérie de Zoologie im Jardin des Plantes (Muséum national d’Histoire naturelle) in Paris, die 1965 wegen Baufälligkeit für die Öf­ fentlichkeit geschlossen werden musste und 1994 in eine etwas geschniegelte Event- Ausstellungshalle zum Thema Evolution umgewandelt wurde. Er besass einen Schlüssel und konnte sich frei darin bewegen. Die Wissenschafter des Museums gehörten zu seinen engsten Freunden.

 

An diesem historischen Prachtbau interessierte ihn der desolate Zustand. Das Gebäude zerfiel zusehends, die ausgestopften Tiere verkamen. Es war ein Ort des Abbruchs. Die Atmosphäre inspirierte Kreienbühl. Wo er hinkam, traf er eine Welt in Auflösung an, eine Welt des Verschwindens, zum Beispiel in der lange zuvor aufgegebenen Fabrik in Vendeuvre-sur-Barse, in der einmal Heiligenfiguren aus Gips hergestellt worden waren, oder in der Warteck-Brauerei in Basel, wo ihn die Braukessel aus Messing im Sudhaus faszinierten, bevor wenig später die Produktion eingestellt wurde.

 

Jede Lebenslage, in die er sich gestellt sah, erwies sich als Niedergang. Er malte Endstationen und wurde zum Chronisten der Endzeit. Es war wie ein vom Schicksal verfügter Auftrag. Bis zuletzt blieben seine dominierenden Themen – neben Basler Motiven – die Banlieue, die anonymen Vorstadtsiedlungen, die Wohntürme von Nanterre, die mit Krimskrams vollgestopften Interieurs, die Hinterhöfe, die Mülldeponien, die Welt der sozial Deklassierten – die Welt, die an einem äussersten Punkt angekommen ist. Aber in dieser Welt erkannte er auch einen Überlebenswillen und eine versteckte Schönheit, die das Ergebnis einer tiefen menschlichen Verbundenheit ist, wenn erst einmal der Weg dahin durch die tiefsten Tiefen des Lebens geführt hat.

 

Auf einem Bild, das Kreienbühl vor einigen Jahren gemalt hat, ist er selbst zu sehen, auf dem Bettrand sitzend, mit einem erschütternden Blick in die Leere und Einsamkeit. Im Nachhinein erkennen wir, in welchem Mass das Bild als Aussage des Künstlers über sich selbst zu verstehen ist. In einem Heim in Cormeilles-en-Parisis ausserhalb von Paris ist Kreienbühl, der die Schweizer und die französische Staatsbürgerschaft besass, am go. Oktober 2007 gestorben, müde und überwältigt von den Strudeln des Lebens. Aber was für ein dichtes und randvolles Leben ist es gewesen.

 

Der Text erschien ursprünglich in der Basler Zeitung vom 3. November 2007

115 Blick »Was, du bist hetero? Voll krass«

 

Passähnliche Papiere gab es bereits vor tausend Jahren, wobei es eher Reisedokumente für Privilegierte waren oder Gesundheitspässe wie die 1374 in Venedig eingeführten Pestbriefe. Legte ein Schiff im Hafen an, musste der Kapitän ein solches Attest vorweisen. Vorsorglich wurde das Schriftstück unter schwefelhaltigem Rauch «sterilisiert». Fehlte das Dokument, musste die ganze Besatzung in Quarantäne, bevor sie ihre Fracht entladen durfte. Diese Pestbriefe waren in gewissem Sinne die Vorläufer des Reisepasses.

Heutige Personalausweise sind Identitätsnachweise. Sie beinhalten überprüfbare biologische Merkmale. Nicht so in den USA. Seit dem 11. April kann man sich einen Reisepass mit einem X für das dritte Geschlecht ausstellen lassen. Kaum jemand macht davon Gebrauch.

In Deutschland sieht das geplante Selbstbestimmungsgesetz vor, dass das Geschlecht sogar jedes Jahr gewechselt werden darf. Wieso nicht auch das Alter? Es wird kompliziert. Nicht nur bei Vermisstmeldungen und Fahndungsaufrufen.

