154 Blick: »Merry Christmas, Woke Disney«

 

In diesem Jahr feiert der Walt-Disney-Konzern sein 100-Jahr-Jubiläum. Hat er Grund zum Feiern? Der Aktienkurs fiel in den letzten zwei Jahren um über 39 Prozent. Zu allem Übel entzog Florida dem Freizeitpark Disney World auch noch die Sonderrechte und nächstes Jahr läuft der Patentschutz für den Ur-Mickey-Mouse (ohne Hut und Handschuhe) aus dem Jahre 1928 aus. Die Aktionäre sind not amused.

 

Es war gut gemeint, als der Konzern die süsse Minnie zum Herrenschneider schickte und Schneewittchen ins Solarium. Bei den sieben Zwergen diskutiert man wahrscheinlich noch eine Hormontherapie, auf jeden Fall könnten in Zukunft zwei schwul, einer trans und einer behindert sein. Und alle schön bunt. Das wären dann mindestens 48 Zwerge.

 

Es bleibt das Geheimnis der Marketingabteilung, wieso sie nicht einfach neue Storys mit woken Charakteren kreiert. Das hätte niemanden gestört. War also der missionarische Eifer stärker als die Marktforschung? Praktisch alle Online-Umfragen zeigen, dass sowohl Mickey Mouse als auch das Publikum Indoktrination ablehnen. Man bezahlt für Unterhaltung, nicht für Belehrung.

 

Man muss schon besessen sein, um derart am Markt vorbeizuproduzieren. Eine alte Regel lautet nämlich: Wer die Masse erreichen will, sollte sich nicht politisch äussern. Jeder Facebook-Nutzer kann ein Lied davon singen. Auch Anheuser-Busch, Adidas und viele andere.

 

Nun musste Disney ausgerechnet im Jubiläumsjahr der US-Börsenaufsichtsbehörde SEC melden, dass sie Fehler in der politischen Ausrichtung gemacht hat: «Wir sind Risiken im Zusammenhang mit einer Fehlanpassung an den Geschmack und die Vorlieben der Öffentlichkeit und der Verbraucher in den Bereichen Unterhaltung, Reisen und Konsumgüter ausgesetzt, die sich auf die Nachfrage nach unseren Unterhaltungsangeboten und -produkten sowie auf die Rentabilität aller unserer Unternehmen auswirken.»

 

Walt Disney diskutiert diese Woche einen Zusammenschluss mit Reliance Industries, dem grössten Privatunternehmen Indiens. Doch mit Blackwashing dürfte Disney dort Probleme haben, denn über 65 Prozent der Asiatinnen benutzen Hautaufheller. Wird dann die Doku über Nelson Mandela mit einem weissen Schauspieler besetzt?

 

Merry Christmas, «Woke Disney».

153 Blick »Selenski allein zu Hause«

Am 24. Februar 2022 begann der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine. Der damalige Bundesrat Ueli Maurer sprach von einem «Stellvertreterkrieg». Dafür wurde er kritisiert. Im September 2024 sagte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg vor einem EU-Ausschuss, dass die Nato-Erweiterung Kriegsgrund war: «Präsident Putin erklärte im Herbst 2021, die Nato solle versprechen, sich nicht mehr zu erweitern. Es war seine Bedingung, um nicht in die Ukraine einzumarschieren. Natürlich haben wir das nicht unterschrieben.» Die fehlende Unterschrift kostete bisher über eine halbe Million Tote und Verletzte und den westlichen Steuerzahler wohl über eine Viertelbillion.

Der israelische Ex-Premier Naftali Bennett versuchte gleich nach Kriegsbeginn zu vermitteln, «der Frieden war zum Greifen nah», aber USA und Nato hätten das verhindert, weil sie zuerst Russland militärisch schwächen wollten.

Der Westen behauptet, Selenski verteidige die freie Welt, ausgerechnet er, der die Meinungsfreiheit mit Füssen tritt, Parteien verbietet und Oppositionelle inhaftiert. Jean-Claude Juncker, ehemaliger EU-Kommissionspräsident, sagt der «Augsburger Allgemeinen»: «Wer mit der Ukraine zu tun gehabt hat, der weiss, dass das ein Land ist, das auf allen Ebenen der Gesellschaft korrupt ist.» Der nigerianische Präsident Muhammadu Buhari verrät: Korrupte ukrainische Militärs verkaufen Nato- und US-Waffen auf eigene Rechnung an islamistische Terroristen von Boko Haram und IS.

Ein enger Berater von Selenski sagt dem Magazin «Time»: «Er macht sich etwas vor. Wir haben keine Optionen mehr. Wir werden nicht gewinnen. Aber versuchen Sie mal, ihm das zu sagen.» Ins gleiche Horn bläst Saluschni, Oberkommandierender der Streitkräfte. Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko wirft Selenski vor, die Öffentlichkeit anzulügen, «aber am Ende dieses Kriegs wird jeder Politiker für seine Erfolge oder Misserfolge zahlen».

Wer Kriege nicht gewinnen kann, sollte sie möglichst schnell beenden und keine Landsleute mehr in den Tod schicken. Olexij Arestowytsch, ehemaliger Berater von Selenski, will verhandeln und fordert Neuwahlen. Vielleicht braucht der ruppige Showbiz-Präsident demnächst doch eine Mitfahrgelegenheit.

152 Blick: »Als Dagobert seine Neffen grüsste«

Die gestern (27.11.23) in Bellinzona verurteilten Basler Bombenleger nannte der Richter «skrupellos und habgierig». Ihr Idol war »Dagobert«, aber sie waren schlicht zu dumm, um »Dagobert« zu sein. Mein Text auf:


Kaufhaus-Erpresser Arno Funke war Idol der Basler Sprengstoff-Täter

Die jungen Basler Sprengstoff-Täter, die vom Bundesstrafgericht in Bellinzona TI zu fünf und sechs Jahren Haft verurteilt wurden, hatten ein Idol: den deutschen Kaufhaus-Erpresser Arno Funke alias Dagobert. Er wurde ein Medienstar.


Er träumte davon, Picasso zu werden, und wurde Dagobert, der Kaufhauserpresser. Zuvor hatte Arno Funke (73) eine Ausbildung als Fotograf begonnen. Auch in den 1970ern träumten viele Jugendliche davon, Künstler zu werden, irgendetwas Kreatives, bloss kein Achtstundenjob, man wollte ein bisschen «Gipsy» sein – das war die Zeit, in der man «Zigeuner» noch mit «Lebenskünstler» assoziierte.

