119 Blick »Blackout: Die Nacht der Tiere«

Was passiert, wenn tatsächlich der Strom ausfällt? New York hat die Erfahrung gemacht – sie war nicht gut. Nicht einmal Superman konnte die Bürger vor Kriminellen schützen.

Claude Cueni

Man schrieb den 13. Juli 1977, als Regisseur Richard Donner (1930–2021) seiner Filmcrew das Zeichen gab: Action! Sie drehten in New York gerade den ersten Teil der Comicserie «Superman». Doch um 21.34 Uhr Ortszeit sorgte nicht der Hauptdarsteller Christopher Reeve für Action, sondern zwei Blitzschläge, die einen Transformator der städtischen Elektrizitätsgesellschaft lahmlegten. Die Nebenrolle spielte eine lockere Schraube in einer Schaltstelle, die zu einem Kurzschluss geführt hatte.

New York ohne Strom, alle Strassen- und Schaufensterbeleuchtungen erloschen, U-Bahnen blieben stehen, Tausende blieben in Fahrstühlen stecken.

Während Celebritys wie Woody Allen und Al Pacino auf der Upper East Side «Open-Air-Blackout-Party» feierten, brach in anderen Gegenden das Chaos aus. Menschen zertrümmerten Schaufenster und nahmen alles mit, was nicht niet- und nagelfest war. Verzweifelte Ladenbesitzer verteidigten mit Baseballschlägern und Schusswaffen ihre Existenzgrundlage. Vergebens. Gegen die marodierenden Horden, die reihenweise Häuser abfackelten, hatten sie keine Chance.

25-Stunden-Fest für Plünderer

Ganze Stadtviertel wurden zerstört, Plünderer überfielen Plünderer. Die 8000 eingesetzten NYPD-Polizisten waren überfordert, etliche wurden schwer verletzt. «Das ist die Nacht der Tiere», sagte ein Polizist. Als das Licht nach 25 Stunden wieder anging, rief der Bürgermeister: «Christmas is over.»

Auch wenn die Schweiz nicht die USA ist und ein möglicherweise monatelanger Strommangel im Winter angekündigt würde: Die Haut der Zivilisation ist dünn. Informieren die Behörden im Voraus, in welchen Quartieren der Strom für einige Stunden abgestellt wird, sind auch Kriminelle informiert.

Wie wärs in der Schweiz?

Im Juni hatte ein Mob von rund 2500 jungen Nordafrikanern den italienischen Badeort Peschiera del Garda heimgesucht, Läden geplündert und Frauen sexuell bedrängt. Es braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, was bei einem längeren Stromunterbruch in Europas No-go-Areas zwischen Birmingham, Berlin und Malmö geschieht.

Und in der Schweiz? Wird der Staat seine Bürger schützen können? Gemäss Justiz- und Polizeidepartement haben die Anträge für Waffenerwerbsscheine (verglichen mit dem Vorjahr) um 25 Prozent zugenommen.


Soeben erschien der Thriller DIRTY TALKING.


 

118 Blick »Stellvertreterkriege«

Was haben die Kriege in Korea (1950–1953), Vietnam (1964–1975), Afghanistan (1979–1989) und Syrien (seit 2011) gemeinsam? Es sind Stellvertreterkriege der Grossmächte, weil eine direkte Konfrontation einen Atomkrieg bedeuten würde.

Die »New York Times« berichtet, dass die USA und England nicht nur Milliarden Dollar und Kriegsgerät in die Ukraine schicken, sondern auch »Militärberater«, die auf ukrainischem Boden logistische Hilfe leisten, Millitäroperationen vorbereiten und Ziele definieren, die dann ukrainische Soldaten mit westlichen Waffensystemen ins Visier nehmen. Der Krieg in der Ukraine ist ein klassischer Stellvertreterkrieg.

Ob man für diese Feststellung gescholten oder als Putinversteher diffamiert wird, hängt von der »richtigen Gesinnung« des Postboten ab. Leider erlaubt die politische Debatte mittlerweile nur noch schwarz oder weiss. Es sollte jedoch möglich sein, dass man Fakten vermittelt statt Meinungen von Personen, die nur darauf warten, dem politischen Gegner einen Strick zu drehen.

