#chronos (1988)

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cueni_chronos_19881988 erweiterte Michail Gorbatschow, der ­Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU), unseren Wortschatz um zwei historische Begriffe, Glasnost (Offenheit) und Perestroika (Umbau). Zum Entsetzen der DDR erklärte er, dass jeder sozialistische Staat sein gesellschaftliches System frei wählen könne. Die UdSSR begann ihren Rückzug aus Afghanistan.

In Deutschland startete der neue Leitindex DAX mit 1000 Indexpunkten. Er umfasste die 30 grössten und umsatzstärksten Unternehmen. Wer 1988 fünftausend Franken in den deutschen Index investierte, hat heute rund fünfzigtausend in seinem Depot.

Mehr im Depot hatte die tickende Zeitbombe «Iron Mike», der zwei Jahre zuvor im Alter von 20 Jahren der jüngste Weltmeister der Boxgeschichte geworden war. 1988 verteidigte er gleich dreimal seinen Gurt, gegen Larry Holmes, Tony Tubbs und Michael Spinks. Er wurde der erste Weltmeister, der gleichzeitig von allen drei Boxverbänden ­anerkannt wurde. Mindestens so turbulent verlief sein Privatleben. Seine Polizeiakte war länger als sein Palmarès. Am Ende hatte das Jahrhundert­talent, das einst 400 Millionen besass, 300 ­Millionen Schulden und kommentierte: «Ich mache aus Gold Scheisse.»

Um Geld ging es auch in Oliver Stones «Wall Street». Michael Douglas spielte den Milliardär und Börsenmakler Gordon Gekko («Das Gewissen hat man ihm bei der Geburt entfernt»). Die Story war an die Biografien der Wall-Street-­Legenden Ivan Boesky und Carl Icahn angelehnt. ­Douglas erhielt einen Oscar und war im selben Jahr in den Schweizer Kinos noch in eine ­«Verhängnisvolle Affäre» mit Glenn Glose verstrickt.

Den dritten Kassenschlager des Jahres bescherte uns «Stirb langsam» mit Bruce Willis. Die Leute mochten den New Yorker Polizisten John McClane, der im Alleingang im Bürohochhaus Nakatomi Plaza Terroristen erschiesst.

Jack: «Wer sind Sie?»

John McClane: «Ich bin nur die Fliege im Honig, Jack. Der Knüppel zwischen deinen ­Beinen. Der Tritt in deinen Arsch.»

Den hätte eigentlich auch Arno Martin Franz Funke verdient, der ab 1988 vier Jahre lang unter dem Pseudonym Dagobert das Berliner Kaufhaus KaDeWe um eine halbe Million erpresste. Er scheute sich nicht davor, Bomben in Kaufhäusern zu deponieren. Die ersten Bomben versteckte er nachts, später, während der Öffnungszeiten, in den Fahrstühlen. Nachdem der gescheiterte Künstler und Autolackierer ein erstes Lösegeld erpresst hatte, verprasste er es und setzte ­anschliessend seine Erpressermasche fort. Obwohl er Tote in Kauf nahm, um sich persönlich zu bereichern, wurde er aufgrund seines Pseudonyms und diverser polizeilicher Pannen zum Liebling der Medien- und Kulturszene. Sechs Jahre nach seiner Festnahme wurde er frühzeitig aus der Haft entlassen, trat in Talkshows und ­Realityshows auf («Ich bin ein Star – Holt mich hier raus!») und sang «Lass uns das Ding drehen».

Dass sich Kriminalität leider zu oft lohnt, bewies auch der 23-jährige Robert H. Morris, der Sohn des Leiters der National Security Agency (NSA). Er programmierte den ersten wirklichen Computerwurm («Morris») und legte 6000 ­Rechner lahm; damals in etwa zehn Prozent des weltweiten Internetverkehrs. Morris erhielt eine dreijährige Bewährungsstrafe, 400 Stunden Sozial­arbeit und Gerichtskosten von 150 000 ­Dollar aufgebrummt. Er gründete ein Software­unternehmen, das er für 49 Millionen an Yahoo verkaufte, und wurde Professor am Massachusetts Institute of Technology (MIT).

In Australien wurde der erste Plastikgeldschein eingeführt, eine Banknote aus synthetischem Polymer. Sie war abwaschbar und sicher vor Fälschungen, aber nicht vor der Entwertung durch Quantitative Easing.

Claude Cueni ist Schriftsteller und lebt in Basel.

www.cueni.ch

© Basler Zeitung; 22.05.2015

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