Interview, Buch, Salis Verlag 2019

Claude Cueni:

»Der Mensch ist stärker als er meint.«

 


Interview von Steven Schneider


 

Claude Cueni, warum lacht man, wenn es längst nichts mehr zu lachen gibt?

Einige haben den Rhythmus im Blut, ich vielleicht den Humor. Mir fällt einfach immer ein ironischer Aspekt ein, eine Pointe, ein Wortspiel, in zahlreichen Alltagssituationen steckt eine Menge Komik. Mir fällt das sofort auf und ich speichere ab.

 

Worüber können Sie lachen?

Über mich. Ich gehöre nicht zu den Autoren, die sich furchtbar ernst oder gar zu ernst nehmen.

 

Lebt es sich besser mit dem Tod vor Augen?

Besser sicher nicht. Aber anders. Man ist auf den Augenblick fokussiert. Es ist ein eigenartiges Gefühl, wenn die Zukunft abhandenkommt. Es ist ein Wechsel zwischen Gelassenheit und Gleichgültigkeit.

 

Würden Sie es als Wunder bezeichnen, dass wir uns überhaupt unterhalten können?

Nein, ich glaube nicht an Wunder. Dass ich wider Erwarten noch am Leben bin, verdanke ich nicht einem unsichtbaren Freund, sondern der modernen Medizin, der hämatologischen Abteilung des Basler Uni-Spitals und einem anonymen Knochenmarkspender.

 

Wie würden Sie es dann bezeichnen, dass Sie nach dem vermeintlichen Schlusspfiff eine Verlängerung geschenkt bekommen haben? Glück, Schicksal?

Der Glauben an ein Schicksal mag tröstlich sein, weil er uns von jeder Schuld freispricht, aber es ist auch die Weigerung, Verantwortung zu übernehmen. Ich weiß nicht, wieso ich noch am Leben bin. Nennen wir es also einen glücklichen Zufall.

 

Und dank dieses glücklichen Zufalls können Sie nun weiter Verantwortung übernehmen. Wofür?

Als Vater tragen Sie lebenslänglich Verantwortung. Das bedeutet nicht, dass sie ihren Kindern reinreden, das bedeutet, dass Sie immer für sie da sind. Ich bin auch dafür verantwortlich, dass es meiner Frau nach meinem Tod weiterhin gut geht. Auch ohne mich.

 

Glauben Sie, dass Ihre Geschichten, die Sie in die Welt hinausschicken, auch ein Hilfsangebot sind?

Einige Leserinnen und Leser sehen das tatsächlich so. Seit meinem autobiografischen Roman Script Avenue, schreiben mir viele Leute, die schwer erkrankt sind oder andere schwerwiegende Schicksalsschläge zu meistern haben, zum Teil viel schwierigere als meine. Für diese Menschen ist es schön, mit jemandem in Kontakt zu treten, der Ähnliches durchstehen muss und nicht aufgibt. Wenn es geht, besuche ich sie auch im Spital, falls es mit dem Taxi erreichbar ist. Aus Brasilien erhielt ich einmal eine Mail von einem Spastiker, der mir dankte, weil die Figur des jungen, spastischen Kelten in Cäsars Druide/Gold der Kelten ihn motiviert hatte, sich aufzuraffen und wieder Arbeit zu finden. Nach Das Grosse Spiel schrieben mir auffallend viele gescheiterte Unternehmer, dass sie dank meinem Romanhelden John Law ihre Firmenpleite überwunden und wieder Mut gefasst haben.

 

Ein detailreiches Buch über den Begründer der modernen Finanzwirtschaft, das jetzt auch als Serie in Deutschland verfilmt wird. War Ihnen eigentlich bewusst, dass, wie John Law, Ihre Figuren eine derart starke Wirkung auf andere haben können?

Nein, sicher nicht. Ich habe keine Botschaft. Aber ironischerweise schöpfe ich heute Kraft aus Romanfiguren, die ich selbst erschaffen habe.

 

Welche Romanfigur aus Ihrem Universum bringt Sie zum Lachen?

Wenn Onkel Arthur in der Pacific Avenue den Ich-Erzähler anschreit: »Hat dir jemals eine Romanfigur die Fresse poliert?«, kann ich immer noch darüber lachen. Eigentlich erheitern mich alle meine Figuren immer wieder, auch im Alltag liegt eine Menge Situationskomik, man muss nur beobachten, genau zuhören und später die schrägen Szenen mit einer gewissen Ernsthaftigkeit beschreiben, lachen sollen die Leser.

 

Bei Ihnen klingt es so, als sei gutes Schreiben ein Kinderspiel.

Meine Produktivität ist keine besondere Leistung. Es ist vielleicht ein Akt der Verzweiflung, vielleicht eine chronische Zwangserkrankung. Wahrscheinlich beides. Als ich die Script Avenue schrieb, träumte ich oft Pulp-fiction-mäßige Szenen oder Slapstick-Dialoge und lachte im Schlaf. Dann wachte ich abrupt auf und setzte mich an den Computer. Das ist völlig normal, wenn man sich rund um die Uhr in seiner eigenen fiktiven Welt bewegt. Meine Frau imitiert mich dann beim Frühstück und wir blödeln herum. Aber ich rechne es ihr hoch an, dass sie mich nachts nie aufweckt. Denn Sie weiß: Ich arbeite.

 

Woher nehmen Sie die Kraft, trotz Zerfall und Schmerzen großartige Bücher zu schreiben?

Ich wuchs in einem religiösen und gewalttätigen Irrenhaus auf und flüchtete in eine Phantasiewelt, in die Script Avenue. Ich musste enorm viel Kraft und Mut aufbringen, um dieser finsteren Welt zu entfliehen und in eine neue Welt einzutreten, die mir kaum bekannt war. Ich habe mein Leben von da an stets als sportliche Herausforderung gesehen. Never give up. Mein Freiheitsdrang war enorm. Jedes erfolgreich gemeisterte Hindernis gab mir Mut, auch höhere Herausforderungen durchzustehen.

 

Sie scheinen sehr leidensfähig zu sein.

Ja. Kommt hinzu, dass ich mich fast ein Leben lang mit dem Alltag in den verschiedenen Epochen beschäftigt habe, um meine historischen Romane möglichst authentisch niederzuschreiben. Hunger, Krieg, Armut, Krankheit und Tod waren alltäglich. Ich habe von den damaligen Zeitgenossen viel gelernt.

 

Zum Beispiel?

Verglichen mit früher sind wir heute eine wehleidige, selbstverliebte Schneeflöckchen-Gesellschaft, die nichts mehr aushält, schnell aufgibt und nach immer mehr staatlicher Bemutterung ruft.

 

Schlechte Aussichten für uns.

Nun, der Mensch ist stärker als er meint, sonst wäre unsere Spezies längst ausgestorben. Man muss akzeptieren, dass das Leben nie gerecht ist, weder im Guten noch im Bösen.

 

Ich persönlich finde es eine schöne Vorstellung, dass es im Leben gerecht zugeht.

Wieso sollte es gerecht sein? Es gibt keine höhere Instanz, die für Recht und Ordnung sorgt. Nach dem großen Erdbeben 1755 in Lissabon fragten sich die Leute: Wenn es einen allmächtigen Gott gibt, der eingreifen möchte, aber nicht kann, dann ist er impotent. Könnte er eingreifen, tut es aber nicht, dann ist er bösartig.

