Prof. Jakob Passweg über Krebs: «Wir sehen immer wieder eindrückliche Heilungen»

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Prof. Jakob Passweg, Chefarzt der Hämatologie, Basler Unispital und Präsident der Stiftung Krebsforschung Schweiz


«Wir sehen immer wieder eindrückliche Heilungen»


Sonntagszeitung vom 21. April 2024

 

Felix Straumann,Nik Walter

 

«Ich brauche das Wort Heilung nicht gerne, aber wenn bei einem Patienten der Krebs fünf Jahre lang nicht zurückkommt, dann ist er wahrscheinlich geheilt»: Jakob Passweg, Chefarzt und Präsident der Stiftung Krebsforschung Schweiz.

 

Herr Passweg, die Nachricht, dass die erst 42-jährige Kate an Krebs leidet, hat weltweit grosse Wellen geschlagen. Wie ungewöhnlich ist Krebs in diesem Alter?

 

Krebs ist prinzipiell eine Krankheit des höheren Alters. Er ist eine Folge von Gendefekten, die bei der Zellteilung entstehen. Solange wir jung sind, funktioniert alles sehr zuverlässig. Doch mit den Jahren summieren sich die Fehler. Eine Ausnahme ist eine Form von Leukämie, die vor allem Kinder trifft. Das hat damit zu tun, dass in jungen Jahren das Immunsystem massiv umgebaut wird und dabei Gendefekte auftreten können.

 

Krebs mit 40 Jahren ist aber selten.

Ja, aber das heisst nicht, dass es nicht auch junge Menschen treffen kann. Gerade bei verbreiteten Krebsarten wie Darm- und Brustkrebs kommt das vor. Das war immer schon so. Genetische Unfälle können nicht nur im Alter auftreten. Bei einzelnen Krebsarten spielen auch vererbte Risikogene eine Rolle. Ein Beispiel ist die BRCA-Mutation, die insbesondere das Risiko für eine Brustkrebserkrankung im jüngeren Alter erhöht.

 

Manche sind wegen der Erkrankung von Kate besorgt. Wie sinnvoll ist es, bereits mit 30 zur Krebs­früherkennung zu gehen?

Das bringt wenig – ausser man hat ein familiär erhöhtes Risiko, wie es zum Beispiel bei Brustkrebs vorkommen kann. Für die verschiedenen Screenings gibt es empfohlene Altersangaben, die in der Regel gut begründet sind. Bei der Mammografie ist dies zum Beispiel ab 50. Ab dann ist die Häufigkeit von Tumorbildungen hoch genug, um einige zu entdecken. Bei jüngeren Frauen sind die Tumore dafür zu selten. Die negativen Auswirkungen einer Früherkennung können dann die positiven überwiegen.

 

Man hört immer wieder, dass Krebs bei jungen Menschen zunimmt. Stimmt das?

Da bin ich nicht so sicher. Eine Zunahme ist allein aufgrund des Bevölkerungswachstums zu erwarten. Zudem gehen die Leute heute häufiger zur Früherkennung, vor allem von Brust-, Darm- und Prostatakrebs. Das führt dazu, dass Krebsfälle früher entdeckt werden und eine Verschiebung zu den Jüngeren stattfindet, ohne dass Krebs dadurch häufiger geworden wäre. Durch Screenings entdeckt man auch Tumore, die gar nie zu einem Problem geworden wären. Das erhöht die Fallzahl ebenfalls.

 

Bei Kindern und Jugendlichen zeigen Daten des Bundes jedoch eine leichte Zunahme der Fallzahlen pro Einwohner.

Diesen Schluss lassen die Zahlen nicht unbedingt zu. Klar ist, dass es keinen Trend nach unten gibt. Das würde ich auch so erwarten, da es bei den bekannten Risikofaktoren in den letzten Jahren keine grösseren Veränderungen gegeben hat. Bei einer eindeutigen Zunahme müssten wir uns grosse Sorgen machen. Das würde bedeuten, dass es unbekannte Risiken gäbe, die wir unbedingt identifizieren müssten. Bis jetzt gibt es keine Hinweise darauf. Mögliche Risikofaktoren wie Strahlung durch Atomkraftwerke, Hochspannungs­leitungen oder Mobilfunk wurden gut untersucht. Bei allen konnte man keinen nennenswerten Einfluss auf das Krebsrisiko finden.

 

Welches sind die wichtigsten bekannten Risikofaktoren?