Es gab schon immer Menschen, die seit Geburt das Gefühl hatten, im falschen Körper zu sein. Das war und ist für die meisten eine sehr grosse seelische Qual, die leider schon manchen in den Suizid getrieben hat.

Neu ist jedoch die plötzliche Zunahme jener, die sich meist in der Pubertät als non-binär definieren und dies mit Stolz vortragen, als hätten sie ge-rade im Alleingang die Olympischen Spiele gewonnen. Doch wen (ausser die Medien) interessiert eigentlich die sexuelle Ausrichtung der andern?

Gemäss einer Studie des US-amerikanischen «Trevor Project» identifizieren sich heute bereits 26 Prozent (Tendenz steigend) der befragten Jugendlichen zwischen 13 und 24 Jahren als non-binär. Weitere 20 Prozent sind noch unentschlossen. Ein britisches Spital nannte einen Zuwachs von 4500 Prozent innert sieben Jahren. An österreichischen Universitäten sollen gemäss Umfrage 75 Prozent queer sein.

Man wird den Verdacht nicht los, dass diese plötzliche massive Zunahme eine reine Modeerscheinung ist. Die mediale Aufmerksamkeit, die eine lautstarke Minderheit gezielt von Aktivisten einfordert, steht in keinem Verhältnis zur Anzahl der Betroffenen (1 bis 1,5 Prozent). Sie setzen das soziale Geschlecht (Gender) über das biologische Geschlecht.

Gefühle ändern, der Zeitgeist sowieso.

 

© Der eigene Tod ist nie das Ende der Zivilisation

»Die (russische) Invasion könnte den Beginn eines dritten Weltkriegs darstellen, den unsere Zivilisation nicht überlebt« orakelte Investorenlegende George Soros, 91, am diesjährigen World Economic Forum in Davos und warnte vor dem Missbrauch digitaler Technologien und der Bedrohung offener Gesellschaften, »unsere Zivilisation droht unterzugehen.« Diverse Medien titelten: »Soros warnt vor Weltuntergang».

Einige (nicht alle!) Hochbetagte glauben, dass die Welt demnächst untergeht. Aber sie sind es, die demnächst untergehen. Sie haben den Glauben an eine Zukunft verloren, weil sie selber keine mehr haben. Das ist durchaus verständlich, wenn man den fortschreitenden Abbau von Gehör, Sehkraft, Motorik und kognitiven Fähigkeiten realisiert und die meisten Illusionen bereits verloren hat. »Das Alter ist nichts für Schwächlinge«, scherzte Woody Allen. Alterspessimismus und -depressionen sind nicht ungewöhnlich, aber auch kein Trost für die Betroffenen. Im Angesicht des nahenden Lebensendes erleichtert man sich den ungewollten Abschied indem man schlechtredet, was man verlieren wird. Es fällt leichter eine Welt zu verlassen, die angeblich dem Untergang geweiht ist. Der Lebensabend verdunkelt manche Wahrnehmung.

Vor rund 71.000 Jahren soll der gewaltige Ausbruch des Vulkans Toba (Sumatra) die Population des Homo Sapiens auf wenige tausend Menschen reduziert haben. Trotz Kriegen, Seuchen und Hungersnöten bevölkerten gemäss UNO zu Beginn unserer Zeitrechnung bereits wieder 310 Millionen den Planeten. Pest, Pocken, Hitze- und Dürreperioden, häufige Missernten und jahrelange Kriege bremsten im Spätmittelalter das Bevölkerungswachstum erneut. Apokalyptiker und Propheten sahen das Ende der Zivilisation. Schliesslich führten Industrialisierung, medizinische Fortschritte und bessere Ernährung im 18. Jahrhundert zu einer regelrechten Bevölkerungsexplosion.

Das Gefahrenpotential ist heute massiv höher und globaler, aber die Zivilisation endet weder in Gibraltar noch an der amerikanisch-mexikanischen Grenze. Das Ende von etwas ist selten das Ende von allem, der Zeitgeist ein Chamäleon.