 

Ist man ehrlicher, wenn man dauernd an seine Endlichkeit erinnert wird?

Ja, natürlich. Das ist auch befreiend. Ich bin sicher direkter geworden, aber versuche stets dabei freundlich zu bleiben. Es ist der Ton, der die Musik ausmacht.

 

Ihre beiden autobiografischen Romane sind, um bei der Musik zu bleiben, vielschichtige Symphonien. Darin  entsteht ein irres Universum, brüllend komisch, höchst tragisch. Am Schluss der Script Avenue schreiben Sie: »Da es mein letztes Buch sein wird, soll es mein bestes werden. Es soll ein ehrliches Buch werden. Authentisch. Nicht alle werden es mögen.« Es wurde trotzdem ein Bestseller.

Gute Geschichten entstehen nun mal nicht im Schlaraffenland. Je beschissener die Biografie, desto besser das Buch. Das ist ein Glück für die Leser, aber Pech für den Autor.

 

Sie könnten wohl auch das Sterben zur Komödie machen.

Als mir der Arzt anhand einer Grafikkurve zeigte, wie meine Lunge kontinuierlich von den fremden Blutstammzellen abgestoßen wird, dachte ich mir: »Wenn das jetzt ein Aktienkurs wäre, ich müsste die Aktie sofort verkaufen.« Mir fallen auch in solchen Situationen stets heitere Dinge ein, sofern es mich alleine betrifft. Ich kann nichts dagegen tun, ich bin mein eigener Hofnarr geworden.

 

Und dieser Hofnarr hilft Ihnen zu überleben?

Zum Überleben hilft eher der Rückzug in die eigene Phantasiewelt. Bei mir war es eben diese fiktive Script Avenue meiner Kindheit. Sie war die einzige Möglichkeit einer bedrohlichen Umgebung zu entkommen. Aber auch ich erreiche manchmal meine rote Linie. Wenn man plötzlich in der Nacht Atemnot kriegt, Muskelkrämpfe oder Nervenschmerzen hat, völlig übermüdet ist, dann braucht es viel Disziplin, um das durchzustehen. Es gibt Autoren, die behaupten, sie bräuchten ideale Bedingungen zum Schreiben. Ich kann darüber nur lachen.

 

In der Pacific Avenue sagen Sie: »Gesunde legen die Latte zum Suizid manchmal ziemlich tief. Wird man ernsthaft krank, verschiebt man sie etwas nach oben und noch etwas nach oben, denn man begreift, dass das Leben einmalig ist, dass es keine zweite Chance gibt und dass eine Existenz voller Schmerzen und Einschränkungen immer noch besser ist als keine. Tote trinken im Sommer keine eisgekühlte Cola mehr.« Sie waren schon mehrmals auf der Kippe zum Tod. Kann man nachher einfach normal weiter machen?

Nein, man verliert das Urvertrauen in das Leben. Ein Alltag unter dem Damokles-Schwert ist zermürbend, aber ich habe eine großartige Frau an meiner Seite, die mich mit ihrer Lebensfreude und Zuneigung wieder auf andere Ideen bringt. Ich fokussiere auf das Jetzt. Seneca sagte, das Leben ist lang genug, wenn man es richtig nutzt. Ich versuche es, das Leben ist einmalig und äußerst interessant. Man muss nicht hadern, sondern schätzen, was immer noch möglich ist. Lesen und Schreiben und am Wochenende ein Glas Bordeaux und die Frühlingsrollen meiner Frau.

 

Sind Sie nie neidisch auf andere gleichaltrige oder gar ältere Männer, die bei bester Gesundheit sind?

Nein, Neid war mir schon als Kind absolut fremd. Der Erfolg der andern hat mich stets angespornt. Ich freue mich, wenn andere in meinem Alter noch topfit sind. Was hätte ich davon, wenn sie genauso krank wären wie ich? Nichts. Und Neid auf Materielles ist etwas für faule Menschen. In Asien werden erfolgreiche Menschen bewundert, sie spornen an, in unserer Neidkultur kommt gleich der Rasenmäher.

 

Was ist schöner: Liebe zu geben oder geliebt zu werden?

Als Kind will man geliebt werden, als verliebter Teenager schenkt man Liebe, entzieht sie aber auch wieder, als Vater stellt man sich zurück und schenkt bedingungslose Liebe und im reiferen Alter gelangt man zur Erkenntnis, dass Schenken mehr Freude bereitet als Beschenktwerden. Sofern man ein bisschen Weisheit erlangt hat.

 

Ihre erste Frau ist 2008 an Krebs verstorben, nachdem Sie sie viele Monate zu Hause gepflegt hatten.

Es war eine unmenschliche Aufgabe, 24 Stunden am Tag, aber meine Frau bestand darauf, dass nur ich sie pflege. Ich weiß nicht, ob ich es heute wieder tun würde. Aber wahrscheinlich schon. Nach ihrem Tod war ich am Boden zerstört, mein Immunsystem im Eimer, ich hatte ständig Entzündungen und ein Jahr später Leukämie. Für meinen Sohn war es besonders schwierig, weil er innert kurzer Zeit auch noch seine beiden Großeltern verloren hatte. Und der Hund war ebenfalls gestorben. Ich nahm einen Tag nach dem andern und vermied, in die Zukunft zu schauen. Ich habe nicht damit gerechnet, mich erneut zu verlieben. Ich las das Herbstgedicht von Rilke: »Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr. Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben.« Ich dachte, so wird es wohl sein.

 

Aber so war es natürlich nicht, wenn man die Script Avenue gelesen hat.

Ich flog mit meinem Sohn nach Hongkong. Ich hatte ein Jobangebot im Advisory Board einer börsennotierten Computerspiel-Firma. Mein Sohn traf eine junge Chinesin, seine jetzige Frau, und ich lernte eine Filipina kennen, meine heutige Ehefrau Dina. Als sie ein Jahr später erstmals in die Schweiz flog, lag ich bereits in einem Isolierzimmer der Hämatologie mit tellergroßen blauen Flecken am Körper. Ich sagte Dina, ich würde die nächsten Wochen nicht überleben, es sei besser, zurückzufliegen, ich bot ihr eine hohe Summe an, damit sie auf den Philippinen ein Business eröffnen kann. Doch sie sagte, in ihrer Kultur würden die Frauen nicht davonlaufen, das täten nur die Männer. Und im Augenblick würde ich ja noch leben und für sie zähle nur das Jetzt. Wir haben heute eine tiefe und sehr harmonische Beziehung und nehmen es mit Humor, dass sich einige Leute wegen des Altersunterschieds den Hals verrenken. Je kleiner die Stadt, desto grösser die Verrenkung.

 

Was liebt Ihre Frau an Ihnen?

Sie bringen mich in Verlegenheit, ich frage gescheiter meine Frau. (…) Also, sie sagt, ich sei ein einfacher Mensch, sehr lieb, unkompliziert und nie böse, selbst wenn ich große Schmerzen habe. Und sie liebe meinen Humor. Sie nennt mich abwechselnd Honey Bunny oder Warren Buffett.

 

Ihre beiden Kosenamen machen mich neugierig.

Wir hatten uns in Hongkong zusammen Pulp Fiction angeschaut. In der Eröffnungsszene sagt die Figur Honey Bunny »I love you, Pumpkin«, und Pumpkin antwortet: »I love you Honey Bonny.« Und dann springt er auf den Tisch und schreit: »Everybody be cool this is a robbery!« War ein kleiner Scherz, den wir uns nicht mehr abgewöhnen konnten. Den Namen »Warren Buffett« erhielt ich, weil ich seit Jahren mit Börsengeschäften Geld verdiene.

