Hämatologe Prof. Jakob Passweg im Interview

Facebooktwitterredditpinteresttumblrmail

Herr Passweg, was haben Sie aufgrund Ihrer Arbeit über das Menschsein gelernt? –

«Alles»

Der Basler Chefarzt Jakob Passweg erzählt, welche Fragen die Patienten ihm stellen und warum an seiner Pinnwand ganz viele Todesanzeigen hängen.

Von Lucia Hunziker

 

NZZ am Sonntag: Herr Passweg, was fragen Patientinnen oder Patienten unmittelbar nach der Diagnose «Krebs»?

Jakob Passweg: Vielen zieht die Diagnose den Boden unter den Füssen weg. Die meisten sagen deshalb zuerst einmal nichts. Dieses Schweigen muss man als Arzt aushalten. Das meiste, was der Doktor unmittelbar nach einer schwierigen Diagnose sagt, ist sowieso zu viel und verschwindet bei der Patientin oder beim Patienten im Nebel der emotionalen Betroffenheit. 

Wie überbringen Sie die schlechte Nachricht?

Leider kaum je in einer ruhigen Atmosphäre. Ich begegne dem Patienten zumeist zuerst in der Notfallstation. Dort liegt er mit hohem Fieber, ist schummrig im Kopf und hat seltsame Blutwerte. Ich sage ihm, dass er vielleicht an Leukämie erkrankt sein könne und dass das ein grosses Unglück wäre. Dass aber weitere Abklärungen nötig seien, um herauszufinden, was sich hinter den Symptomen verbirgt. 

In Filmen fragen die Menschen als Erstes: «Wie viel Zeit bleibt mir noch?» Was sagen sie tatsächlich?

In der Realität stellen Erkrankte die Frage selten und kaum je so früh. Ausser, der Patient sei an einem Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankt, einer aggressiven Krebsart, bei der die mittlere Lebenserwartung bei drei Monaten liegt. Die Frage nach der verbleibenden Lebenszeit wird meistens erst aufgeworfen, wenn eine Krankheit nach erfolgreichen Behandlungen erneut auftaucht. Also dann, wenn ein sogenanntes Rezidiv ein zweites Mal auftritt und wir keine Medikamente mehr kennen, um die Krankheit unter Kontrolle zu bringen, und wir das Ableben höchstens hinauszögern können.

Für Ihre Patienten sind Sie der potenzielle Lebensretter. Wie wirkt sich das auf Ihre Patientenbeziehung aus?

Es gibt Patienten, die zum Doktor aufschauen. Anerkennung zu erhalten, ist nicht das Unangenehmste, was einem als Arzt passieren kann. Problematisch wird es, wenn Sachen von mir erwartet werden, die ich nicht erfüllen kann.

Zum Beispiel?

Geheilt werden von einer unheilbaren Krankheit.

Wie gehen Sie mit dieser Forderung um?

Das ist schwierig. Ich kann ja nicht sagen: «Herr Müller, Sie erwarten von mir, dass ich Sie heile. Sie wissen aber, dass ich das nicht kann.» Ich versuche, das feiner zu machen.

Was machen Sie konkret?

Es ist glücklicherweise ja nicht so, dass man gar nichts mehr machen kann, wenn eine Heilung nicht möglich ist. Ich versuche dann die Krankheitsprogression hinauszuzögern. Und wenn auch das nicht mehr geht, lassen sich die Schmerzen lindern. Wichtig ist, bei der Behandlung auf realistische Ziele zu fokussieren.

Gibt es etwas, das allen Krebspatienten während der Behandlungen besonders gut tut?

Ja. Das allerwichtigste sind die sozialen Beziehungen. 

Welche Rolle spielt Gott?

Er ist im medizinischen Alltag heutzutage praktisch nicht mehr im Spiel.

Haben Sie genug Zeit für Ihre Patienten?

Schwierige Gespräche benötigen Zeit – die ich selten im gewünschten Masse habe. Heute beispielsweise hatte ich eine Patientin, die so viele Fragen stellte, dass die nachfolgende Person mit viel drängenderen Fragen warten musste. Und das alles zwischen der Verabschiedung einer Sekretärin in die Pensionierung und einem Mitarbeitergespräch. Natürlich ist das meine spezielle Situation als Chefarzt. Es gibt andere Chefärzte, die ihre Rolle in der Hierarchie einnehmen und weniger Patienten selber betreuen. Ich will das anders: Ich habe relativ viele Patienten und Visiten, weil ich Doktor geworden bin, um Menschen zu behandeln. 