Nach dem Abbruch der Fotografenlehre schaffte Arno Funke einen Lehrabschluss als Schildermaler und versuchte sich weiterhin als Kunstmaler. Ohne Erfolg. Ab 1980 arbeitete er als Kunstlackierer in einer Autowerkstatt. Den Achtstundentag empfand der 68-er als Folter, und so erpresste er 1988 das Berliner Kaufhaus des Westens. Um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen, deponierte er eine Bombe, die zur Nachtzeit detonieren sollte. Sie tat es nicht, die Geldübergabe scheiterte.

Eine halbe Million erpresst – und pleite

Also legte Arno Funke erneut eine Bombe. Diesmal detonierte sie und verursachte nicht nur einen Schaden von einer Viertelmillion Deutschen Mark, sondern ebnete auch den Weg für eine erfolgreiche Übergabe von 500’000 DM Lösegeld. Bereits nach vier Jahren war Funke wieder pleite. Arbeiten kam nach wie vor nicht infrage, also versuchte er es erneut mit einer Kaufhauserpressung. Diesmal forderte er 1,4 Millionen DM. Mit der Polizei kommunizierte er über Zeitungsannoncen mit dem Code «Onkel Dagobert grüsst seine Neffen».

 

Etliche Straftäter versuchen, mit Humor Medien und Öffentlichkeit für sich zu gewinnen: Bonnie (1910–1934) und Clyde (1909–1934) bedankten sich beim Autobauer Henry Ford für den neuen Achtzylinder, der jedes Polizeiauto abhängt; der Schweizer Ausbrecherkönig Walter Stürm (1942–1999) hinterliess die Notiz «Bin Ostereier suchen gegangen». Dagobert war beste Unterhaltung.

So aufwendig war kein anderer Erpressungsfall

Das änderte sich auch nicht, als Funke in einem Warenhaus in Hannover (D) eine weitere Bombe legte und diese während der Öffnungszeit im Lift detonierte. Dass dabei nicht Menschen in Fetzen gerissen wurden, war nicht sein Verdienst, sondern dem Zufall geschuldet. Einige Journalisten stilisierten Dagobert zu Robin Hood, obwohl Arno Funke Tote in Kauf nahm, um sich, und niemand anderes, zu bereichern.

Im Frühjahr 1994 endete der aufwendigste Erpressungsfall der deutschen Kriminalgeschichte. Dagobert wurde wieder das, was er nie sein wollte: ein Verlierer, ein Nobody. Neun Jahre Haft kassierte er vom Berliner Landgericht in zweiter Instanz.

Gast in Talkshows und im «Dschungelcamp»

Als verurteilter Krimineller betrat Arno Funke 1996 seine Zelle in der Justizvollzugsanstalt Plötzensee, als Medienstar Dagobert verliess er sie bereits nach sechs Jahren wieder. Wegen guter Führung. Während der Haft hatte er Karikaturen für die Satirezeitschrift «Eulenspiegel» gezeichnet, darunter auch das antisemitische Cover zur Titelstory über den jüdischen Politiker Michel Friedman. Er entwarf auch Wahlplakate für die Partei «Die Linke».

Funke wurde gefeiert, schrieb seine Autobiografie, nahm an Literaturfestivals teil, trat in Talkshows und Filmen auf – und 2013 im «Dschungelcamp».

 

Heute stellt er seine Karikaturen in Galerien aus und hält Vorträge. Für ihn hat sich Verbrechen gelohnt. Anders als für die beiden jungen Basler Sprengstoff-Täter, die ihn zum Vorbild nahmen und nun vom Bundesstrafgericht in Bellinzona TI zu mehreren Jahren Haft verurteilt wurden.


Erstmals erschienen im Blick vom 27.11.23


 

151 Blick »Gilt Diversität auch bei Meinungen«?

«Ich missbillige, was Sie sagen, aber ich würde bis zum Tod Ihr Recht verteidigen, es sagen zu dürfen.» Der Satz stammt nicht von Voltaire, sondern von der englischen Schriftstellerin Evelyn Hall (1868–1956), die in ihrem Buch «The Life of Voltaire» (Das Leben von Voltaire) den Satz niederschrieb. Sie hat dabei nicht Voltaire zitiert, sondern seine Denkweise wiedergegeben.

George Orwell (1903–1950) formulierte es später so: «Meinungsfreiheit bedeutet, Dinge zu sagen, die niemand hören will.» Das gilt auch für Unanständiges, das ist der Preis für Meinungsfreiheit, das muss man aushalten. Für Strafbares sind die Gerichte zuständig und nicht der Mob mit der grössten medialen Unterstützung.

Jeder Wimpernaufschlag wird mittlerweile politisch gedeutet, die Welt, ein einziges Fettnäpfchen. Man lebt im permanenten Duell-Modus. Noch bevor der politische Gegner den Mund aufmacht, zieht man blank. Man ist entweder Pro oder Kontra, jeder verharrt in seiner Trutzburg, man verteidigt Liebgewonnenes wie die Konservativen von einst.

Vielen fällt schwer zu akzeptieren, dass Diversität auch bei Meinungen gilt. Die Kita-Abteilung der SP (18 % Wähleranteil) glaubt, dass die SVP (27 %) keine Daseinsberechtigung hat. Sie schliesst ihr Positionspapier vom 24. September 2023 mit den Worten: «Die Schweiz hat keinen Platz für die SVP. Die SVP muss weg.» Und dann sind FDP und Mitte fällig? Das ist die Denkweise von Staaten wie China, Kuba, Nordkorea, Eritrea und anderen Diktaturen. Was für ein unreifes Demokratieverständnis! Sowohl SP als auch SVP sind für eine funktionierende Demokratie wichtig, weil beide einen Grossteil der Stimmberechtigten vertreten.

Eine Studie über die Polarisierung in Europa kommt zum Schluss, dass Menschen, die «links, urban und gebildet» sind, am meisten Mühe haben, andere Meinungen zu akzeptieren. Das ist nicht neu. Neu ist, dass es dazu eine Studie gibt.

Wer Diversität ernst nimmt, ist nach allen Richtungen offen. Unabhängig von Hautfarbe, sexueller Orientierung und politischer Gesinnung. Wer nur mit seinesgleichen verkehrt, hört nur, was er schon weiss. Man wünscht sich mehr Gelassenheit und Humor. Ein Demokrat, der eine andere Meinung hat, ist kein Feind.

NZZ Sehr lesenswert

Die Hamas mordet und schändet wahllos Kinder und Frauen – und das linke Milieu applaudiert. Was läuft hier gerade falsch?
Der Gazakrieg hat eine Orgie des Antisemitismus entfesselt, der die besten Traditionen der Sozialdemokratie verrät: Aufklärung, Liberalität und universelle Werte.


Autor: Josef Joffe. Distinguished Fellow in Stanford, lehrt internationale Politik und Geistesgeschichte. Als Journalist bearbeitete er den Nahen Osten.


