Neunzig Tage Anarchie

Facebooktwitterredditpinteresttumblrmail

Weltwoche2016_anarchie

 

© Die Weltwoche; 29.09.2016; Ausgaben-Nr. 39 Als PDF anschauen

Mit drastischen Mitteln sorgt der neue philippinische Präsident Rodrigo Duterte  in seinem von Korruption und Drogen verseuchten Land für Ordnung. Die Begeisterung für «Rody»  zieht sich durch alle sozialen Schichten. Von Claude Cueni

Man hat ihn nicht ernst genommen, den Major aus dem vernachlässigten Süden der Philippinen, als er seine Kandidatur für die philippinische Präsidentschaftswahl anmeldete. Doch Rodrigo «Rody» Duterte stahl den 129 Mitbewerbern vom ersten Tag an die Show. Auf dem Hochglanzmagazin Esquire Philippines posierte er wie ein südamerikanischer Revolutionär mit einem Schnellfeuergewehr im dichten Dschungel. «How to be a man» war der Titel. Im Interview erklärte der Jurist und ehemalige Staatsanwalt, dass er als Präsident genau das tun werde, was ihm in seinen 22 Amtsjahren als Bürgermeister von Davao City gelungen ist: Mit Hilfe von Todesschwadronen hat er die kriminellste Stadt der Philippinen zur sichersten des Landes gemacht. Er hat nichts verheimlicht: «Falls ich Präsident werde, töte ich nicht 500, sondern 100 000. Und die korrupten Politiker in Manila werde ich auch töten und ihre Leichen in die Manila Bay werfen, um die Fische zu füttern, so dass die Fische fett werden.»

Jeden Tag schockierte er die Medien mit sexistischen Sprüchen, Beleidigungen von Würdenträgern und Details zu seiner Anti-Kriminalität-Strategie. Die Financial Times nannte ihn «Dirty Harry», Al-Dschasira «The Punisher», aber auf den Philippinen wurde «Rody» Kult, er gilt als Rächer der Armen, der die korrupten Clans aus dem Malacañang-Palast vertrieben hat und nun im Dirty-Harry-Stil aufräumt. Fernsehsender melden, Nostradamus habe die Ankunft eines Erlösers prophezeit: Duterte. Sogar in japanischen Comics wird er als Actionheld verehrt.

Analystin Lourdes Tiquia nennt Dutertes Wahlsieg die einzige Alternative zum unglaublich korrupten Establishment. Carlos Conde von Human Rights Watch in the Philippines sieht Dutertes Wahl als Folge des totalen Zusammenbruchs von Recht und Ordnung.

«Disciplina Duterte»

Seit Dutertes Amtsantritt am 1. Juli wurden bereits über 3000 mutmassliche Kriminelle aussergerichtlich erschossen. (In den hundert Tagen zuvor waren es 36.) Die neue Regierung meldet eine Reduktion der Kriminalitätsrate um 49 Prozent. 720 000 Drogendealer und -süchtige haben sich freiwillig gestellt, aus Angst, erschossen zu werden. Ronald dela Rosa, Generaldirektor der Philippine National Police (PNP), sagt, dass seine 160 000 Polizeibeamten seit Dutertes Amtsantritt insgesamt 850 000 Hausdurchsuchungen durchgeführt und 15 700 Drogenhändler verhaftet haben. Dabei seien 1466 Personen getötet worden. Die übrigen 1490 Toten seien das Werk von Bürgerwehren und rivalisierenden Drogengangs.

Die unglaublich hohe Zahl an Verhaftungen von Bürgermeistern, Gouverneuren, Polizeioffizieren, Richtern und Staatsanwälten zeigt, wie verfault das gesamte Staatswesen ist; vom einfachsten Polizisten bis zum obersten Richter scheint alles auf der Lohnliste der mexikanischen und chinesischen Drogensyndikate zu stehen. Selbst Leila de Lima, die Justizministerin der abgewählten Regierung Aquino III., war Teil der Drogenmafia und warnte jeweils vor bevorstehenden Polizeieinsätzen. Sie tanzte auf den Partys der Drug Lords und liess den Drogenknast New Bilibid in eine luxuriöse Kommandozentrale des philippinischen Drogenhandels umbauen. Hinter den Zuchthausmauern war «Roxas Boulevard»: Es gab dort Drogen, Alkohol, ein Casino, einen Nachtklub, Hahnenkämpfe, eine Sauna und ein Bordell. Leila de Lima kassierte insgesamt umgerechnet 1,4 Millionen Franken, 60 000 im Monat. Dafür müsste ein Polizist, der 300 Franken im Monat verdient, sechzehn Jahre lang arbeiten. Fünf verhaftete Polizeigeneräle (Monatseinkommen: 1000 Franken) erhielten für ihre Komplizenschaft je 7 Millionen Franken im Jahr. Über 100 000 Staatsbeamte sind am Drogenhandel beteiligt. Sie wohnen in luxuriösen Villen, die von Bodyguards bewacht werden. Hinter den Palästen vegetieren Menschen im Elend. Laut Unicef zählen die Philippinen zu den zehn Ländern weltweit, die die höchste Anzahl fehlernährter Kinder unter fünf Jahren haben. 22 Millionen Menschen sind täglich von Hunger betroffen, fast die Hälfte der 110 Millionen Einwohner verdient weniger als einen Dollar pro Tag. Das Drogenproblem hat epidemische Ausmasse erreicht, 3,7 Millionen Süchtige beschaffen sich täglich mit Raubüberfällen und Morden das Geld für Shabu, einen billigen Verschnitt von Crystal Meth.

