097 Blick »Long Covid im Mittelalter«

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Viele, die noch zu Mittag fröhlich gewesen, sah man des Abends nicht mehr unter den Lebenden.» So beschrieb im Jahre 1834 der Arzt Justus F. C. Hecker in seinem Buch «Der englische Schweiss» eine der merkwürdigsten Seuchen des Mittelalters.

Merkwürdig deshalb, weil sie 1485 zum ersten Mal aus dem Nichts auftauchte, innert Stunden tötete und ebenso plötzlich wieder verschwand. Merkwürdig auch deshalb, weil sie nicht Kranke und Alte dahinraffte, sondern vor allem Gesunde im besten Alter. Zur allgemeinen Verwirrung waren auch sehr viele Adlige und vermögende Kaufleute betroffen. Deshalb, und wohl nur deshalb, ist diese Seuche besonders gut dokumentiert. Den Namen verdankt sie einem von vielen Symptomen: kolossales Schwitzen.

Henry Tudor, der spätere König Heinrich VII., soll die Seuche eingeschleppt haben, als er mit fünftausend Mann in England einfiel und in der Schlacht von Bosworth Richard III. besiegte. Kaum war er ins massiv überbevölkerte London einmarschiert, erkrankten die Einwohner an einem grippeähnlichen Virus und sonderten übel riechenden Schweiss ab.

Mediziner standen vor einem Rätsel. Einige vermuteten eine besonders aggressive Erkältung, andere glaubten an ein unglückliches Zusammen treffen mit den damaligen Pocken- und Pest-Epidemien, Religiöse hielten es für eine Strafe Gottes. Es folgten vier weitere Wellen, jeweils im Abstand von circa zehn Jahren. Und jedes Mal berichteten Chronisten über Langzeitfolgen. Long Covid im Spätmittelalter.

Allen fünf Wellen ging Starkregen voraus, der gewöhnlich Ratten aus ihren Löchern treibt. Es folgten sehr heisse Sommer. Wer im Freien arbeitete, atmete zwangsläufig den Staub von getrocknetem Rattenkot ein und erkrankte nach kurzer Inkubationszeit an einem Hantavirus, das die Lunge angreift. Eine von vielen Theorien. Eine gängige Behandlung bestand darin, die Kranken warm einzupacken. Es bewirkte das Gegenteil.

Im Unterschied zu früher starten heute täglich über zweihunderttausend Flugzeuge und bringen Menschen und Viren von einem Ort zum andern. Was früher in eine Epidemie ausartete, wird heute gleich zur Pandemie. Doch heute haben wir Impfstoffe. Deshalb sollten wir «impfen statt schimpfen».

Claude Cueni (65) ist Schriftsteller und lebt in Basel. Er schreibt jeden zweiten Freitag im Blick. Zuletzt erschienen bei Nagel & Kimche «Genesis – Pandemie aus dem Eis» (2020) und «Hotel California» (2021).

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