 

Menschen demonstrieren Mitte November in Belgrad aus Solidarität mit den Palästinensern in Gaza. Marko Djurica / Reuters
August Bebel, Mitbegründer der SPD, ist berühmt für den Spruch «Antisemitismus ist der Sozialismus der dummen Kerls», doch gehört das Copyright dem österreichischen Genossen Ferdinand Kronawetter. Bebel ermahnte die Partei 1893, den «widernatürlichen» Antisemitismus zu ächten. Der Feind sei nicht der «jüdische Kapitalist», sondern die «Kapitalistenklasse».

Es gab Ermahnungsbedarf. Judenfeindschaft war wie heute kein völkisches Monopol. Für Karl Marx war das Unheil der Jude, der dem «Eigennutz» und «Schacher» gehorche; sein «weltlicher Gott ist das Geld». Folglich sei die «Emanzipation vom Judentum» das Gebot der Stunde. Bei Stalin eskalierte das Abstraktum zur Praxis. Er liess reihenweise jüdische Mitstreiter wie Trotzki liquidieren. Juden waren im Sowjetsprech «wurzellose Kosmopoliten», Volksverräter. Dennoch wurde Stalin von linken Literaten wie Sartre und G. B. Shaw beklatscht. Heute spricht die Intelligenzia die Hamas heilig. Sie plappert nach, was die Hamas will: Weg mit Israel, doziert das Politbüro-Mitglied Osama Hamdan am 11. Oktober im libanesischen Fernsehen; nur so «können alle anderen Probleme gelöst werden».

Die neue Linke hantiert mit Dekonstruktivismus und Neologismen. Vergessen sind die altlinken Parolen von «Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit», weggedrückt wird die blutrünstige Tyrannei der Hamas. Ein zweites Novum: Seinerzeit war die demokratische Linke eine Bewegung von unten. Heute ist «links» alias «woke» ein Projekt der Elite.

Beheimatet ist es nicht in den Slums, sondern in den schicken Stadtteilen von Berlin bis Boston. Der typische Protagonist ist gebildet und gut alimentiert. Er wird vom Staat getragen. Sein Habitat ist die Universität, die Schule, der städtische Kulturbetrieb, der staatsnahe Rundfunk. Die Ironie: Diese neue Linke kämpft gegen Privilegien, doch könnte sie selber nicht privilegierter sein. Ihr Einkommen ist so gesichert wie ihre Kulturhoheit.

Heros der neuen Linken
Die demokratische Linke wurzelte in der Aufklärung (selber denken), im Liberalismus (das Individuum ist König), in «unveräusserlichen Rechten», die niemand antasten durfte. Im Zentrum stand Gleichheit in Freiheit. Ihr herausragender Theoretiker war der Sozialdemokrat Eduard Bernstein (1850–1932). Dessen Vorbild war nicht Marx, sondern Kant, Philosoph des Liberalismus. Revolutionäre Gewalt war ihm ein Greuel, sein Leitstern der Reformismus. Die Demokratie war zugleich «Mittel und Zweck». Was wir ironisch oder abschätzig «woke» nennen, hat mit der klassischen Reform-Linken so viel zu tun wie ein Knüppel mit einem Taktstock.

Der Heros der neuen Linken ist die Hamas, die 2006 in einer freien Wahl die Macht in Gaza eroberte, 2007 die Fatah-Konkurrenz vertrieb und Dutzende abschlachtete. Es war das Ende aller Träume, die 1993 nach dem Arafat-Rabin-Handschlag im Weissen Haus aufblühten. Ein palästinensischer Protostaat sollte Gaza werden, erst recht nach 2005, als die letzten Israeli abzogen. Tatsächlich entstand ein religiös-totalitäres Monstrum, dem die illiberale Linke huldigt. Es folgten Raketenattacken und israelische Gegenschläge. Das probate Gerede von der «Spirale der Gewalt» ignoriert die Crux. Am 7. Oktober trat die Hamas keinen Befreiungskrieg los, sondern eine sadistische Mordorgie. Das Ziel war nicht «Palästina», der Antrieb extremer Zynismus.

Demonstranten fordern am 18. Oktober unter dem Slogan «Nicht in meinem Namen» vor dem deutschen Aussenministerium in Berlin eine friedliche Lösung des Nahost-Konflikts. Maja Hitij / Getty
Erstens sollten die Massaker massive Vergeltung provozieren, um den Westen und die Araber gegen den Judenstaat aufzubringen. Diese Rechnung ging rasch auf.

Zweitens sollte die Mordlust den «katalytischen Krieg» auslösen, der Hizbullah und Iran in ein Mehrfronten-Gemetzel ziehen, zumindest die nahöstlichen Friedensschlüsse zerfetzen. Prinz Turki, einst saudiarabischer Geheimdienstchef, verurteilte deshalb «kategorisch den gezielten Mord an Zivilisten durch die Hamas». Diese wollte Riads Versuch torpedieren, eine friedliche Lösung für das Unglück der Palästinenser zu finden.

Drittens hat die Hamas das eigene Volk als Geisel genommen. Sie hat ihre Befehlszentralen und Waffen unter Hospitälern und Wohnblocks versteckt, was die Genfer Konventionen verbieten. Was soll’s? Im Krieg der Bilder sind die eigenen Leichen noch mehr wert als die des Feindes.

Die Unmoral von der Geschicht? Wir sind ja nicht antisemitisch, beteuern die Hamas-Apologeten, nur antizionistisch. Doch sind die Zielscheiben Synagogen, Schulen und Juden, die als solche zu erkennen sind.

Gefährliche Doppelmoral
Wieso ist die Hamas mit ihrem Todeskult zum Darling der woken Avantgarde geworden? Diese zeigt keine Sympathie für Kurden, Uiguren, Tibeter. Auch nicht für die Polisario, die seit Jahrzehnten in der Westsahara einen Staat gegen Marokko erkämpfen will. 100 000 christliche Armenier flohen im September vor den muslimischen Aserbaidschanern aus Berg-Karabach. Kein Progressiver vergoss eine Träne. Keiner echauffiert sich über die 1,7 Millionen Afghanen, die Pakistan jetzt deportieren will.

Woher die Doppelmoral? Dazu müssen wir tiefer in die absonderliche Ideologie der neuen Linken eindringen. Die alte Linke schwenkte nicht die Regenbogenfahne, sondern die Flagge der Aufklärung. Auf ihr prangten Säkularismus («kein Gottesstaat!»), Internationalismus («kein Chauvinismus!») und universelle Menschenrechte, unabhängig von Herkunft und Glauben.

