072 Blick »Heute Rebell, morgen Despot«

©Fotolizenzen: Christina Guggeri

In den 1970er-Jahren war es für einen Teenager chic, mit einem PLO-Schal wie jenem des Chef-Terroristen Yassir Arafat herumzulaufen, die Bibel des Massenmörders Mao zu promoten, auf dem Klo ein Poster des Stalin-Verehrers Che Guevara aufzuhängen und den Unrechtsstaat DDR als Paradies zu verklären. Das war links und das war cool und man musste nichts mehr beweisen. Wir stellten unsere Moral über das Gesetz. Illegal war scheissegal.

Sozialistische Parteien mutierten zu Verbotsparteien. Linientreue ersetzte die Debattenkultur, die DDR wurde zum Vorbild. Planwirtschaft statt Marktwirtschaft. Das zugemauerte «Arbeiterparadies» wurde einer der weltweit grössten Umweltsünder. Demonstrieren konnte man nur in der Zelle.

071 Blick »Ein Denkmal für Polizeibeamte«

   

Seit 1821 stirbt der Luzerner Löwe in seiner Grotte vor sich hin. Mit jährlich rund 1,4 Millionen Besuchern gilt er heute als eines der meistbesuchten Touristenziele Luzerns. Für die meisten ist dieses in Sandstein gehauene Denkmal «das traurigste und bewegendste Stück Stein der Welt (Mark Twain)». Nicht alle wissen, dass der Löwe an den Untergang der Schweizergarde erinnert, die am 10. August 1792 erfolglos die Tuilerien in Paris gegen den Ansturm der aufgebrachten französischen Revolutionäre verteidigte.

Vor elf Jahren warf «eine unbekannte Körperschaft» rote Farbbeutel auf den Löwen, um gegen das Denkmal zu protestieren, aber auch um sich mit Straftätern zu solidarisieren, die im Verdacht standen, in Frankreich Terroranschläge gegen TGV-Züge verübt zu haben. Einige Medien druckten das anonyme Bekennerschreiben als sei es eine offizielle Regierungserklärung.

Einmal mehr wollte ein anonymes Grüppchen der Allgemeinheit vorschreiben, was sie sehen darf und was nicht. Schaden für den Steuerzahler: 75’000 Franken.

Man ändert die Geschichte nicht, indem man die Krankenakte der Zivilisation umschreibt. Der Löwe entsprang Ende des 18. Jahrhunderts dem damaligen Zeitgeist. Vor lauter Empörung vergessen die Vandalen, dass die Liebhaber des Denkmals nicht die Monarchie verherrlichen, sondern die Kunst der beteiligten Bildhauer bewundern.

Vor zwei Jahren gelang dem Luzerner Löwen der Sprung über den Atlantik. Nun stirbt er auch im «Memorial Park» in der US-amerikanischen Stadt Colorado Springs. Er erinnert nicht an die gefallenen Schweizer, sondern gedenkt der dreissig Polizeibeamten, die seit 1895 bei der Verhaftung von Straftätern am östlichen Rand der Rocky Mountains ums Leben gekommen sind. In Stein gemeisselt sind die Worte:

Ich war dort, wo du fürchtest zu sein.

Ich habe gesehen, was du fürchtest zu sehen.

Ich habe getan, was du fürchtest zu tun.

All diese Dinge habe ich für dich getan.

Kürzlich wurde nun auch dieses Denkmal beschädigt. Wenn jeder zerstört, was ihm missfällt, enthüllen wir eines Tages das Denkmal eines Diktators, der einen Bürgerkrieg beendet hat, und von der Biografie der Menschheit bleibt nur noch ein prähistorischer Faustkeil übrig.


© Blick 2020


 

070 Blick »Sind Wahlplakate Littering?«

 

 

Wer Wahlen gewinnen will, sollte sich in der Öffentlichkeit mit berühmten Unterstützern umgeben und es vermeiden, den Leuten mit der Wahrheit die gute Laune zu verderben. Diese Empfehlung stammt nicht etwa aus einem heutigen Strategiepapier, sondern von Quintus Cicero (102–43 v. Chr.), dem Wahlkampfmanager und Bruder des berühmten Marcus Tullius Cicero.

 

Wählbar waren nur Personen, die das 30. Altersjahr überschritten hatten, denn Jüngere hielt man aufgrund der fehlenden Lebenserfahrung und der altersbedingten Leichtsinnigkeit für nicht ganz zurechnungsfähig.

