Vitus Huonder, Bischof der Pädophilen?

Der Blogbeitrag, auf den sich Blick und Blickamabend beziehen:

Das römisch-katholische Bistum Chur betrieb bis 1972 das katholische Internat Kollegium Maria Hilf. Danach ging es an den Kanton Schwyz über. Seit 2007 leitet Vitus Huonder als Bischof das Bistum Chur.

2014 erwähnte ich in meinem Roman „Script Avenue“ einen pädophilen Priester, der 1973 im Internat Schwyz auch als Präfekt zuständig war. Nach dem üblichen Entrüstungssturm teilte der damalige SVP Landammann und Regierungspräsident Walter Stählin der Presse mit, seine „Taskforce“ habe keine Fakten gefunden und würde den Fall deshalb ad acta legen, alles sei meiner Fantasie entsprungen. Stählin hatte keine Fakten, weil er die damaligen Mitschüler nicht befragen wollte. Das zeigt, dass Politiker manchmal auch dann lügen, wenn sie die „Wahrheit“ sagen.

Einige Wochen später besuchte mich der Bischofsvikar und Offizial der Diözese Chur, Kanonikus Msgr. Dr. med., Dr. iur.can  Joseph M. Bonnemain des Bistums Chur und wollte Näheres über die damaligen Vorfälle im Jahre 1973 im Internat Schwyz erfahren, weil der Kanton ihm die Namensliste der damaligen Mitschüler hartnäckig verweigerte…

Nach Rücksprache mit ehemaligen Mitschülern gab ich Dr. Bonnemain die Namen, Adressen und Telefonnummern jener Mitschüler, die bereit waren, als Zeitzeugen Auskunft zu geben. Ich zeigte ihm auch meinen damaligen Tagebucheintrag vom November 1973: „Das Glockengebimmel regt mich auf, der schwule Präfekt auch.“ Gemeint ist der pädophile Präfekt Costa, der ausgewählte Schüler immer wieder sexuell belästigte (mehr nicht). Er wurde wahrscheinlich noch zu einer Zeit eingestellt, als das Internat unter der Leitung des Bistums stand.

Herr Dr. Bonnemain war aufrichtig daran interessiert, die Fakten kennenzulernen, die ihm die Kantonsregierung hartnäckig vorenthielt. Wir sprachen auch ausführlich über ganz andere Themen, z.B. über die Art und Weise wie Menschen sterben, da ich meine Frau verloren hatte und er in Zürich Sterbende begleitet. Er hat mich in jeder Beziehung sehr stark beeindruckt und ich würde mir wünschen, dass es mehr Menschen wie Dr. Bonnemain in den Führungsspitzen der Katholischen Kirche gibt.

Er hat die Zeitzeugen später nicht kontaktiert. Vielleicht war er nach unserem Gespräch und der Durchsicht der Liste mit den Zeitzeugen bereits überzeugt, dass er es nicht mit einem Phantasten zu tun hatte.

Aber er muss selbstverständlich seinem Bischof Vitus Huonder davon berichtet haben. Ich hätte gerne gehört, dass Vito Huonder darauf die Pädophilen in den eigenen Reihen der „Gräueltat“ bezichtigt.


Antworten zu den am häufigsten gestellten Fragen:

Wurden Sie missbraucht?

Nein, ich, mein Kollege Dominique Hildebrand und andere, wurden wiederholt sexuell belästigt, aber nicht missbraucht. Ob andere missbraucht wurden, ist mir nicht bekannt.

Wieso habt ihr euch nicht bei der Internatsleitung beschwert?

Wir waren grossgewachsene, athletische Jugendliche in der Pubertät, während der pädophile Präfekt ein sehr schmächtiger Mann von vielleicht 1.55 war. Wir waren ihm physisch weit überlegen und deshalb nie in Gefahr. Da er uns jeweils von hinten an den Hintern griff, war es für eine Abwehr schon zu spät.

In der Pubertät ist es Ehrensache, dass man sich nicht ausgerechnet bei den Autoritäten beklagt, die man verachtet und verspottet. Wir rächten uns jedoch auf vielfältige und kreative Weise an ihm.

Vereinigung von Ehemaligen bestreiten die Vorkomnisse.

Die entsprechenden Leserbriefe, die dazu in der LNN zu lesen waren, stammen von Ehemaligen, die in den 60er Jahren in diesem Internat waren. Wie wollen die wissen, was sich 1973 hinter diesen Mauern abgespielt hat? Wir wollen sie den fehlbaren Präfekten gekannt haben? Sie argumentieren nach dem Motto: Was nicht sein darf, kann nicht sein.

Wieso hat die Taskforce des Kantons Schwyz keine Fakten gefunden?

Als langjähriger Verfasser von Krimi Drehbüchern, hätte ich alle ca. 70 Schüler angeschrieben, die seinerzeit mit mir diesen offenen Schlafsaal geteilt haben. In diesem Schlafsaal schlief auch der pädophile Präfekt, der abends ab und zu ausgewählte Schüler besuchte. Jedes Bett war auf drei Seiten mit Holz verkleidet und auf einer Längsseite mit einem Vorhang. Ich hätte den ca. 70 Ehemaligen einen anonymsierten Fragebogen zugeschickt und anschliessend Fakten gehabt. 

Die Taskforce hat keine Fakten gefunden, weil sie keine Fakten finden wollte. Das ist auch der Grund, wieso sie sich bis heute hartnäckig weigert, dem Bistum Chur die Liste der damaligen Schüler des Jahres 1973 auszuhändigen. Damit das Bistum Chur die damaligen Schüler nicht befragen kann. 

Ich habe später in wochenlanger Kleinarbeit Ehemalige ausfindig gemacht. Zum Teil hatte ich nach 40 Jahren ihre Namen vergessen. Den wichtisten Zeitzeugen stöberte ich in Marokko auf, er restauriert dort historische Gebäude. Ich gehe davon aus, dass auch er noch von den Medien befragt wird. Einen anderen fand ich in der frz. Schweiz.