Die falschen Erben malen ein manichäisches Weltbild, das nur «Unterdrücker» und «Unterdrückte» kennt. Der globale Schinder ist der weisse Mann, seine Opfer sind alle People of Color (POC), als wenn Pigmentierung Schicksal sei. Das ist historischer Unsinn. Lange vor dem weissen Mann haben POC erobert: Ägypter, Babylonier, Assyrer, Perser. Im 13. Jahrhundert reichte das Mongolen-Imperium vom Pazifik bis zur Donau; unter Dschingis Khan sind geschätzt bis zu vierzig Millionen umgekommen. Kein weisser Imperialist hat diesen Rekord gebrochen. Nach Entkolonisierung und Zweiteilung des Subkontinents flohen zwölf Millionen Hindus nach Indien und Muslime nach Pakistan. Heute bringen Muslime hauptsächlich einander um – siehe den Irak-Iran-Krieg der 1980er Jahre, wo eine Million Soldaten und Zivilisten umkamen. Im postkolonialen Afrika tobt der Binnenkrieg Schwarz gegen Schwarz.

Auf der Anklagebank sitzen allein der Westen und Israel als sein jüdischer Erfüllungsgehilfe, das ein «kolonialer Siedlerstaat» sein soll, was ebenfalls Geschichtsklitterung ist. Diese Siedler sind nicht von Kaiser und König unter Flottenschutz entsandt worden. Sie sind die Nachfahren von Ausgestossenen. Die Hälfte ist arabischer Herkunft – so weiss wie die Nachbarn. Der renommierte britische Historiker Simon Sebag Montefiore zieht das dürre Fazit: «Die Israeli sind weder ‹Kolonialisten› noch ‹weisse› Europäer.» Man muss ihnen dennoch die Besiedlung des Westjordanlands ankreiden, ein Giftstachel im eigenen wie im Fleisch der Palästinenser. Den zu ziehen, machen die Brutalos auf beiden Seiten tagtäglich undenkbarer.

Selbstgemachte Misere
Historisch richtig ist, dass Palästinenser und Israeli beide Opfer sind. An die 600 000 Araber flohen im israelischen Unabhängigkeitskrieg 1948; an die 900 000 Juden verloren ihre arabische Heimat. Gemäss der neulinken Logik wären alle Amerikaner bis auf die Indigenen und die Ururenkel der schwarzen Sklaven «Siedlerkolonialisten».

Obszön ist das inflationäre «Genozid»-Motiv. Wenn aus den 200 000 Arabern, die im israelischen Verteidigungskrieg 1948 nach Gaza flohen, heute zwei Millionen geworden sind? Noch ein Klassiker ist der Kolonialismus als Ursünde des Westens. Der hat aber seit einem Menschenalter keine Kolonien mehr; dennoch trage er die Schuld am Ungemach der arabischen Welt. Weitaus bessere Sünder geben die muslimischen Osmanen her, die 400 Jahre über Nahost herrschten und eine grosse arabische Kultur plattmachten.

Seit ihrer Unabhängigkeit werden alle islamischen Länder autoritär regiert, die allermeisten schaffen den Anschluss an die Moderne nicht. Die Misere ist selbstgemacht, doch schiebt das postkoloniale Narrativ dem Westen die Täterschaft zu. Das ist so falsch wie schädlich. Wer wie die Entkolonisierten keine Verantwortung trägt, muss sich nicht reformieren. Denn das Böse kommt von aussen, und wir sind die hilflosen Opfer.

Im Westen ist inzwischen ein schiefer Begriff von Gerechtigkeit en vogue. Im westlichen Kanon bezieht sich diese auf den Einzelnen, und jeder ist gleich vor dem Gesetz, ob arm oder reich, braun oder weiss. Im linken Narrativ aber herrscht das Kollektiv, definiert durch Pigmentierung, Herkunft, Identität, vor allem Opferstatus. Die Moral ist selektiv. Da sind manche Gruppen «gleicher»: Schwarze, Muslime, LGBTQ+. . ., nicht aber die Opfer von gestern wie Juden oder, in Amerika, die Nachfahren der Chinesen, die beim Eisenbahnbau wie Sklaven gehalten wurden. Recht wird zugeteilt, nicht gewogen; es geht nicht um Wohl- oder Fehlverhalten, sondern favorisierte Minderheiten.

Mithin um einen neuen Ständestaat, den grotesken Rückschritt in eine Welt, wo König, Kirche und Kaste bestimmten – siehe zuletzt den Austro- und Mussolini-Faschismus. Das Kollektiv schlägt das Individuum, die Quote das freie Spiel der Talente und Ambitionen, das ausgerechnet die Aufsteiger der Leistungsgesellschaft als Privilegienherrschaft verleumden. Angesichts solcher dialektischer Zuckungen war Karl Marx ein kristallklarer Denker.

Auf dem Spiel stehen heute diesseits des Gaza-Gemetzels die verbürgten Freiheiten des Einzelnen, die der Westen mit Strömen von Blut erkämpft hat. Der wird nun in die Zange genommen von der illiberalen Linken und dem frömmelnden Todeskult der Hamas sowie ihrer Terrorgenossen in Nahost. Am Bühnenrand applaudieren schadenfroh die Xis und Putins.

«Untergang des Abendlandes», den Spengler vor hundert Jahren prophezeite? Die demokratische Welt hat im 20. Jahrhundert die schlimmsten Prüfungen bestanden – Bolschewismus, Faschismus, zwei Weltkriege. Dagegen verhalten sich Wokismus und Islamismus wie Corona zur Pest. Das Gegengift ist das kritische Denken, das Erbe der Aufklärung. Dem geht es allerdings nicht gut in Universität und Kulturbetrieb. Ein Vakzin gegen geistige Vernebelung muss noch erfunden werden.

Josef Joffe, Distinguished Fellow in Stanford, lehrt internationale Politik und Geistesgeschichte. Als Journalist bearbeitete er den Nahen Osten.

150 Blick »Der islamische Hitlergruss«

Die Hamas-Gründungscharta stammt aus dem Jahre 1988 und wird bei weitem nicht von allen Palästinensern geteilt. Schon gar nicht von jenen, die für die HMO, eine der grössten Spitalorganisationen Israels, arbeiten. Hier sind auf allen Hierarchiestufen etwa gleich viele Palästinenser/Araber und Juden angestellt. In den Wartesälen sitzen säkulare und orthodoxe Juden neben muslimischen Frauen. Wäre das im Gazastreifen möglich? 1,7 Millionen Muslime wohnen in Israel. Und wie viele Juden in der muslimischen Welt?

Im Artikel 7 der Hamas-Charta lesen wir: «Oh Muslim, oh Diener Allahs, hier ist ein Jude, der sich hinter mir versteckt. Komm und töte ihn!» Und in Artikel 13: «Die Palästina-Frage kann nur durch den Dschihad gelöst werden», das palästinensische Volk sei zu kostbar.