Nicht nur Hochbetagte verfallen manchmal dem von Soros geäusserten Pessimismus. Aus Primarschulen berichten Lehrerinnen und Lehrer, dass viele ihrer Schüler tatsächlich davon überzeugt sind, dass sie die »letzte Generation« sind, die letzte ihrer Art. Offenbar haben die von den Medien täglich zitierten »Weltuntergangsexperten« bei Teenagern mehr Schaden angerichtet als vermutet. Dass »Friday-for-future« mehrheitlich die eigene Klientel in Panik versetzt hat, ist nicht erstaunlich, können Jugendliche doch aufgrund der wenigen Lebensjahre, die sie bewusst erlebt haben, Gefahren der Gegenwart gar nicht richtig einschätzen.

Wer 1972 als Teenager eine Buchhandlung betrat, stockte der Atem. Auf allen Tischen türmte sich der Bestseller «Die Grenzen des Wachstums». Wann haben Sie zuletzt getankt? Wer damals 16 war, ist heute 66, und falls er ab 1981 das Hamburger Magazin «Der Spiegel» gelesen und aufbewahrt hat, findet er heute in seiner Sammlung 38 Cover-Stories, die mehr oder weniger das Ende der Welt voraussagen:  «Wer rettet die Erde?» (1989), «Vor uns die Sintflut» (1995), «Achtung, Weltuntergang» (2006), um nur einige zu nennen.

Alles, was man zum ersten Mal erlebt, prägt sich ein wie ein Brandzeichen, egal, ob es das Sterben eines geliebten Menschen ist, der erste Sex oder die erste Reise in einen bisher unbekannten Kulturkreis. Das gilt auch für die erste Schocknachricht. Erwachsene hingegen reagieren mit der Zeit wie die Dorfbewohner in der antiken Fabel »Der Hirtenjunge und der Wolf«. Für den angekündigten Affenvirus haben deshalb viele nur noch ein müdes Lächeln übrig.

Um sich ein Bild von der Zukunft zu machen, sind Puzzleteile aus Gegenwart und Historie nicht ausreichend. 1899 behauptete Charles H. Duell, der Leiter des US-Patentamtes, »Alles, was erfunden werden kann, wurde bereits erfunden«. Fliegende Autos waren Phantasieprodukte von Science-Fiction Autoren, aber zum Telefonieren suchten die Flügeltaxis immer noch die nächste Telefonzelle auf. Wer hätte gedacht, dass wir eines Tages per Videoschaltung mit den Verwandten in Australien telefonieren?  Werden wir einen Planeten B und zahlreiche weitere feste Himmelskörper bewohnen?

Wie auch immer: In etwa 5 bis 7 Milliarden Jahren geht die Welt trotzdem unter. Wir werden Temperaturen um die 1000 Grad haben. Aber bis dann werden wir gelebt haben.

114 Blick »Science-Fiction im Schuhgeschäft«

Es war ein merkwürdig futuristisch anmutendes Röntgengerät, das der Arzt Jacob Lowe 1920 an der Bostoner Schuhmesse vorstellte. Er nannte es «Pedoskop». Mit diesem «Schuhdurchleuchtungsapparat» konnte die exakte Schuhgrösse ermittelt werden.

Bei Kindern war der jährliche Gang in den Schuhladen fortan so beliebt wie ein Ausflug an die Herbstmesse.

Man schob den Fuss in das Gerät und wackelte mit den Zehen wie die lustigen Skelette auf der Geisterbahn. Das Pedoskop war mit drei Sichtfenstern ausgestattet, sodass Mutter, Verkäuferin und Kind gleichzeitig und in Echtzeit die Passform des Schuhs überprüfen konnten. Sie setzten sich dabei der 20-fachen Strahlenbelastung heutiger Thorax-Aufnahmen aus.

Die Schweizer Schuhfirma Bally sicherte sich die nationale Allein-Vertretung und bewarb die «Pedoskop-Röntgen-Chaussierung» als Dienst am Kunden. Jeder «tüchtige und vorwärtsstrebende» Schuhladen sollte sich das Gerät, das eigentlich niemand brauchte, anschaffen. Den Müttern redete man ins Gewissen: Schlechtes Schuhwerk kann bei Heranwachsenden schlimme Schäden verursachen.