Diente dieser Skandal 2014 nicht auch der Promotion ihres neuen Romans „Script Avenue“?

In der Tat werden in der Branche immer wieder kleine Skandale inzeniert, um Bücher, Filme oder Songs zu promoten. Bei der »Script Avenue« war es ein Zufall, der mir am ersten Tag willkommen war, aber bereits am darauf folgenden Tag mächtig ärgerte: Denn in der »Script Avenue» erzählte ich auf  650 Seiten das Leben eines Schweizer Forest Gump von 1956 bis 2010, also rund 50 Jahre Zeitgeschichte. Die Ereignisse im Internat Schwyz belegen nur wenige Monate bzw. nur gerade ca. drei von 650 Buchseiten. Und von diesen drei Buchseiten sind es wiederum nur wenige Zeilen die den »Skandal« ausgelöst haben (siehe Abdruck am Ende dieses Artikels). Als die Regierung in Schwyz beschloss, den Fall »mangels Fakten« ad acta zu legen, beschlossen Verlag und ich, es dabei bewenden zu lassen, damit der Roman als das wahrgenommen werden konnte, was er tatsächlich war: Ein eher philosophisches Werk über die Kürze des Lebens und die Vergänglichkeit aller Dinge, ein Schweizer Forest Gump Roman. 

Welche Bedeutung haben diese Ereignisse für die Ehemaligen heute?

Sie haben nicht die geringste Bedeutung. Wir haben für diese Ereignisse nur Spott übrig. Wieso wir das Ganze nach so vielen Jahren wieder aufwärmen? Wenn wir in den Medien – wie in diesen Tagen – einen Vitus Huonder hören, platzt dem einen oder anderen der Kragen und er erinnert sich an die Vorfälle im Jahre 1973 im Internat Schwyz. Diese Heuchelei ist für uns alle unerträglich.

Ist eine Anzeige gerechtfertigt?

Nein, es gilt Meinungsfreiheit ohne Wenn und Aber. Das gilt sowohl für den heuchlerischen Bischof als auch für seine Kritiker. Zur Meinungsfreiheit gehört, dass man Dinge sagen darf, die niemand hören will. Auch das gilt für beide Seiten. 


2014_05_Cueni_ScriptAvenue_001_Neu KopieDie damals beanstandeten Textstellen in Fettschrift.

Auszug aus dem Roman „Script Avenue“, 640 Seiten, Eine Schweizer Forest Gump Geschichte über 50 Jahre Zeitgeschichte.

Script Avenue

Die Ereignisse in Schwyz werden auf lediglich drei Seiten thematisiert. Auszug:


Die Mythen

Ich lebte von da an im Schatten einer monumentalen Bergpyramide, die von den Einheimischen Die Mythen genannt wurde. Wenn ihre Schädel unter dem Druck des warmen Föhnwindes zu explodieren drohten, sagten sie: Das sind die Mythen.

Am Fuß des Berges erstreckte sich auf einem grün bewachsenen Hügel ein langes Gebäude mit Kuppeln. Da das Gebäude isoliert in der Landschaft stand, hielt man es nicht gleich für eine Kirche. Das war nicht ganz falsch, denn in diesem Gebäude geschahen Dinge, die man in einer Kirche nicht tut.

Ich fand mich also wieder im katholischen Kollegium Maria Hilf des Bistums Chur, zugleich Internat und Gotteshaus. Hier wurden die schwarzen Schafe aus den verdorbenen Großstädten gesammelt, gezüchtigt, erniedrigt, gebrochen und nach einigen Jahren als zivilisierte Säugetiere in die Universitäten entlassen. Doch dieser religiöse Kerker war immer noch besser als der bisherige Gulag, ganz zu schweigen von Vilaincourt. Maria Hilf wurde ihrem Namen nicht gerecht. Die Internatsschule wurde von vier Dutzend Geistlichen geleitet. Sie züchtigten die gefallenen Engel aus Sodom & Gomorrha mit inquisitorischer Strenge, als wollten sie Gott beweisen, dass er in ihnen gute Feldweibel hatte. Vereinzelt kamen auch einige Bauernsöhne aus dem Dorf in die Anstalt. Sie mieden jedoch den Kontakt mit den Gescheiterten aus den Großstädten, denn sie verstanden sie nicht: Ihre forsche und flapsige Art war ihnen fremd. Sie kannten ihre Songs nicht und verstanden ihre Pointen nicht.

Als wollten meine Eltern mich zusätzlich bestrafen, veranlassten sie, dass ausgerechnet Onkel Arthur mich in dieses erzkatholische Zuchthaus brachte. Wir sprachen die ganze Fahrt über kein einziges Wort. Als wir schließlich ankamen, sagte er, dass er für die Internatskosten aufkommen werde, weil er noch was gutzumachen habe. Jetzt bezahlte ein pädophiler Kriegsverbrecher mein Wirtschaftsgymnasium. Ich tröstete mich damit, dass ich von nun an wenigstens meine Eltern nicht mehr sehen und hören würde. Ich hätte es aber vorgezogen, wenn man mir vor dem Eintritt den Schädel rasiert, die Füße in Ketten gelegt und einen quergestreiften schwarzweißen Pyjama angezogen hätte. Stattdessen wurde ich vor der Abfahrt zum ersten Mal in meinem Leben zu einem Friseur geschickt, der mich für teures Geld wie ein tuntiges Schulmädchen frisierte: gewellte Locken, über der Stirn war das Haar wie eine Perücke aus dem 18. Jahrhundert geföhnt, ein bisschen Chris Norman, als er noch bei Smokie sang und noch nicht den Crèmeschnitten verfallen war.

So wie er sahen die meisten Pop-Idole der 70er-Jahre aus. Tja, die Frauen wünschten sich damals feminine Männer, die ihre Joints teilten, einmal wöchentlich das Klo reinigten und beim Anblick von neugeborenen Meerschweinchen von Weinkrämpfen geschüttelt wurden. Die Männer wurden zu Softies dressiert, bis die Frauen zwanzig Jahre später ihre gezüchteten Pantoffelhelden nicht mehr ertrugen und sich wieder nach echten Machos mit maskulinem Kinn und mächtigem Brustkasten sehnten. Tja, als die Männer zu Frauen wurden, wurden die Frauen eben zu Männern.

