Welcher vernünftige Mensch überlässt ausgerechnet seinen Tod dem Zufall? Ich wollte selbstbestimmt sterben. Dabei half mir Erika Preisig. Sie führte mich zum Leben zurück. Jetzt hat sie vor Gericht einen historischen Erfolg errungen.
Dr. med. Erika Preisig, Präsidentin der Sterbehilfeorganisation Eternal Spirit, ist nach acht Jahren rechtskräftig vom Vorwurf der vorsätzlichen Tötung freigesprochen worden. Das Bundesgericht hat eine Beschwerde der Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Landschaft abgewiesen. Die hatte gegen Erika Preisig ein Verfahren unter anderem wegen vorsätzlicher Tötung eingeleitet. Von Instanz zu Instanz verringerte sich die Schuld, bis schliesslich das oberste und letzte Gericht feststellte: Die Ärztin Erika Preisig ist unschuldig.
Was musste diese Frau, die für so viele Menschen die letzte Hoffnung war (und weiterhin ist), in all den Jahren alles ertragen? Einige Medienleute nannten sie gar «Dr. Tod». Mit Journalismus hat das nichts mehr zu tun. Schon eher mit mangelnder Lebenserfahrung und mangelnder Empathie für die Betroffenen.
Sie bat mich, noch etwas aushalten
Ich lernte Erika Preisig im Jahre 2010 kennen. Nach meiner leukämiebedingten Knochenmarktransplantation teilte die Nachtschwester meiner Frau mit, man könne jetzt nichts mehr für mich tun. Ich kontaktierte am nächsten Tag Erika Preisig und bat um einen Termin für eine Sterbebegleitung. Ich wollte zu Hause sterben. Mit Pentobarbital. Wie meine erste Frau. Sie hatte sich nach vierzehn Jahren Krebs zu Hause mit Pentobarbital von ihren Schmerzen befreit.
Es war nicht Suizid, es war Schmerzbekämpfung mit Todesfolge. Ihr Arzt hatte ihr zwar versprochen, dass heute niemand mehr mit Schmerzen stirbt, aber meine Frau war Krankenschwester, sie wusste Bescheid. Sie erhielt Morphiumspritzen. Als die Dosis erhöht werden musste, nahm die Atemnot zu. Sie schaffte kaum noch ein paar Schritte allein. Sie wollte es beenden. Ihr Arzt schlug vor, dass man sie ins künstliche Koma versetzt. Für wen sollte das gut sein? Für das Guinness-Buch der Rekorde?
Ich traf deshalb Erika Preisig, um einen Sterbetermin zu vereinbaren. Sie hatte vorgängig meine gesamte Krankenakte gelesen. Zu meinem Erstaunen zückte sie nicht gleich ihren Terminkalender, wie das eine andere Sterbehilfeorganisation zuvor gemacht hatte, sondern unterhielt sich mit mir mehrere Stunden lang. Am Ende bat sie mich, noch etwas auszuhalten, es könne vielleicht wieder erträglicher werden; und auch wenn ich nie mehr gesund würde, würde ich vielleicht wieder das geniessen, was immer noch möglich sei.
Sie wollte keine Rechnung schreiben. Einige Medienleute unterstellten ihr später finanzielle Interessen. Schlossen sie von sich auf andere? Bezahlen sie ihre Reisen zu Interviewpartnern aus der eigenen Tasche?
Was ist denn eigentlich so falsch an einer «Freitodbegleitung»? Palliativmediziner Steffen Eychmüller kritisierte vor Jahren die Sterbehilfe: «Es ist Ausdruck des Zeitgeistes. Man lebt selbstbestimmt, man managt sein eigenes Leben und seinen eigenen Tod.» Was soll daran falsch sein? Jedem seine Weltanschauung. Es steht auch keinem Palliativmediziner zu, wildfremden Menschen die eigene Weltanschauung aufzuzwingen. Fühlt er etwa die Schmerzen der Sterbewilligen? Eychmüller sagte damals: «Unsicherheit, das Schicksal, der grössere Zusammenhang – das wird alles ausgeklammert.» Was soll daran falsch sein? Die einen glauben an einen «grösseren Zusammenhang», die anderen nicht.
Gegner der Sterbehilfe romantisieren oft das Sterben inmitten der Angehörigen. Wenn jemand vor dem sicheren Tod steht, von monatelangen Schmerzen zermürbt, hat er nur einen Wunsch: aus diesem Leben verschwinden. Auf «gemeinsames Nachdenken» wird gerne verzichtet, auch auf all die «wertvollen Erfahrungen». So was kann nur einem Gesunden einfallen. Eychmüller führte damals aus, Sterbehilfeorganisationen seien gut für «Leute, die extrem individualistisch bis egoistisch leben, alles selber regeln und nichts dem Zufall überlassen wollen». Wieso soll Eigenverantwortung egoistisch sein? Egoistisch wem gegenüber? Welcher vernünftige Mensch überlässt ausgerechnet sein Sterben dem Zufall? Es ist ausgerechnet die Gewissheit, dass man sein Leiden im Notfall rasch beenden kann, die einem hilft, Schmerzen zu ertragen und den Alltag trotzdem zu geniessen. Ohne diese Sicherheit fühlt man sich wie in einem Auto ohne Handbremse.
Acht Jahre üble Nachrechte
Erika Preisig ist Historisches gelungen. Ihr Erfolg wird auch die Basis sein, auf der Sterbehilfeorganisationen in anderen Ländern weitere Fortschritte erzielen werden. Damit ihre Landsleute nicht mehr die beschwerliche Reise in die Schweiz antreten müssen, um endlich würdevoll von ihrem Leiden erlöst zu werden.
Acht Jahre unter dem Damoklesschwert, acht Jahre Diffamierungen und Ächtung, acht Jahre Unterstellungen und üble Nachrechte. Das hat enorm viel Kraft gekostet, auch Gesundheit. Das hat Erika Preisig nicht verdient, den Titel «Schweizerin des Jahres» schon eher.