Die Zeit war günstig für solche Innovationen: Der Erste Weltkrieg war vorbei, die letzten Haushalte elektrifiziert, und man wähnte sich in einem neuen Jahrhundert der grenzenlosen Technisierung. Mit Beginn der Depression der 1930er-Jahre gebar die Armut ein weiteres Argument: Mit passgenauen Schuhen spart man Geld, weil diese länger halten.

Obwohl die Detroiter Gewerbeaufsicht 1948 in einer Studie nachwies, dass das Verkaufspersonal einer gesundheitsschädigenden Strahlung ausgesetzt ist, blieben die Geräte bis in die 1960er-Jahre in Betrieb. Stets fanden sich genügend «Experten», die alle Warnungen in den Wind schlugen.

Während Mutter und Kind vielleicht einmal im Jahr einer zweiminütigen Strahlung ausgesetzt waren, bediente das Verkaufspersonal die Geräte mehrmals pro Tag und zwar das ganze Jahr über. Der Werbeslogan «Ihre Füsse haben Sie lebenslänglich» galt leider nicht für alle. Eine Verkäuferin wurde derart verstrahlt, dass man ihr Gliedmassen amputieren musste. In der Schweiz wurde erst 1989 dem letzten Pedoskop der Stecker gezogen. Einundvierzig Jahre nach der Bostoner Studie.

Weltwoche. Die Frau im Rollstuhl, die den Teddybär erfand

Im Alter von eineinhalb Jahren erkrankte Margarete Steiff an Kinderlähmung. Doch mit ihrem ungebrochenen Optimismus schuf sie einen Weltkonzern.


Claude Cueni

Europa im März 1843. Astronomen beobachten am Himmel die ungewöhnlichste Kometenerscheinung der Geschichte. Den Schweif schätzen sie auf eine Länge von 300 Kilometern. Prediger erkennen darin ein göttliches Zeichen und künden (einmal mehr) das Ende der Welt an.

Doch es kam schlimmer. Genau zwei Jahre später sank das Thermometer auf minus 22 Grad. Auf den Feldern faulte die Saat, die Kartoffelernte blieb aus, die Getreidepreise schossen in die Höhe, Hungersnöte führten zu Aufständen und Millionen Toten. Die folgenden Jahre markierten die letzten grossen Hungersnöte der vorindustriellen Zeit. Grosse Teile der Bevölkerung verarmten, ernährten sich von Unkraut und Viehfutter.

Auch in der ehemaligen freien Reichsstadt Giengen im Osten Baden-Württembergs herrschte das Elend. Man schrieb das Jahr 1847, als Maria Steiff ihre dritte Tochter Margarete zur Welt brachte. Maria war bereits einmal verheiratet. Baumeister Johann Wurz, ihr erster Ehemann, war während der Arbeit tödlich verunglückt. Und auch ihre beiden Söhne starben.

Nach den damaligen Regeln der Zünfte musste die Witwe die Werkstatt abgeben. Nur durch eine weitere Heirat konnte sie diese Enteignung verhindern. In grösster Not heiratete Maria den ersten Gesellen ihres verstorbenen Mannes Friedrich Steiff. In der damaligen Zeit waren Eheschliessungen eher pragmatische Entscheidungen, private Joint Ventures. Man verbündete sich gemeinsam gegen die Widrigkeiten des Schicksals. Manchmal entstand im Laufe der Zeit Liebe, manchmal nicht.

Das Schicksal meinte es nicht gut mit Maria Steiff, es war hart und gnadenlos. Maria verlor die Freude am Leben, ihre fünf Kinder sagten später, sie sei oft schlecht gelaunt gewesen, man habe sie nie lachen sehen. Maria forderte viel von ihren Kindern, sie mussten arbeiten, fleissig sein und bei der Versorgung der Familie mithelfen. Ihre Tochter Margarete war dazu nicht imstande. Im Alter von eineinhalb Jahren erkrankte sie an Kinderlähmung und war fortan auf fremde Hilfe angewiesen, von frühmorgens bis spätabends.