Ich trug zu meiner peinlichen Frisur auch neue Kleider und sah aus wie ein Konfirmant aus Vilaincourt. Ich sollte damit einen guten Eindruck machen, der erste Eindruck sei eben wichtig, Kleider machen Leute und so. Ich kann dem ausnahmsweise zustimmen. Bei meinem Anblick war den anderen Schülern sofort klar, dass ich ein Großstadtspießer war, ein langweiliger Streber und möglicherweise sogar schwul, ich wurde gemieden. Bei der ersten Gelegenheit – also noch vor dem Frühgottesdienst – verkloppte ich den übelsten Spötter. Diese Taktik hatte ich von Onkel Arthur gelernt und aus unzähligen Knastfilmen, gleich am Anfang richtig reinhauen. Ich kaufte einem Schüler ein Paar Jeans und ein Black Sabbath-T-Shirt ab und machte allen klar, dass ich ein cooler Typ war und mit mir nicht zu spassen war.

Der Tag begann mit der Frühmesse. Beten, Frühstück und anschließend eine halbe Stunde zur religiösen Besinnung, die wir zum Austausch von Pornoheften nutzten. Tagsüber Schulunterricht.. Unsere Lehrer waren zum größten Teil Priester, Sie können sich vorstellen, wie aufregend die Evolutionsgeschichte dargestellt wurde. Wie konnte man die Erkenntnis, dass wir vom Affen abstammen, mit dem Glauben in Einklang bringen, dass wir nach Gottes Ebenbild designt worden sind? Es gab nur eine logische Erklärung. Dass Gott ein Affe war. Das hat mir später in Bangkok imponiert, als ich die Wandzeichnungen sah über die Entstehung der Welt. Ja, über Bangkok werde ich auch schreiben müssen. Leider.

Mein Vater war kein Affe, er konnte sogar Briefe schreiben. Als Abschiedsgruß sandte er mir einen netten Brief hinterher: Er stellte klar, dass ich meine Mutter krank gemacht hatte, und dass sie bereute, mich auf die Welt gebracht zu haben. Er hätte im Grunde auch nie Kinder haben wollen. Die bräuchte er nicht zum Glücklichsein, er bräuchte nur Gott und frische Luft. Die ehrenwerten Gottesmänner im Internat setzten noch einen drauf und erklärten uns, dass wir der Abschaum der Schweiz seien, den keine staatliche Schule mehr aufnehmen wollte. Mag sein, vielleicht hatten sie sogar Recht. Aber wir wurden auch vom Abschaum der Schweiz unterrichtet. Von katholischen Priestern, die aus nur vage bekannten Gründen hierher abgeschoben worden waren. Der eine soff wie ein Berserker und schlief während des Unterrichts über seinem Pult ein, andere fassten den Zöglingen beim kollektiven Waschen an den Hintern. Sie bestätigten erneut alle Klichees. Glauben Sie den Erfahrungen von Tausenden belästigter Jugendlicher in katholischen Anstalten, Sakristeien und in den Garderoben der Schweizer Gardisten im Vatikan: Pädophile Geistliche sind kein Klichee, sondern eine weit verbreitete Landplage. Vertrauen Sie nie Ihre Kinder einem katholischen Priester an!

In unserem Internat schliefen siebzig Jungs in einem riesigen Schlafsaal, Bett an Bett, nur mit Vorhängen getrennt. An Schlaf war nicht zu denken, man musste immer mit Überfällen und Racheakten rechnen. Einige Jungs wurden ganz übel drangenommen: Einer aus Graubünden wurde eines Nachts von vier Schülern im Schlaf überrascht und festgehalten, während ein Fünfter ihm eine Tube Senf in den After drückte. Ich glaube, es war sogar der extrascharfe Dijon der Firma Thomy. Es war also ratsam, bis nach Mitternacht wach zu bleiben, um Überfälle rechtzeitig zu bemerken. Für mich war das ein ziemlicher Stress, weil ich ja auf einem Ohr nichts mehr hörte und man mit nur einem Ohr schlecht wahrnehmen kann, aus welcher Richtung ein Geräusch kommt. Die Nächte waren überhaupt sehr unheimlich, denn siebzig Jungs stöhnten, schnarchten, murmelten im Traum oder masturbierten in der Dunkelheit. Das war ein bisschen Script Avenue in den Anfangsjahren.

Präfekt Castafiori (Name geändert) erschien jeweils gegen Mittag und starrte mich vorwurfsvoll an. Seine Lippen wurden dabei schmal wie ein Rasiermesser. Castafiori war das Morgenübel, das Nadelöhr vor den Waschtrögen, und jeder musste mit nacktem Oberkörper an ihm vorbei zu den langen Lavabos, die aussehen wie Kuhtränken. Hier putzt man sich die Zähne und wäscht sich den Nachtschweiß vom Körper. Castafiori spricht nie, er ist bloß ein weiterer schwarzer Sack mit kleinen, aufmerksamen Augen. Manchmal lächelt er verschmitzt, wenn seine Lieblinge an ihm vorbeigehen. Ich bin sicher, er atmet ihren Körpergeruch ein. Manchmal tätschelt er einem auf das Hinterteil und grinst schelmisch. Einige rächen sich an ihm und stülpen ihm nachts mit Sperma gefüllte Präservative über die Türfalle seines Zimmers. Nur wenige Schüler dürfen abends sein Zimmer betreten. Dort gibt es eine Menge Alkohol, in diesem Zimmer wird nie über Gott gesprochen, in diesem Zimmer gibt es gar keinen Gott.

Herr, wir haben gesündigt

Ich war einmal dabei, wir waren zu viert. (…)

Ende des Textauszuges. 


