Weltwoche: Hollywood in Kiew

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Hollywood in Kiew

Der ehemalige Schauspieler Wolodymyr Selenskyj brilliert in seiner Rolle als Kriegspremier. Doch wo Licht ist, fallen auch Schatten.

9.2.2023

Claude Cueni

 

Wolodymyr Selenskyj, 45, wächst in einer privilegierten Akademikerfamilie auf, schliesst ein Studium der Rechtswissenschaften ab und gibt bereits mit achtzehn Jahren sein Fernsehdebüt als Moderator einer Kochshow. Schon bald tourt er als Komiker mit seinen Kumpels durch Russland und die Ukraine und gründet das Kabarett Kvartal 95. 2010 beschäftigt seine Produktionsgesellschaft Studio Kvartal 95 bereits zehn Schauspieler und 26 Texter und Hilfskräfte. Die Sketche sind auf Russisch verfasst. Mit seinen TV-Serien («Diener des Volkes»), Slapstick-Auftritten und Parodien von Politikern wird er in beiden Ländern zum Star der TV-Unterhaltung.

«Ich brauche Munition»

Der Neumillionär spendet für die marode ukrainische Armee und ermuntert Soldaten im Kampf gegen die Separatisten im Donbass: «Danke, dass Sie unser Land gegen diesen Abschaum verteidigt haben.» Darauf ist er in Russland unerwünscht. Nach dem Verlust des russischen Marktes schrumpft sein Einkommen um 80 Prozent. Er sagt, die Russen hätten ihm den Beruf gestohlen. Er, der von einem Magazin zum schönsten Mann des Landes gewählt worden war, beschliesst, seine unglaubliche Popularität für den Eintritt in die Politik zu nutzen.

Er kandidiert. Gemeinsam mit seinen Textern entwirft er einen ähnlichen Wahlkampf wie seinerzeit Ferdinand Marcos auf den Philippinen. Er meidet TV-Debatten, denn er hat noch kein politisches Programm – ausser, gewählt zu werden. Er gibt kaum Interviews, denn ohne Skript ist er – wie andere Schauspieler auch – aufgeschmissen. Er setzt voll auf Social Media, die von seinen Textern professionell bespielt werden. Es werden kaum politische Inhalte vermittelt (weil es keine gibt), sondern Emotionen und Pathos und «Slava Ukraini», Ruhm der Ukraine, und so weiter. Einen Tag vor der Wahl stellt sich Selenskyj dann doch einem TV-Duell mit dem amtierenden Präsidenten Petro Poroschenko. Tagelang hatte ihn sein Team mit fiktiven Fragen trainiert. Schauspieler Selenskyj löst die Aufgabe mit Bravour.

2019 gewinnt er mit rund 73 Prozent der Stimmen die Präsidentschaftswahlen. Einige seiner Kumpels folgen ihm in den Palast, sie sind jung, fotogen und grösstenteils politisch unerfahren, inländische Medien nennen sie «Soros Youngster», einige waren bisher Texter in Selenskyjs Filmimperium. Nach Putins Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 zeigen sie, was sie draufhaben. PR-Storys und zitatfähige Sätze, das beherrschen sie aus dem Effeff. Das mutige Statement «Ich brauche Munition, keine Mitfahrgelegenheit» macht Selenskyj schlagartig zum internationalen Helden. Täglich liefern seine Texter filmtaugliche Reden, die bald in Buchform erscheinen, «Kriegsreden Februar bis März 2022», Fortsetzung folgt.

Einmal Showbiz, immer Showbiz. Immer öfter erhält man den Eindruck, Schauspieler Selenskyj wähne sich als Hauptdarsteller in einem B-Movie. Während Abertausende auf den Schlachtfeldern eines vermeidbaren Krieges sterben, posiert Selenskyj mit Ehefrau Olena Selenska, 45, für das Modemagazin Vogue, Olena gar vor Kriegskulissen. Selenskyj lädt Hollywoodschauspieler nach Kiew ein. In Anlehnung an den berühmten «Walk of Fame» in Los Angeles weiht er in Kiew eine ukrainische Variante für ausländische Besucher ein. Bei unzähligen westlichen Anlässen wird er auf Grossleinwänden zugeschaltet und erntet stets Standing Ovations. Gerne vergleicht er sich mit dem von ihm bewunderten Ronald Reagan, kein Vergleich ist zu gross, schon gar nicht ein Vergleich mit Winston Churchill, der mit seinem zwölfbändigen Memoirenwerk 1953 immerhin den Nobelpreis für Literatur erhielt. Groteske Übertreibungen, Pathos, grandiose Selbstüberschätzungen und Nationalstolz gehören zur russisch-ukrainischen DNA.