Doktor mit Bärenfellmantel

Als die kleine Margarete den Grosseltern zur Pflege übergeben wird, blüht sie förmlich auf. Die Kinder der Nachbarschaft fahren sie in einem Leiterwagen durch die Gassen. Sie erfindet für sie Spiele, erzählt die Geschichten, die ihr die Grossmutter abends erzählt. Spielzeuge besitzen nur Kinder reicher Eltern. Dort, wo Margarete lebt, spielt man mit dem, was die Natur hergibt: Steine, Äste, Knöpfe und Fantasie.

Ihre Eltern geben die Hoffnung nicht auf, dass sie eines Tages laufen kann. Immer wieder bringen sie ihre Tochter zu neuen Ärzten. 1856 wird die Neunjährige von einem Dr. Werner in Ludwigsburg untersucht. Er leitet eine von ihm gegründete Nervenheilanstalt und lässt den Kindern viele Freiheiten. Er trägt einen Mantel mit einem Futter aus Bärenfell. Manchmal trägt er ihn verkehrt herum, dann sieht er aus wie ein Bär, und die Kinder dürfen auf seinem Rücken reiten.

Margarete lebt in einem Haushalt voller Bücher. Sie begeistert sich für Zoologie, lernt Englisch und entwickelt sich zu einem selbstbewussten und unternehmungslustigen Teenager, der es versteht, mit seiner eingeschränkten Mobilität umzugehen. Nach dem Ende der Schulzeit kehrt Margarete zu ihren leiblichen Eltern zurück.

Ihre Schwestern werden allesamt Dienstmädchen, sie arbeiten hart und ernten wenig Anerkennung. Nur eine Heirat kann sie erlösen. Bei ihrer Patentante Appolonia lernt Margarete das Nähen. Ihr Hunger nach neuem Wissen ist kaum zu stillen, ihr Leistungswille ungebrochen. Mit neunzehn näht sie die Aussteuer ihrer Schwestern. Sie selbst wird nie heiraten. Eine Ehefrau, die nicht kochen, putzen, waschen und auf die Kinder aufpassen kann, ist für junge Männer ohne Wert.

Wenn Gleichaltrige abends tanzen gehen, um Bekanntschaften zu machen, arbeitet Margarete in ihrer neueröffneten Damenschneiderei. Sie will Geld verdienen, für sich und die Familie, so viel Geld wie nur möglich, denn ohne Geld lebt man im Elend. 1868 kauft sie mit ihren beiden Schwestern eine Nähmaschine. Ein Traum geht in Erfüllung. Ihre neue Maschine schafft 300 Stiche in der Minute, eine Näherin 50. Jetzt können sie zu Hause preiswerte Kleider herstellen. Margarete hat ein ausgesprochenes Flair für Mode, sie selbst trägt jedoch nur noch Schwarz. Sie wird dies ihr Leben lang tun.

1873 gewinnt der Berliner Joseph Priesner an der Wiener Weltausstellung die Goldmedaille für seine revolutionäre Pelznähmaschine. Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts ist die Epoche der Beschleunigung und der bahnbrechenden Erfindungen wie Grammofon, Dynamit, Telefon, Glühbirne und Repetiergewehr. In New York wird Bartholdis Freiheitsstatue eingeweiht, die Goldgräber in Klondike telegrafieren nach Hause, es entstehen die ersten grossen Industriedynastien.

Margarete schneidert nun Kleider auf Vorrat, das ist neu in jener Zeit. Bisher wurde nur genäht, wenn eine Bestellung vorlag, «on demand». Das Geschäft läuft so gut, dass Margarete Näherinnen einstellen kann. Sie ist eine begnadete Networkerin, charismatisch und von ansteckendem Optimismus. Sie entwickelt sich zur erfolgreichen und allseits geachteten Unternehmerin. Nun hat sie endlich Geld und will die Welt sehen, sie besucht Verwandte in anderen Städten und immer wieder zoologische Gärten. Für die Kinder der Umgebung näht sie kleine Elefanten aus Filz und stopft diese mit Wolle aus. Sie liebt Kinder über alles. Eigene wird sie nie haben.