Putin hat einem barbarischen Überfall auf einen souveränen Staat begonnen und Kriegsverbrechen begangen. Wird Selinski dadurch zur Lichtgestalt? Vor dem Krieg durfte man erwähnen, dass Selinski gemäss den Pandora Papers ein millionenschwerer Oligarch mit dubiosen Firmen in den einschlägigen Steuerparadiesen ist. Heute muss man so tun, als würde der Ex-Schauspieler, der sich im Modemagazin »Vogue« mit seiner Frau als Celebrity inszeniert, die Freiheit des Westens verteidigen. Im eigenen Land tritt er diese mit Füssen und ist entsprechend umstritten, zumal er auch vor dem Krieg keine seiner blumigen Wahlversprechen eingelöst hat. In den USA wächst die Besorgnis, dass die westlichen Milliardenhilfen im zweitkorruptesten Land Europas nicht immer dort ankommen, wo sie sollten. Von den Russen ist bekannt, dass korrupte Offiziere Kriegsmaterial auf eigene Rechnung weiterverkaufen. Wieso sollte das beim Brudervolk Ukraine anders sein? Mentalitätsmässig gibt es wenig Unterschiede: Viel Pathos, Nationalstolz und groteske Übertreibungen.

Dass das erste Opfer des Krieges die Wahrheit ist, bewahrheitet sich auch in diesem völlig unnötigen Krieg, den sich kaum jemand gewünscht hat. Es sind fast immer Menschen im fortgeschrittenen Alter, die über Krieg und Frieden entscheiden. Und über jene, die noch eine Zukunft haben.


 Nächste Woche erscheint Cuenis neuer Thriller »Dirty Talking«.


 

117 Blick »Do you speak english?«

«Lasst uns ihre Sprache verwirren, dass keiner des andern Sprache verstehe!» In der biblischen Sage verhindert Gott den Turmbau zu Babel mit der «babylonischen Sprachverwirrung»: Fortan reden die Handwerker in 72 Sprachen aneinander vorbei und bringen keinen Stein mehr auf den andern.

Die EU wollte ein solches Chaos vermeiden. Doch sie wählte nicht eine einzige europäische Amtssprache, sondern lässt jährlich für 1,1 Milliarden Euro zwei Millionen Seiten in 24 Sprachen übersetzen. Obwohl praktisch alle Malteser Englisch sprechen, wird auch ins Maltesische übersetzt.

Jedes erfolgreiche Start-up, das mit weltweit verstreuten Freelancern arbeitet, pflegt Englisch als Business-Sprache. In meiner Familie sind die Muttersprachen Französisch, Deutsch, Chinesisch und Tagalog. Wie verständigen wir uns? Auf Englisch.

Wer seine Ferien in fremdsprachigen Ländern verbringt, macht die Erfahrung, dass man sich in Sierra Leone oder Hongkong kaum auf Deutsch, Französisch, Italienisch oder Rätoromanisch unterhalten kann, aber meistens auf Englisch. Von den über 7000 Sprachen, die auf der Welt gesprochen werden, ist Englisch, bedingt durch die britische Kolonialgeschichte, die Nummer eins.

Unsere Alltagssprache ist durchsetzt von englischen Ausdrücken, wir nehmen diese gar nicht mehr als fremdsprachig wahr. Wir hören englische Songs und schauen amerikanische Filme. Englisch ist die Sprache der Wissenschaft. Die grösste Ansammlung von Wissen liegt in Englisch vor.

Jeder kann sich autodidaktisch über die nationalen Sprachgrenzen hinaus weiterbilden, sofern er einen Internetanschluss hat und Englisch spricht. Die Karriereleiter von Jugendlichen schrumpft zur Bockleiter, wenn sie kein Englisch sprechen. Es wäre sinnvoll, wenn in Primarschulen Englisch als Zweitsprache eingeführt würde. In diesem Alter lernt man Sprachen schnell.