Immer wieder sucht der 1,70 Meter grosse Schauspieler das internationale Scheinwerferlicht auf Celebrity- und Entertainment-Plattformen, um sich an die Welt zu wenden. Die Reden seiner Texter, mittlerweile über 150, sind hochprofessionell. Am Filmfestival in Cannes würdigt er via Videoschaltung die Rolle des Spielfilms gegen Diktaturen, jeder kriegt, was er hören will. In Katar schafft er den Auftritt dennoch nicht, denn der russisch-ukrainische Bruderkrieg ist nicht dessen Krieg, und ausserhalb der westlichen Welt ist die Sicht der Dinge eine ganz andere. Das ist nicht unser Krieg, sagen auch die Afrikaner.

Autoritärer Umgang mit Weggefährten

Selenskyj drängt auf die Aufnahme in die EU, obwohl das total korrupte Land die Kopenhagener Aufnahmekriterien von 1993 nicht ansatzweise erfüllt: stabile Demokratie, funktionierender Rechtsstaat, konkurrenzfähige Marktwirtschaft. Eine Mitgliedschaft entspräche zirka achtzehn griechischen Fässern ohne Boden. Selenskyjs Umgang mit alten Weggefährten und Journalisten wird im Laufe des Krieges ruppig und autoritär. Hire and fire. Um ihn herum gibt es nur noch Schleudersitze. Selenskyj friert Privatvermögen von Parlamentariern ein, entzieht einigen die Staatsbürgerschaft, schliesst TV-Anstalten, verbietet oppositionelle Vereine. Kvartal-95-Kollege Alexander Pikalow nennt ihn einen «emotionalen Vulkan». Wie nicht wenige Komiker teilt Selenskyj gerne deftig aus, reagiert aber selber hyperempfindlich auf Kritik. Insbesondere, wenn sie von Kvartal 95 kommt.

«Selenskyjs geheime Geschäfte»

Ehefrau Olena, auch sie eine Texterin, kritisiert die ehemaligen Weggefährten: «Humor muss wahr sein.» Der ehemalige Aussenminister Litauens, Linas Linkevicius, sagt: «Die Ukraine wird Ländern ähneln, in denen man die Opposition ins Gefängnis wirft.» Als das Verfassungsgericht auch noch den Korruptionsbeauftragten vor die Tür setzt, melden die USA und die EU, dass weitere finanzielle und militärische Hilfen gefährdet sind. Aus gutem Grund.

Im Oktober 2021 wurden damals zwölf Millionen Dokumente («Pandora Papers») von einem internationalen Netzwerk investigativer Journalisten geleakt. Es ging um Briefkastenfirmen, Geldwäsche, Steuervermeidung und Steuerhinterziehung. 600 Journalisten aus 117 Ländern veröffentlichten die Namen von 29 000 Personen. Die meisten stammten aus der Ukraine. Selenskyj hatte während des Wahlkampfes den amtierenden Staatspräsidenten Poroschenko kritisiert, weil dieser Briefkastenfirmen in Steueroasen unterhielt, nun offenbarten die Pandora Papers, dass auch Selenskyj solche Firmen betrieb.