Die Menschen sind traumatisiert. Sie hatten die Wahl zwischen Pest und Cholera, sie haben einen «Punisher» gewählt, der tut, was er sagt: «Diese Hurensöhne zerstören unsere Kinder, falls ihr einen kennt, geht hin und tötet ihn, es wäre zu schmerzhaft, wenn es die Eltern tun müssten.» Selbst als der 71-Jährige Zivilisten eine licence to kill erteilte und das staatliche Gewaltmonopol teilweise an den Mob der Strasse abtrat, wurde Duterte weiterhin wie ein Popstar gefeiert. Seine 16,6 Millionen Wähler nehmen das Abrutschen in die Anarchie bewusst in Kauf, weil sie glauben, dass dies nur vorübergehend sein wird. Sie sagen, man spüre abends in den Strassen bereits die «Disciplina Duterte», es sei merklich ruhiger und friedlicher geworden. In den sozialen Medien wird jeder erschossene Drogenbaron gefeiert. Jedes «Fuck you», jedes «Son of a Bitch», jedes «I kill you» wird unzählige Male gelikt und geteilt, die User fordern mittlerweile die Todesstrafe für Drogenhändler und beschimpfen die Moralisten aus dem Westen: «Hatten die USA, die Uno oder die EU in den letzten 50 Jahren jemals Mitleid mit der hungernden Bevölkerung?» Die Begeisterung für «Rody» zieht sich durch alle sozialen Schichten. In der letzten Umfrage von Pulse Asia gaben 91 Prozent der Befragten an, grosses Vertrauen in ihren neuen Präsidenten zu haben.

180-Grad-Pirouetten

Duterte redet oft über das Kriegsrecht und nennt den Diktator Ferdinand Marcos den besten philippinischen Präsidenten aller Zeiten. Er beteuert immer wieder, dass er nicht Diktator werden will, beteuert es so oft, dass langsam der Eindruck entsteht, er prüfe die Stimmung im Volke. Manchmal droht er damit, manchmal besänftigt er. Die permanente Meinungsänderung ist die einzige Konstante.

Während des Wahlkampfes hat Duterte freimütig gestanden, er leide unter einer bipolaren Störung. Der damalige Vizepräsident Binay hatte ihm nach jeder verbalen Entgleisung empfohlen, sich in die Psychiatrie einweisen zu lassen. Verteidigungsminister Delfin Lorenzana und Aussenminister Perfecto Yasay haben mittlerweile alle Hände voll zu tun, um die 180- Grad-Pirouetten ihres Präsidenten zu erklären. Aber wie soll man einen Mann kontrollieren, der sich selbst nicht unter Kontrolle hat?

Wer unter einer bipolaren Störung leidet, hat zahlreiche Gesichter:

1 _ Duterte der Antichrist, macht die katholischen Bischöfe, diese «heuchlerischen Hurensöhne», für die Überbevölkerung und die damit verbundene Massenarmut verantwortlich. Er propagiert Sexualaufklärung und die Dreikindfamilie.

2 _ Duterte der Umerzieher, zieht Karaoke- Anlagen nach 22 Uhr den Stecker und sammelt minderjährige Kinder, Betrunkene und Männer mit nacktem Oberkörper ein. Wer grundlos hupt, was eigentlich alle tun, wird bestraft.

3 _ Duterte der Reformer, plant ein föderalistisches Staatsmodell nach Schweizer Vorbild und die Inbetriebnahme des stillgelegten Atomkraftwerkes Bataan, das nie eine Wattstunde Strom produziert hat. In Metro Manila gibt es die ersten kostenlosen Strassenküchen für Arme.

4 _ Duterte der Nationalist, Lapu-Lapu, der Wilhelm Tell der Philippinen, soll wieder ein nationaler Held werden, ausländische Kultureinflüsse sollen gestoppt, Dialekte gefördert und Songs wieder auf Tagalog gesungen werden.

5 _ Duterte der Sozialist, im O-Ton: «Stop contractualization or I will kill you.» Wen will er eigentlich nicht töten? Mit «contractuals» sind ungelernte Temporärarbeiter ohne Arbeitsverträge und mit Tagespauschalen von vier Dollar gemeint.

6 _ Duterte der Anti-Amerikaner. Er fordert die 107 US-Soldaten in Zamboanga City auf, das Land zu verlassen, und bestellt sein neues Kriegsmaterial in China, Japan und Russland.

Die USA werden nicht mehr lange tatenlos zusehen. Die Philippinen sind der wichtigste Standort für die Abhörstationen der National Security Agency (NSA) im pazifischen Raum. Sie brauchen die Drohnenlandeplätze in Mindanao, um den IS, der dort ein Kalifat ausrufen will, zu stoppen.

Vor wenigen Tagen besuchte Duterte Camp Tecson in Bulacan und übergab den Militärs eine explosive Liste mit den Namen von über tausend verdächtigen, ranghohen Staatsangestellten. Er deutete an, dass er möglicherweise seine sechsjährige Amtszeit nicht überleben werde. Die milliardenschweren Familienclans sind teilweise mit den Drogenbaronen verbandelt, die wiederum mit den Bombenlegern und Auftragskillern der Sayyaf-Terroristen zusammenarbeiten, die wiederum ihre Bestände mit zurückkehrenden IS-Kämpfern aufstocken.

Einer von Dutertes Leibwächtern wurde bereits mit Kopfschüssen niedergestreckt. In Dutertes Heimatstadt Davao riss eine Bombe im letzten Monat 15 Menschen in den Tod. Auf dem Awang-Flughafen wurden Vizebürgermeister Abdul Wahab Safal und seine Leibwächter verhaftet. Sie stehen im Dienst der Drogenkartelle und hatten eine Bombe im Gepäck. High Noon für einen Nationalsozialisten?

© Die Weltwoche; 29.09.2016; Ausgaben-Nr. 39

Facebooktwitterredditpinteresttumblrmail