Weltwoche. Die Frau im Rollstuhl, die den Teddybär erfand

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Im Alter von eineinhalb Jahren erkrankte Margarete Steiff an Kinderlähmung. Doch mit ihrem ungebrochenen Optimismus schuf sie einen Weltkonzern.


Claude Cueni

Europa im März 1843. Astronomen beobachten am Himmel die ungewöhnlichste Kometenerscheinung der Geschichte. Den Schweif schätzen sie auf eine Länge von 300 Kilometern. Prediger erkennen darin ein göttliches Zeichen und künden (einmal mehr) das Ende der Welt an.

Doch es kam schlimmer. Genau zwei Jahre später sank das Thermometer auf minus 22 Grad. Auf den Feldern faulte die Saat, die Kartoffelernte blieb aus, die Getreidepreise schossen in die Höhe, Hungersnöte führten zu Aufständen und Millionen Toten. Die folgenden Jahre markierten die letzten grossen Hungersnöte der vorindustriellen Zeit. Grosse Teile der Bevölkerung verarmten, ernährten sich von Unkraut und Viehfutter.

Auch in der ehemaligen freien Reichsstadt Giengen im Osten Baden-Württembergs herrschte das Elend. Man schrieb das Jahr 1847, als Maria Steiff ihre dritte Tochter Margarete zur Welt brachte. Maria war bereits einmal verheiratet. Baumeister Johann Wurz, ihr erster Ehemann, war während der Arbeit tödlich verunglückt. Und auch ihre beiden Söhne starben.

Nach den damaligen Regeln der Zünfte musste die Witwe die Werkstatt abgeben. Nur durch eine weitere Heirat konnte sie diese Enteignung verhindern. In grösster Not heiratete Maria den ersten Gesellen ihres verstorbenen Mannes Friedrich Steiff. In der damaligen Zeit waren Eheschliessungen eher pragmatische Entscheidungen, private Joint Ventures. Man verbündete sich gemeinsam gegen die Widrigkeiten des Schicksals. Manchmal entstand im Laufe der Zeit Liebe, manchmal nicht.

Das Schicksal meinte es nicht gut mit Maria Steiff, es war hart und gnadenlos. Maria verlor die Freude am Leben, ihre fünf Kinder sagten später, sie sei oft schlecht gelaunt gewesen, man habe sie nie lachen sehen. Maria forderte viel von ihren Kindern, sie mussten arbeiten, fleissig sein und bei der Versorgung der Familie mithelfen. Ihre Tochter Margarete war dazu nicht imstande. Im Alter von eineinhalb Jahren erkrankte sie an Kinderlähmung und war fortan auf fremde Hilfe angewiesen, von frühmorgens bis spätabends.

Doktor mit Bärenfellmantel

Als die kleine Margarete den Grosseltern zur Pflege übergeben wird, blüht sie förmlich auf. Die Kinder der Nachbarschaft fahren sie in einem Leiterwagen durch die Gassen. Sie erfindet für sie Spiele, erzählt die Geschichten, die ihr die Grossmutter abends erzählt. Spielzeuge besitzen nur Kinder reicher Eltern. Dort, wo Margarete lebt, spielt man mit dem, was die Natur hergibt: Steine, Äste, Knöpfe und Fantasie.

Ihre Eltern geben die Hoffnung nicht auf, dass sie eines Tages laufen kann. Immer wieder bringen sie ihre Tochter zu neuen Ärzten. 1856 wird die Neunjährige von einem Dr. Werner in Ludwigsburg untersucht. Er leitet eine von ihm gegründete Nervenheilanstalt und lässt den Kindern viele Freiheiten. Er trägt einen Mantel mit einem Futter aus Bärenfell. Manchmal trägt er ihn verkehrt herum, dann sieht er aus wie ein Bär, und die Kinder dürfen auf seinem Rücken reiten.

Margarete lebt in einem Haushalt voller Bücher. Sie begeistert sich für Zoologie, lernt Englisch und entwickelt sich zu einem selbstbewussten und unternehmungslustigen Teenager, der es versteht, mit seiner eingeschränkten Mobilität umzugehen. Nach dem Ende der Schulzeit kehrt Margarete zu ihren leiblichen Eltern zurück.

Ihre Schwestern werden allesamt Dienstmädchen, sie arbeiten hart und ernten wenig Anerkennung. Nur eine Heirat kann sie erlösen. Bei ihrer Patentante Appolonia lernt Margarete das Nähen. Ihr Hunger nach neuem Wissen ist kaum zu stillen, ihr Leistungswille ungebrochen. Mit neunzehn näht sie die Aussteuer ihrer Schwestern. Sie selbst wird nie heiraten. Eine Ehefrau, die nicht kochen, putzen, waschen und auf die Kinder aufpassen kann, ist für junge Männer ohne Wert.

Wenn Gleichaltrige abends tanzen gehen, um Bekanntschaften zu machen, arbeitet Margarete in ihrer neueröffneten Damenschneiderei. Sie will Geld verdienen, für sich und die Familie, so viel Geld wie nur möglich, denn ohne Geld lebt man im Elend. 1868 kauft sie mit ihren beiden Schwestern eine Nähmaschine. Ein Traum geht in Erfüllung. Ihre neue Maschine schafft 300 Stiche in der Minute, eine Näherin 50. Jetzt können sie zu Hause preiswerte Kleider herstellen. Margarete hat ein ausgesprochenes Flair für Mode, sie selbst trägt jedoch nur noch Schwarz. Sie wird dies ihr Leben lang tun.