 

#chronos (1903)

 

great-train-robbery-1903-grangerNachdem die Eisenbahn die meisten Grossstädte miteinander vernetzt und das Leben beschleunigt hatte, begann der Siegeszug des motorisierten Individualverkehrs. Henry Ford gründete 1903 in Michigan mit 100 000 Dollar die Ford Motor ­Company, revolutionierte die Fliessbandtechnik und machte als Verfasser des antisemitischen Essays «The International Jew» von sich reden.

Im gleichen Jahr ratterte die berühmte ­Schauspielerin Anna Held mit ihrem futuristischen De-Dion-Bouton-Motordreirad durch ­Milwaukee und entflammte die Leidenschaft zweier Männer. Für ihr Motorrad. William Harley und Arthur Davidson zeichneten die erste ­Konstruktion eines eigenen 116-cm³-Motors und bezogen einen Schuppen hinter dem Haus. Vier Jahre später gründeten sie die «Harley-Davidson Motor Company of Milwaukee», die heute eine Marktkapitalisierung von 13 Milliarden hat.

In England setzten die beiden technikbesessenen Buben eines protestantischen Bischofs zum Höhenflug an. Zuerst flickten sie Fahrräder, ­verkauften die ersten Velos mit zwei gleich ­grossen Rädern, und entwickelten erste Flug­geräte. Die unverheirateten «Wright Brothers» gingen als Pioniere des ersten gesteuerten ­Motorflugzeugs in die Geschichte ein. Doch ­sieben konkurrierende Flugzeugpioniere bestritten diese Pionierleistung. Der Erfolg hat viele Väter, der Misserfolg bleibt ein Waisenkind.

Im russischen ­Kischinew mündete die von Armut und Arbeitslosigkeit geprägte Wirtschaftskrise in einen dreitägigen Massenpogrom von russischen Christen gegen Juden. Nach internationalen Protesten schritten die Behörden ein und ­Theodor Herzl organisierte in Basel den ersten Zionistischen ­Weltkongress.

In England wurde die «Women’s Social and Political Union» ­gegründet. In Berlin beschloss die internationale Währungskonferenz einen festen Wechselkurs zwischen Silber- und Goldwährungen.

Im Vatikan starb Papst Leo XIII. im Alter von 93 Jahren, nachdem er 86 päpstliche Rund­schreiben verschickt und mindestens so viele ­Fässer Vin Mariani genossen hatte. Das war ein berauschendes Getränk aus Rotwein und ­Extrakten des ­Coca-Strauches, dem historischen Vorläufer von Coca-Cola. Möglicherweise ­euphorisiert von ­diesem edlen Tropfen, verlieh ihm Papst Leo XIII., kraft seines Amtes, eine ­Goldmedaille, worauf Leo XIII. fortan die Etikette des Vin Mariani schmückte.

Edwin S. Porter drehte den ersten Western der Filmgeschichte, «The Great Train Robbery». In 14 realistischen Szenen erzählte Porter die Geschichte des Grossen Eisenbahnraubs und gilt seitdem als Pionier der Filmerzählung und ­Montagetechnik. In Farbe war natürlich nur das Filmplakat. Der Film hatte eine rekordverdächtige Länge von zwölf Minuten.

In der Schweiz wurde der erste Hooligan aktenkundig, ein Italiener namens Benito ­Mussolini, der im Polizeirapport als «notorischer, marxistischer Unruhestifter» bezeichnet wurde.

Dass die Auferstehung von den Toten ­durchaus möglich ist, bewies der 1893 ­verstorbene Sherlock Holmes, der in den ­Reichenballfällen den Tod fand und nach der ­Kündigung von 20 000 zornigen Abonnenten wieder zum Leben erweckt werden sollte. Obwohl Arthur Conan Doyle nicht nur Autor, sondern auch Arzt war, weigerte er sich, zu reanimieren: «Wenn ich ihn nicht töte, wird er mich ­umbringen!» Er stellte deshalb unerfüllbare ­Honorarforderungen, doch das Magazin erfüllte sie, und als selbst Doyles Mutter sich den ­Protesten anschloss, wachte Sherlock Holmes im Jahre 1903 in «The Return of Sherlock Holmes» wieder auf. «Elementary, my dear Watson.»

Claude Cueni ist Schriftsteller und lebt in Basel. www.cueni.ch © Basler Zeitung

Interview

cueni_interview_ostschweiz_2015

Erschienen in der Ostschweiz, 1.7.2015

#chronos (1950)

chronos_1950_cueni1950 kam der im Vorjahr in den USA in ­Schwarz-Weiss abgedrehte Spielfilm «All The King’s Men» in die Kinos des zerbombten ­Deutschlands. Der Film basierte auf dem Roman des Pulitzerpreisträgers Robert Penn Warren. Das Politdrama war ein Plädoyer gegen Diktatur und Terror. Der deutsche Titel war «Der Mann, der herrschen wollte».

Herrschen, aber gleich über den ganzen ­Planeten, wollte auch der erfolgreiche Science-Fiction-Autor L. Ron Hubbard. Er publizierte 1950 seine neue «Lehre und Technik zur ­Manipulation menschlichen Verhaltens» unter dem Titel ­«Dianetik». Er schrieb: «Dianetik ist eine ­Ingenieur-Wissenschaft, sie enthält daher keine Meinung über Religion, denn Wissenschaften basieren auf Naturgesetzen.» Vier Jahre später erkannte der notorische Hochstapler und ­praktizierende Satanist die wirtschaftlichen und steuerlichen Vorteile von Religionsgemein­schaften, benannte sein Hauptquartier in ­«Scientology-Kirche» um und bezeichnete fortan seine ­Aussendienstmitarbeiter als «Geistliche». Das Akquirieren von Kunden in Lebenskrisen bezeichnete er jedoch weiterhin als ­«herzustellende ­Produkte der Produktions­maschine Scientology».