Der Doku-Film «Offshore 95» thematisierte «Selenskyjs geheime Geschäfte». Die Premiere in der Ukraine wurde vorerst auf Druck des Geheimdienstes SBU in letzter Minute abgesagt, der Film später dann doch noch gezeigt. Menschenrechtsorganisationen schlugen Alarm. Die EU warnte, die Redefreiheit dürfe nicht gefährdet werden, wiederholte jedoch nach Putins Überfall das Mantra, wonach ausgerechnet die Ukraine, der es an Rechtsstaatlichkeit fehlt, die Freiheit des Westens verteidige. Man fürchtete eine Abnahme der westlichen Solidarität. Zu Recht, denn immer mehr Politiker, die Milliarden Steuergelder in die Ukraine überwiesen, hegten Zweifel, ob Gelder und militärisches Gerät auch wirklich am Bestimmungsort ankamen. Dass russische Offiziere Kriegsmaterial entwenden und über das Darknet weiterverkaufen, ist schon länger bekannt. Dass dies auch eine Unsitte ukrainischer Offiziere ist, weiss man mittlerweile, seit gelieferte US- und Nato-Waffen bei kriminellen Clans in Schweden aufgetaucht sind.

Bis vor kurzem fand die Empörung hinter verschlossenen Türen statt, und wer die Korruption thematisierte, galt als Putin-Propagandist. Seit Selenskyj im Januar eine ganze Reihe hochrangiger Regierungsmitglieder wegen Verdachts auf Korruption entliess, ist das Thema nun auch im Mainstream angekommen. Dass er kurz vor dem Eintreffen von EU-Chefin Ursula von der Leyen und ihrer Entourage medienwirksam eine Hausdurchsuchung bei seinem milliardenschweren Wahlkampf-Financier und Freund Ihor Kolomojskyj durchführen lässt, sieht eher wie eine Medienshow aus dem Studio Kvartal 95 aus. Wieso erst jetzt? Kolomojskyj steht nicht erst seit gestern auf der Sanktionsliste der USA und hat ein Einreiseverbot. Die Opposition unterstellt Selenskyj, dass er bei seinem plötzlichen Kampf gegen die Korruption nicht nur die Zweifel der EU ausräumen wolle, sondern bei dieser Gelegenheit auch missliebige Gegner ausschalte, die ihm bei den nächsten Wahlen gefährlich werden könnten. Korruption gehört seit Generationen zur DNA der russisch-ukrainischen Kultur, sie lässt sich nicht innert weniger Jahre ausmerzen. In den geleakten Pandora Papers sind ukrainische Politiker die korruptesten von allen. Dann folgen Russland, Belarus und andere Oststaaten.

Selenskyj lässt nichts unversucht, um die Nato in den Konflikt zu ziehen. Bei jedem Treffer mit westlichen Waffen betont er den Lieferanten, um Putin mitzuteilen, dass im Grunde genommen die Nato und die USA gegen ihn Krieg führen. Als zwei Abwehrraketen russischer Bauart auf dem Staatsgebiet des Nato-Mitglieds Polen niedergehen, will er einen Bündnisfall herbeireden und behauptet trotzig, Russland habe Polen angegriffen, obwohl selbst ukrainische Generäle die von amerikanischen Satelliten widerlegte Story bestätigen.

Wieso nicht verhandeln?

«Never give up» ist bei einem Verteidigungskrieg das Gebot der Stunde, der ukrainische Widerstand verdient grössten Respekt, aber Selenksyj will mittlerweile mehr. «Ich fühle Hass, ich will mich rächen», sagt er einem Journalisten und fordert Langstreckenwaffen, die auch Moskau in Schutt und Asche legen können. Er bekommt GLSDB-Raketen mit einer Reichweite von 150 Kilometern mit der Auflage, diese nicht zu benützen, um russisches Territorium anzugreifen. Selenskyj verspricht, sich daran zu halten, im gleichen Atemzug widerspricht sein enger Berater Mychajlo Podoljak.

Helmut Schmidt sagte einst: «Lieber hundert Stunden umsonst verhandeln als eine Minute schiessen.» Es ist eine sehr bittere Wahrheit, dass man sich am Ende doch noch mit dem Aggressor an den Verhandlungstisch setzen muss. Wieso nicht gleich?

Angesichts des enormen Leids, dass die ukrainische Zivilbevölkerung erleiden muss, fällt es schwer, die Schattenseiten eines Helden zu thematisieren. Aber Propaganda haben wir im Überfluss. Und zwar auf beiden Seiten.

 

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