Rund ein Drittel der Krebserkrankungen wäre vermeidbar. Dabei sind die drei wichtigsten Risikofaktoren, die wir beeinflussen können: Rauchen, Rauchen und Rauchen. Danach kommen Alkohol und Übergewicht. Dass wir es in der Schweiz bis heute nicht geschafft haben, die Raucherquote bei den Jugendlichen stärker zu senken, ist beschämend. Bei uns rauchen rund 26 Prozent der Jugendlichen, in den USA sind es 15 Prozent.

 

Braucht es mehr Rauchstopp-Kampagnen?

Eigentlich müsste man sich gar nicht um diejenigen kümmern, die bereits rauchen. Es würde genügen, zu verhindern, dass die Jungen damit beginnen. Die Krebsrate würde automatisch deutlich sinken. Dabei geht es nicht nur um Lungentumore, auch die Häufigkeit von Brustkrebs, Blasenkrebs, Prostatakrebs und vielen anderen würde sinken.

 

In den letzten Jahren hat sich bei der Behandlung von Krebs viel bewegt. Was ist aus Ihrer Sicht der grösste Fortschritt?

Ein Riesenerfolg ist sicher die Erkenntnis, dass Gebärmutterhalskrebs eine Viruserkrankung ist. Als ich vor 40 Jahren Arzt wurde, war das überhaupt nicht klar. Seither ist es gelungen, gefährliche Virustypen zu identifizieren und eine Impfung zu kreieren, die es ermöglicht, die Erkrankung stark zurückzudrängen. Was objektiv der grösste Erfolg ist, ist aber natürlich schwierig zu sagen.

 

«Den grössten Erfolg sehen wir beim schwarzen Hautkrebs, dem Melanom.»

Für Sie persönlich?

Die Entwicklung beim Leberkrebs. Weltweit ist er einer der häufigsten Krebsarten. Er wird ebenfalls durch eine Virusinfektion ausgelöst, vor der heute die Hepatitis-Impfungen gut schützen. Dadurch konnten viele Krankheitsfälle verhindert werden.

 

Und bei den Therapien?

Da stehen sicher die neuen Immun- und zellulären Therapien im Vordergrund. Da kam der Durchbruch vor über zehn Jahren mit den sogenannten Checkpoint-Inhibitoren. Lange hatte man vergeblich versucht, die Immunabwehr zu stimulieren. Doch dann stellte sich heraus, dass das Immunsystem bei der Bekämpfung von Krebszellen immer mit angezogener Handbremse arbeitet. Die Checkpoint-Inhibitoren lösen diese Handbremse. Das hat den Unterschied gemacht, nur aufs Gaspedal drücken hatte keinen Erfolg. Aber bei den Checkpoint-Inhibitoren gilt: Sie funktionieren nur bei gewissen Tumorarten.

 

Bei welchen?

Den grössten Erfolg sehen wir beim schwarzen Hautkrebs, dem Melanom. Metastasierende Melanome waren lange unheilbar, heute sind sie zu einem gewissen Prozentsatz heilbar. Auch beim Lungenkrebs wirken die Checkpoint-Inhibitoren gut.

 

Kommt der Krebs nicht wieder zurück?

Beim Melanom nicht. Ich brauche das Wort Heilung nicht gerne, aber wenn bei einem Patienten der Krebs fünf Jahre lang nicht zurückkommt, dann ist er wahrscheinlich geheilt.

 

Das macht Hoffnung.

Es gibt aber auch Krebsformen mit null Fortschritten. Bei einigen weiss man nicht, welche Gene das Tumorwachstum steuern. Bei anderen kennt man die Mechanismen ziemlich gut, schafft es aber nicht, ein Medikament zu entwickeln.

 

Zum Beispiel bei Bauch­speichel­drüsen­krebs oder gewissen Hirntumoren?

Ja, es gibt aber noch viele weitere. Auch bei gewissen Leukämien kennen wir zwar die defekten Stoffwechselwege, haben aber nichts, um diese zu blockieren.

 

«Der Fortschritt verläuft nie linear», sagt Jakob Passweg. «Mal geht es vorwärts, dann passiert wieder 20 Jahre lang nichts.»

Neben den Checkpoint-Inhibitoren existieren noch weitere Immuntherapien.

Das stimmt. Zum Beispiel bispezifische Antikörper. Diese erkennen gleichzeitig die Oberflächenstruktur einer Tumorzelle und einer Immunzelle und bringen diese dadurch zusammen. Die Immunzelle vernichtet die Tumorzelle dann. Ausserdem gibt es die sogenannten CAR-T-Zellen, die bei jedem Patienten genetisch so modifiziert wurden, dass sie ebenfalls bestimmte Krebs-Antigene erkennen und die Tumorzellen so zerstören können.