Mit ganz anderen Problemen beschäftigte sich Doktor Ernst Gräfenberg in seiner Praxis. Er entdeckte eine erogene Zone in der Vagina der weiblichen Kundschaft und nannte sie «Gräfenberg-Zone», obwohl seine Kollegen nach aufopfernden Feld­versuchen bestritten, und teilweise immer noch bestreiten, dass es einen G-Punkt, ­G-Spot oder eine G-Zone gibt. Es wird weiter geforscht.

Forschungen anderer Art betrieb eine Couch-Potato im Ingenieurbüro der Firma Zenith Radio Corporation. Sie entwickelte 1950 das Gerät «Lazy Bones» (Faulpelz), die erste ­Fernbedienung, die noch über Kabel mit dem Fernseher verbunden war. Nachdem der Tüftler mehrmals über sein eigenes Kabel gestolpert war, wurde das Gerät aus dem Handel genommen und sechs Jahre später durch den kabellosen «Space Commander» ersetzt. Mit der inflatorischen Zunahme neuer TV-Kanäle kam Zapping in Mode, das ungeduldige Hin- und ­Herschalten mit verminderter Aufmerksamkeit. «Zapped» bedeutete übrigens im Wilden Westen abgeknallt, und so denken sich heute TV-­Programmentwickler alles mögliche aus, damit ihre Sendung nicht abgeknallt wird.

1494 teilte Papst Alexander VI. (Borgia) mit dem Vertrag von Tordesillas die Welt zwischen den beiden Seemächten Portugal und Spanien auf, 1950 teilten die Siegermächte die Welt erneut und starteten ein ruinöses Wettrüsten zwischen Ost und West. Es begann die Epoche des Kalten Krieges und der gegenseitigen Abschreckung. Auch Deutschland war nun in zwei deutsche Republiken aufgeteilt.

Während sich die demokratische ­Bundesrepublik Deutschland mit ihrer sozialen Marktwirtschaft in den nächsten Jahrzehnten zu einer der stärksten Volkswirtschaften der Welt entwickelte, scheiterte die realsozialistische ­Parteiendiktatur, die sich zum Marxismus-­Leninismus bekannte, wie üblich an der Realität und an der Natur des Menschen. 1990 wurde der Unrechtsstaat aufgelöst.

Der Kalte Krieg führte 1950 zum ersten ­Stellvertreterkrieg auf fremdem Boden. Das einst von Japan annektierte Kaiserreich Korea war nach Hitlers Niederlage von den USA und der Sowjetunion in Nord- und Südkorea aufgeteilt worden. Nachdem der Norden den Süden ­angegriffen hatte, griffen die USA und China in den Konflikt ein. Die USA erwogen erneut den ­Einsatz von Atombomben, die Welt befürchtete bereits den nächsten Weltkrieg.

Und Frank Sinatra sang: «I’ll Never Smile Again».

Claude Cueni ist Schriftsteller und lebt in Basel.

© Basler Zeitung; 17.07.2015

NZZ Rezension

dummy_giganten_klein2Welch wunderbarer Grössenwahn!

Wie immer beim Basler Schriftsteller Claude Cueni ist der Plot vom Feinsten. (…) Ein Roman, der in verschiedenen Strängen die Megalomanie des 19. Jahrhunderts auf den Punkt bringt, ein Text der in seinem Dukturs die Atemlosigkeit, die enorme Beschleunigung dieser Zeit simuliert.

NZZ 10.7.2015

 

#chronos (1940)

cueni_chronos1940»Niemand kauft einem irischen Einwanderer Frikadellen im Brot ab.« Mit diesen Worten beantwortete eine Bank das Kreditgesuch der Gebrüder Richard und Maurice McDonald, die soeben die Firma McDonald’s gegründet hatten. 1961 verkauften sie das Konzept an den Milkshake-Maschinen-Verkäufer Ray Kroc für 2,7 Millionen Dollar. Kroc entwickelte die Idee weiter und erfand die Quickservice-Systemgastronomie mit Franchise Teilnehmern. Heute ist McDonald’s die weltweit erfolgreichste Fast-Food-Kette. Obwohl Ernährungswissenschafter und Umweltorganiationen (»Eating up the Amazon«) den Konzern regelmässig an den Pranger stellen, ist das Maskottchen Ronald McDonald mittlerweile fast so bekannt wie der Weihnachtsmann.

1940 wurden in Delaware, der heute »legalen« amerikanischen Steuerfluchtoase, der erste Nylonstrumpf aus echter Kunstfaser verkauft. Alleine in Pittsburgh prügelten sich 40.000 Frauen um die heissbegehrten Nylonstrümpfe (»Nylon Riots«). Erfinder war der Chemiker Wallace Careothers, der eigentlich eine echte Kunstfaser für Zahnbürsten hatte entwickeln wollen. Wer sich keine Nylonstrümpfe leisten konnte, färbte sich die Beine beige und malte mit dem Schminkstift die Naht nach.

Hitlers Wehrmacht hatte ihren Blitzkrieg fortgesetzt und die unvorbereiteten neutralen Staaten Belgien, Luxenburg und die Niederlande unterworfen. Nach der Kapitulation Frankreichs begann sie einen unerbitterlichen Luftkrieg gegen den letzten verbliebenen Gegner: England. Hitler unterbreite anlässlich einer Reichtstagsrede ein Friedensangebot, um freie Resourcen für seinen geplanten Russlandfeldzug zu haben, doch der neue Premierminister Winston Churchill lehnte ab und versprach seinem Volk nichts »als Blut, Schweiss und Tränen«. Als die deutsche Luftwaffe die ersten Bomben über London abwarf, befahl Churchill Vergeltungsangriffe auf Berlin: »Never, never, never give up«.

Mit dem Dreiländerbund zwischen Italien, Deutschland und Japan verschmolzen die Kriegsschauplätze in Europa, Afrika und Asien zu einem einzigen grossen Flächenbrand, der nun Millionen Menschen das Leben kostete. Aber trotz aller Kriegsverbrechen und Völkermorde hatte der Zweite Weltkrieg den Höhepunkt des Grauens noch lange nicht erreicht. SS Reichsführer Heinrich Himmler ordnete das Errichten des Konzentrationslagers Ausschwitz an.