Wie kostbar die eigene Bevölkerung ist, zeigt sich daran, dass sich die Hamas unter Schulen, Kindergärten und Krankenhäusern verschanzt, und von dort aus ihre vom westlichen Steuerzahler mitfinanzierten Raketen abschiesst. Während Israel vor Angriffen die Bevölkerung warnt, hält die Hamas ihre Zivilisten mit Gewalt davon ab, dem bevorstehenden Bombardement zu entkommen. Sie opfert Palästinenser für die Propaganda.

Mousa Abu Marzouk gehört dank westlicher «Palästinahilfe» zu den Milliardären der Hamas-Elite: Er sagt, die kilometerlangen Tunnelsysteme seien für Blitzangriffe gebaut und nicht zum Schutz der Bevölkerung.

Nachdem die Hamas 1400 Menschen massakriert hat, ruft der Westen zu einem Waffenstillstand auf. Soll man Terroristen, die weiterhin den «totalen Krieg» und die «totale Auslöschung» propagieren, eine Pause zur Nachrüstung gewähren?

«Es sind Psychopathen», sagt Ahmad Mansour, 49, ein einstiges Mitglied der Hamas-nahen «Islamischen Bewegung». Als Teenager suchte er Orientierung und Halt. Später studierte er jedoch in Israel und lernte Toleranz schätzen. Heute ist der Experte für Deradikalisierung selbst in Deutschland auf Personenschutz angewiesen, in einem Land, in dem verschleierte Frauen hinter einem Mob junger Araber laufen und dabei den Zeigefinger in den Himmel strecken. Die Geste steht für einen einzigen Gott, eine einzige Wahrheit. Die Extremisten haben daraus den islamistischen Hitlergruss gemacht. Unsere Feigheit ist ihre Stärke.

149 Blick »Wir schaffen das. Doch nicht.«

Im Herbst 2015 öffnete Angela Merkel eigenmächtig die Grenzen. Geheimdienste warnten, dass nun alle Konflikte dieser Welt importiert würden. Es kamen Menschen in Not, aber es kamen auch junge Männer, die Westeuropa in Not brachten. «Asyl» wurde zum Passepartout für alle. Das Unheil, das Merkel über Europa brachte, fasste der Soziologe Ruud Koopmans in Zahlen: «In Deutschland wurden zwischen 2017 und 2020 rund 300 Menschen von Flüchtlingen ermordet, über 3000 Frauen fielen im gleichen Zeitraum einer Vergewaltigung durch einen oder mehrere Flüchtlinge zum Opfer.» Die NZZ kommentierte: »Bei Sexualdelikten sind die Täter aus islamischen Ländern massiv übervertreten«.

In meinem Thriller «Godless Sun» hatte ich aufgrund der Geheimdienstberichte die Folgen beschrieben. Wer 2015 aussprach, was heute Realität ist, erhielt Saures. Wer eine kontrollierte Zuwanderung befürwortete, galt als ausländerfeindlich. Der Roman wurde auf dem Höhepunkt von «Refugees Welcome» aus dem Handel genommen. Man hat wie üblich nicht das Problem beseitigt, sondern die Berichterstattung.

Acht Jahre später sagt SPD-Bundeskanzler Scholz plötzlich: «Wir müssen im grossen Stil abschieben.» Doch was Merkel angerichtet hat, ist irreversibel. Es sind schon zu viele hier, Integration erübrigt sich. Gemäss dem panafrikanischen Forschungsnetzwerk «Afrobarometer» sind über eine halbe Milliarde Afrikaner ausreisewillig. Die Mehrkosten für die auszubauende Infrastruktur bezahlt die arbeitende Bevölkerung.

In Berliner Strassen randalieren junge Muslime: «Macht Deutschland zu Gaza, Allahu akbar.» Dieser lautstarke Gewalthaufen schadet seinen gut integrierten Landsleuten enorm. Letztes Jahr fielen rund 2000 junge Nordafrikaner über einen Badeort am Gardasee her, sie griffen die ausgedünnte Polizei an, begrapschten Frauen und schrien: «Das hier ist Afrika.» Morgen werden es 5000 sein. In Frankreich und England sind es bereits weit über zehntausend.

Schweden hielt tapfer an ihrer Realitätsverweigerung fest, jetzt ist das Land zum Wilden Westen verkommen. Das ist das Resultat einer Laissez-faire-Politik, die man als Toleranz verkaufte, Toleranz gegenüber jenen, die bei uns die Hasskultur ausleben, die ihre Heimatländer in den Abgrund gerissen hat. Wenn wir jetzt bei Abschiebungen von ausländischen Straftätern weiterhin keine Härte zeigen, werden wir selbst Härte erfahren.

148 Blick »Judenfeindlichkeit, die »wokeness« der 1970er-Jahre«

In den 1960er-Jahren fragte ich meine Mutter, was sie eigentlich gegen Juden habe. Wir kannten ja keine. Sie sagte, die Juden hätten Jesus ans Kreuz geschlagen. Schon eine Weile her, dachte ich. Mein Vater riet mir, Juden zu meiden, denn sie seien geldgierig und geizig. Als Teenager verliess ich später nicht nur dieses Elternhaus, sondern auch all die Vorurteile, die man mir wie eine Schluckimpfung verabreicht hatte.

 

In den 1970er-Jahren war es chic, mit dem Schal des damaligen PLO-Terrorchefs Jassir Arafat in die Schule zu gehen, man zitierte aus der roten Mao-Bibel und huldigte Che Guevara, dem Stalin-Verehrer und «Marlboro Man» der Linken. Man schwärmte für die DDR, die selbst nach dem Olympia-Massaker (1972) auf der Seite der Palästinenser blieb und ihnen weiter schwere Waffen lieferte. Die Liebe zum Totalitären war genauso verbreitet wie die Judenfeindlichkeit.

 

Das war der damalige Zeitgeist, die eingebildete «Wokeness» der Siebziger. Die Jungs wurden zwar älter und entsorgten ihre karierten Halstücher, aber nicht ihre Abneigung gegen Juden.

 

Vor Jahren unterhielt ich mich mit einem linken Verleger über eine Autorin. Er mochte sie nicht und sagte, sie sei halt eine Jüdin. Irritiert hat mich, dass er automatisch annahm, dass ich als Schriftsteller seine Meinung teile. Judenfeindlichkeit ist integraler Bestandteil der rot-grünen Agenda.

 

Während man bei Putin keine Sekunde zögerte, Boykotte zu verhängen, zögert man, die Zahlungen an Palästinenser einzufrieren. In den letzten 50 Jahren erhielten diese vom Westen zig Milliarden und sind dennoch nicht in der Lage, selber für Wasser und Elektrizität zu sorgen. Aber sehr wohl für Waffen.