Ihr Geschäft nimmt immer grössere Formen an. In ihrem Produktekatalog finden sich nun auch Affen, Kamele und andere Tiere. Einige montiert sie auf Gestellen. Sie haben Räder wie ihr Rollstuhl und bewegen Arme und Beine, wie sie es nie vermochte. 1888 verkauft sie bereits mehrere tausend Filztiere. Die Firma platzt aus allen Nähten. Ihr Vater finanziert ihr eine Filz-Spielwaren-Fabrik. Im oberen Stock richtet er Margarete eine rollstuhlgängige Wohnung mit Zugangsrampe ein.

Der Katalog von 1892 zeigt neue Stoffe wie Samt und Wolle. Doch mittlerweile dominieren die Filztiere. Margarete verkauft bereits tausend Exemplare pro Woche. Ihre Schwester Pauline wird Witwe und tritt in die «Margarete Steiff Filzspielwarenfabrik, Giengen/Brenz» ein. Die Ausstellung an der Leipziger Spielwarenmesse 1894 bedeutet für die 47-jährige Gründerin den internationalen Durchbruch. Ihre Geschwister, Schwäger, Enkel und Nichten arbeiten nun allesamt für ihr rasch expandierendes Unternehmen.

Es ist ihr zeichnerisch begabter Neffe Richard Steiff, der die Aufgabe übernimmt, neue Tiere zu entwerfen, sein Bruder ist für die Qualitätssicherung verantwortlich, ein weiterer Bruder kauft die Stoffe ein. Sie sind die Ersten in Giengen, die sich ein Auto leisten können. Die Firma platzt erneut aus allen Nähten.

Wahrscheinlich inspiriert vom Eisenmagier Gustave Eiffel, der für den Pariser Malletier Louis Vuitton das Eisengerüst für das erste Ladengeschäft an der 4, rue Neuve des Capucines erstellt hat, designt Richard Steiff ein lichtdurchflutetes Gebäude aus Glas und Stahl, die dazumal modernste Fabrik Deutschlands. Margaretes Neffen bauen ihrer bewunderten Tante ein Motorrad mit Seitenwagen. Gemeinsam rasen sie über die staubigen Strassen. Margarete liebt den Geschwindigkeitsrausch. Sie kauft den Mädchen der Grossfamilie Fahrräder, obwohl radelnde Frauen damals verpönt sind.

Spielzeug für Roosevelts Tochter

Das Jahr 1907 geht als «Bärenjahr» in die Firmengeschichte ein, Margarete beschäftigt bereits über 2000 Mitarbeiterinnen und Arbeiter und verkauft jährlich rund 400 000 Plüschbären, die meisten in die USA. Das mag auch der Grund sein, wieso Amerika eine eigene Entstehungsgeschichte erzählt. Die geht so: Der Sekretär von US-Präsident «Teddy» Theodore Roosevelt entdeckt in einem Schaufenster einen Plüschbären unbekannten Ursprungs. Da sein Chef ein passionierter Bärenjäger ist, kauft er das Spielzeug für Roosevelts Tochter. Sie nennt ihn «Teddy», das ist der Kosename, den die engsten Freunde des Präsidenten benützten in Anspielung auf sein Faible für die Bärenjagd. Der 9. September wird seitdem in den USA als Teddy Bear Day gefeiert.

Welche Story ist wahr, welche nicht? Es ist nicht ungewöhnlich, dass zwei Menschen auf zwei verschiedenen Kontinenten unabhängig voneinander zur gleichen Zeit etwa die gleiche Idee haben. Der Zeitgeist gebiert ähnliche Ideen. Entscheidend sind stets Wille und Ausdauer.

Als Margarete Steiff 1909 62-jährig an einer Lungenentzündung stirbt, ergeht es ihr wie vielen Berühmtheiten nach dem Tod. Sie wird mehr geehrt als zu Lebzeiten, als sei der Tod eine ganz besondere Leistung. Ausgerechnet einer der ersten neuen Intercity-Express-Züge (ICE 4), die mit einer Geschwindigkeit von bis zu 250 Kilometern von Hamburg-Altona über Basel, Zürich nach Chur fahren, wird 2017 nach der schwarz gekleideten Frau im Rollstuhl benannt.

