08 – 2024 Weltwoche: »Dinner for One auf dem Bürgenstock«

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Im Mai vor zwei Jahren gab Papst Franziskus der Nato eine Mitschuld an Russlands Aggression. Er nannte es «Bellen vor der Haustür». Shitstorm. Hatte man schon vergessen, wie die USA reagierten, als die damalige Sowjetunion während der Kubakrise 1962 vor der amerikanischen Haustür bellte?

Papst Franziskus stand mit seiner Kritik nicht allein. Der damalige Bundesrat Ueli Maurer behauptete im August 2022, der Krieg in der Ukraine sei ein «Stellvertreterkrieg». Grosser Shitstorm. Und ein Jahr später schrieb Peter Bodenmann (SP): «Wer einen Krieg finanziert, entscheidet auch über dessen Ende. Und wer Kriege nicht gewinnen kann, sollte sie möglichst schnell beenden.» Im März 2023 sprach Alain Berset (SP) von einem «Kriegsrausch», den er in «gewissen Kreisen» spüre.

Heute wissen wir, sie hatten alle recht. Sie sagten es bloss zu früh.

Eine «Friedenskonferenz» auf dem Bürgenstock soll es nun richten, doch ein «Dinner for One» ist so absurd, als würde mein Verleger allein über meine Honorare «verhandeln». Es ist eher eine Fundraising-Veranstaltung für einen Showbiz-Präsidenten, der zu Hause jene Freiheitsrechte mit Füssen tritt, die er angeblich für den Westen verteidigt. Er wird sich erst an den Verhandlungstisch setzen, wenn es die USA erlauben oder die  Waffenlieferungen einstellen oder das letzte ukrainische Kind Waise geworden ist. Im Nachhinein wäre den zigtausend Witwen «Land gegen Frieden» lieber gewesen. Vermutlich.

Reflexe von Geschichtsblinden

Auch den Menschen im Westen, die es langsam leid sind, permanent mit neuen manipulativen Angstkampagnen domestiziert zu werden, wird es allmählich zu bunt. Sie haben nicht erst seit der Corona-Pandemie Zweifel an der Aufrichtigkeit von Politik, Medien und Institutionen. Sie haben andere Sorgen, als ausserhalb der Nato-Grenzen einen Bruderkrieg zwischen zwei völlig korrupten Staaten zu finanzieren. Zurzeit zählen wir weltweit 43 innerstaatliche Konflikte und Kriege. Wieso soll man ausgerechnet für den eh russisch sprechenden Donbass einen dritten Weltkrieg riskieren, seine Waffenkammern leeren und Milliarden Steuergelder verpulvern? Weil Putin anschliessend die Atommächte Frankreich und England angreift?

Profitieren wird wie üblich der «militärisch-industrielle Komplex», vor dem der scheidende US-Präsident Dwight D. Eisenhower am Abend des 17. Januar 1961 im Fernsehen gewarnt hatte: «Wir müssen auf der Hut sein vor unberechtigten Einflüssen des militärisch-industriellen Komplexes, ob diese gewollt oder ungewollt sind. Die Gefahr für ein katastrophales Anwachsen unbefugter Macht besteht und wird weiter bestehen. Wir dürfen niemals zulassen, dass das Gewicht dieser Kombination unsere Freiheiten oder unseren demokratischen Prozess bedroht.»

Was Geschichtsblinde heute reflexartig als Verschwörungstheorie verspotten, war die Warnung eines Mannes, der fast sein gesamtes Erwachsenenleben in Uniform verbracht hatte. Auch John F. Kennedy kritisierte den «militärisch-industriellen Komplex», der ihn stets zu neuen militärischen Abenteuern drängte, und Donald Trump gestand freimütig ein, dass man ihm laufend neue Drehbücher für Kriege im Ausland vorgelegt habe und wie man diese rechtfertigen könne.

Kurz nach Ausbruch des Krieges war der »Frieden zum Greifen nahe« schreibt der involvierte Schweizer Spitzendiplomat Jean-Daniel Ruch in seinen Memoiren. Der Friedensplan lag auf dem Tisch, doch am 26. April 2022 erklärte US-Verteidigungsminister Lloyd Austin, dass es Washingtons Ziel sei, Russland zu schwächen. Das sei das Ende der Hoffnungen auf die türkische Vermittlung mit Schweizer Beteiligung gewesen. Und seitdem wurden je nach Schätzung eine halbe Million Menschen getötet oder verwundet. 

Es gibt leider zu viele, die von diesem Krieg profitieren, gewollt oder ungewollt. Der französische Verteidigungsminister Sébastien Lecornu gestand im September 2023, dass der Krieg in der Ukraine auch Chancen für die französische Industrie biete, «sorry, dass ich das so direkt sage, aber wir müssen dazu stehen».

Profitieren werden auch jene Schweizer Politiker, die mit Steuergeldern ihre Spendierhosen stopfen, um ihre Reputation (für einen späteren Job auf der internationalen Bühne) zu steigern. Profitieren werden auch Hotellerie, Gastronomie, Luft- und Bodentaxis und die «petites sœurs des cœurs», die Escort-Girls rund um den Vierwaldstättersee.

«Dinner for One» ist der Gipfel der Heuchelei. Für die Menschen in den Schützengräben bedeutet er «Dinner for Nobody».

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