 

Was kommt als Nächstes?

Das Team meines Kollegen Heinz Läubli am Unispital Basel arbeitet mit sogenannten Tumor-infiltrierenden Lymphozyten oder TILs. Das sind Immunzellen, die gerne in den Tumor einwandern. Die Kollegen isolieren diese Lymphozyten aus Tumormetastasen der Patienten und vermehren sie in der Laborschale. Die so aufbereiteten TILs spritzen sie nachher den Patienten wieder ins Blut. Im Körper sollen die TILs dann den Tumor beseitigen.

 

Das funktioniert?

Beim Melanom gibt es eine randomisierte Studie aus Holland, wo man zeigen konnte, dass die TIL-Therapie einen Überlebensvorteil bietet gegenüber anderen Immuntherapien. In Basel sind jetzt mehrere Patienten mit TILs behandelt worden. Derzeit erarbeiten meine Kollegen ein neues Therapieprotokoll, um auch Patienten mit Lungenkarzinomen mit TILs zu behandeln.

 

Werden die TILs die nächste Erfolgsgeschichte?

Der Fortschritt verläuft nie linear. Mal geht es vorwärts, dann passiert wieder 20 Jahre lang nichts. Bei den Immuntherapien glaubte man am Anfang, dass man den Schlüssel habe, um alle Krebsarten zu bekämpfen. Doch das stimmt eben leider nie. Tumore sind wahnsinnig heterogen. Gemeinsam ist ihnen einzig, dass die Zellen nicht ausgereift sind und sich unkontrolliert teilen. Aber das machen sie auf ganz verschiedene Arten. Ein Problem ist auch, dass wir uns bei Krebs immer noch zu stark an den Organen orientieren. Man spricht von Lungenkrebs, Leberkrebs oder Pankreaskrebs. Eine moderne Einordnung müsste die Tumore nach molekularen Eigenschaften einteilen.

 

Was heisst das?

Das bedeutet, dass man in verschiedenen Tumorarten und Organen zum Teil die gleichen genetischen Veränderungen finden kann. Zudem ist es auch nicht so, dass bei Lungenkrebs immer der gleiche Stoffwechselweg ausser Kontrolle geraten ist. Das gilt auch für Leberkrebs, Pankreaskrebs und viele andere. In diesen Fällen identifiziert man die zentrale Genmutation im Tumor, die das unkontrollierte Wachstum antreibt, und versucht, sie mithilfe der sogenannten molekularen Therapien zu stören. Allerdings gibt es solche Treiber-Mutationen nicht bei allen Krebsarten.

 

Bei den Immuntherapien geht man anders vor?

Ja, hier gelten andere Gesetzmässigkeiten. So gibt es Tumore, deren Zellen so stark verändert sind, dass man sie molekular kaum angreifen kann. Dafür sind sie für eine Immuntherapie gut geeignet, weil sie stark mutieren und dadurch viele Antigene produzieren und exponieren, sodass die Immunabwehr dort besser eingreifen kann.

 

Ist die Gefahr einer Resistenzbildung bei molekularen Therapien grösser als bei immunologischen?

Nein, das kommt bei beiden Therapieformen vor. Bei einer Immuntherapie geht die Geschichte so: Man produziert zum Beispiel eine CAR-T-Zelle gegen das Oberflächenprotein CD19 auf Lymphomzellen. Dann merkt man, dass es zu einem Rückfall kommt, weil CD19 plötzlich von der Zelloberfläche verschwindet. Das ist nicht gut, aber so läuft es leider manchmal. Analog dazu kann sich bei einer molekularen Therapie auf den Tumorzellen die Andockstelle für ein Medikament verändern, sodass dieses seine Wirkung nicht mehr entfalten kann.

 

Der Krebs erfindet sich immer wieder neu und kommt zurück.

Der Krebs ist hinterhältig und macht es wahnsinnig schlau. Dabei nutzt er aber die genau gleichen Evolutionsmechanismen wie alle anderen Zellen. Er ist genetisch instabil, er verändert sich beständig. Bei jeder Genmutation besteht das Risiko, dass es für die Krebszelle schlecht ist und sie stirbt. Das ist dem Krebs aber egal, denn dafür hat eine benachbarte Krebszelle vielleicht eine Mutation, die sie gegen das Medikament resistent macht. Es braucht nur eine einzige solche Zelle, und schon wird es problematisch.