In der römischen Antike förderte Latein Verständigung und Zusammenhalt des Imperiums. Im Hinblick auf die vermehrte Zuwanderung aus bildungsschwachen Kulturen wäre Englisch als zweite Landessprache hilfreich für die Integration der Integrationswilligen. Vielleicht braucht auch die Politik einen Booster, um das aktuelle Sprachengesetz zu überdenken.


Am 22. August erscheint der neue Thriller DIRTY TALKING.


 

116 Blick »Wir wir zum Reisen gekommen sind«

Wie wir zum Reisen gekommen sind

Man reist ja nicht, um anzukommen, sondern um zu reisen», schrieb Goethe (1749–1832). Das war nicht immer so. Reisen hatte jahrtausendelang stets einen ganz bestimmten Zweck. Unsere Vorfahren waren Nomaden, immer unterwegs nach neuen Regionen, wo es genügend Nahrung gab. Auch Umweltkatastrophen zwangen sie zum Reisen beziehungsweise zum Verreisen. Bis sie schliesslich vor rund zehntausend Jahren sesshaft wurden und Viehzucht und Ackerbau betrieben.

In der Antike reiste man zu den Tempeln der Götter, wie man heute nach Santiago de Compostela oder Mekka pilgert. Nebst den Händlern, die berufsmässig reisten, waren Ferienreisen den Wohlhabenden vorbehalten, sie suchten im Sommer ihre Zweitwohnsitze am Meer auf. Allen anderen fehlten die Zeit und das Geld dazu.

Legionäre und Nichtadlige reisten meistens zu Fuss und legten dabei ca. 30 Kilometer am Tag zurück, in etwa die Distanz von Zürich nach Winterthur, eine Strecke, die wir heute mit dem Auto in 30 Minuten bewältigen. Es gab so was wie ein Fernstrassennetz mit Herbergen, die Reisende und die Pferde der Postboten und Kutscher versorgten und nebst Speis und Trank auch sexuelle Dienste anboten.

In der Renaissance (ca. 1400 bis 1620) sandte der europäische Adel seine Söhne auf die grosse Bildungsreise, die Grand Tour, die meistens nach Italien führte. Dass Reisen bildet, galt schon damals als Binsenweisheit. Unter Bildung verstand man auch das Sammeln erotischer Erfahrungen.

Mit dem britischen Reisepionier Thomas Cook (1808–1892) wurden erstmals Pauschalreisen in die entlegenen Kolonien des British Empire angeboten, das nach dem Ersten Weltkrieg sagenhafte 35 Millionen Quadratkilometer umfasste. Der technische Fortschritt der industriellen Revolution machte es möglich, dass nun Reisen dank Automobil, Eisenbahn und Dampfschiff günstiger und somit auch für den Mittelstand erschwinglich wurden. Die entstehende Tourismusbranche schaffte neue Jobs, die Reiseliteratur boomte, und Louis Vuitton (1821–1892) fabrizierte robuste Reisetruhen.

Doch erst in den 1960er-Jahren setzte dank höheren Realeinkommen, mehr Freizeit und günstigen Charterflügen der Massentourismus ein: Man reiste nicht mehr, «um anzukommen, sondern um zu reisen».


Am 22. August erscheint der neue Thriller DIRTY TALKING.


 

© Privilegierte Asphaltkleber

Die »Letzte Generation« klebt sich auf befahrene Strassen und legt den Verkehr lahm. Auf ihrer Plattform posten sie ihre Highlights, Videos, die erboste Autofahrer zeigen, die, (im Gegensatz zu den privilegierten Asphaltklebern) unterwegs zur Arbeit sind. Auch Ambulanzen, Feuerwehr und Hochschwangere sind motorisiert unterwegs. Für wen will die »Letzte Generation« also das Klima retten, wenn ihnen die Mitmenschen derart egal sind?

 

Oder geht es eher um die Jagd nach Selfies, wie der junge Aktivist Clemens Traub in seinem Buch »Future for Fridays« selbstkrititisch bemerkt? 

 

Die Rücksichtslosigkeit gegenüber der arbeitenden Bevölkerung halten sie für rechtens, bis ihre Forderungen erfüllt sind. Erpressungen, die in Hotel Mama funktionierten, »Nike-Schuhe oder Terror«, sind in der Öffentlichkeit nicht immer erfolgreich. Wer seine Lifestyle-Moral über den Rechtsstaat stellt, verkommt zur Sekte.