 

Der Eintrag in die amtlichen Bewerbungslisten kostete nach heutiger Kaufkraft ca. 15’000 Franken. Nur Reiche konnten ein Amt anstreben. Fortan mussten sie aber auch bei Hungersnöten mit ihrem Privatvermögen einspringen. Heute haftet keiner mehr persönlich, weder für fehlende Masken, zu späte Grenzschliessungen, zu frühe Lockerung des Lockdowns noch für vorsätzliche Falschinformationen.

 

In der römischen Republik gab es kein politisches Parteiensystem, wie wir es heute kennen, es gab auch keine Wahlprogramme. Somit waren allein Charisma, Volksnähe und die Reputation der Unterstützer ausschlaggebend. Diese liessen den Namen des Kandidaten in roter oder schwarzer Tusche auf Wandverputze malen. Diese sogenannten Wahl-Dipinti säumten Einkaufsstrassen wie heute die Wahlplakate, die in der freien Natur später den Tatbestand des Litterings erfüllen.

 

Gekaufte Stimmen waren genauso üblich wie heute auf den Philippinen, wo der Major einer Barangay (Gemeindepräsident) auf seinem Moped von Haus zu Haus fährt und für umgerechnet ca. vier Franken Stimmen einkauft.

 

Populär waren auch Brot und Spiele, wobei diese dem Kandidaten meistens rote Zahlen bescherten, was seine Wahl erschwerte, da man zu Recht annahm, dass er sich nach einem Wahlsieg auf Staatskosten sanieren würde. Heute, wo die meisten Parteikassen leer sind, begnügt man sich mit bunten Werbegeschenken und anderen Wegwerfartikeln.

 

Wahlplakate haben die antiken Dipinti ersetzt. Oft werden sie beschädigt. Ironischerweise mobilisieren jene Vandalen, die kein Verständnis für Demokratie haben, die Nichtwähler der geschädigten Partei. Und auf die kommt es an.

069 Blick »Ist Schach rassistisch?«

Die ersten schachähnlichen Figuren waren klobige Blöcke und stammen aus Mesopotamien. Sie sind über 5000 Jahre alt. Mit der Verbreitung des Spiels entwickelten sich in den verschiedenen Kulturen zahlreiche Varianten. Als im 7. Jahrhundert muslimische Eroberer das Schach nach Europa brachten, wurde die Figur des Läufers noch als Alfil (Elefant) dargestellt, im 12. Jahrhundert haben ihn die Norweger durch einen Bischof ersetzt. Das Schachbrett hatte damals noch weisse und rote Felder, oft waren auch die Figuren entsprechend bemalt.

1849 gestaltete Nathaniel Cook das Set, wie wir es heute kennen. Die Figuren waren meistens aus hellbraunem und dunkelbraunem Holz. Später gelangten Sets mit Kreuzrittern, Nordstaatlern oder Comicfiguren in den Handel. Unabhängig von der Darstellung nennt man die beiden Parteien heute «Weiss» und «Schwarz», wobei «Weiss» jeweils den ersten Zug ausführt. Ist das rassistisch?

Der öffentlich-rechtliche Radiosender ABC Sidney setzte den Vorwurf in die Welt. Somit hätten Millionen von Eltern, die ihren Kindern die Schachregeln beibrachten, ihrem Nachwuchs Rassismus anerzogen, so wie andere Eltern ihrem Nachwuchs den Opferstatus anerziehen.

Es ist heute üblich, dass Aktivisten in den Redaktionen einen kaum beachteten Tweet herauspicken, um mit Pauken und Trompeten einen Shitstorm loszutreten. Man fragt sich, ob ein mehrjähriges Studium in Dekolonialität, kritischer Weiss-Sein-Reflexion und postkolonialem Erinnern notwendig ist, um nun sogar beim Schach Rassismus zu wittern.

Die Debatte ist mittlerweile entgleist und schlittert zwischen Überempfindlichkeit und Verharmlosung. Es ist heute chic, selbst bei banalsten Kränkungen, die jedem Menschen, unabhängig von der Hautfarbe, widerfahren, rassistische Mikroagressionen zu vermuten.