 

Was lieben Sie an Ihrer Frau?

Ihre Lebensfreude, ihre Herzenswärme, ihre mentale Stärke, ihren Wissensdurst, ihre Geduld, ihre Cleverness, ihre Lebensphilosophie und natürlich, dass das Leben mit ihr so unkompliziert und harmonisch ist. Beinahe hätte ich ihre außerordentlichen Kochkünste vergessen.

 

Ihre Spezialität?

Es gibt Leute, die stundenlange Fahrten in Kauf nehmen, um bei ihr zu essen. Ihre Spezialitäten sind Teriyaki Beef, Adobong Manok, Pankit, scharfe Springrolls und ihr Cassava Cake, ein Dessertkuchen aus der Wurzelknolle der Maniokpflanze und Macapuno, einem weichen Kokosfleisch. Nicht zu verachten sind auch ihre Karaoke-Einlagen während des Kochens.

 

Hitverdächtig.

Es ist kein Zufall, dass überall auf der Welt zierliche Filipinas mit Reibeisenstimmen Musik-Casting-Shows gewinnen. Sie singen mit soviel Herzblut, als ginge es um Leben und Tod. 

 

Macht Ihre Frau aus Ihnen einen besseren Menschen?

Meine erste Frau, die ich als Teenager kennenlernte, hat mich ohne Zweifel sozialisiert, später auch domestiziert und während ihrer langjährigen Krebserkrankung tyrannisiert. Dina bringt enorm viel Lebensfreude in meinem Alltag, sie macht mich glücklich und glückliche Menschen sind oft auch bessere Menschen, weil sie zufrieden sind. Dina verdanke ich sehr viel. Trotz Krankheit, habe ich heute das bessere Leben.

 

Wie unterscheiden sich Frauen von Männern?

Ich bin nicht Experte. Man sollte auch nicht verallgemeinern. Ich erzähle deshalb nur über meine Erfahrungen nach dem Tod meiner ersten Frau und den sechs Monaten auf der Isolierstation: Die meisten Kollegen hatten nicht wirklich Eier. Wenn sie einen Schnupfen haben, rufen sie den Notarzt und wenn ein Kollege schwer erkrankt, machen sie sich aus dem Staub, schämen sich später und getrauen sich deshalb nicht mehr Kontakt aufzunehmen, wenn man wider Erwarten überlebt hat. Frauen sind anders. Nicht alle, aber generell sind sie mental stärker, treuer, sie laufen nicht davon.

 

Was ist Liebe?

Bedingungsloses Vertrauen und Vertrautheit, Heimat.

 

Haben Sie auch Ihrer Frau wegen überlebt?

Das hat mir der Oberarzt der Hämatologie schon mehrmals gesagt, aber ich dachte stets, weder ich noch Dina haben Einfluss auf den Bürgerkrieg in meinem Körper und wir könnten lediglich die Art und Weise beeinflussen, wie wir damit umgehen. Aber mittlerweile muss ich meinem Arzt recht geben, ich denke nicht, dass ich ohne Dina so lange überlebt hätte.

 

Welche Figur in Ihrer Script Avenue macht Ihnen etwas vor in Sachen Liebe?

Maricel. Maricel ist Dina. Und ich verliebe mich als Romanfigur in Maricel. Die Szenen habe ich besonders gerne geschrieben und dabei ein paar Tränen vergossen. Tja, ein Autor, der von seiner eigenen Geschichte überwältigt wird und die Tastatur wässert, ist natürlich auch Stoff für eine Komödie. Im neuen Roman Der Mann, der Glück brachte verliebt sich der Ich-Erzähler in eine Elsässerin, doch es ist natürlich immer Dina, in die ich mich erneut verliebe. 

 

Worauf kommt es an im Leben?

Zu Lebzeiten ist das individuell verschieden. Wenn das Ende naht, bedauert man, dass man soviel Lebenszeit mit idiotischen Dingen verbracht hat, dass man zu viel gearbeitet und den Freundeskreis zu wenig gepflegt hat. Es stirbt sich leichter, wenn man mit einer gewissen Befriedigung auf sein Leben zurückschauen kann, wenn man weiß, dass man schwierige, aber lösbare Aufgaben gemeistert hat, wenn man einige Träume realisiert und das Leben anderer Menschen signifikant verbessert hat. Denn nach dem Tod heißt es schon bald »aus den Augen, aus dem Sinn«, man wird schnell vergessen, sofern man keine Schulden hinterlassen hat. Überleben tut man nur im Gedächtnis der Menschen, die man geliebt hat oder denen man Gutes getan hat. Aber auch das erlischt mit der Zeit wie alles im Leben. Und am Ende spielt eh alles keine Rolle, weil Tote keine Erinnerung haben.

 

Was soll auf Ihrem Grabstein stehen?

Ich will keinen Grabstein. Ich will auch kein Land zum Vermodern beanspruchen. Ich will kremiert werden. Meine Frau und mein Sohn werden sich die Asche teilen, wobei sie sich noch nicht im Klaren sind, wer die Arme und wer die Beine kriegt.

 

Sterben und sterben lassen

Die Weltwoche publizierte kürzlich einen kritischen Artikel zur Sterbehilfe. Das Problem dabei: Ein gesunder Mensch kann nicht fundiert über das Thema urteilen. Niemand hat das Recht, mir vorzuschreiben, wie ich mein Leben beenden soll.

Von Claude Cueni

Mein Sohn hat mir abgeraten, diesen Beitrag zu schreiben. Er meint, ich würde in der Öffentlichkeit langsam als «Autor wahrgenommen, der niemals stirbt». Mein Sohn ist nicht nur das Beste, was mir jemals im Leben passiert ist, er ist auch seit einem Vierteljahrhundert mein fähigster Lektor, meine zuverlässige second opinion. Als Jurist und Strafrichter hat er eine andere Sicht der Dinge.

Ich zögerte noch aus einem anderen Grund, diesen Beitrag zu schreiben. Weil ich Matthias Ackeret zustimme, wenn er in seinem kritischen Artikel zur Sterbehilfe schreibt: «Dass ein alter, krebskranker Mensch, der dem Tod geweiht ist, sich für die Sterbehilfe entscheidet, ist nachvollziehbar.» Also machte eine Replik wenig Sinn. Ich hätte höchstens angefügt, dass es auch nachvollziehbar ist, wenn es sich um einen lediglich mittelalterlichen, krebskranken Mann handelt.

Was solche Debatten erschwert, ist stets der Umstand, dass jeder von einem anderen Fallbeispiel ausgeht. Ackeret legt den Fokus auf einen eher seltenen Fall: eine mehr oder weniger gesunde Frau, die sich entschied zu sterben. Den gibt es natürlich auch, aber er ist die Ausnahme.

Mut zum Weiterleben

Rico Bandle bat mich ein paar Tage später, meine Absage nochmals zu überdenken und einen Text zu schreiben, der meine eigene Situation beschreibt. Ich mag meine eigene Geschichte nicht mehr hören, und vielen Leserinnen und Lesern geht es vielleicht ähnlich. Aber als er mich fragte, ob sich denn ein Gesunder fundiert zum Thema Sterbehilfe äussern könne, setzte ich mich an den Computer.