 

Dass in Europa zugewanderte Palästinenser auf offener Strasse die barbarische Abschlachterei von israelischen Senioren, Frauen und Kindern feiern und dabei Hakenkreuze in die Kameras halten, ist widerlich.

 

Die Gräueltaten in Israel belegen einmal mehr, dass man bei uns nicht jede Kultur integrieren kann. Und schon gar nicht junge Männer, an denen die zivilisatorische Entwicklung der letzten 2000 Jahre scheinbar spurlos vorbeigegangen ist.

 

Stossend, dass ich mit meinen Steuern über Umwege eine Terrororganisation mitfinanziere.

147 Blick »Wunschwelt ohne Polizei«

Am 22. Juli 1934 verliess John Dillinger mit der Prostituierten Anna Sage das Kino an der North Lincoln Avenue in Chicago. Als er auf die Strasse hinaustrat, wurde er von FBI-Agenten erschossen. Anna Sage hatte ihn verraten. Das Jahr ging als «Year of the Gangster» (Das Jahr der Gangster) in die Geschichte ein. Nur dank der Modernisierung und massiven Aufrüstung der Polizei konnten in wenigen Monaten alle namhaften Gangster der damaligen Zeit gefasst oder erschossen werden, darunter auch Bonnie und Clyde.

Es war erneut einer personellen und technischen Aufrüstung der Polizei zu verdanken, dass 1985 gleich alle fünf Mafiabosse New Yorks vor Gericht kamen und in allen 151 Anklagepunkten für schuldig befunden wurden.

Mittlerweile ersetzen Ideologien historische Erfahrungen. Die kanadische Feministin Leslie Kern bezeichnet in ihrem Buch «Feminist City» nicht nur westliche Städte als «Phallus-Wälder» und Hochhäuser als «Gebäude, die in den Himmel ejakulieren», sie fordert auch die Abschaffung der Polizei, um die «Sicherheit der Frauen zu erhöhen».

Ricarda Lang, Spitzenpolitikerin der deutschen Grünen, gestand der ARD, dass sie nachts nicht allein durch den Berliner Görlitzer Park spazieren würde. Auch der grüne Landwirtschaftsminister Cem Özdemir gesteht, dass seine 17-jährige Tochter selbst in Begleitung den Park meidet und zu bestimmten Zeiten sogar Busse und Bahnen. Wieso tun sie nichts dagegen? Wer Probleme unter den Teppich kehrt, gerät selber unter den Teppich.

Auch die Schweizer Jungsozialisten (Juso) fordern langfristig dieAbschaffung der Polizei. Das Problem der Ausländerkriminalität, das selbst die Kita der Sozialdemokraten nicht mehr leugnen kann, wollen sie mit einer automatischen Einbürgerung lösen, damit in Zukunft alle ausländischen Sexualstraftäter Schweizer sind und wenigstens in der Statistik die ersehnte «Wunschwelt» von SP-Co-Präsidentin Mattea Meyer Realität wird. Die Bevölkerung wünscht sich jedoch mehr Sicherheit und nicht mehr Gendersternchen.

Vielleicht sollte die Juso ihre nächste Versammlung in einem deutschen Freibad abhalten. Die Unversehrtheit der weiblichen Delegierten könnte allerdings nicht garantiert werden. Zu wenige Securitys.

»Gehet hin und tötet«, Textprobe Seiten 1-3

Textprobe Seiten 1-3

Der Roman erschien in deutscher Spache erstmals als Hardcover bei Heyne München, später bei Lenos unter dem Titel »Der Bankier Gottes«.


VATIKANSTADT  Seiten 1-3

»Es ist nur ein Gerücht«, versuchte Luigi Albertini den alten Mann zu beschwichtigen. Doch jetzt war es zu spät. Er hatte es ausgesprochen, dieses Gerücht, und nun saß der ausgemergelte Greis mit dem schütteren Haar wie eine Mumie in seinem Barocksessel. Er erhob mühsam die rechte Hand für eine abwehrende Geste, als wollte er andeuten, dass es nun genug sei. Die Hand sank kraftlos auf die Armlehne zurück. Die Augen in den tiefliegenden Höhlen waren starr auf die Wand gerichtet. Der alte Mann hatte Angst. Vereinzelte Regentropfen klatschten gegen die hohen Glasfenster der päpstlichen Privatgemächer. Der Petersdom erwachte im Morgengrauen. Nichts würde mehr so sein wie vorher. Luigi Albertini kniete neben dem Heiligen Vater nieder und wiederholte, dass es doch nur ein Gerücht sei. Albertini war ein gutaussehender Mann von knapp vierzig Jahren, sportlich durchtrainiert und kein gewöhnlicher Diplomat des Heiligen Stuhls. Er war als Nuntius mit Spezialauftrag direkt dem Papst unterstellt. Er war der Nunzio Apostolico Con Incarichi Speciali, der Geheimagent des Papstes. »Ich dachte«, sprach der alte Mann mit heiserer Stimme, »ich würde diesen Sommer nicht mehr erleben. Der Herr würde mich vorher zu sich rufen. Er hat es nicht getan. Manchmal fragte ich mich, ob er mich wohl vergessen hat. Ob auch Gott Dinge vergisst. Doch jetzt ergibt alles einen Sinn.« Dem Heiligen Vater versagte die Stimme. Er hustete, versuchte den Schleim aus den verklebten Bronchien zu lösen. Ein paar Speicheltropfen schlierten über die schmalen Lippen. Er ließ es geschehen. Er hatte ein Leben lang versucht, mit dem Rauchen aufzuhören, aber er hatte es nie geschafft. Weder Gebete noch Kehlkopfoperation, noch Chemotherapien hatten ihn zur Vernunft gebracht. Und dennoch gab es nicht ein einziges Foto, das ihn mit einer Zigarette zeigte. Die beiden Männer schwiegen für eine Weile. Zwei Spatzen setzten sich auf den Fenstersims und schüttelten das kalte Nass aus ihrem Gefieder. Erst jetzt fiel dem Papst auf, dass die Spatzen oft zu zweit auf seinem Fenstersims landeten und dass er sein Leben allein verbracht hatte. Eine tiefe Melancholie erfasste ihn. »Dann ist es jetzt so weit«, flüsterte der Heilige Vater. »Es ist wirklich nur ein Gerücht, Eure Heiligkeit«, wiederholte Luigi Albertini, »es stammt von den Leuten, die sich in Rom in der Basilika San Clemente treffen.« Er erhob sich und trat einen Schritt zum Fenster. Eine Straßenkehrmaschine fuhr lärmend über den morgendlichen Petersplatz und verscheuchte die Vogelschwärme. Dann knatterte der Motor, und schwarzer Rauch entwich dem Auspuff. Die Maschine blieb stehen. Der Mann von der Straßenreinigung stieg aus und zündete sich eine Zigarette an. In Italien gewöhnt man sich daran, dass nichts funktioniert. Schwarzer Rauch über dem Petersplatz, dachte Luigi Albertini. Er glaubte nicht an Vorzeichen. Er würde sich später an die Straßenkehrmaschine erinnern, die Vogelschwärme, die Glocken, die zur Frühmesse läuteten, den bröckelnden Kitt im Fensterrahmen, das Wasser, das sich innen auf dem Fenstersims sammelte und an der Tapete entlang hinuntertropfte und in den Teppich sickerte. Er würde sich erinnern, dass der Papst dagesessen hatte, mit offenem Mund, unbeweglich und mit düsterem Blick, als würde er von einer diabolischen Sinnestäuschung heimgesucht, als sehe er eine gewaltige Flutwelle auf sich zurollen, gigantische Wellen, die sich zu einem Berg auftürmen und ihn für immer wegspülen würden. Der Papst hatte Angst. War sein Glaube zu schwach? Es gibt Nachrichten, die keine Reflexe mehr auslösen, keine Fluchtbewegung, kein Aufbäumen, keinen Protest, kein Flehen, kein Bitten. Es gibt Nachrichten, deren Tragweite man sofort begreift, weil sie endgültig sind. Irreversibel. Man begreift sie mit dem ganzen Körper. Albertinis Nachricht war eine solche. Der Heilige Vater wusste an jenem Morgen sofort um die Bedeutung von Albertinis Worten. Er erinnerte sich, wie man ihn als frisch gewählten Papst in den geheimen Archiven des Vatikans eingeschlossen und ihn gebeten hatte, die Siegel eines Dokuments zu brechen, um die letzten Geheimnisse zu erfahren. Er hatte alles gelesen, bis in die frühen Morgenstunden. Danach hatte er das knapp zweihundertseitige Dossier eigenhändig wieder versiegelt, zu Händen seines Nachfolgers. Doch jetzt fragte er sich, ob es nach ihm noch einen Nachfolger geben würde. Denn das Gerücht war in Umlauf gesetzt worden. Bald würde es sein blindwütiges Zerstörungswerk in Gang setzen.