Würde man das Schach wieder mit weissen und roten Feldern und Figuren bestücken, könnten sich die nordamerikanischen Ureinwohner verletzt fühlen. Soll man also weltweit die Schachregeln dahingehend ändern, dass in Zukunft Schwarz beginnt? Oder wäre das Rassismus mit vertauschten Rollen? Ein Stoff für Kabarettisten. Kann es sein, dass derart bizarre Nebenschauplätze gerade das fördern, was man zu Recht bekämpft?

066 Blick »Ratte an Chilisauce«

«Ich habe zum Frühstück Rattenfrikassee (Rats en gibelone) genossen, und ich begreife nicht, wieso ich eine so vorzügliche Nahrung nicht gekannt habe», schrieb der Franzose Geoffroy Saint-Hilaire 1870. Der Pariser war Präsident einer zoologischen Gesellschaft, die Grosses im Schilde führte. Paris war von der preussischen Armee umzingelt. Es gab kein Entrinnen aus dem 82 Kilometer langen Belagerungsring. Die Viertelmillion Schafe im Bois de Boulogne waren bereits verspeist, auch Gepökeltes war aufgebraucht.

Deshalb setzte sich die erlesene Gesellschaft im November 1870 zu einer zehntägigen «Grande Bouffe» (grosses Fressen) an den Tisch und liess sich von den besten Pariser Köchen alles servieren, was in den Gassen frei herumlief: Hunde, Katzen und Ratten. Die Not diktierte das Menü.

In vielen Gegenden der Dritten Welt ist das heute noch so. Ratten gehören dort zum Speiseplan wie bei uns das Wiener Schnitzel. Im Süden Nigerias ernähren sich rund 70 Prozent der Bewohner von Rattenfleisch. In Kambodscha werden während der Saison täglich rund zwei Tonnen Ratten nach Vietnam exportiert. Dort ergab eine Umfrage, dass keiner der Arbeiter über die Gesundheitsrisiken Bescheid wusste. Im verarbeiteten Fleisch wurden krank machende Bakterien nachgewiesen.

Vor einigen Tagen warnte die Uno vor zukünftigen Pandemien, ausgelöst durch sogenannte Zoonosen, von Tier zu Mensch übertragbaren Infektionskrankheiten. Die mobile Gesellschaft beschleunigt die Verbreitung.

Doch selbst wenn es gelingen würde, alle Lebendtiermärkte in Asien und Afrika zu schliessen, sind zukünftige Pandemien kaum zu verhindern. Das klimabedingte Schmelzen der Permafrostböden hat bisher unbekannte Viren und Bakterien freigelegt, die teilweise nach Hunderten von Jahren immer noch infektiös waren. Vor vier Tagen meldete die chinesische Nachrichtenagentur Xinhua, dass bei einem Patienten in der Inneren Mongolei erneut das Pestbakterium Yersinia pestis nachgewiesen wurde.

Einige Molekularbiologen glauben, dass man mit der Anwendung der Gen-Schere Crispr-Cas9 das menschliche Genom optimieren könnte, damit das Immunsystem so robust wird wie das der überlebenden Ratten in Tschernobyl.

Link zu Amazon: Alle Kolumnen 1 – 65 im Band »Claude Cuenis Geschichtskolumnen«,

erhältlich als eBook und Taschenbuch mit jeweils 60 ganzseitigen Farbbildern.

065 Blick »Schwarze Sklaven, weisse Sklaven«

«Der König dieses Gebietes hält eine grosse Zahl von Sklaven und Konkubinen.» So berichtet der Geograf Leo Africanus 1510 über seinen Besuch in der afrikanischen Stadt Gao. Ihren kometenhaften Aufstieg verdankte die Hauptstadt des Songhai-Reichs der geografischen Lage am östlichen Nigerbogen und dem Import von Pferden, Waffen und Salz aus Nordafrika. Bezahlt wurde mit Gold und schwarzen Sklaven, die von schwarzen Jägern eingefangen wurden.

Araber versklavten Europäer

064 Blick »Geliebte Monster«

©Blick 12.6.2020

«Gorilla, eine Negerin entführend» nannte Emmanuel Frémiet (1824–1910) seine Bronzefigur, die er für die Ausstellung im Pariser Salon einreichte. Die Jury war schockiert. Im gleichen Jahr hatte bereits der Naturforscher Charles Darwin mit seiner Evolutionstheorie die Gemüter erhitzt. Die Preisrichter hielten sich an die damalige Political Correctness und verbannten den Gorilla hinter einen Vorhang. Die «erzieherische Massnahme» war erfolgreich. Frémiet erschuf zwar erneut einen Affen, gab ihm aber eine weisse Frau zum Frühstück und nannte das Werk «Gorilla, eine Frau entführend». Er erhielt dafür prompt die Ehrenmedaille.