Wer spricht mehr: der Patient oder Sie?

Ich. Das ist die Berufskrankheit der Ärzte. 

Wie ist es, jemanden zu behandeln, den Sie persönlich kennen?

Schwierig. Ich bin mit meinen Patienten nicht per Du. Aber es gibt Menschen, mit denen ich per Du bin und die dann zu Patienten werden. Das versuche ich auf einem Minimum zu halten.

Worin liegt die Schwierigkeit?

Es gibt eine optimale Distanz zwischen einem Arzt und seinem Patienten. Ist diese zu weit oder zu nah, können Schwierigkeiten auftreten. Bei Bekannten oder Freunden ist die Beziehung zu nah. Die optimale Beziehung ist eine professionelle.

Weshalb wählten Sie als junger Mensch die Fachrichtung Hämatologie? 

Zunächst zog es mich in die Onkologie, ich wurde aber von der Chefsekretärin umgeteilt. Sie spielte bei der Einteilung der jungen Ärzte Schicksal: Der Passweg geht in eine Leukämie-Abteilung. Dort war es anstrengend, aber auch spannend. Die Bilder der genetisch veränderten Zellen faszinierten mich. Und schon bald erlebte ich als halbfertiger Internist, wie es ist, wenn man in einem Gebiet ein bisschen mehr weiss: Man kann dazulernen, sattelfest werden und gut in dem, was man tut. Da wusste ich: Ich will in die Hämatologie.

Erinnern Sie sich an Ihre erste Patientin oder Ihren ersten Patienten?

Ja. Die Frau kam mit einer Leukämie, die schwierig zuzuordnen war. Ich verschrieb ihr eine Chemotherapie, die in den damals verwendeten Dosen eine Schädigung des Kleinhirns verursachte und schwere Bewegungs- und Koordinationsstörungen auslöste. Das zu begleiten, war schwierig: Die alltäglichsten Bewegungen wie das Heben eines Arms gingen nicht mehr. Die Patientin hat ihre Blutkrebserkrankung glücklicherweise überlebt, und später hat sie sich von den Nebenwirkungen der Medikamente erholt. Aber etwas von den Schädigungen ist geblieben.

Löst Ihre Arbeit oft Schuldgefühle aus?

Ja, die ganze Zeit. Das gehört zu meiner Arbeit wie der weisse Kittel. Als Arzt treffe ich zusammen mit dem Patienten eine Entscheidung. Aber wenn die Behandlung lätz herauskommt, hat der Doktor das Falsche empfohlen.

Wie werden Sie mit den Risiken von Fehlentscheiden und Schuldgefühlen fertig?

Die Möglichkeiten von vielen erfolgreichen Behandlungen müssen alles Schwierige aufwiegen. Was nichts an der Tatsache ändert, dass es in Situationen, in denen es mehrere Behandlungsmöglichkeiten gibt, immer bessere und schlechtere Entscheidungen gibt. 

Belastet Sie während der Arbeit die Ungewissheit, ob eine Behandlung tatsächlich erfolgreich verlaufen wird? 

Ich bin mir meiner Verantwortung bewusst. Vernünftig ist, dass heutzutage viele Entscheidungen in Tumorkonferenzen getroffen werden, bei denen mehrere Ärzte zusammensitzen und gute Argumente für oder gegen eine Behandlung einwerfen. 

Die Verantwortung verteilt sich trotzdem nicht auf mehrere Schultern. 

Richtig. Und die sensibleren Patienten merken, wenn der Doktor nicht von der Richtigkeit einer Behandlung überzeugt ist. Sie fragen dann beispielsweise: «Würden Sie mich so behandeln, wenn ich Ihre Grossmutter wäre?»

Ihre Antwort?

Sie sind nicht meine Grossmutter.

Wer ist der bessere Arzt: der Sichere oder der Zweifler?

Das einzuschätzen, ist schwierig. Möglicherweise ist für viele Patienten der Besserwisser mit der klaren Ansage der gute Doktor. Schliesslich will man bei einem schwierigen Entscheid die Sicherheit, dass richtig entschieden wird. 

Und wen haben Sie als Chefarzt lieber in Ihrem Team?

Den Zweifler. Besserwisser sind unerträglich. 