Als ich im Herbst 2009 an Leukämie erkrankte und die Überlebenschancen gering waren, holte ich in Frankreich eine Zweitmeinung ein. Der Arzt meinte, an einer Leukämie zu sterben, sei kein schöner Tod und es sei in diesem fortgeschrittenen Stadium nicht falsch, das Leben zu beenden. Ich kontaktierte vom Spitalbett aus diverse Sterbehilfeorganisationen. Bei einem Verein hatte ich den Eindruck, es ginge um einen Termin für eine Fensterreinigung: «Wann können wir anfangen?» Grosses Vertrauen setzte ich hingegen in Frau Dr. med. Preisig von Lifecircle. Sie war die Einzige, die um meine vollständige Krankenakte bat, diese ausgiebig studierte und mich dann in einem dreistündigen Gespräch davon abhielt, voreilig zu handeln. Sie entsprach in keiner Weise dem negativen Bild, das die Medien von ihr zeichnen. Sie hat auch nie über Geld gesprochen oder um ein Honorar gebeten. Abschliessend sagte sie, sie sei einfach da, wenn es nicht mehr ginge. Eine Sterbehelferin, die Mut zum Weiterleben macht? Ja, das ist Frau Dr. med. Preisig.

Ich lebe wahnsinnig gerne. Das Leben ist hochinteressant. Wenn ich um zwei Uhr morgens aufstehe (unfreiwillig), freue ich mich, auf dem iPad die News der internationalen Presse zu lesen. Über Whatsapp erhalte ich täglich ein berührendes Video meiner Enkelin. Sie ist acht Wochen alt, ich will sie aufwachsen sehen. Wenn meine Frau um fünf in mein Arbeitszimmer kommt, umarmen wir uns nach zehn Jahren immer noch wie Frischverliebte. Wir haben es gut miteinander. Ich habe ein wunderbares Leben. Ich bin umgeben von humorvollen Menschen, ich mag Ironie, Sarkasmus und eine Prise Zynismus, Lachen ist eine gute Medizin.

Therapiebedingte Langzeitschäden

Im letzten Herbst setzte der Bürgerkrieg in meinem Körper wieder ein. Seit der leukämiebedingten Knochenmarktransplantation stossen die fremden Blutstammzellen meine Organe ab. Nach zehn Jahren sind sechzig Prozent der Lunge irreversibel zerstört. Mir reichen vierzig Prozent zum Schreiben. Zum Treppensteigen hätte ich gern ein bisschen mehr.

Je länger man eine solche Krankheit überlebt, desto wahrscheinlicher ist das Auftreten von therapiebedingten Langzeitschäden. Wie zum Beispiel die Polyneuropathie. Wenn Sie an gewissen Tagen einen Buchstaben in die Tastatur tippen, ist es so, als hätte der Zahnarzt einen Nerv getroffen. Ich musste deshalb mit Schreiben aufhören. Ich schrieb in meinem autobiografischen Roman «Script Avenue»: «Solange ich schreibe, werde ich nicht sterben.» Das gab mir zu denken.

Die Polyneuropathie begann bereits vor einigen Jahren. Zuerst verklebten nur die Fussgelenke, und es gab immer weniger Tage und Nächte, in denen ich nicht von Muskelkrämpfen und Nervenschmerzen gepeinigt wurde. Dauererschöpfung. Atemlos durch die Nacht. Aber ohne Helene Fischer.

Meine Wohnung gleicht heute einer Krankenstation. Manchmal möchte ich einschlafen und nie mehr aufwachen. Aber ich steige immer noch jeden Morgen auf mein Fitnessvelo, mache Kraftübungen und singe eine Stunde lang die Oldies und Chansons der siebziger Jahre. Singen ist gut für die Lunge, und man kann nicht gleichzeitig «Aux Champs-Elysées» singen und Trübsal blasen. Das Leben unter dem Damoklesschwert ist anspruchsvoll, es braucht Disziplin und Wille.

Bereits an Weihnachten 2017 musste ich mit einem schweren Lungeninfekt ins Spital. Die Behandlung wurde schwierig, weil ich noch den Rotavirus auflas. Als man mich in einem kritischen Zustand auf die Intensivstation verlegen wollte, warf ich das Handtuch. Ich rief Frau Dr. med. Preisig an, sie war im Urlaub und bereit, diesen zu unterbrechen. Wir vereinbarten den 13. Januar 2018. Meine Frau brachte mich mit einem Sauerstoffkonzentrator nach Hause und wurde meine Tag- und Nachtschwester. Die nächsten fünf Tage verbrachte ich meistens auf dem Klo. Als der Virus erledigt war, begannen die Lungenmedikamente zu wirken. Ich kriegte nochmals die Kurve, zum dritten Mal innerhalb von zehn Jahren. Ich hatte überlebt, aber auf einem nochmals tieferen Niveau.

Mangel an Empathie?

Die Gewissheit, dass ich das Leiden im allerschlimmsten Fall abkürzen kann, macht mein Martyrium erträglich. Das ist ein ganz wichtiger Punkt, den kaum ein Gesunder versteht. Ohne Handbremse würde kein Mensch in ein Auto steigen. Frau Dr. med. Preisig verdient deshalb für ihre Arbeit höchste Wertschätzung.

Wenn sich gesunde Leute über Sterbehilfe äussern, haben sie kaum eine Ahnung, wie tief man ins Elend abrutschen kann, wenn Schmerzen schwer kontrollierbar und Heilungsaussichten ausgeschlossen sind. Ist es ein Mangel an Vorstellungsvermögen oder ein Mangel an Empathie?

Meine erste Frau starb nach vierzehnjähriger Krankheit an Krebs. Sie hatte sterben wollen wie ihre geliebten Hunde. Ihr Arzt hielt sie davon ab, er sagte, heute sterbe man schmerzfrei. Meine Frau hatte bis zuletzt Schmerzen, die Morphiumspritzen behinderten die Atmung. Ihr Arzt meinte später, sie hätte sich ins künstliche Koma versetzen lassen sollen, dann wäre sie schmerzfrei gestorben.

Auf den Tod warten ist definitiv nicht mein Ding. Als mein Vater vor einigen Monaten mit 95 im Sterben lag, fragte er mich bei jedem Besuch: «Was mache ich eigentlich hier? Auf den Tod warten?» Ich habe ihm nie geantwortet. Es war seine Entscheidung.

Ich bin leidensfähig, sehr sogar, ich bilde mir ein, ich sei ein schwerverletzter römischer Legionär vor Alesia. Ich kann mich gut mit fiktiven Figuren identifizieren. Tragikomische Szenen bringen mich zum Lachen, manchmal zum Weinen. Ich bin längst mein eigener Hofnarr geworden.

Ich habe mittlerweile mein Ableben sowohl mit meinem Arzt als auch mit meiner Familie besprochen. Mein Sohn und meine Frau werden sich die Asche teilen, wobei noch nicht klar ist, wer die Arme und wer die Beine kriegt.

An der Schwelle zum Tod

Ich liebe das Leben unglaublich, ich werde nicht leichtfertig aufgeben, ich bin es meiner Familie schuldig, ich bin es auch den Ärzten und dem gesamten Pflegepersonal schuldig. Sie haben sich enorm um mich bemüht und mir ein Leben in der Verlängerung geschenkt. Auch wenn die Zukunft abhandengekommen ist.

Je kürzer meine Lebenserwartung wird, desto mehr geniesse ich die Natur. Bücher verlieren an Bedeutung. Was überlebt, sind die Gene und die guten Taten.