Frémiets bronzener Affe inspirierte zahlreiche Autoren. Kein Geringerer als Edgar Wallace schrieb ein Drehbuch mit dem Arbeitstitel «Die Bestie». Er verstarb noch vor dem Happy End. Überlebt hat nur die Legende, er habe das erste Film-Monster erschaffen.

Das eigentliche Original entstand 1933, «King Kong und die weisse Frau», damals der bis anhin erfolgreichste Kinostart. Da Produzenten zur Risikominimierung gerne auf Fortsetzungen und Neuverfilmungen setzen, gibt es für Monster kein Verfallsdatum. Aber Konkurrenten. Sie sind etwas kleiner, unsichtbar und nisten sich als blinde Passagiere im Organismus von Millionen Menschen ein. Solche Horrorszenarien sind beliebt, deshalb stürmen heute selbst alte Pandemie-Filme wieder die Top Ten der Streamingdienste.

In «Outbreak»(1995) stammte das Virus von Affen und wurde nicht in Wuhan, sondern in einem US-amerikanischen Labor weiterentwickelt. Auch in Danny Boyles «28 Days Later» (2002) sprang ein Affen-Virus auf den Menschen über und infizierte ihn mit «Wut».

In den letzten Monaten brauchte es keinen Infekt, um Menschen in Wutbürger zu verwandeln. Die einen sorgten sich um Lohneinbussen oder Jobverlust, andere hatten in ihrer Jugend nie gelernt, Einschränkungen zu akzeptieren, und nannten die Quarantäne «Isolationshaft», während sie mit einer Tüte Popcorn «Godzilla II» schauten.

Ende Jahr soll King Kong gegen Godzilla antreten. Falls die beiden keine halbe Milliarde Dollar einspielen, werden sie frühzeitig pensioniert. Als Nachfolger empfehlen sich Dinosaurier und Covid-20.

Presse: Tödliche Bakterien im Permafrost

In Sibirien ist es erstmals seit 75 Jahren zu einem Milzbrand-Ausbruch gekommen. Ein Kind ist an der von Anthrax-Bakterien verursachten Erkrankung gestorben. Insgesamt 23 Menschen wurden infiziert.

Das Leben von Nenzen, einem indigenen Volk im Nordwesten Sibiriens, dreht sich um Rentiere. Mit ihren Herden ziehen die Nomadenfamilien durch die menschenleeren, flachen Weiten der Tundra von einer Weide zur nächsten. Ihre Häuser und traditionelle Kleidung machen sie aus Rentierleder.

Im Winter gibt es keinen besseren Schutz vor arktischem Frost. Das Fleisch der Rentiere wird roh und gekocht gegessen. Ausgerechnet diese Nähe zu den Tieren machte die Hirtenfamilien anfällig für eine gefährliche Infektion, die von Huftieren übertragen wird, den Milzbrand – auch bekannt unter der Bezeichnung Anthrax.

Auf der nordsibirischen Halbinsel Jamal wurde im Juli der erste Ausbruch dieser Krankheit seit dem Jahr 1941 registriert. Mehr als 2300 Rentiere sind bereits daran gestorben. Das gefährliche Bakterium wurde auch auf Menschen übertragen. Ein zwölfjähriger Junge ist am Montag an Darmmilzbrand gestorben. Das war offenbar die Folge des Verzehrs von verseuchtem Fleisch.

Insgesamt rund 90 Menschen wurden in die Krankenhäuser der Region gebracht. Bei 23 von ihnen wurde Milzbrand diagnostiziert. Laut Ärzten handelt es sich in den meisten Fällen um eine Krankheitsform, die durch Hautkontakt zu den Tieren übertragen wird und Geschwüre an der Haut verursacht. Die zweite Form, an der auch der Junge gestorben ist, ist gefährlicher. In diesen Fällen treten bei den Erkrankten blutiger Durchfall und Erbrechen auf, das Sterberisiko ist höher. Die Kranken werden mit Antibiotika behandelt.