 

Tadzio Müller, einer der Wortführer, findet es legitim, in Zukunft Autos zu zerstören und Gaskraftwerke zu sabotieren. Er droht mit einer »Grünen Armee Fraktion« im Stil der »Roten Armee Fraktion«, die in den 1970er-Jahren Staat und Bevölkerung terrorisierten. Doch das Einzige, was die RAF damals errreichte, waren (nebst 33 Morden) schärfere Gesetze.

 

Die gute Nachricht zum Schluss: Es wird noch tausende Generationen geben, weil die Menschen, die technologische Innovationen entwickeln, nicht auf dem Asphalt kleben, sondern forschen und arbeiten.

 

© Agentur C – die Story

1985 gründete der erfolgreiche Schweizer Firmengründer Heinrich Rohrer (Sipuro – Rohrreinigung – SI phon PU tz – RO hrer) mit einigen Freunden den Verein »Agentur C« um mit Plakatkampagnen schweizweit Bibelverse zu verbreiten.

1998 starb der millionenschwere Exzentriker, der auf seinem Anwesen einen Venom-Kampfjet und eine Radgürtelkanone geparkt hatte.

Seitdem produziert der Verein allerlei Merchandising mit Bibelversen, vom Regenschirm bis zum Zuckerbeutel, verschenkt Bibeln und hängt regelmässig neue Plakate auf.

Auf Anfrage wird mir erklärt, dass ihre Zielgruppe alle Menschen in der Schweiz umfasst und leider immer wieder Plakate zerstört werden. Soll ich jetzt Voltaire bzw. seine Biografin zitieren? (Ich teile Ihre Meinung nicht, aber…)

An alle Neandertaler mit unterentwickelten Demokratieverständis: Hört auf, Plakate zu beschädigen. In dieser humorlosen Zeit brauchen wir mehr Comedy im öffentlichen Raum.

© Der Maler Jürg Kreienbühl

Chronist der Endzeit

Zum Tod des Malers Jürg Kreienbühl


© Von Aurel Schmidt


© Quelle: Basler Stadtbuch 2007 / Basler Zeitung vom 3. November 2007


 

 

Zu Jürg Kreienbühls letzten Werken gehört eine Reihe von Bildern, die er in einer <déchetterie>, einer Kehrichtverbrennungsanlage, in der Nähe von Paris gemalt hat. In der auf Hochglanz polierten Welt von heute suchte er seine Motive mit Vorliebe am entgegengesetzten Ende, dort, wo die Armut und die Misere zu Hause sind und sich die so­ zialen Abgründe auftun.

 

Er liebte es, Abfallhaufen zu malen, Friedhöfe, von Ölteppichen verseuchte Häfen. Nichts Schönes, nicht Erbauliches. Er hatte eine bestimmte Vorstellung vom Leben, das er an den dunkelsten Orten suchte, weil er überzeugt war, dass er es nur dort finden würde. Das gab seiner Malerei etwas Düsteres, gelegentlich Pathetisches, aber immer auch Authentisches. Malen hiess für ihn Zeugnis ablegen.

 

Jürg Kreienbühl wurde am 12. August 1932 in Basel geboren. Als junger Mensch hatte er ein Erlebnis, das ihn für das Leben prägte. Der Anblick einer verwesenden, von Maden befallenen Ratte, die er im Jahr 1953 in einer Abfallgrube in Reinach beobachtet hatte, löste in ihm beinahe traumatische Reaktionen aus. Er hat oft davon gesprochen. Mit einem Mal musste er erkennen, dass die Natur eine ungeheuerliche Maschine ist, die alles verschlingt. Sie kam ihm wie etwas Sinnloses vor, wie eine Demütigung des Menschen. Dass der Mensch die Krone der Schöpfung sei, hielt er für blanken Unsinn. Alles stirbt, zerfällt, löst sich auf, geht zu Grunde. Nirgends ist ein Sinn, eine Hoffnung, ein Ausweg.