Textprobe 2


LIBYEN  

Gleißendes Licht blendete die beiden nackten Männer, die mit spitzen Speeren in die zerfallene Arena des Amphitheaters von Leptis Magna getrieben wurden. Über dem Tor zur Arena standen Männer mit schwarzen Anzügen und dunklen Sonnenbrillen. Ein frischer Wind wehte vom Meer her über die Ruinen des einst so berühmten Theaters. Auf den erhöhten Rängen waren bewaffnete Männer postiert. Eine Flucht war ausgeschlossen.

»Männer«, begann Salvatore Calame mit lauter Stimme, »vor der Asche unseres verstorbenen Bruders Don Antonio Calame werdet ihr einen ehrenhaften Kampf auf Leben und Tod ausführen, so wie es seit den Etruskern Brauch ist. Bedenkt, dass dieser Kampf eine religiöse Handlung darstellt. Mit eurem Blut werdet ihr den Geist des Verstorbenen versöhnen. Wir opfern euer Blut unserem geliebten Don Antonio Calame.«

Furio und Francesco warfen den beiden nackten Männern je ein römisches Kurzschwert, einen Gladius, zu und zogen sich rasch zurück.

»Wir werden niemals gegeneinander kämpfen«, schrie Frank Bohne zu den Männern auf den Rängen. Der Don antwortete nicht. Man hörte nur das Meer, den Wind, und es war weit und breit keine Menschenseele, die den beiden hätte zu Hilfe eilen können. Bohne schaute verzweifelt zu Lustrinelli. Dieser bückte sich nach seinem Gladius. Blitzschnell ergriff auch Bohne seinen Gladius und wich ängstlich zurück. Frank Bohne umklammerte die Waffe mit zitternder Hand. Er hatte Angst. Er war in allen sportlichen Dingen immer schon sehr ungeschickt gewesen. In seiner Playstation war er unbesiegbar. Aber das hier war kein Spiel. Er war irgendwelchen Irren in die Hände geraten. Gleich würde etwas Unglaubliches, etwas schier Unfassbares geschehen. Sie waren hier in Libyen und würden sich gleich einen Gladiatorenkampf auf Leben und Tod liefern. Und das im einundzwanzigsten Jahrhundert! »Das ist der blanke Irrsinn«, schluchzte King Cruel und zeigte den Männern auf den Rängen sein verweintes Gesicht, »lasst es jetzt gut sein! Ich halte das nicht mehr aus!«

»Ich werde nicht gegen dich kämpfen, Junge«, schrie Lustrinelli mit fester Stimme. Die Hitze machte ihm zu schaffen. Er machte ein paar Schritte nach vorne. Plötzlich hielt er inne: »Ich werde keinen Menschen töten«, flüsterte er leise.

»Ich auch nicht«, schluchzte Bohne, »ich kann das nicht.«

»Wenn sie uns töten wollen, sollen sie es tun«, sagte Lustrinelli, während er ein paar weitere Schritte auf Bohne zuging.

»Wir werfen einfach unsere Waffen weg«, sagte Bohne. Seine Stimme überschlug sich. Es war so erbärmlich hier zu stehen, nackt in der glühenden Sonne, und um sein Leben zu winseln. Lustrinelli zeigte keinerlei Regung. Nackt stand er vor dem Programmierer und wartete. Lustrinellis Unerschrockenheit machte Bohne Angst. Ein böser Traum, fuhr es Bohne durch den Kopf, es ist alles nur ein böser Traum. In diesem Moment durchbohrte Lustrinellis Gladius seinen Bauch. Lustrinelli hatte derart wuchtig zugestoßen, dass er den Halt verlor. Er sackte vor dem verblüfften Programmierer in die Knie und schaute zu ihm hoch. Sein Gladius hatte Bohnes Weichteile oberhalb der linken Hüfte durchbohrt. Lustrinelli wollte den Gladius wieder aus dem Fleisch ziehen, aber Bohne hielt das Schwert fest. Er schaute zu den Rängen hoch. Wabernde Luft verzerrte die schwarzen Gestalten bis zur Unkenntlichkeit. Er sah, dass sie sich ihm näherten, wie stumme Geister aus der Unterwelt. Nur nicht den Gladius herausziehen, dachte Bohne. Ein wildes Schnauben ließ ihn aufhorchen. Furio und Francesco hatten einen Stier in die Arena getrieben. Einen Stier! Es war noch nicht vorbei.