 

«Der Krebs entsteht aus unseren eigenen Zellen. Er ist kein Alien.»

CAR-T-Therapien gelten als vielversprechend und sind erst wenige Jahre auf dem Markt. Wie viele Menschen werden in der Schweiz heute damit behandelt?

Im Jahr 2023 waren es zwischen 150 und 200. Das ist nicht wenig!

 

Wie erfolgreich ist die Therapie?

40 bis 50 Prozent der Behandelten können damit geheilt werden. Wir sehen immer wieder eindrückliche Heilungen, zum Beispiel bei einem Patienten, von dem ich erwartet habe, dass er bald sterben würde. Er erhielt eine einzige CAR-T-Behandlung und läuft heute herum, wie wenn nichts wäre.

 

Erleben Sie solche durchschlagenden Erfolge häufig?

Immer wieder. Das hält uns am Laufen. Wenn bei einer Therapie alle Patienten sterben, verliert man den Glauben an seine Arbeit. Wir erleben aber auch grosse Niederlagen, bei denen die Therapie manchmal sogar zum Tod beiträgt. Damit muss man auch umgehen können.

 

Angesichts der teils sehr erfolgreichen neuen Therapien: Werden konventionelle Behandlungen wie Chemotherapie, Chirurgie oder Bestrahlung bald einmal hinfällig?

 

Nein. Chemotherapien haben nach wie vor ihren Platz. Chirurgie ist sogar eher noch wichtiger geworden. Sie hat sich auch massiv verändert, sie ist intelligenter geworden. Zum Beispiel mit sogenannten adjuvanten Konzepten. Kate hatte zum Beispiel eine Operation und bekam danach eine adjuvante Chemotherapie, damit der Tumor möglichst nicht wiederkommt.

 

Wie neu ist diese kombinierte Behandlung?

Das war in den 1990er-Jahren ein revolutionäres Konzept. 40 Prozent der Patienten wurden nach einer Operation rückfällig, auch wenn der Chirurg geglaubt hatte, alles entfernt zu haben. Mit einer adjuvanten Therapie nach dem Eingriff konnte man die Zahl der Rückfälle um etwa ein Drittel reduzieren.

 

Ist auch Bestrahlung trotz der neuen Therapieformen weiterhin verbreitet?

Das setzt man ebenfalls immer noch sehr häufig ein. Wir verwenden alle konventionellen Behandlungsmethoden nach wie vor. Zusätzlich zu den neuen molekularen und immuntherapeutisch gerichteten Therapien.

 

Welche Rolle spielt die Diagnostik?

Der Bereich hat sich revolutioniert! Es wird heute sehr viel Diagnostik im molekularen Bereich betrieben. Bei Leukämien suchen wir nach mutierten Krebsgenen. Wir analysieren auch, wie viele dieser Mutationen im Tumor zu finden sind und wie viele nach der Therapie noch übrig bleiben. Auch die Bildgebung ist viel besser geworden. Heute gibt es PET-CT-Scans, mit denen man genau schauen kann, wo im Körper es überall Tumorherde gibt. Zusammengefasst kann man sagen: Die Diagnostik hat sich revolutioniert, die Therapie hat sich revolutioniert.

 

Derzeit werden auch Impfungen getestet, die als Therapie zum Einsatz kommen sollen. Dabei nutzt man auch die RNA-Technologie, die man von der Covid-Impfung kennt. Wo steht man da?

 

Dieser Ansatz steckt noch in den Kinderschuhen. Krebsimpfungen sind eine grosse Hoffnung, aber wir müssen schauen, was daraus wird.

 

Was ist die Idee dahinter?

Die Impfungen sind wie die molekularen Therapien gegen krebsspezifische Oberflächenproteine gerichtet. Das Problem dabei ist, dass es sehr schwierig ist, diese spezifischen Antigene zu identifizieren. Der Krebs entsteht aus unseren eigenen Zellen. Er ist kein Alien. Dementsprechend finden sich die meisten Antigene von Krebszellen auch auf normalen Zellen. Jeder und jede von uns hat angefangen als befruchtete Eizelle, die sich in die Gebärmutter eingenistet und sich die Blutversorgung der Mutter zunutze gemacht hat, um selbst zu wachsen. Wenn Krebszellen das machen, ist dies also nichts Ungewöhnliches. Deshalb wird man den Krebs auch nie wirklich besiegen können in dem Sinne, dass man ein Medikament findet, das alle Krebserkrankungen wegmachen kann. Das war lange ein Traum.

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