 

Das waren Kreienbühls nihilistische Jahre. Mit 24 zog er nach Paris, wo er in der Banlieue in einer <roulotte>, einem Wohnwagen, unter Zigeunern, Nordafrikanern, Clochards hauste. Aber unter diesen Gestrandeten erfuhr er eine Menschlichkeit, die ihm den Weg zu einem neuen Verständnis des Lebens eröffnete.

 

Später, als er sich als Künstler einen Namen gemacht hatte, vergass er nie seine Elendsjahre. Clochards in erbärmlichen Verhältnissen, in demolierten Zimmern, an Tischen mit ausgetrunkenen Weinflaschen sitzend, desillusioniert, alles im Detail exakt gemalt, blieben ein bevorzugtes Thema von ihm. Auf diese Weise bekundete er seine Verbundenheit mit den Armen und Benachteiligten und hatte damit – paradoxerweise – Erfolg.

 

Seine Erfahrungen prägten seinen Stil. Er malte in realistischer Weise und liess kaum etwas anderes daneben gelten. Es war für ihn ausgeschlossen, die Welt, die er angetroffen hatte, anders wiederzugeben als in einer krassen Art. Bei allem, was er gesehen und erlebt hatte, gab es für ihn keine Möglichkeit, sich einfach in die ästhetische Unverbindlichkeit zurückzuziehen. Wenn es sein musste, konnte er in künstlerischen Fragen sogar richtig rabiat werden. Rote und blaue Quadrate und Kreise riefen einen heiligen Zorn in ihm hervor. Was kann einer, der nichts zu essen hat, damit anfangen? Dabei muss man sich Jürg Kreienbühl als einen Menschen vorstellen, der sich seinen Freunden gegenüber jederzeit liebenswürdig, grosszügig und hilfsbereit verhielt.

 

Seine grosse Verehrung für den Maler Edouard Vuillard (1868-1940) macht vieles an seinem Werk verständlicher. Doch der Realismus ist heute kein hoch gehandelter Stil. Was aber bedeutete Realismus für Kreienbühl überhaupt? Bedenkt man neben dem Erlebnis mit der toten Ratte und den Erfahrungen in den Bidonvilles auch seine LSD- Versuche, so kann man seine realistische Malweise als Mittel und Methode verstehen, der Essenz, der tieferen Bedeutung auf die Spur zu kommen. Auf die nihilistische Phase seiner Jugend folgte so später eine Zeit, in der er einen Blick hinter die sichtbare Fassade der Erscheinungen warf und eine andere Einstellung zum Leben gewann.

 

Sein Leben lang beschäftigte sich Kreienbühl auch mit den Naturwissenschaften. Viele Jahre malte er in der 1889 erbauten Galérie de Zoologie im Jardin des Plantes (Muséum national d’Histoire naturelle) in Paris, die 1965 wegen Baufälligkeit für die Öf­ fentlichkeit geschlossen werden musste und 1994 in eine etwas geschniegelte Event- Ausstellungshalle zum Thema Evolution umgewandelt wurde. Er besass einen Schlüssel und konnte sich frei darin bewegen. Die Wissenschafter des Museums gehörten zu seinen engsten Freunden.

 

An diesem historischen Prachtbau interessierte ihn der desolate Zustand. Das Gebäude zerfiel zusehends, die ausgestopften Tiere verkamen. Es war ein Ort des Abbruchs. Die Atmosphäre inspirierte Kreienbühl. Wo er hinkam, traf er eine Welt in Auflösung an, eine Welt des Verschwindens, zum Beispiel in der lange zuvor aufgegebenen Fabrik in Vendeuvre-sur-Barse, in der einmal Heiligenfiguren aus Gips hergestellt worden waren, oder in der Warteck-Brauerei in Basel, wo ihn die Braukessel aus Messing im Sudhaus faszinierten, bevor wenig später die Produktion eingestellt wurde.

