Highway to hell. Kein Nachruf.

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© Weltwoche vom 10. Januar 2019

Der Teufel, der ihn verfolgte

Im autobiografischen Roman «Script Avenue» liess ich meinen Vater frühzeitig sterben. Nun ist er tatsächlich tot. Zuvor kam es zu einer eigenartigen Begegnung. 

Von Claude Cueni

Ich habe meinen Vater nicht aus Rache getötet, ich wollte ihn auch nicht bestrafen, ich habe ihn aus Angst getötet. Das erste Mal 1980 in meinem Erstlingswerk «Ad acta». Später, als ich mit «Das Gold der Kelten» den Gallischen Krieg dramatisierte, liess ich ihn von einem nubischen Sklaven vergewaltigen, von römischen Legionären ans Kreuz nageln und schliesslich vor den Toren Alesias jämmerlich zugrunde gehen. Vergebens. Nachts schlich er sich in meine Träume zurück, er hatte Arme wie Monsterkraken. Sie stanken nach abgestandenem Zigarettenrauch und Feldschlösschen-Bier. Mit einem Beil zerhackte ich die Hände, die so viel Übles getan hatten. Sie wuchsen nach wie die Häupter der Hydra. Ich erträumte mir Schwerter, Harpunen und die Machete von Danny Trejo in Robert Rodriguez’ «Machete Kills», die Hydra wuchs nach.

«Nüdeli mit Hackbraten»

Schliesslich beendete ich 2014 mit meinem autobiografischen Roman «Script Avenue» die Endlosschlaufe. Ich liess den «hageren Blonden im hellblauen Hemd» eines natürlichen Todes sterben. Die Beerdigung verlief unblutig. Ich dachte, die Dämonen würden jetzt tief unter der Erde vermodern, Staub zu Staub. Doch im Folgeband «Pacific Avenue» erhielt ich von einem DHL-Boten die Tagebücher meines Vaters. Offenbar hatte er noch ein bisschen weitergelebt. Ich las seine Tagebücher und dachte, vielleicht könnte ich mehr über diesen merkwürdigen Menschen erfahren, aber er hatte nichts Bewegendes festgehalten. Mozart schrieb am 13. Juli 1770 wenigstens: «Gar nichts erlebt. Auch schön.» Mein Vater notierte am 22. November 1963: «Nüdeli mit Hackbraten, 20:00 St. Anton.» Das war der Tag, an dem Kennedy erschossen wurde.

Ich hörte nichts mehr von meinem Vater, jahrelang. Bis mich schliesslich im Herbst dieses Jahres eine SMS erreichte. Mein Vater liege im Sterben, er habe den Wunsch geäussert, mich nochmals zu sehen, er sei sehr unruhig in der Nacht. Ich bestellte ein Taxi und besuchte ihn im Pflegeheim, sein Zimmer war leer. Die Schwester sagte, er sei im Frühstücksraum. Nur gerade zwei Personen sassen an einem viereckigen Tisch, eine alte Frau, die ins Leere starrte, und gegenüber ein alter, ausgemergelter Greis in einem Rollstuhl, das bisschen Haar wie lose Sträucher in der Wüste, ein einziger Zahn war ihm geblieben.

Das musste mein 95-jähriger Vater sein. Ich setzte mich neben ihn und wartete. Er bemerkte, dass sich jemand gesetzt hatte, vermied es aber, den Kopf zu drehen. Wir sassen eine ganze Weile da. Vor ihm war ein Teller mit einem Butterbrot, das jemand in kleine Stücke geschnitten hatte. Ich war gewarnt worden, er sei beinahe taub. Deshalb hatte ich kleine Zettel vorbereitet mit Antworten auf Fragen, die er mir möglicherweise stellen würde. Auf dem ersten Zettel stand: «Ich trage einen Mundschutz, weil ich keine Immunabwehr habe.»

Es ärgerte ihn, dass jemand ihm einen Zettel vors Gesicht hielt, er warf einen flüchtigen Blick darauf, dann gleich einen zweiten, plötzlich schaute er mir direkt ins Gesicht, ich zog meinen Mundschutz für einen Augenblick herunter, er ergriff meinen Unterarm, schaute an die Decke und dankte Gott, dass er das noch erleben durfte. Seine Hand war immer noch riesig, aber sie hatte nicht mehr das Ausmass einer pazifischen Riesenkrake mit klebrigen Saugnäpfen. Die Haut hatte sich dunkel verfärbt, stellenweise bläulich, als hätte jemand seine Lebensenergie gedimmt, als hätte das Blut bereits begonnen zu verdicken und sich zu setzen. Ich begriff, dass man die Hydra nicht besiegt, indem man sie jede Nacht enthauptet, man besiegt sie, indem man sie sein lässt.

Martyrium im Worst Case

Die Kommunikation war einfacher als erwartet. Die meisten Fragen hatte ich geahnt und die Antworten auf den Zetteln notiert. Eine Pflegerin sagte ihm, er solle brav den Mund auftun. Kaum hatte er es getan, schob sie ihm ein Stück Brot in den Mund und bestrich die restlichen Brotwürfel mit einer zusätzlichen Butterschicht. Mein Vater rief laut, dieses Heim sei ein Gefängnis. Die Pflegerin lachte, offenbar hielt sie es für einen Scherz. Aber ich bin sicher, er hatte es ernst gemeint und nur so getan, als fände er es lustig, wie ein Kleinkind behandelt zu werden.