Als Hämatologe kommen Sie Sterbenden besonders nah. Akzeptieren Ihre Patienten grundsätzlich, dass sie sterben müssen?

In Situationen, in denen es dem Ende zugeht, erlebe ich alles: herzliche Situationen, in denen die Erkrankten sich von ihren Familien verabschieden. Aber es gibt auch Menschen, die sich bis zum Schluss gegen das Sterben wehren. Oder es verdrängen.

Wie machen sie das?

Diese Menschen finden Methoden, um den Gesprächen über ihren nahenden Tod auszuweichen. Sie überhören beispielsweise einfach, dass ich sage, dass es nicht mehr viele therapeutische Optionen gebe und dass man fast nichts mehr machen könne und dass selbst das nichts mehr nütze. Stattdessen fragen sie mich, ob ich ihnen raten würde, noch diese und jene Reise anzutreten. Häufig erwähnen sie Projekte in der Zukunft und erwarten von mir, dass sie diese auch umsetzen können. Beispielsweise an ein Konzert zu gehen. Oder auf eine Kreuzfahrt. 

Kränken Sie solche Ansprüche?

Nein. Aber man muss viele Jahre Doktor gewesen sein, um zu lernen, dass das eigene Wissen und man selber als Person nicht wichtig sind und man nur für den Patienten da ist. Aber ich muss auch aufrichtig sein, wenn der Patient fragt, ob er es auf die Kreuzfahrt schaffe, und ihm sagen, dass ich das nicht glaube.

Halten Sie Patienten davon ab, ihr Sterben zu verdrängen?

Wenn jemand nicht über sein Sterben sprechen möchte, habe ich das zu respektieren. Es liegt nicht an mir, jemandem zu sagen, dass sein Leben endlich sei. Und dass er jetzt im Sterbemodell von Elisabeth Kübler-Ross gefälligst von der dritten Phase in die vierte zu wechseln habe. Der Respekt vor dem Menschen verlangt, dass ich ihn berate und für ihn da bin, nicht aber, dass ich ihn zu etwas zwinge, was er nicht will.

Was ist schwierig in der Behandlung von Patienten, die sterben wollen?

Wenn ein Patient auf der Station stirbt, hat er in der Regel noch ganz viele Behandlungen. Er wird beispielsweise noch künstlich ernährt und erhält über eine Infusion Antibiotika. Da kann man nicht jeden Tag in sein Krankenzimmer treten und etwas anderes abstellen oder abräumen. Statt der Salamitaktik ist ein klarer Schnitt gefragt.

Wie machen Sie diesen?

Man steht hin und sagt: «Wir sind jetzt so weit, dass wir sagen, wir hören auf zu kämpfen. Sind Sie auch bereit dazu?» Im besten Fall sind der Patient und seine Angehörigen auch so weit.

Sie betonen die Rolle der Angehörigen.

Ja. Sie müssen den Patienten durch die Krankheit mittragen – aber auch freigeben. Denn heute sterben immer mehr Menschen im Spital nach einer bewussten Entscheidung, die therapeutischen Bemühungen einzustellen. Es gibt dabei grosse Unterschiede. Die West- und Nordeuropäer akzeptieren recht gut, dass die Sterbephase häufig durch einen gezogenen Stecker eingeläutet wird. In anderen Kulturen wie den afrikanischen, in denen lebensverlängernde Therapien nicht vorhanden sind, ist der Tod noch stärker ein natürliches Ereignis. Da ist manchmal schwierig zu vermitteln, wenn wir im Spital Therapien unterlassen. 

Wirken Angehörige grundsätzlich lebensverlängernd?

Ja. Aber es gibt alle Spielformen. Also auch die Situation, in der eine Ehefrau mir im Vorzimmer sagt, sie möchte, dass ihr Mann nicht mehr leiden muss, dass seine Krankheit eine wahnsinnige Belastung für alle sei und sie einwillige, dass er gehen dürfe. Dass das für alle das Beste sei. Und dann spreche ich im Zimmer mit dem Patienten, und er sagt: «Ich mag nicht mehr und würde gerne sterben. Aber wissen Sie: Ich kann meine Frau nicht im Stich lassen. Ich muss weiterkämpfen.» 

Wie schaffen Sie Klarheit?

Ich mache die Türe auf und sage der Frau: «Bitte kommen Sie doch herein, und sagen Sie doch bitte vor Ihrem Mann, was Sie vorhin gesagt haben.»