 

Jede Lebenslage, in die er sich gestellt sah, erwies sich als Niedergang. Er malte Endstationen und wurde zum Chronisten der Endzeit. Es war wie ein vom Schicksal verfügter Auftrag. Bis zuletzt blieben seine dominierenden Themen – neben Basler Motiven – die Banlieue, die anonymen Vorstadtsiedlungen, die Wohntürme von Nanterre, die mit Krimskrams vollgestopften Interieurs, die Hinterhöfe, die Mülldeponien, die Welt der sozial Deklassierten – die Welt, die an einem äussersten Punkt angekommen ist. Aber in dieser Welt erkannte er auch einen Überlebenswillen und eine versteckte Schönheit, die das Ergebnis einer tiefen menschlichen Verbundenheit ist, wenn erst einmal der Weg dahin durch die tiefsten Tiefen des Lebens geführt hat.

 

Auf einem Bild, das Kreienbühl vor einigen Jahren gemalt hat, ist er selbst zu sehen, auf dem Bettrand sitzend, mit einem erschütternden Blick in die Leere und Einsamkeit. Im Nachhinein erkennen wir, in welchem Mass das Bild als Aussage des Künstlers über sich selbst zu verstehen ist. In einem Heim in Cormeilles-en-Parisis ausserhalb von Paris ist Kreienbühl, der die Schweizer und die französische Staatsbürgerschaft besass, am go. Oktober 2007 gestorben, müde und überwältigt von den Strudeln des Lebens. Aber was für ein dichtes und randvolles Leben ist es gewesen.

 

Der Text erschien ursprünglich in der Basler Zeitung vom 3. November 2007

115 Blick »Was, du bist hetero? Voll krass«

 

Passähnliche Papiere gab es bereits vor tausend Jahren, wobei es eher Reisedokumente für Privilegierte waren oder Gesundheitspässe wie die 1374 in Venedig eingeführten Pestbriefe. Legte ein Schiff im Hafen an, musste der Kapitän ein solches Attest vorweisen. Vorsorglich wurde das Schriftstück unter schwefelhaltigem Rauch «sterilisiert». Fehlte das Dokument, musste die ganze Besatzung in Quarantäne, bevor sie ihre Fracht entladen durfte. Diese Pestbriefe waren in gewissem Sinne die Vorläufer des Reisepasses.

Heutige Personalausweise sind Identitätsnachweise. Sie beinhalten überprüfbare biologische Merkmale. Nicht so in den USA. Seit dem 11. April kann man sich einen Reisepass mit einem X für das dritte Geschlecht ausstellen lassen. Kaum jemand macht davon Gebrauch.

In Deutschland sieht das geplante Selbstbestimmungsgesetz vor, dass das Geschlecht sogar jedes Jahr gewechselt werden darf. Wieso nicht auch das Alter? Es wird kompliziert. Nicht nur bei Vermisstmeldungen und Fahndungsaufrufen.

Es gab schon immer Menschen, die seit Geburt das Gefühl hatten, im falschen Körper zu sein. Das war und ist für die meisten eine sehr grosse seelische Qual, die leider schon manchen in den Suizid getrieben hat.

Neu ist jedoch die plötzliche Zunahme jener, die sich meist in der Pubertät als non-binär definieren und dies mit Stolz vortragen, als hätten sie ge-rade im Alleingang die Olympischen Spiele gewonnen. Doch wen (ausser die Medien) interessiert eigentlich die sexuelle Ausrichtung der andern?

Gemäss einer Studie des US-amerikanischen «Trevor Project» identifizieren sich heute bereits 26 Prozent (Tendenz steigend) der befragten Jugendlichen zwischen 13 und 24 Jahren als non-binär. Weitere 20 Prozent sind noch unentschlossen. Ein britisches Spital nannte einen Zuwachs von 4500 Prozent innert sieben Jahren. An österreichischen Universitäten sollen gemäss Umfrage 75 Prozent queer sein.

Man wird den Verdacht nicht los, dass diese plötzliche massive Zunahme eine reine Modeerscheinung ist. Die mediale Aufmerksamkeit, die eine lautstarke Minderheit gezielt von Aktivisten einfordert, steht in keinem Verhältnis zur Anzahl der Betroffenen (1 bis 1,5 Prozent). Sie setzen das soziale Geschlecht (Gender) über das biologische Geschlecht.