In Paris nahm sich Joseph Meister das Leben. Er hatte sich als Neunjähriger als Versuchskaninchen für die erste Tollwutimpfung von Louis Pasteur zur Verfügung gestellt und später zum Dank einen Job als Pförtner im Institut Pasteur erhalten. Als die Nazis ihm befahlen, Pasteurs Grab zu öffnen, nahm er sich das Leben.

Während in Europa sowohl die Olympischen Spiele als auch die Vergabe des Nobelpreises ausgesetzt wurden, vergab Hollywood ihre Oscars. Alfred Hitchcock erhielt für den in schwarzweiss verfilmten Roman »Rebecca« von Daphne du Maurier einen Oscar für den besten Film und insgesamt elf Nominationen.

1940 veröffentliche der amerikanische Folkmusiker Woody Guthrie sein Album »Dust Bowl Ballads« mit dem Hit »Do-We-Di«. Er erkrankte später, wie auch seine Mutter und zwei seiner Kinder, an einer neuro-degenerativen Erbkrankheit, der Huntingtonsche Chorea, die früher Veitstanz genannt wurde. Bob Dylan besuchte sein Idol am Sterbebett und widmete ihm später den »Song to Woody«.

Ernest Hemingway publizierte »For Whom the Bell Tolls (Wem die Stunde schlägt)« und schrieb: »Die Welt ist ein schöner Ort und wert, dass man um sie kämpft.«

»Ich schreibe wie unter Hypnose.« Interview

 

cueni_liberty_01Interview von Heinz Aerni / Südostschweiz 1.7.15

HA: Herr Cueni, steht man in der Krone der Freiheitsstatue in New York oder unter dem Eiffelturm in Paris, dann liegt das Wort Gigantismus in der Tat auf der Zunge. Sie nähern sich nun in Ihrem Roman den beiden Erschaffern dieser Bauwerke. Erinnern Sie sich noch, was oder wo die Initialzündung dafür war?

CC: Als Bub hat mich Bartholdis Löwe von Belfort sehr beeindruckt, ich habe später oft sein Geburtshaus in Colmar besucht, das heute ein Museum ist, aber es gibt keine eigentliche Initialzündung, ich speichere vieles intuitiv und im Laufe der Jahre entsteht ein Stoff für einen Roman.

HA: Während die Charakterbeschreibungen des Bildhauers Bartholdi und des Ingenieurs Eiffel der Realität näherkommen, basiert der Konflikt – unter anderem natürlich durch eine Frau – auf Fantasie. Wie kann man sich die Arbeit zwischen Wahrheit und Fiktion vorstellen? Wo lagen die Herausforderungen?

CC: Der Roman besteht aus historisch gesicherten Fakten, die ich einer fiktiven Dramaturgie unterzogen habe. Ursprünglich schrieb ich einen klassischen historischen Roman und bewegte mich eng an der historischen Zeitschiene.

HA: Aber Sie kamen schlussendlich davon ab.

CC: Ja, irgendwie haben die historischen Figuren in meiner Fantasie ein Eigenleben entwickelt und diese Szenen fand ich wesentlich spannender und bewegender. Ich schrieb den Roman deshalb neu. Es ist sicher ein wesentlich besseres Buch geworden, aber immer noch auf Fakten basierend.

HA: Historische Stoffe haben Sie als Romancier schon immer fasziniert, nun befinden wir im Roman «Giganten» in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Eigentlich die Epoche, die unsere heutige Gesellschaft massgeblich gestaltete. Haben Ihre Recherchen neue Schlussfolgerungen zu unserer Geschichte ermöglicht?

CC: Meine letzten Romane spielen im 17., 18. und 19. Jahrhundert. Eigentlich erlebt jede Generation Finanz- und Wirtschaftskrisen, Enteignungen, Verarmung, Kriege, Epidemien – das ist historisch betrachtet so alltäglich wie die vier Jahreszeiten. Wer nur die Gegenwart kennt, denkt, so was sei heute nicht mehr möglich. Aber diese Katastrophen werden sich immer wieder ereignen, denn die Natur des Menschen verändert sich nicht. Er bleibt ein rücksichtsloser Jäger, der nur an seinen eigenen Nutzen denkt.

HA: Beim Lesen wähnt man sich auch immer wieder im Alltäglichen dieser Zeit. Können Sie sich einfach aus der Gegenwart ausklinken?

CC: Ja, das ist nie ein Problem. Kaum habe ich das erste Wort geschrieben, sitze ich in einer anderen Epoche, und selbst wenn links und rechts Bauarbeiter hämmern und bohren, nehme ich das nicht mehr wahr.

HA: Wie machen Sie das?

CC: Ich brauche auch keine besonderen Arbeitsbedingungen. Ich schreibe beinahe wie unter Hypnose, weil ich in Gedanken Tag und Nacht bei meinen Figuren bin.

HA: Was kann die Belletristik besser als ein Sachbuch? Warum die Form des literarischen Erzählens?

CC: Der historische Roman ist ein Film, der nur mit der Fantasie der Leser vollendet wird. Es entsteht ein prächtiges Gemälde, ein Unikat. Das Sachbuch hingegen besteht aus Fakten, Zahlen, Tabellen, Abbildungen: Der Inhalt ist für alle Leser gleich. Es geht um Informationen, nicht um Emotionen.

HA: Wenn ich ein Gemälde mit einem lesenden Menschen mit Ihrem Buch in den Händen malen müsste, wie sollte das aussehen?

CC: Ich würde das Gemälde eines Orientalisten des 19. Jahrhunderts nehmen. Wüsten, Ruinenstädte, Beduinen und im Bild sitzt ein Mensch des 21. Jahrhunderts, der durch seine zeitgenössische Kleider auffällt. Witzig wäre natürlich auch ein Leser in einem Pariser Bistro des 19. Jahrhunderts.