Klärt sich die Situation dadurch tatsächlich?

Nein. Denn ich rufe die Frau natürlich nicht rein. Solche Situationen benötigen mehr Fingerspitzengefühl.

Wie begegnen Sie suizidalen Wünschen?

Meine Aufgabe als Arzt besteht darin, Krankheiten zu lindern und das Leben zu verlängern, aber auch darin, das Sterben zu begleiten. Wenn ein Patient den Tod noch ein paar Monate hinausschieben könnte, liegt es nicht an mir, zu entscheiden, dass er noch nicht lange genug gekämpft hat.

Leisten Sie Sterbehilfe?

Bei diesen Patienten ist die passive Sterbehilfe nicht so häufig ein Thema. Weil die Krankheiten in der Hämatologie schnell zum Tod führen, wenn man sie nicht behandelt. 

Wie tröstet man einen Krebsbetroffenen?

Man kann ihm weder sein Schicksal noch sein Leiden nehmen. Aber Erkrankte spüren zwischenmenschliche Wärme sehr gut. Deshalb ist Trost enorm wichtig. Zeigen Sie einem Krebserkrankten, dass Sie verstehen, dass er in einer schwierigen Situation ist. Dass Sie für ihn da sind, die Krankheit mit ihm durchzustehen. Dabei können Sie durchaus einmal grobe Wörter in den Mund nehmen und sagen: «Du bist ein armer Cheib mit dieser Scheisskrankheit.» Und sagen Sie ihm, dass er «es gut macht». Um ihm seine Selbstzweifel zu nehmen. Schuldfragen sind bei vielen Krebspatienten ein Riesenthema.

Ist die Schuldfrage kulturell bedingt?

Nein. Das Suchen nach Gründen, weshalb man einer lebensbedrohenden Krankheit ausgesetzt ist, ist universell. Aber es gibt eine typisch schweizerische Frage: Schweizer wollen wissen, inwiefern sie mit ihrem Verhalten zur Erkrankung beigetragen haben. Sie sind dabei sehr detailbesessen: «Habe ich zu wenig Äpfel gegessen? Oder zu viel? Oder zu wenig Birnen? Oder zu viel?»

Was sagt man Angehörigen, wenn sie einen Liebsten verlieren?

Es gehört zum guten Ton, dass man über einen Verstorbenen etwas Gutes sagt. Niemand will hören: Der Krebsbetroffene ist mit grossen Leiden gestorben – zumal das oft nicht stimmt. Die meisten Angehörigen wollen hören, dass der Krebsbetroffene für sein Leben und seine Familie gekämpft hat wie ein Löwe und dass das leider trotzdem nicht gereicht hat. Das gilt sogar dann, wenn der Patient am Schluss palliativ gepflegt wurde. Die Leute sagen dann: «Er hat einsehen müssen, dass es das Richtige ist, nicht mehr weiterzukämpfen, weil der Preis so hoch war und der Gewinn so klein. Aber er hat das gut gemacht.»

Was vereinfacht oder erschwert Ihnen das Abschiednehmen von Patienten?

Abschied nehmen ist Adieu sagen. Das geht – irgendwie. Schwierig ist es, wenn ein Patient an Komplikationen gestorben ist, die ich nicht kommen sah. Und ganz hart sind Obduktionen. Die Leichenschau verschafft eine brutale Klarheit über die Krankheit und was die Behandlung bewirkt hat. Sie bringt uns im Wissen um eine Krankheit weiter. Deshalb sind Obduktionen so wichtig.

An der Pinnwand Ihres Büros hängen ganz viele Todesanzeigen.

Sie stammen von Patienten. Ich sammle auch die E-Mails mit den Todesmeldungen. Ich habe für sie eigens einen Ordner eingerichtet. Die beiden Sammlungen helfen mir, mich an die Menschen zu erinnern. Sie lassen sich nicht einfach wegschieben.

An wie vielen Beerdigungen ehemaliger Patienten nahmen Sie teil?

In den vergangenen Jahren nahm ich nur einmal teil. Bei einem Verstorbenen, der mir nahestand. 

Was haben Sie aufgrund Ihrer Arbeit über das Menschsein gelernt?

Alles. Ich kann mir keine andere Tätigkeit als die meine vorstellen, in der man so viel erfährt über den Umgang des Menschen mit Schicksalsschlägen, Beziehungen, Scheitern und Hoffen.

Facebooktwitterredditpinteresttumblrmail