Die Geschichte von Margarete Steiff ist nicht nur die Geschichte einer aussergewöhnlichen Frau, sondern auch ein Mutmacher für all jene, die mit einem Handicap ins Leben starten: Never give up.

© NZZ vom 14. Juni 22 / Kindsmissbrauch in der katholischen Kirche

Systematisches Leitungsversagen: Im Bistum Münster gabes flächendeckend Missbrauch und Vertuschung

Auch in der katholischen Diözese Münster wurden Sexualstraftaten durch Kleriker lange Zeit verharmlost. Eine Studie belastet vor allem die ehemaligen Bischöfe Joseph Höffner und Reinhard Lettmann.

Nach den Bistümern Köln und München-Freising liegt nun auch für die katholische Diözese Münster eine umfangreiche Studie zum sexuellen Missbrauch durch Kleriker vor. Anders als bei den beiden anderen Bistümernhaben jedoch keine Juristen, sondern Soziologen und Historiker den Zeitraum von 1945 bis 2020 untersucht. Die Ergebnisse freilich sind ähnlich: Vor allem in den 1950er und 1960er Jahren gab es «nahezu flächendeckendenMissbrauch» und systematisches «Leitungsversagen». Lange brachten die verantwortlichen Generalvikare, Weihbischöfe und Bischöfe den «Priestertätern» mehr Verständnis entgegen als den Opfern.

Auch Serientäter wurden nicht bestraft

Insgesamt ermittelte die an diesem Montag vorgestellte Studie der Westfälischen Wilhelms-Universität 196 beschuldigte Kleriker, darunter 183 Priester, und etwa 610 Betroffene im minderjährigen Alter, die in geschätzten 5700 Fällen sexuell missbraucht wurden. Mindestens 43-Mal wurde starke körperliche Gewalt angewandt. In rund drei Vierteln der Fälle waren Täter wie Opfer männlichen Geschlechts.

Neben Einzel- gab es Serientäter wie etwa den 1964 zum Priester geweihten, bereits 1968 auf Bewährung verurteilten pädophil veranlagten Heinz Pottbäcker. Er wurde dennoch weiterhin in der Seelsorge eingesetzt, wo er sich abermals an Jungen verging. Ihm wurden laut dem wissenschaftlichen Mitarbeiter Bernhard Frings «immer wieder Kinder zugeführt». Damals war Joseph Höffner Bischof von Münster, der spätere Kölner Kardinal und langjährige Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz.

Auch andere verurteilte Täter wurden an neue Dienstorte versetzt und nicht dauerhaft vom Dienst suspendiert. Ein Priester, der sich in mindestens 20 Fällen des sexuellen Missbrauchs schuldig gemacht hatte, durfte in Argentinien weiter mit Kindern und Jugendlichen arbeiten. Höffner hat als Teilnehmer am Zweiten Vatikanischen Konzil in Rom einem bischöflichen Mitbruder 1962 einen Priester zur Weiterverwendung empfohlen, um dessen Missbrauchstaten er wusste – berichtete nun der Historiker David Rüschenschmidt. Damals und auch in den Folgejahren galt gegenüber der Öffentlichkeit, aber auch im internen Umgang oft das Motto, man wolle lieber keine «schmutzige Wäsche waschen». Zuweilen wurden die Verbrechen «zur gottgefälligen Tat umgedeutet», so die Soziologin Natalie Powroznik.

Eine hinkende Trennung

Keineswegs der Wahrheit entspricht somit die Aussage des von 1980 bis 2008 das Bistum leitenden Bischofs Reinhard Lettmann, es habe sich nur um Einzelfälle gehandelt. Studienleiter Thomas Grossbölting legt Wert auf die Feststellung, dass 95 Prozent der Priester keine Beschuldigten seien und man die Frage, ob die katholische Kirche ein «Hotspot des Missbrauchs» sei, nicht beantworten könne. Dazu fehle es an vergleichbaren Daten. Wohl aber gebe esein «spezifisch katholisches Gepräge des Verbrechens». Die «Pastoralmacht des Priesters» habe die unheilvolle Mischung aus Scham, Schweigen undBigotterie erst ermöglicht. Rund 90 Prozent der Beschuldigten erfuhren keine strafrechtlichen Konsequenzen. Grossbölting sieht darin einen Beleg für die «hinkende Trennung von Staat und Kirche».