Die Gerüchte über meinen baldigen Tod sind etwas verfrüht. Denn ich habe wieder mit Schreiben begonnen, bin an der letzten Überarbeitung meines neuen Romans. Ich glaube an die Fortschritte der Medizin, walking dead wird zur chronischen Erkrankung.

Ich werde immer wieder gefragt, ob man an der Schwelle zum Tod nicht doch noch religiös wird. Als Teenager bezeichnete ich Gott als Sankt Nikolaus für Erwachsene. Heute halte ich Religion für die grösste Betrugsgeschichte der Menschheit, für eine groteske Form des Aberglaubens. Manchmal schreiben mir Leute anonym, der liebe Gott bestrafe mich. Aber es sterben leider auch Babys an Leukämie, bevor man ihnen Religiosität wie eine Schluckimpfung verabreicht.

Wenn ich eines Tages das Palliativstadium erreiche, werde ich es akzeptieren, und niemand hat das Recht, mir vorzuschreiben, wie ich das Leben beenden soll. Dieser Niemand ist nicht derjenige, der mir um zwei Uhr morgens beisteht, wenn ich mich wie Kafkas Käfer vor lauter Krämpfen und Nervenschmerzen nicht mehr selber aufrichten kann. Wenn ich es eines Tages beenden muss, dann wird es kein Suizid sein, sondern Schmerzbefreiung mit Todesfolge. Wieso soll ein vernünftiger Mensch ausgerechnet das Sterben dem Zufall überlassen?

Leben und leben lassen. Sterben und sterben lassen. Jeder Film geht einmal zu Ende. Ist das etwa ein Grund, den Film nicht anzuschauen? Ich habe akzeptiert, dass jedes Leben ein Verfalldatum hat. Wie jedes Mandarinenjogurt auch. Seneca sagt, das Leben sei nicht zu kurz, wenn man es richtig genutzt habe. Das ist so, no bad feelings.

© Die Weltwoche vom 25. April 2019
 
 
 

39 Blick »Zu wenig Planet« dt./engl.

 


© Blick 28. Juni 2019 / Folge 39


Vor rund 70’000 Jahren schrumpfte die Weltbevölkerung aufgrund eines Temperatursturzes auf einige Tausend Exemplare. Nach der erneuten Klimaerwärmung hatte der Mensch die Möglichkeit, sesshaft zu werden, Ackerbau und Viehzucht zu betreiben, Vorräte anzulegen und sich fleissig zu vermehren.

Als Julius Cäsar die Helvetier bei Bibracte zur Umkehr zwang, lebten bereits rund 250 Millionen Menschen auf der Erde, zu Beginn des 17. Jahrhunderts waren es 500 Millionen. Ernteausfälle, Hungersnöte, Seuchen und Kriege verhinderten einen weiteren Zuwachs. Das änderte sich im 19. Jahrhundert dank der industriellen Revolution, Fortschritten in der Medizin und Ertragssteigerungen in der Landwirtschaft.

Als Winston Churchill 1965 starb und die Rolling Stones die Berliner Waldbühne zertrümmerten, hatte sich die Weltbevölkerung auf rund 3,3 Milliarden mehr als versechsfacht. Heute zählt die Uno 7,7 Milliarden und sagt für 2050 9,7 Milliarden voraus.

Es versteht sich von selbst, dass alle umwelt- und klimapolitischen Massnahmen verpuffen, wenn die Weltbevölkerung in diesem Tempo weiterwächst.

Mehr Menschen verbrauchen mehr Ressourcen. Ein Mangel führt zu Krieg. Ein Überschuss an jungen Männern sowieso.

Weltweit hat eine Frau im Schnitt 2,5 Geburten, in Afrika sind es 4,4. Hätten diese Frauen die Wahl, schreibt die Gates-Stiftung, wäre das Bevölkerungswachstum um dreissig Prozent reduziert. Doch wegen Armut, mangelnder Bildung und weil in etlichen Drittweltländern Kinderreichtum ein Statussymbol ist, sind viele Bemühungen vergebens. Während in Grossbritannien 92,6 Prozent aller Frauen Verhütungsmittel benutzen, sind es im Südsudan lediglich 4 Prozent. Bill Gates sagt: «Kein Geld dieser Welt kann Afrika retten, nur Geburtenkontrolle.»

Im Gegensatz zur privaten Entwicklungshilfe zerstören staatliche Hilfsmassnahmen aus dem Westen oft das einheimische Gewerbe, füllen die Taschen korrupter Regierungen und besänftigen das schlechte Gewissen der Geberländer. An der demografischen Entwicklung ändert sich nichts.

Ein Uno-Botschafter nennt sie deshalb eine «tickende Zeitbombe». Das ist nicht Science-Fiction, das ist Mathematik.


column by Claude Cueni about the population growth

Translation by Adrian McDonald


In Front of around 70’000 years, the world population shrank due to a temperature fall to a few Thousand copies. After re-warming the person had the opportunity to settle down to grow Crops and livestock, inventories and multiply diligently.

When Julius Caesar forced the helvetii at Bibracte to repentance, lived around 250 million people on the earth, at the beginning of the 17th century. Century, there were 500 million. Crop failures, famines, pestilence and wars prevented a further increase. This changed in the 19th century. Century thanks to the industrial Revolution, advances in medicine and increases in yield in agriculture.

died As Winston Churchill in 1965 and the Rolling Stones, the Berlin forest stage smashed, had six times the world’s population, approximately 3.3 billion more than. Today, the UN counts 7.7 billion, and predicts that by 2050, 9.7 billion.

It goes without saying that all of the environmental and climate fizzle policy measures, when the world population is growing at this rate.

more and More people consume more resources. A deficiency leads to war. A Surplus of young men anyway.

in the World, a woman on average has 2.5 births in Africa is 4.4. These women had the choice, writes the Gates Foundation, would be to reduce the population growth of thirty percent. However, due to poverty, lack of education and because in many third world countries, children are wealth, a status symbol, are a lot of efforts in vain. While in the UK, 92.6 percent of all women use contraception, in South Sudan, only 4 per cent. Bill Gates says: “No money in the world can save Africa, only birth control.”

In contrast to the private development aid destroy the state aid measures from the West, often the local business, filling the pockets of corrupt governments and appease the bad Conscience of the donor countries. To the demographic development, nothing will change.

A UN Ambassador she calls, a “ticking time bomb”. This is not Science Fiction, this is mathematics.

38 Blick »Nach uns die Sintflut« dt./engl.


Claude Cueni about the destruction of the environment

Translation: Adrian McDonalds

“is Constantly tormented of the earth,” said the Roman officer Pliny, as he had to watch as a mine Manager, as slaves in Spanish mines, the Rock is perforated, until it crashed like a porous bone and down to the valley thundered. “As the winner, you can look to the fall of nature.”

Around eighty thousand tons of lead picked up by the Romans every year, from the ground to water pipes and kitchenware, although you could detect the toxicity of yellow-grey skin of the miners. Also for the manufacture of linen dresses you used toxic substances, many of the workers died of lung cancer and tuberculosis. Waste disposed of in rivers, how is that even today in many third world countries. The expanding settlements they cleared all the forests, the eroded soil, Floods were the result.

the stench in the streets

That dirty air, rivers full of feces and contaminated soil make people sick, and then we knew already in ancient Rome. You got annoyed, but mostly about the putrid stench that wafted through the alleys.