»Lebend werde ich euch von größerem Nutzen sein!«, schrie Lustrinelli, so laut er konnte. »Du besudelst das Andenken des Verstorbenen«, schrie Salvatore in die Arena hinunter, »steh auf, und kämpfe wie ein Mann.«

Dann erhob sich Lustrinelli und wandte sich dem Stier zu. Der Deutsche torkelte rückwärts, als habe er sich noch nicht entschieden, ob er langsam verbluten oder sofort tot umfallen wollte. Unterdessen senkte der Stier seinen monströsen Schädel und scharrte mit dem Fuß im Staub der Arena. Da brüllte Lustrinelli, so laut er konnte: »Sol invictus!«

Der Stier setzte eine Tonne Körpergewicht in Bewegung und donnerte mit stampfenden Hufen auf Lustrinelli los, der erneut »Sol invictus« brüllte.

Mehrere Schüsse peitschten über die Arena. Lustrinelli ging zu Boden und versuchte mit seinem linken Arm sein Gesicht zu schützen. Er sah, wie der Stier vor ihm einknickte. Der schwere Kopf wurde zu Boden gedrückt, während das Hinterteil des Stiers zuerst in die Höhe flog und dann seitlich verkrümmt mit einem dumpfen Schlag auf der Erde aufschlug, während laufend weitere Schüsse abgefeuert wurden. Nach einer Weile richtete sich Lustrinelli auf. Er keuchte und rang nach Luft. Er war unverletzt. Der Stier vor ihm lag im Sterben. Blut floss aus seinem weit aufgerissenen Maul. Dann verdrehte das Tier die Augen, die Zunge glitt heraus. Lustrinelli roch den dampfenden Geruch von warmem Blut. Der Präsident der italienischen Nationalbank wollte aufstehen. Es ging nicht. Seine Knie waren wie aus Watte. Er war unverletzt, aber er konnte sich nicht mehr rühren. Salvatore kam allein die Stufen der Arena herunter. Er blieb vor dem knienden Lustrinelli stehen.

»Was weißt du über die Dinge, die jeder sieht und keiner ahnt?«, fragte Salvatore leise.

»Sol invictus«, antwortete Lustrinelli leise und senkte sein Haupt. Er wollte leben, einfach nur leben.

»Du bist keiner von uns«, flüsterte Salvatore, »wer hat es verraten?«

»Dario Baresi, der Neapolitaner, der in London mit Gold handelt.«

»Dario Baresi«, flüsterte Salvatore fassungslos, »er bricht den Schwur …«

»Ich habe ihm das Gold des Heiligen Stuhls übergeben. Im Auftrag des Vatikans.«

»Der Vatikan hat sein Gold Don Calame anvertraut, wir haben es dir anvertraut. Und du hättest es uns zurückgeben müssen.«

»Nein. Es ist das Gold des Vatikans.«

»Es wäre an Don Calame gewesen, dieses Gold an den Vatikan zurückzugeben. Wir hätten eine Lösung gefunden. Aber du hast dem Vatikan geholfen, sich von Don Calame zu lösen. Dabei verdankst du alles, was du bist, Don Calame. Aber du hast es vergessen. Du verleugnest ihn und lässt ihn im Stich. Du verrätst unsere Freundschaft.«

»Ich konnte nicht anders«, stieß Lustrinelli aus, »es war die strikte Anweisung des Vatikans, das Gold an Dario Baresi zu übergeben. Aber Dario Baresi ist doch einer von euch!«

»Nein, er war einer von uns. Baresi ist wie du. Durch uns ist er geworden, was er ist. Er hat den Auftrag des Vatikans erhalten, weil er sich von uns losgelöst hat. Und jetzt hat er sogar den Vertrag gebrochen. Sol invictus.«

»Sol invictus, aber ich werde es nicht verraten. Ich weiß nichts über eure Bräuche und Ziele.« »Schweig, Lustrinelli. Du wirst uns zu Dario Baresi führen. Er versteckt sich. Wer weiß, vielleicht hat Sol invictus heute tatsächlich dein Leben gerettet.« Salvatore blinzelte in die Sonne, als erwarte er von ihr eine Antwort. Die Hitze war drückend.


Textprobe 3


»Kennen Sie die Filme von Sergio Leone?«

»Ja.«

Albertini schüttelte genervt den Kopf. Was soll die Frage?

»The Good, the Bad and the Ugly, 1966. Mein Geburtsjahr. Ich habe alles gesehen, was damals in die Kinos kam. Aber nur bei diesem Film musste ich weinen. Bei einer Szene.« Francesco atmete tief durch und schaute durch das Panoramafenster in den Garten hinaus. Er kannte Furios Part auswendig.

»Es gibt da eine Szene im Strafgefangenenlager der Nordstaatler. Die gefangenen Südstaatler müssen draußen Musik spielen, The Story of a Soldier, während drinnen in der Holzbaracke Tuco gefoltert wird.«

»Geht’s nicht etwas kürzer?«, unterbrach ihn Francesco.

»Writing is re-writing, ich finde, die Szene wird jedes Mal besser.«

Furio wandte sich wieder Albertini zu, der sich allmählich unwohl fühlte.

»Eli Wallach wird in der Holzhütte zusammengeschlagen, gefoltert, der arme Kerl verliert sogar einen Zahn … und am Ende, und genau darauf will ich hinaus, gesteht er doch alles. Gesteht, wo der Goldschatz vergraben liegt. Und da fragt sich der Zuschauer, wieso zum Teufel hat der arme Kerl nicht sofort geplaudert? Dann hätte er noch all seine Zähne, hm?« Furio grinste breit. Francesco zuckte die Schulter. Er gab Furio recht. Das war eine neue Wendung. Eine eindeutige Verbesserung.

»Aber dann holen sie Clint Eastwood rein«, sagte Francesco und setzte die Erzählung fort, »weil Eli Wallach gesagt hat, der Goldschatz ist auf dem Friedhof vergraben, aber nur der Blonde weiß, in welchem Grab. Und es gibt Tausende von Gräbern da draußen. Also holen sie den Blonden rein. Clint Eastwood. Er sieht das Blut am Boden. Und erneut beginnt die Musik zu spielen …«

»Ja, und jetzt machen wir uns Sorgen«, brummte Francesco wie zu sich selbst. Furio fuhr fort: »Und Clint Eastwood sagt: ›Wollen Sie mir die gleiche Behandlung zukommen lassen?‹ Dabei wäre es schöner, wenn er sagen würde: ›Spielt die Musik für mich?‹ Stellen Sie sich das mal vor. Clint Eastwood kommt rein. Die Musik beginnt zu spielen, und er fragt: ›Spielt die Musik für mich?‹« Furio nahm einen Schluck Wasser und wischte sich die Lippen ab. Nach einer Weile fragte Luigi: »Worauf wollen Sie hinaus?«

»Wir werden dir sehr weh tun, Luigi.«


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