114 Blick »Science-Fiction im Schuhgeschäft«

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Es war ein merkwürdig futuristisch anmutendes Röntgengerät, das der Arzt Jacob Lowe 1920 an der Bostoner Schuhmesse vorstellte. Er nannte es «Pedoskop». Mit diesem «Schuhdurchleuchtungsapparat» konnte die exakte Schuhgrösse ermittelt werden.

Bei Kindern war der jährliche Gang in den Schuhladen fortan so beliebt wie ein Ausflug an die Herbstmesse.

Man schob den Fuss in das Gerät und wackelte mit den Zehen wie die lustigen Skelette auf der Geisterbahn. Das Pedoskop war mit drei Sichtfenstern ausgestattet, sodass Mutter, Verkäuferin und Kind gleichzeitig und in Echtzeit die Passform des Schuhs überprüfen konnten. Sie setzten sich dabei der 20-fachen Strahlenbelastung heutiger Thorax-Aufnahmen aus.

Die Schweizer Schuhfirma Bally sicherte sich die nationale Allein-Vertretung und bewarb die «Pedoskop-Röntgen-Chaussierung» als Dienst am Kunden. Jeder «tüchtige und vorwärtsstrebende» Schuhladen sollte sich das Gerät, das eigentlich niemand brauchte, anschaffen. Den Müttern redete man ins Gewissen: Schlechtes Schuhwerk kann bei Heranwachsenden schlimme Schäden verursachen.

Die Zeit war günstig für solche Innovationen: Der Erste Weltkrieg war vorbei, die letzten Haushalte elektrifiziert, und man wähnte sich in einem neuen Jahrhundert der grenzenlosen Technisierung. Mit Beginn der Depression der 1930er-Jahre gebar die Armut ein weiteres Argument: Mit passgenauen Schuhen spart man Geld, weil diese länger halten.

Obwohl die Detroiter Gewerbeaufsicht 1948 in einer Studie nachwies, dass das Verkaufspersonal einer gesundheitsschädigenden Strahlung ausgesetzt ist, blieben die Geräte bis in die 1960er-Jahre in Betrieb. Stets fanden sich genügend «Experten», die alle Warnungen in den Wind schlugen.

Während Mutter und Kind vielleicht einmal im Jahr einer zweiminütigen Strahlung ausgesetzt waren, bediente das Verkaufspersonal die Geräte mehrmals pro Tag und zwar das ganze Jahr über. Der Werbeslogan «Ihre Füsse haben Sie lebenslänglich» galt leider nicht für alle. Eine Verkäuferin wurde derart verstrahlt, dass man ihr Gliedmassen amputieren musste. In der Schweiz wurde erst 1989 dem letzten Pedoskop der Stecker gezogen. Einundvierzig Jahre nach der Bostoner Studie.

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