Pliny wrote: “We are poisoning yourself what makes us live.” He came to the conclusion that the human nature is detrimental for so long, until it hurt him.

this Is so? In the 20-million metropolis of New Delhi, the toxic exceed on some days steam the of the WHO set the red line to the fifty-fold. Often the Smog engulfs the lunch time, the sun’s light. In the list of the cities with the highest air pollution, we find six Indian cities. However, the country has excellent engineers, physicists, and chemists.

nature exploiters and anti-social

Also in lung surgeons report an increase in the number of broken lungs. While the climate is still about the causes will be discussed, the opinions on the subject of environmental pollution are unanimous.

In their After-me-the-deluge mentality of different industrial natural exploiters of anti-social, leave their garbage everywhere. Improvement is not in sight. More likely, the optimization of the human genome is more likely, so that man is similarly resistant as the rats of Chernobyl.

 


Nach uns die Sintflut

«Ständig wird die Erde gequält», klagte der römische Offizier Plinius, als er als Minenverwalter mitansehen musste, wie Sklaven in spanischen Bergwerken den Fels durchlöcherten, bis er wie ein poröser Knochen zusammenkrachte und ins Tal hinunter donnerte. «Wie Sieger blicken sie auf den Sturz der Natur.»

Rund achtzigtausend Tonnen Blei holten die Römer jedes Jahr aus dem Boden, um Wasserleitungen und Geschirr herzustellen, obwohl man die Giftigkeit an der graugelben Haut der Bergarbeiter erkennen konnte. Auch für die Herstellung von Leinenkleidern benutzte man giftige Stoffe, zahlreiche Arbeiter starben an Lungenkrebs und Tuberkulose. Abfälle entsorgte man in Flüssen, wie das heute noch in vielen Drittweltländern üblich ist. Die expandierenden Siedlungen holzten ganze Wälder ab, der Boden erodierte, Überschwemmungen waren die Folge.

Dass Dreckluft, Flüsse voller Fäkalien und verseuchte Böden die Menschen krank machen, wusste man bereits im alten Rom. Man ärgerte sich aber vor allem über den fauligen Gestank, der durch die Gassen wehte.

Plinius schrieb: «Wir vergiften selbst das, was uns leben lässt.» Er kam zum Schluss, dass der Mensch der Natur so lange schadet, bis sie ihm selbst schadet.

Ist das so? In der 20-Millionen-Metropole Neu-Delhi übersteigen an manchen Tagen die toxischen Schwaden die von der WHO gesetzte rote Linie um das Fünfzigfache. Oft verschlingt der Smog bereits um die Mittagszeit das Sonnenlicht. In der Liste der Städte mit der höchsten Luftverschmutzung finden wir sechs indische Städte. Dabei hat das Land hervorragende Ingenieure, Physiker und Chemiker.

Auch bei uns berichten Lungenchirurgen über eine Zunahme von kaputten Lungen. Während beim Klima noch über die Ursachen diskutiert wird, sind die Meinungen beim Thema Umweltverschmutzung einhellig.

In ihrer Nach-mir-die-Sintflut-Mentalität unterscheiden sich industrielle Naturausbeuter allerdings kaum von Asozialen, die ihren Müll überall liegen lassen. Besserung ist nicht in Sicht. Wahrscheinlicher ist eher die Optimierung des menschlichen Genoms, damit der Mensch ähnlich resistent wird wie die Ratten von Tschernobyl.

© Blick, Folge 38 vom 14. Juni 2019


 

37 Blick »The myth of the cancer-healing vegan blood«

Column, Claude Cueni

In ancient Rome were celebrating gladiatorial combat was originally part of the Funeral. The organizers wanted to honor the deceased with the diluted blood and the spectacle for a political office recommend. Gladiator blood was regarded as a miracle cure. It was used for the “cure” of epilepsy. Doctors contradicting each other. Nevertheless, the need remained for 500 years until the ban of the arena games, around 400 after Christ.

The gladiators died out, the remained but to believe. Charles Henri Sanson, the executioner of the French Revolution, wanted to be a doctor, but had to take the Henkerjob of the father. Kill instead of Heal. He reported in his diaries that each of onlookers huddled under the scaffold to the blood to absorb drops, seeping between the planks of wood through it, when the severed head plopped into the wicker basket. These blood-stained textiles it was said of a healing effect.

but think in Red

blood is always a Symbol for vitality and life force. It was the firm Conviction that you do not appease with blood the gods only, but also disaster to avert, and could cure the Ill. Blood rituals are as old as mankind. In all cultures, blood had a magical effect. Already Odysseus lured into the underworld, the souls of the dead with a blood sacrifice. But a religious coloring has often believe. In Christianity, the priest drinks the communion of the blood of Christ for the spiritual strengthening.

… and a pinch of Himalayan salt

While the country churches are constantly losing members, get an alternative Patchwork-religions of the inlet, because the need for community and spirituality remains the same, and so are looking for a number of Stops in a Mix of radical nutrition and fast rules, green fundamentalism, strictly regulated extremism and a pinch of Himalayan salt.

The most Militant among them, claim that vegan blood cancer heal. Anyone who has dies of cancer and non-vegan eats, it’s your own fault. The cancer vegan Mari Lopez preached last year, 500’000 followers, that chemo therapies are unnecessary. She died a few months later. How many Desperate have followed her advice, is not known.

37 Blick »Heilendes Gladiatorenblut« dt./engl.

deutsch / english


© Blick 2019 / Kolumne 37 vom 31. Mai 2019


The myth of the cancer-healing vegan blood – column, Claude Cueni

In ancient Rome were celebrating gladiatorial combat was originally part of the Funeral. The organizers wanted to honor the deceased with the diluted blood and the spectacle for a political office recommend. Gladiator blood was regarded as a miracle cure. It was used for the “cure” of epilepsy. Doctors contradicting each other. Nevertheless, the need remained for 500 years until the ban of the arena games, around 400 after Christ.

The gladiators died out, the remained but to believe. Charles Henri Sanson, the executioner of the French Revolution, wanted to be a doctor, but had to take the Henkerjob of the father. Kill instead of Heal. He reported in his diaries that each of onlookers huddled under the scaffold to the blood to absorb drops, seeping between the planks of wood through it, when the severed head plopped into the wicker basket. These blood-stained textiles it was said of a healing effect.

but think in Red

blood is always a Symbol for vitality and life force. It was the firm Conviction that you do not appease with blood the gods only, but also disaster to avert, and could cure the Ill. Blood rituals are as old as mankind. In all cultures, blood had a magical effect. Already Odysseus lured into the underworld, the souls of the dead with a blood sacrifice. But a religious coloring has often believe. In Christianity, the priest drinks the communion of the blood of Christ for the spiritual strengthening.

… and a pinch of Himalayan salt

While the country churches are constantly losing members, get an alternative Patchwork-religions of the inlet, because the need for community and spirituality remains the same, and so are looking for a number of Stops in a Mix of radical nutrition and fast rules, green fundamentalism, strictly regulated extremism and a pinch of Himalayan salt.

The most Militant among them, claim that vegan blood cancer heal. Anyone who has dies of cancer and non-vegan eats, it’s your own fault. The cancer vegan Mari Lopez preached last year, 500’000 followers, that chemo therapies are unnecessary. She died a few months later. How many Desperate have followed your advice, is not known.


deutsch


In alten Rom waren Gladiatorenkämpfe ursprünglich Bestandteil von Begräbnisfeiern. Der Veranstalter wollte den Verstorbenen mit dem verflossenen Blut ehren und sich mit dem Spektakel für ein politisches Amt empfehlen. Gladiatorenblut galt als Wundermittel. Es wurde für die «Heilung» von Epilepsie verwendet. Ärzte widersprachen. Trotzdem hielt sich der Brauch 500 Jahre lang bis zum Verbot der Arenaspiele um 400 nach Christus.