1873 gewinnt der Berliner Joseph Priesner an der Wiener Weltausstellung die Goldmedaille für seine revolutionäre Pelznähmaschine. Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts ist die Epoche der Beschleunigung und der bahnbrechenden Erfindungen wie Grammofon, Dynamit, Telefon, Glühbirne und Repetiergewehr. In New York wird Bartholdis Freiheitsstatue eingeweiht, die Goldgräber in Klondike telegrafieren nach Hause, es entstehen die ersten grossen Industriedynastien.

Margarete schneidert nun Kleider auf Vorrat, das ist neu in jener Zeit. Bisher wurde nur genäht, wenn eine Bestellung vorlag, «on demand». Das Geschäft läuft so gut, dass Margarete Näherinnen einstellen kann. Sie ist eine begnadete Networkerin, charismatisch und von ansteckendem Optimismus. Sie entwickelt sich zur erfolgreichen und allseits geachteten Unternehmerin. Nun hat sie endlich Geld und will die Welt sehen, sie besucht Verwandte in anderen Städten und immer wieder zoologische Gärten. Für die Kinder der Umgebung näht sie kleine Elefanten aus Filz und stopft diese mit Wolle aus. Sie liebt Kinder über alles. Eigene wird sie nie haben.

Ihr Geschäft nimmt immer grössere Formen an. In ihrem Produktekatalog finden sich nun auch Affen, Kamele und andere Tiere. Einige montiert sie auf Gestellen. Sie haben Räder wie ihr Rollstuhl und bewegen Arme und Beine, wie sie es nie vermochte. 1888 verkauft sie bereits mehrere tausend Filztiere. Die Firma platzt aus allen Nähten. Ihr Vater finanziert ihr eine Filz-Spielwaren-Fabrik. Im oberen Stock richtet er Margarete eine rollstuhlgängige Wohnung mit Zugangsrampe ein.

Der Katalog von 1892 zeigt neue Stoffe wie Samt und Wolle. Doch mittlerweile dominieren die Filztiere. Margarete verkauft bereits tausend Exemplare pro Woche. Ihre Schwester Pauline wird Witwe und tritt in die «Margarete Steiff Filzspielwarenfabrik, Giengen/Brenz» ein. Die Ausstellung an der Leipziger Spielwarenmesse 1894 bedeutet für die 47-jährige Gründerin den internationalen Durchbruch. Ihre Geschwister, Schwäger, Enkel und Nichten arbeiten nun allesamt für ihr rasch expandierendes Unternehmen.

Es ist ihr zeichnerisch begabter Neffe Richard Steiff, der die Aufgabe übernimmt, neue Tiere zu entwerfen, sein Bruder ist für die Qualitätssicherung verantwortlich, ein weiterer Bruder kauft die Stoffe ein. Sie sind die Ersten in Giengen, die sich ein Auto leisten können. Die Firma platzt erneut aus allen Nähten.

Wahrscheinlich inspiriert vom Eisenmagier Gustave Eiffel, der für den Pariser Malletier Louis Vuitton das Eisengerüst für das erste Ladengeschäft an der 4, rue Neuve des Capucines erstellt hat, designt Richard Steiff ein lichtdurchflutetes Gebäude aus Glas und Stahl, die dazumal modernste Fabrik Deutschlands. Margaretes Neffen bauen ihrer bewunderten Tante ein Motorrad mit Seitenwagen. Gemeinsam rasen sie über die staubigen Strassen. Margarete liebt den Geschwindigkeitsrausch. Sie kauft den Mädchen der Grossfamilie Fahrräder, obwohl radelnde Frauen damals verpönt sind.

Spielzeug für Roosevelts Tochter

Das Jahr 1907 geht als «Bärenjahr» in die Firmengeschichte ein, Margarete beschäftigt bereits über 2000 Mitarbeiterinnen und Arbeiter und verkauft jährlich rund 400 000 Plüschbären, die meisten in die USA. Das mag auch der Grund sein, wieso Amerika eine eigene Entstehungsgeschichte erzählt. Die geht so: Der Sekretär von US-Präsident «Teddy» Theodore Roosevelt entdeckt in einem Schaufenster einen Plüschbären unbekannten Ursprungs. Da sein Chef ein passionierter Bärenjäger ist, kauft er das Spielzeug für Roosevelts Tochter. Sie nennt ihn «Teddy», das ist der Kosename, den die engsten Freunde des Präsidenten benützten in Anspielung auf sein Faible für die Bärenjagd. Der 9. September wird seitdem in den USA als Teddy Bear Day gefeiert.

Welche Story ist wahr, welche nicht? Es ist nicht ungewöhnlich, dass zwei Menschen auf zwei verschiedenen Kontinenten unabhängig voneinander zur gleichen Zeit etwa die gleiche Idee haben. Der Zeitgeist gebiert ähnliche Ideen. Entscheidend sind stets Wille und Ausdauer.

Als Margarete Steiff 1909 62-jährig an einer Lungenentzündung stirbt, ergeht es ihr wie vielen Berühmtheiten nach dem Tod. Sie wird mehr geehrt als zu Lebzeiten, als sei der Tod eine ganz besondere Leistung. Ausgerechnet einer der ersten neuen Intercity-Express-Züge (ICE 4), die mit einer Geschwindigkeit von bis zu 250 Kilometern von Hamburg-Altona über Basel, Zürich nach Chur fahren, wird 2017 nach der schwarz gekleideten Frau im Rollstuhl benannt.

Die Geschichte von Margarete Steiff ist nicht nur die Geschichte einer aussergewöhnlichen Frau, sondern auch ein Mutmacher für all jene, die mit einem Handicap ins Leben starten: Never give up.

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