 

 

#chronos (1998)

cueni_biglebowskichronos«Ich kann Ihren Drecksnamen nicht leiden, Ihr Drecksbenehmen nicht leiden und Ihre ­Drecksfresse nicht leiden. Hab ich mich klar genug ausgedrückt?» «Tut mir leid, hab grad nicht zugehört.» Die Weltpremiere fand am 18. Januar 1998 auf dem Sundance Film Festival statt. Jeff Bridges spielte im Kultfilm «The Big Lebowski» den Dude. Es war eine Filmkomödie der Brüder Ethan und Joel Coen.

«Sag mir eins, Dude: Musst du eigentlich immer so viel fluchen?» «Wasn das für ne bekackte Frage?»

Viele Fragen hatten auch die über 10 000 angereisten Delegierten und Medienleute im japanischen Kioto. Doch die Antworten zum Rahmen­abkommen der Vereinten Nationen über ­Klimaveränderungen waren eher dürftig. Die Konferenzteilnehmer referierten wortreich und endlos über die völkerrechtlich verbindlichen Zielwerte für den Ausstoss von Treibhausgasen. Dem Klima hat das Kyoto-Protkoll wenig gebracht, dafür umso mehr dem Nachtleben von Kioto.

Erotik gab es auch im Weissen Haus. Während Bill Clinton seinen Nuclear Football (Atomkoffer) stets unter Kontrolle hatte, verlor er die Kontrolle über ein ebenfalls gut behütetes Ding, um dessen Pflege sich die Praktikantin Monica Lewinsky oral kümmerte. Während das amerikanische ­Repräsentantenhaus ein Amtsenthebungsverfahren einleitete, beteuerte Clinton: «Ich hatte keine sexuellen Beziehung zu dieser Frau. Und ich muss jetzt an meine Arbeit für das amerikanische Volk zurückkehren.»

Pol Pot drohte kein Amtsenthebungsverfahren, ­sondern die Auslieferung an die USA. Im Norden Kambodschas beging er deshalb ­Suizid. Leider kam der 70-Jährige nicht schon früher auf die Idee, denn während seiner kommunistischen ­Diktatur eliminierte der «Bruder Nr. 1 der Roten Khmer» rund zwei Millionen nicht erziehbare Kambodschaner. Sein kommunistisch-primitiv­istischer Bauernstaat war an seiner Paranoia und an der Realität gescheitert.

An der Realität scheiterte auch die Rote- Armee-Fraktion, die sich wie eine Sekte in einer hermetisch abgeriegelten Parallelwelt abgeschottet hatte. Ihr Konzept, mit Bombenterror die ­Bevölkerung zu einer Revolution anzustacheln, war nicht wirklich stringent.

1998 löste Gerhard Schröder («Auch Sie ganz persönlich können Konjunkturmotor sein») ­Helmut Kohl («Entscheidend ist, was hinten ­rauskommt») ab und erklärte: «Putin ist ein lupenreiner Demokrat.» 1998 ging Russland bankrott. Der Rubel verlor 60 Prozent, was wiederum den in US-Dollar verschuldeten russischen Geschäftsbanken den Garaus machte. Der einsetzende Bankenrun stiess zahlreiche Banken in die Insolvenz.

Die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union beschlossen, trotz den Warnungen renommierter Ökonomen, die Einführung des Euros. Die Politik hatte sich durchgesetzt. Die ­Aufgabe der Deutschen Mark (DM) war der Preis für die Wiedervereinigung. Der Euro wurde am 1. Januar 1999 als Buchgeld, drei Jahre später als Bargeld eingeführt. Der Euro sollte ein Fitness­programm werden, das gleichzeitig Übergewichtigen und Magersüchtigen hilft. In den Hitparaden triumphierten die Soundtracks von «Titanic» und «Armageddon».

Irgendetwas Wichtiges vergessen? Den ­Gomphus clavatus? Nun gut, die deutsche ­Gesellschaft für Mykologie wählte das Schweins­ohr zum Pilz des Jahres.

And one more thing: Bill Gates persönlich ­testete auf der Comdex 98 live das neue Betriebssystem Windows 98. Doch was die angereisten Journalisten sahen, war der «Blue Screen of Death», der blaue Windowsbildschirm, wenn das System abstürzt. Zum Glück wurde die Software nicht in Autos eingebaut.

Claude Cueni ist Schriftsteller und lebt in Basel.

www.cueni.ch

© Basler Zeitung; 19.06.2015

#Giganten »Eine spannende Geschichte«

Referenz_Logo_Weltwoche

© Die Weltwoche; 18.06.2015; Ausgaben-Nr. 25; Seite 66

Literatur

Glanz des Turms

Von Rolf Hürzeler

Bildhauer Frédéric-Auguste Bartholdi und Ingenieur Gustave Eiffel waren im 19. Jahrhundert unerbittliche Rivalen. Zumindest gemäss dem neuen Roman des Basler Schriftstellers Claude Cueni. Von Rolf Hürzeler

Der eine war der feinfühlige Künstler, der andere der kalte Rechner – Visionäre waren beide: Die beiden Franzosen Frédéric-Auguste Bartholdi und Gustave Eiffel setzten im 19. Jahrhundert Meilensteine. Eiffel mit dem nach ihm benannten Turm für die Weltausstellung von 1889 in Paris, Bartholdi mit der Freiheitsstatue im Hafen von New York, die drei Jahre zuvor auf Liberty Island eingeweiht worden war. Die beiden Männer sind die Protagonisten im neuen historischen Roman «Giganten» des Basler Schriftstellers Claude Cueni.

Der Autor ist mit diesem Buch zu seinen historischen Romanen zurückgekehrt, zu geschichtlichen Büchern wie «Cäsars Druide» oder «Das grosse Spiel» über den Finanzjongleur John Law im 18. Jahrhundert. Letztes Jahr konnte der 59-jährige Schriftsteller nun in einem neuen Genre mit dem teilweise autobiografischen Roman «Script Avenue» einen Auflagenerfolg feiern an einer Fortsetzung dieses Werks arbeitet er gegenwärtig. Zudem hat Cueni zahlreiche Drehbücher für Fernsehserien wie «Peter Strohm» geschrieben und Computerspiele entwickelt, unter anderem das weltweit verkaufte Anti-Aids-Game «Catch the Sperm» von 2001.