Die Gladiatoren starben aus, der Aberglauben blieb. Charles Henri Sanson, der Henker der Französischen Revolution, wollte Arzt werden, musste aber den Henkerjob des Vaters übernehmen. Töten statt Heilen. Er berichtete in seinen Tagebüchern, dass sich jeweils Schaulustige unter das Schafott drängten, um Bluttropfen aufzunehmen, die zwischen den Holzplanken hindurchsickerten, wenn der abgeschlagene Kopf in den Weidekorb plumpste. Diesen blutbefleckten Textilien sagte man heilende Wirkung nach.

Blut war stets ein Symbol für Vitalität und Lebenskraft. Man war der festen Überzeugung, dass man mit Blut nicht nur die Götter besänftigen, sondern auch Unheil abwenden und Kranke heilen konnte. Blutrituale sind so alt wie die Menschheit. In allen Kulturen hatte Blut eine magische Wirkung. Bereits Odysseus lockte in der Unterwelt die Seelen der Verstorbenen mit einem Blutopfer. Aberglauben hat oft eine religiöse Färbung. Im Christentum trinkt der Priester beim Abendmahl das Blut Christi zur spirituellen Stärkung.

Während die Landeskirchen laufend Mitglieder verlieren, erhalten alternative Patchwork-Religionen Zulauf, denn das Bedürfnis nach Gemeinschaft und Spiritualität bleibt bestehen, und so suchen Etliche Halt in einem Mix aus radikalen Ernährungs- und Fastenvorschriften, grünem Fundamentalismus, streng reguliertem Extremismus und einer Prise Himalaya-Salz.

Die Militantesten unter ihnen behaupten, dass Veganerblut Krebs heile. Wer an Krebs stirbt und sich nicht vegan ernährt hat, ist selber schuld. Die krebskranke Veganerin Mari Lopez predigte letztes Jahr ihren 500’000 Followern, dass Chemotherapien überflüssig sind. Sie starb wenige Monate später. Wie viele Verzweifelte ihrem Rat gefolgt sind, ist nicht bekannt.

36 Blick „Ist Gott impotent oder bösartig?«

 

© Blick 17. Mai 2019 / Kolumne 36


Es begann um 9.30 Uhr. Man schrieb den 1. November 1755, Allerheiligen in Lissabon. Die Strassen waren menschenleer. Die Stadtbewohner hatten sich in den Kirchen versammelt, um der Toten zu gedenken. Plötzlich bebte die Erde, die Gewölbe von über 100 Gotteshäusern brachen ein und begruben die Gläubigen unter sich. Wer schwer verletzt überlebte, erstickte an der gigantischen Staubwolke, die sich über den Trümmern erhob und den Himmel verdunkelte. Die brennenden Kerzen in den Kirchen und die offenen Feuerstellen in den Häusern entfachten verheerende Brände. Wer sich ans Ufer des Tejo retten konnte, wurde kurz darauf von zwanzig Meter hohen Wellen in den Tod gerissen. Der Tsunami flutete die Küsten Nordafrikas, und die Nachbeben brachten sogar im fernen Luxemburg eine Militärkaserne zum Einsturz. In den Trümmern von Lissabon stahlen und mordeten marodierende Banden.

Nach der Jahrhundertkatastrophe kämpften alle um die Deutungshoheit. Protestantische Geistliche hielten das Unglück für eine Bestrafung der katholischen Portugiesen, weil sie die falsche Konfession hatten und weil ausgerechnet an diesem Tag das Inquisitionsgericht tagen sollte. Katholiken wiederum erkannten eine Strafe Gottes für das dekadente Leben in der damals reichsten Stadt Europas. Dieser Deutungsversuch geriet jedoch ins Wanken, als die Menschen erfuhren, dass ausgerechnet das Rotlichtviertel die Katastrophe unbeschadet überstanden hatte. Wieso hatte Gott Prostituierte am Leben gelassen? Jeder hatte eine Meinung dazu, und da Meinungen nichts kosten, gab es viele davon.

Das Erdbeben markierte den Beginn der Erdbebenforschung und beeinflusste den Städtebau: Die Häuser erhielten Brandmauern, die Strassen wurden breiter. Aber das nachhaltigste Beben fand in den Köpfen der Europäer statt. Die Menschen fragten irritiert, wieso ein allmächtiger und gütiger Gott so viel Leid zugelassen hatte. Diese öffentlichen Debatten ebneten den Boden für Aufklärung, Wissenschaft und Vernunft.

Der schottische Philosoph David Hume schrieb: «Will Gott Böses verhindern, kann es aber nicht? Dann ist er impotent. Kann er es, will es aber nicht? Dann ist er bösartig.»


ENGLISH


Column by Claude Cueni on the earthquake of Lisbon 1755 / translation Adrian McDonalds

It began at 9.30 am. You wrote the 1. November 1755, all saints day in Lisbon. The streets were empty of people. The town residents had gathered in the churches to commemorate the dead. Suddenly, the earth shook, and the vaults of over 100 houses of worship, broke and buried the faithful among themselves. Those who survived seriously injured, choked on the gigantic cloud of dust that rose above the rubble, and the sky darkened. The burning candles in the churches and the open fires in the houses sparked devastating fires. Who could save to the banks of the Tagus, was ripped out of twenty-Meter-high waves in the death. The Tsunami flooded the coasts of North Africa, and the aftershocks brought as far as Luxembourg is a military barracks to collapse. In the rubble of Lisbon, marauding gangs, stole, and murdered.

After the century of disaster, all fought for the sovereignty of interpretation. Protestant clergy had the misfortune to be a punishment of the Catholic Portuguese, because they had the wrong religion and because, of all things, on this day the Inquisition days. Catholics detected, in turn, a God’s punishment for the decadent life in what was then the richest city in Europe. This interpretation of the trial but was shaken when the people heard that the red light district that had survived the disaster unscathed. Why had left God prostitute alive? Everyone had an opinion, and since opinions cost nothing, there were many of them.

The earthquake marked the beginning of the earthquake research and influenced the urban design: The houses were fire-walls, the roads were wider. But the most sustainable earthquake took place in the minds of the Europeans. The people asked irritated, why an omnipotent and benevolent God had allowed a lot of suffering. These public debates have paved the ground for enlightenment, science and reason.

The Scottish philosopher David Hume wrote: “is there to prevent the God of Evil, can it? Then he is impotent. He can do it, don’t want to do it? Then he is malicious.”

Claude Cueni (63) is a writer and lives in Basel. He writes every second Friday of the VIEWS.