Die Studie, vom Bistum Münster veranlasst und mit etwa 1,3 Millionen Euro finanziert, betrachtet nur das Hellfeld, also die aktenkundig gewordenen Fälle sexuellen Missbrauchs. Ausserdem führten die Wissenschafter Interviews mit über 60 Betroffenen. Das Bistum kooperierte und stellte alle Materialien zur Verfügung.

Generell, berichten die Autoren der Studie, hätten sich die «desaströsen Zustände» seit den 2010er Jahren gebessert. Heute betrachteten esGeneralvikare nicht mehr wie in der unmittelbaren Nachkriegszeit als ihre Aufgabe, die Strafverfolgung zu vereiteln. Doch auch der seit 2009 regierende Bischof Felix Genn habe zu Beginn seiner Amtszeit nicht immer mit der kirchenrechtlich gebotenen Strenge gehandelt. Als Seelsorger, die zugleich Vorgesetzte sind, blieben Bischöfe in einem heiklen Spagat.

113 Blick »Blaues Blut und weisse Engel«

Wenn du dir dann das Gesicht einreibst mit der obigen Mischung, wird es glänzend, dass selbst heller dein Spiegel nicht strahlt», dichtete der römische Schriftsteller Publius Ovidius Naso (43 v. Chr.–17 n. Chr.) vor zweitausend Jahren und gab jungen Frauen Ratschläge, wie sie ihre Haut aufhellen können.

Helle Haut war bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts erstrebenswert, denn vornehme Blässe signalisierte, dass man nicht draussen auf den Feldern der sengenden Sonne ausgesetzt war. Da die Blutadern hellhäutiger Menschen oft bläulich wirken, assoziierte man bereits im Mittelalter «blaues Blut» mit adliger Abstammung.

Wer dem damaligen Schönheitsideal genügen wollte, musste ein bisschen leiden. Man trug ein hochgiftiges Essig-Bleiweiss-Gemisch auf die Gesichtshaut auf. Die englische Königin Elisabeth I. (1533– 1603) benutzte dieses antike Make-up, um ihre Pockennarben zu bedecken, und erhielt darauf den Beinamen «Elfenbein-Regentin». Sie war not amused und löste das Problem, wie wir das heute aus der Politik kennen: Sie liess alle Spiegel im Palast abhängen.

Mit der beginnenden Industrialisierung wurde die Luft in den Städten von giftigem Schwefeldioxid und Rauchgas belastet. Man verbrannte enorme Mengen Kohle. An gewissen Tagen konnte man kaum noch atmen. Die Gutsituierten flohen aufs Land, an die frische Luft, und Sonnenbräune wurde nun mit Gesundheit und Reichtum assoziiert.

Heute bedeutet im Westen gebräunte Haut, dass man sich Ferien in tropischen Ländern leisten kann oder wenigstens ein Abo im Solarium. Während man wie «panierte Schnitzel» (so der Basler Kolumnist-minu) an Asiens Stränden liegt, gilt dort weiterhin das Schönheitsideal der alten Shang-Dynastie (1600–1046 v. Chr.). In fast allen Sonnencremen finden sich Substanzen zur Aufhellung der Haut. Nachgeholfen wird mit Pillen und Injektionen. «White Superfresh» behauptet, dass man sich «nicht frisch fühlt, wenn man nicht weiss aussieht». Oceanlab verspricht in TV-Spots, dass es ein Traum sei, «ein weisser Engel zu sein», in indischen Heiratsanzeigen werden gezielt Frauen mit heller Haut gesucht.

Porzellanweiss oder sonnengebräunt? Attraktiver ist wahrscheinlich ein freundliches Lächeln, Empathie, eine Prise Humor und Selbstironie.


Claude Cueni ist Schriftsteller und lebt in Basel.  Im August erscheint sein Thriller «Dirty Talking» in der Edition Königstuhl.