Gefühle ändern, der Zeitgeist sowieso.

 

© Der eigene Tod ist nie das Ende der Zivilisation

»Die (russische) Invasion könnte den Beginn eines dritten Weltkriegs darstellen, den unsere Zivilisation nicht überlebt« orakelte Investorenlegende George Soros, 91, am diesjährigen World Economic Forum in Davos und warnte vor dem Missbrauch digitaler Technologien und der Bedrohung offener Gesellschaften, »unsere Zivilisation droht unterzugehen.« Diverse Medien titelten: »Soros warnt vor Weltuntergang».

Einige (nicht alle!) Hochbetagte glauben, dass die Welt demnächst untergeht. Aber sie sind es, die demnächst untergehen. Sie haben den Glauben an eine Zukunft verloren, weil sie selber keine mehr haben. Das ist durchaus verständlich, wenn man den fortschreitenden Abbau von Gehör, Sehkraft, Motorik und kognitiven Fähigkeiten realisiert und die meisten Illusionen bereits verloren hat. »Das Alter ist nichts für Schwächlinge«, scherzte Woody Allen. Alterspessimismus und -depressionen sind nicht ungewöhnlich, aber auch kein Trost für die Betroffenen. Im Angesicht des nahenden Lebensendes erleichtert man sich den ungewollten Abschied indem man schlechtredet, was man verlieren wird. Es fällt leichter eine Welt zu verlassen, die angeblich dem Untergang geweiht ist. Der Lebensabend verdunkelt manche Wahrnehmung.

Vor rund 71.000 Jahren soll der gewaltige Ausbruch des Vulkans Toba (Sumatra) die Population des Homo Sapiens auf wenige tausend Menschen reduziert haben. Trotz Kriegen, Seuchen und Hungersnöten bevölkerten gemäss UNO zu Beginn unserer Zeitrechnung bereits wieder 310 Millionen den Planeten. Pest, Pocken, Hitze- und Dürreperioden, häufige Missernten und jahrelange Kriege bremsten im Spätmittelalter das Bevölkerungswachstum erneut. Apokalyptiker und Propheten sahen das Ende der Zivilisation. Schliesslich führten Industrialisierung, medizinische Fortschritte und bessere Ernährung im 18. Jahrhundert zu einer regelrechten Bevölkerungsexplosion.

Das Gefahrenpotential ist heute massiv höher und globaler, aber die Zivilisation endet weder in Gibraltar noch an der amerikanisch-mexikanischen Grenze. Das Ende von etwas ist selten das Ende von allem, der Zeitgeist ein Chamäleon.

Nicht nur Hochbetagte verfallen manchmal dem von Soros geäusserten Pessimismus. Aus Primarschulen berichten Lehrerinnen und Lehrer, dass viele ihrer Schüler tatsächlich davon überzeugt sind, dass sie die »letzte Generation« sind, die letzte ihrer Art. Offenbar haben die von den Medien täglich zitierten »Weltuntergangsexperten« bei Teenagern mehr Schaden angerichtet als vermutet. Dass »Friday-for-future« mehrheitlich die eigene Klientel in Panik versetzt hat, ist nicht erstaunlich, können Jugendliche doch aufgrund der wenigen Lebensjahre, die sie bewusst erlebt haben, Gefahren der Gegenwart gar nicht richtig einschätzen.

Wer 1972 als Teenager eine Buchhandlung betrat, stockte der Atem. Auf allen Tischen türmte sich der Bestseller «Die Grenzen des Wachstums». Wann haben Sie zuletzt getankt? Wer damals 16 war, ist heute 66, und falls er ab 1981 das Hamburger Magazin «Der Spiegel» gelesen und aufbewahrt hat, findet er heute in seiner Sammlung 38 Cover-Stories, die mehr oder weniger das Ende der Welt voraussagen:  «Wer rettet die Erde?» (1989), «Vor uns die Sintflut» (1995), «Achtung, Weltuntergang» (2006), um nur einige zu nennen.