FRANCAIS


Claude Cueni sur le Tremblement de terre de Lisbonne en Vue

Il a commencé à 9h30. On a écrit le 1. Novembre 1755, jour de la Toussaint, à Lisbonne. Les Rues étaient désertes. Les habitants de la ville avaient les Églises se sont réunis pour commémorer les Morts. Soudain la Terre trembla, les Voûtes de plus de 100 lieux de culte se sont effondrés, et les enterrèrent les Fidèles à se. Celui qui, grièvement blessé, a survécu, étouffait à la gigantesque Nuage de poussière, de Débris et, levant le Ciel obscurci. Les Cierges dans les Églises et les Cheminées dans les Maisons ont déclenché des Incendies dévastateurs. Qui se sur la Rive du Tage, de les sauver, a été, peu après, de vingt Mètres de haut, dans des Vagues de la Mort déchiré. Le Tsunami a inondé les Côtes de l’Afrique du nord, et les Répliques ont même apporté dans l’extrême Luxembourg une Caserne militaire de l’Effondrement. Dans les Ruines de Lisbonne ont volé et mordeten marodierende Gangs. Après la Jahrhundertkatastrophe se battaient tous pour l’Interprétation. Protestante Spirituelle gardé le Malheur, pour la Punition des Portugais catholiques, parce qu’ils la fausse Religion avaient et parce que, justement, ce Jour-là, le tribunal de l’Inquisition jours. Les catholiques, à leur tour, ont reconnu la Punition de Dieu pour la Vie décadente de l’époque, de Ville les plus riches d’Europe. Cette Deutungsversuch a cependant Vaciller, comme les Gens ont appris que, justement, le Quartier rouge de la Catastrophe, sans préjudice avait survécu. Pourquoi Dieu avait des Prostituées laissé la Vie? Tout le monde avait une Opinion, et parce que les Opinions ne coûte rien, il y avait beaucoup de celui-ci. Le Tremblement de terre qui a marqué le Début de l’étude des tremblements de terre et de l’influence de l’Urbanisme: Les Maisons ont reçu des Murs coupe-feu, les Routes ont été plus large. Mais le plus puissant Tremblement de terre a eu lieu dans l’Esprit des Européens. Les Gens demandaient irrité, et pourquoi, un tout-puissant et bienveillant de Dieu tant de Souffrances avait admis. Ces Débats publics ont préparé le terrain pour la Sensibilisation, de la Science et de la Raison. Le Philosophe écossais David Hume écrit: «Dieu Veut empêcher le Mal, mais ne peut pas? Ensuite, il est impuissant. Il peut, mais ne veut pas? Ensuite, il est méchant.» Claude Cueni (63) est un Écrivain et vit à Bâle. Il écrit chaque deuxième Vendredi.


 

35 Blick »Pfeffer auf dem Mond«

 

© Blick, Kolumne 35 vom 3. Mai 2019


Pfeffer auf dem Mond

Wenn eine Nervensäge im Mittelalter die Geduld seiner Mitmenschen strapazierte, wünschte man ihn ins Pfefferland. Man nahm irrtümlicherweise an, dass das Land, wo der Pfeffer wächst, am weitesten entfernt ist.

Pfeffer war damals unglaublich teuer, weil er auf einer monatelangen und gefährlichen Reise von Arabern und Venezianern auf dem Landweg von Indien nach Europa transportiert wurde. Nur vermögende Leute konnten sich Pfeffer leisten, also Adel und Klerus. Man nannte sie deshalb abschätzig «Pfeffersäcke». Das Gewürz war ein Statussymbol, zeitweise eine Zweitwährung, die mit Gold aufgewogen wurde. Wer also in Europa Pfefferkörner kaufen wollte, bezahlte eine «gepfefferte Rechnung».

Arme Leute, und das waren damals die meisten, würzten ihre Speisen mit Senfbrühe. Diese wurde so eifrig benutzt wie heute Ketchup. Zu jedem Essen «gab man seinen Senf dazu», auch das eine häufige Redewendung heute

Die ewigen Rivalen Spanien und Portugal teilten sich die Welt und wollten über das Meer die legendären Gewürzinseln erreichen. Der portugiesische Seefahrer Vasco da Gama fuhr der afrikanischen Küste entlang und entdeckte die Route nach Indien. Sein Landsmann Magellan fuhr hingegen für den Erzfeind Spanien Richtung Westen und fand die Passage zum Pazifik. Im September 1519 war er mit fünf Schiffen und 234 Männern aufgebrochen, nach knapp drei Jahren kamen 18 Überlebende zurück, vier Schiffe waren gesunken, aber das letzte war voll beladen mit Pfefferkörnern, Muskat und Zimt im Wert von 500 Golddukaten. Das entsprach den hundertfachen Expeditionskosten.

Magellan hatte nichts davon. Der philippinische Stammesfürst Lapu-Lapu hatte ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht beziehungsweise einen Speer durch die Brust gebohrt.

Magellans erste Weltumsegelung war der Auftakt zur blutigen Christianisierung Südostasiens und der Vorabend der Globalisierung. Mittlerweile liegt Asien vor der Haustür.

Deshalb wünscht man sich heute nervige Menschen nicht mehr ins Pfefferland, sondern auf den Mond. Es ist allerdings fraglich, ob es dort oben genügend Platz gibt.

34 Blick »Der Wolf kommt«


 

© Blick vom 20. April 2019


Der griechische Dichter Äsop, der vor rund zweieinhalbtausend Jahren lebte, ist kaum bekannt, berühmt ist hingegen seine Fabel vom jugendlichen Hirtenjungen, der immer wieder um Hilfe schreit («Der Wolf kommt!»). Die Dorfbewohner eilen zu Hilfe, kein Wolf weit und breit. Als dann der Wolf tatsächlich kommt, bleiben die Leute zu Hause.

Wer 1972 als Teenager eine Buchhandlung betrat, muss ganz schön erschrocken sein. Der Bestseller «Die Grenzen des Wachstums» war omnipräsent. Wer damals 16 war, ist heute 63, und falls er ab 1981 das Hamburger Magazin «Der Spiegel» gelesen und aufbewahrt hat, findet er heute in seiner Sammlung 38 Cover-Stories, die mehr oder weniger das Ende der Welt voraussagen: «Der Wald stirbt» (1981), «Wer rettet die Erde?» (1989), «Vor uns die Sintflut» (1995), «Achtung, Weltuntergang» (2006), um nur einige zu nennen.

Alles, was man zum ersten Mal erlebt, prägt sich wie ein Brandzeichen ein, egal, ob es das Sterben eines geliebten Menschen ist, der erste Sex oder die erste Fernreise in einen anderen Kulturkreis. Das gilt auch für die erste Schocknachricht.

Auch wenn der Weltuntergang noch auf sich warten lässt, so haben diese übereilten Prophezeiungen doch zu einer Sensibilisierung beigetragen.

Jugendliche, die noch kaum der Pubertät entronnen sind, werfen ergrauten Politikern vor, den Planeten zugrunde zu richten, weil sie altersbedingt die Folgen ihrer Tatenlosigkeit eh nicht mehr erleben werden. Das ist teilweise zutreffend.

Die Passivität der Erwachsenen hat aber auch damit zu tun, dass die Älteren seit 38 Jahren Weltuntergänge erleben und überleben und mittlerweile ähnlich reagieren wie die Dorfbewohner in der Fabel von Äsop. Einem Teenager, der noch vom hormonellen Tsunami getrieben wird und Halt in radikalen Schwarz-Weiss-Ideologien sucht, fehlt mangels Lebenserfahrung schlicht die Möglichkeit, etwas, das er zum ersten Mal erlebt, vernünftig einzuordnen.

Könnte er das, wäre ihm bewusst, dass das ungebremste Bevölkerungswachstum das grösste Problem der Menschheit ist. Es ist ein sehr heikles Thema, das man lieber ausklammert. So wie es auch schon die Betreiber von Hotel Mama gemacht haben.


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