Er sagte der alten Dame gegenüber, dass ich ihr Sohn sei. Sie reagierte nicht. Als er es wiederholte, stand sie auf, nahm ihren Rollator und bewegte sich auf mich zu. Sie crashte gegen meinen Stuhl. Ich dachte, vielleicht hat sie Probleme mit den Augen oder mit der Motorik. Sie crashte erneut gegen meinen Stuhl, immer und immer wieder, wie eine verwelkte Jeanne d’Arc mit ihrem Sturmbock. Ich fragte sie, ob ich vielleicht ihren Stuhl besetzt habe, aber das konnte ja nicht sein, weil sie bereits sass, als ich reinkam. Ich stand auf und schob meinen Vater in sein Zimmer zurück.

Wir setzten uns auf den kleinen Balkon. Er sagte, es sei schon merkwürdig, wie ein Leben ende, er sitze hier und warte auf den Tod. Ich schwieg. Hätte ich ihm etwa sagen sollen, dass ich seit Jahren Mitglied von Lifecircle und Exit bin, weil ich seit zehn Jahren hauptberuflich krank bin und Lebensfreude und Humor unter dem Damoklesschwert nur deshalb intakt sind, weil ich das Martyrium im Worst Case abkürzen könnte? Ich behielt diese Gedanken selbstverständlich für mich. Jeder soll sterben, wie er mag. Mein Vater hatte sich für den christlichen Kreuzgang entschieden, da er glaubte, dass sein unsichtbarer Freund es nicht gerne sehen würde, wenn er sich heimlich aus dem Staub machte.

Mein Vater hatte viel zu erzählen, es war sein Leben, ich war nur eine Fussnote, er hatte nie Kinder gewollt, weder Ehefrau noch Familie. Aber jetzt, wo das Ende nahte, kam ihm in den Sinn, dass es da noch ein paar Blutsverwandte gab. «Ich bin seit zehn Jahren verheiratet», hatte ich auf einem der Zettel notiert. Er äusserte den Wunsch, meine Frau kennenzulernen, also kamen wir am nächsten Tag zu zweit. In ihrer Gegenwart blühte er auf, sang ein joviales Mundartlied über Vergänglichkeit und Tod und dass am Ende eh alles scheissegal sei. Ich erfuhr mehr über ihn als in meiner gesamten Kindheit. Er sagte, er sei vom Dittinger Dorfpfarrer vergewaltigt worden, seine Mutter sei nicht eingeschritten. Dass auch er weggeschaut hatte, als zwei meiner Cousins jahrelang von einem Onkel vergewaltigt wurden, hatte er verdrängt. Seine Biografie hatte er neu erfunden. Schliesslich sagte er, sein ganzes Leben sei schiefgelaufen, er habe viel Unrichtiges getan, so vielen Menschen Unrecht getan, aber daran sei nicht er schuld, sondern der Teufel, der ihn seit Geburt verfolge.

Reue und Hader am Lebensende sind der highway to hell, weil es für alles zu spät ist – ein dornenreicher Abschied, wenn Körper und Geist im Gleichschritt ermatten, bis man endlich aufhört zu existieren. Ich empfand Mitleid für einen Menschen, der heuchlerische Frömmigkeit zum Lifestyle erhoben, aber ein durch und durch unchristliches Leben geführt hatte. Wer ein Leben lang nur an sich denkt, hat am Lebensende niemanden, der an ihn denkt. Ich hörte ihm trotzdem zu, «no bad feelings anymore», die «Script Avenue» war meine reinigende Neunzig-Grad-Wäsche gewesen. Jetzt war alles in trockenen Tüchern.

Todesanzeigen sind Fake News

Als ich Anfang Oktober die SMS erhielt, er sei in der Nacht gestorben, bekam ich feuchte Augen. Seit meine erste Frau vor zehn Jahren gestorben ist, passiert das auch, wenn eine Cartoon-Figur stirbt. Empathie gehört zwar zum Rüstzeug eines Autors, aber weniger wäre mir offen gestanden lieber. Aber wenn man im Leben genügend Leid erfahren hat, entwickelt man ein grösseres Einfühlungsvermögen.

Mein Vater wollte keine Todesanzeige. Vielleicht fürchtete er, man würde wenig Vorteilhaftes über ihn schreiben, obwohl Todes- anzeigen meistens Fake News der gröberen Art sind. Ich hätte getextet: «Er lebte länger als erwartet und deutlich länger als verdient. Sein Tod beweist, dass das Böse tatsächlich sterben kann.» Dass mein Vater 95 Jahre alt wurde, ist vielleicht der ultimative Beweis, dass es keinen Gott gibt.

Man kann von jedem Menschen etwas lernen, sowohl vom Positiven als auch vom Negativen. Ich erinnere mich, wie er mich als Knirps an der Hand aus der Wohnung schleifte, nachdem er meine Mutter mit einer brutalen Ohrfeige vom Taburett gefegt hatte. Als ich übermüdet neben ihm im Wirtshaus «Sommereck» sass, sagte er: «Wenn du einmal gross bist, musst du mit deiner Frau auch so verfahren.» Dann bestellte er das Übliche, «ein Bier, einen Sirup».

Muss ich ihm dankbar sein? Ohne ihn hätte ich als Teenager wohl nie die nötige Kraft gehabt, diesem gewalttätigen und religiösen Irrenhaus zu entfliehen. Hätte er Eier gehabt, wären mir keine Strausseneier gewachsen. Mein Leben lang war ich stets bemüht, nicht so zu werden wie er. Ich werde ihn nur vermissen für das, was er nie gewesen ist.

Claude Cueni ist Schriftsteller und lebt in Basel. Zuletzt erschien von ihm «Warten auf Hergé» (Münster-Verlag). Am Sonntag, 13. Januar, 12.35 Uhr auf Radio SRF 2 Kultur: «Musik für einen Gast» mit Claude Cueni.

 

© Weltwoche vom 10. Januar 2019

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