Alles, was man zum ersten Mal erlebt, prägt sich ein wie ein Brandzeichen, egal, ob es das Sterben eines geliebten Menschen ist, der erste Sex oder die erste Reise in einen bisher unbekannten Kulturkreis. Das gilt auch für die erste Schocknachricht. Erwachsene hingegen reagieren mit der Zeit wie die Dorfbewohner in der antiken Fabel »Der Hirtenjunge und der Wolf«. Für den angekündigten Affenvirus haben deshalb viele nur noch ein müdes Lächeln übrig.

Um sich ein Bild von der Zukunft zu machen, sind Puzzleteile aus Gegenwart und Historie nicht ausreichend. 1899 behauptete Charles H. Duell, der Leiter des US-Patentamtes, »Alles, was erfunden werden kann, wurde bereits erfunden«. Fliegende Autos waren Phantasieprodukte von Science-Fiction Autoren, aber zum Telefonieren suchten die Flügeltaxis immer noch die nächste Telefonzelle auf. Wer hätte gedacht, dass wir eines Tages per Videoschaltung mit den Verwandten in Australien telefonieren?  Werden wir einen Planeten B und zahlreiche weitere feste Himmelskörper bewohnen?

Wie auch immer: In etwa 5 bis 7 Milliarden Jahren geht die Welt trotzdem unter. Wir werden Temperaturen um die 1000 Grad haben. Aber bis dann werden wir gelebt haben.

114 Blick »Science-Fiction im Schuhgeschäft«

Es war ein merkwürdig futuristisch anmutendes Röntgengerät, das der Arzt Jacob Lowe 1920 an der Bostoner Schuhmesse vorstellte. Er nannte es «Pedoskop». Mit diesem «Schuhdurchleuchtungsapparat» konnte die exakte Schuhgrösse ermittelt werden.

Bei Kindern war der jährliche Gang in den Schuhladen fortan so beliebt wie ein Ausflug an die Herbstmesse.

Man schob den Fuss in das Gerät und wackelte mit den Zehen wie die lustigen Skelette auf der Geisterbahn. Das Pedoskop war mit drei Sichtfenstern ausgestattet, sodass Mutter, Verkäuferin und Kind gleichzeitig und in Echtzeit die Passform des Schuhs überprüfen konnten. Sie setzten sich dabei der 20-fachen Strahlenbelastung heutiger Thorax-Aufnahmen aus.

Die Schweizer Schuhfirma Bally sicherte sich die nationale Allein-Vertretung und bewarb die «Pedoskop-Röntgen-Chaussierung» als Dienst am Kunden. Jeder «tüchtige und vorwärtsstrebende» Schuhladen sollte sich das Gerät, das eigentlich niemand brauchte, anschaffen. Den Müttern redete man ins Gewissen: Schlechtes Schuhwerk kann bei Heranwachsenden schlimme Schäden verursachen.

Die Zeit war günstig für solche Innovationen: Der Erste Weltkrieg war vorbei, die letzten Haushalte elektrifiziert, und man wähnte sich in einem neuen Jahrhundert der grenzenlosen Technisierung. Mit Beginn der Depression der 1930er-Jahre gebar die Armut ein weiteres Argument: Mit passgenauen Schuhen spart man Geld, weil diese länger halten.

Obwohl die Detroiter Gewerbeaufsicht 1948 in einer Studie nachwies, dass das Verkaufspersonal einer gesundheitsschädigenden Strahlung ausgesetzt ist, blieben die Geräte bis in die 1960er-Jahre in Betrieb. Stets fanden sich genügend «Experten», die alle Warnungen in den Wind schlugen.

Während Mutter und Kind vielleicht einmal im Jahr einer zweiminütigen Strahlung ausgesetzt waren, bediente das Verkaufspersonal die Geräte mehrmals pro Tag und zwar das ganze Jahr über. Der Werbeslogan «Ihre Füsse haben Sie lebenslänglich» galt leider nicht für alle. Eine Verkäuferin wurde derart verstrahlt, dass man ihr Gliedmassen amputieren musste. In der Schweiz wurde erst 1989 dem letzten Pedoskop der Stecker gezogen. Einundvierzig Jahre nach der Bostoner Studie.