Im Bistro mit Engels

Der Autor erzählt nun mit «Giganten» eine spannende Geschichte über die angebliche Rivalität zwischen Eiffel (1832–1923) und Bartholdi (1834–1904), die er mit ereignisgeschichtlichen Episoden aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schmückt. In Cuenis Worten ist der Roman eine «Fiktion aus historisch gesicherten Fakten und teilweise erfundenen Ereignissen».

So entzündet sich der Konflikt – nach jugendlicher Freundschaft – zwischen den beiden Pionieren im Wettbewerb um die Gunst einer fiktiven Angélique. Der flamboyante Eiffel kann ihr materielle Sicherheit bieten, Bartholdi viel Liebe; sie will beides. Wie in allen seinen Büchern setzt der Autor auf heftige Emotionen, etwa als die beiden Kontrahenten sich bei einem Zwist um die begehrte Geliebte gegenüberstehen: «Frédéric fixierte Gustave, lauerte auf eine Reaktion, doch Gustaves Gesicht zeigte keine Reaktion.» Die beiden Männer starrten sich an «und erkannten, dass sie Rivalen geworden waren».

Besonders reizvoll für den Leser ist die Begegnung mit historisch verbürgten Figuren. Da gibt es einen Besuch im Atelier des legendären Fotografen Gaspard-Félix Tournachon, genannt Nadar. Auf einer abenteuerlichen Reise der Protagonisten nach Ägypten tritt Ferdinand de Lesseps auf, der Erbauer des Suezkanals. Oder Cueni zollt dem schweizerisch-französischen Ingenieur Maurice Koechlin Tribut, der für seinen Meister Eiffel die Knochenarbeit bei der Konstruktion des Turms leistete. Selbst der kommunistische Philosoph Friedrich Engels fehlt nicht. Er zieht in einer Bistrorunde über die Schweiz her: «Derart von oben herab, derart schlecht wie die Schweiz ist noch kein anderes Land in Europa behandelt worden. Sie gab auf jede immer unverschämtere Forderung einen noch demütigeren Bescheid. Eine Infamie nach der andern wurde geschluckt, bis die Schweiz in Europa auf die tiefste Stufe der Verachtung gesunken ist.» Engels hatte dies zwar 1853 in der New York Daily Tribune geschrieben, aber Cueni weist ihm die Worte in schriftstellerischer Freiheit beim Trinken im Bistro zu.

Abenteuerlich ist die erzählerische Exkursion, auf die Cueni die halbfiktionale Figur Charles Bartholdi schickt, den älteren Bruder von Frédéric. Charles hatte zwar tatsächlich gelebt, aber es ist kaum etwas bekannt über ihn. Der Mann ist in der Version Claude Cuenis der Typ Gambler, dem das Leben nicht risikoreich genug sein kann. So trampt der Unglückliche in einen entlegenen Winkel Alaskas, wo Gold gefunden wurde. Wie unzählige andere Glückssucher kehrte er nicht mehr zurück; Cueni schildert dessen vergeblichen Kampf gegen die Unbilden der Natur im Stil einer fiebrigen Horrorgeschichte.

Cueni macht für den Leser tollkühne Eskapaden in der vor 150 Jahren vielfach unerschlossenen Welt erlebbar, und er veranschaulicht das rechtlose Leben in weiten Teilen Amerikas. Mit dieser Expedition ebenso wie mit der Nilfahrt zu den Pyramiden illustriert der Autor, wie gefährlich das Leben in jener Zeit für Reiselustige war – nicht nur wegen des fehlenden Komforts. Der Schriftsteller schildert ausführlich die Folgen kolonialer Sexabenteuer der Europäer im Orient – fast alle Männer kamen mit einer Syphilisinfektion heim.

Wie so häufig, wenn es im Leben um Erfolge und Niederlagen geht, findet sich der Schlüssel dazu in der Kindheit. Cueni beschreibt ausführlich das bürgerliche Leben der Familie Bartholdi im elsässischen Colmar. Die Familie zerfällt nach dem Selbstmord des Vaters, der sich mit Eisenbahnaktien verspekuliert hat. Trotz einer fast symbiotischen Mutter-Sohn-Beziehung konnte der Künstler Bartholdi Karriere machen; der sich vernachlässigt fühlende Charles fand dagegen den Tritt im Leben nicht. Er konnte sich dem Einfluss des toten Vaters nie entziehen und stand in einer schmerzhaften Liaison mit dessen Geliebter, die ihn unerbittlich erpresste.

Der Roman «Giganten» enthält schweizerisches Lokalkolorit. Eiffel wie Bartholdi waren mit der Stadt Basel verbunden. Bartholdis Strassburger Denkmal beim Bahnhof SBB begrüsst seit Ende des 19. Jahrhunderts den Besucher der Stadt mit imperialer Geste. Eine tragische Dimension dagegen hat die Verbindung von Gustave Eiffel zu Basel. Eine von ihm konstruierte Eisenbrücke stürzte am 14. Juni 1891 über dem Flüsschen Birs bei Münchenstein zusammen, als ein Personenzug darüberfuhr. Der Unfall kostete 73 Passagieren das Leben – das bis heute schwerste Eisenbahnunglück der Schweiz. Die Katastrophe war auf Konstruktionsmängel zurückzuführen, die dem Nachruhm Eiffels indes nichts anhaben konnten; der Glanz des Pariser Turms war zu gross.

Die Lektüre von «Giganten» ist ein unterhaltender Sommerlesestoff, der den Leser zu einer fantasievollen Reise einlädt. Man kann in all den Intrigen und Abenteuern mitschwelgen – und erfährt dabei Überraschendes vom Leben im 19. Jahrhundert.

© Die Weltwoche; 18.06.2015; Ausgaben-Nr. 25; Seite 66