© NZZ vom 14. Juni 22 / Kindsmissbrauch in der katholischen Kirche

Facebooktwitterredditpinteresttumblrmail

Systematisches Leitungsversagen: Im Bistum Münster gabes flächendeckend Missbrauch und Vertuschung

Auch in der katholischen Diözese Münster wurden Sexualstraftaten durch Kleriker lange Zeit verharmlost. Eine Studie belastet vor allem die ehemaligen Bischöfe Joseph Höffner und Reinhard Lettmann.

Nach den Bistümern Köln und München-Freising liegt nun auch für die katholische Diözese Münster eine umfangreiche Studie zum sexuellen Missbrauch durch Kleriker vor. Anders als bei den beiden anderen Bistümernhaben jedoch keine Juristen, sondern Soziologen und Historiker den Zeitraum von 1945 bis 2020 untersucht. Die Ergebnisse freilich sind ähnlich: Vor allem in den 1950er und 1960er Jahren gab es «nahezu flächendeckendenMissbrauch» und systematisches «Leitungsversagen». Lange brachten die verantwortlichen Generalvikare, Weihbischöfe und Bischöfe den «Priestertätern» mehr Verständnis entgegen als den Opfern.

Auch Serientäter wurden nicht bestraft

Insgesamt ermittelte die an diesem Montag vorgestellte Studie der Westfälischen Wilhelms-Universität 196 beschuldigte Kleriker, darunter 183 Priester, und etwa 610 Betroffene im minderjährigen Alter, die in geschätzten 5700 Fällen sexuell missbraucht wurden. Mindestens 43-Mal wurde starke körperliche Gewalt angewandt. In rund drei Vierteln der Fälle waren Täter wie Opfer männlichen Geschlechts.

Neben Einzel- gab es Serientäter wie etwa den 1964 zum Priester geweihten, bereits 1968 auf Bewährung verurteilten pädophil veranlagten Heinz Pottbäcker. Er wurde dennoch weiterhin in der Seelsorge eingesetzt, wo er sich abermals an Jungen verging. Ihm wurden laut dem wissenschaftlichen Mitarbeiter Bernhard Frings «immer wieder Kinder zugeführt». Damals war Joseph Höffner Bischof von Münster, der spätere Kölner Kardinal und langjährige Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz.

Auch andere verurteilte Täter wurden an neue Dienstorte versetzt und nicht dauerhaft vom Dienst suspendiert. Ein Priester, der sich in mindestens 20 Fällen des sexuellen Missbrauchs schuldig gemacht hatte, durfte in Argentinien weiter mit Kindern und Jugendlichen arbeiten. Höffner hat als Teilnehmer am Zweiten Vatikanischen Konzil in Rom einem bischöflichen Mitbruder 1962 einen Priester zur Weiterverwendung empfohlen, um dessen Missbrauchstaten er wusste – berichtete nun der Historiker David Rüschenschmidt. Damals und auch in den Folgejahren galt gegenüber der Öffentlichkeit, aber auch im internen Umgang oft das Motto, man wolle lieber keine «schmutzige Wäsche waschen». Zuweilen wurden die Verbrechen «zur gottgefälligen Tat umgedeutet», so die Soziologin Natalie Powroznik.

Eine hinkende Trennung

Keineswegs der Wahrheit entspricht somit die Aussage des von 1980 bis 2008 das Bistum leitenden Bischofs Reinhard Lettmann, es habe sich nur um Einzelfälle gehandelt. Studienleiter Thomas Grossbölting legt Wert auf die Feststellung, dass 95 Prozent der Priester keine Beschuldigten seien und man die Frage, ob die katholische Kirche ein «Hotspot des Missbrauchs» sei, nicht beantworten könne. Dazu fehle es an vergleichbaren Daten. Wohl aber gebe esein «spezifisch katholisches Gepräge des Verbrechens». Die «Pastoralmacht des Priesters» habe die unheilvolle Mischung aus Scham, Schweigen undBigotterie erst ermöglicht. Rund 90 Prozent der Beschuldigten erfuhren keine strafrechtlichen Konsequenzen. Grossbölting sieht darin einen Beleg für die «hinkende Trennung von Staat und Kirche».

Die Studie, vom Bistum Münster veranlasst und mit etwa 1,3 Millionen Euro finanziert, betrachtet nur das Hellfeld, also die aktenkundig gewordenen Fälle sexuellen Missbrauchs. Ausserdem führten die Wissenschafter Interviews mit über 60 Betroffenen. Das Bistum kooperierte und stellte alle Materialien zur Verfügung.

Generell, berichten die Autoren der Studie, hätten sich die «desaströsen Zustände» seit den 2010er Jahren gebessert. Heute betrachteten esGeneralvikare nicht mehr wie in der unmittelbaren Nachkriegszeit als ihre Aufgabe, die Strafverfolgung zu vereiteln. Doch auch der seit 2009 regierende Bischof Felix Genn habe zu Beginn seiner Amtszeit nicht immer mit der kirchenrechtlich gebotenen Strenge gehandelt. Als Seelsorger, die zugleich Vorgesetzte sind, blieben Bischöfe in einem heiklen Spagat.

Facebooktwitterredditpinteresttumblrmail