Das Ausbrechen der Krankheit begann in Sibirien nach einer außergewöhnlichen Hitzewelle. Im Juni und Juli kletterten die Temperaturen am Polarkreis auf 35 Grad. Anfang Juli meldeten die am See Jarojto lebenden Hirten, dass bei ihnen Dutzende und dann Hunderte Rentiere gestorben sind. Zunächst machten sie die direkte Einwirkung der Hitze dafür verantwortlich.

Doch das Tiersterben hörte nicht auf, als die Temperaturen zurückgingen. Am 23. Juli wurde in dem lokalen sozialen Netzwerk „Vkontakte“ ein Hilfeaufruf gepostet: „In der Nomadensiedlung am See Jarojto, bestehend aus zwölf Häusern, sind 1500 Rentiere gestorben, Hunde sind verendet. Überall stinkt es, Kinder haben Hautgeschwüre.“

Das Bakterium Bacillus anthracis wurde nachgewiesen

Die Menschen seien bis jetzt nicht evakuiert worden. In den Proben, die Behörden bei Kadavern genommen und in Labore geschickt haben, wurde der Milzbranderreger, das Bakterium Bacillus anthracis, gefunden.

Russische Experten gehen davon aus, dass es tatsächlich die große Hitze gewesen sein könnte, die zu dem Ausbruch der Infektion führte. Die Sporen von Bacillus anthracis können jahrzehntelang in Kadavern überleben, die im Permafrost begraben sind. Die ungewöhnlich hohen Temperaturen führten zum Auftauen des Bodens, sodass die Bakterien wieder zum Leben erweckt wurden. Sie konnten an die Erdoberfläche gelangen, dort steckten sich erste Tiere an.

„Der Klimawandel spielt hier eine große Rolle“, erklärte Viktor Malejew, ein leitender Epidemiologe der russischen Verbraucherschutzbehörde, dem britischen Radiosender BBC. „Im Boden wurden vor Jahren tote Tiere begraben. Doch aufgrund des Permafrosts wussten wir lange Zeit nicht, was sich dort alles verbirgt.“

Solche Orte mit alten verseuchten Tierkadavern können nach Einschätzung von Experten auch noch nach 100 Jahren gefährlich sein. Der globale Klimawandel und das dadurch verursachte Auftauen des Permafrostbodens haben also mit großer Wahrscheinlichkeit zu dem Krankheitsausbruch geführt.

Spezialeinheit der Armee verbrennt Tote Rentiere

Nachdem den regionalen Behörden das Ausmaß der Gefahr bewusst geworden war, wurde in der betroffenen Region Quarantäne ausgerufen. Hirtenfamilien wurden evakuiert, sie mussten alle ihre Habseligkeiten in der Tundra lassen. „Stellen Sie sich vor – in einem Moment haben die Menschen alles verloren, den ganzen Besitz, ihre Häuser und Rentiere“, erzählte eine Bewohnerin im regionalen Fernsehen. Nun bekommen die betroffenen Familien Hilfe von Behörden und auch privaten Spendern.

Eine Spezialeinheit der russischen Armee, die für den Schutz vor biologischen Waffen zuständig ist, wurde in die Tundra geschickt. Das russische Fernsehen zeigte Soldaten in ABC-Schutzkleidung, die sich darauf vorbereiteten, mit Anthrax verseuchte Kadaver von Rentieren zu verbrennen.

Ein General erzählte, er wisse nicht, wie lange es noch dauern könne, bis das ganze Ausbruchsareal desinfiziert ist. Tote Rentiere seien im Umkreis von zehn Kilometern um die Nomadensiedlung zu finden. Den Hirten war ja nichts anderes übrig geblieben, als die Gefahrenzone zu verlassen und die Kadaver in der Tundra liegen zu lassen. Nun werden die Soldaten sie alle aufspüren und entsorgen müssen.

40.000 Rentiere wurden geimpft

Die Gegend wurde vom Militär abgesperrt. Vorsorglich sind überdies Impfstoffe für Mensch und Tier in die Region gebracht worden. Nach offiziellen Angaben der Behörden wurden bislang schon rund 40.000 Rentiere geimpft.

Außerdem will man bei dieser Gelegenheit auch nach jenen Orten suchen, an denen vor Jahrzehnten verendete Tiere begraben wurden. Auch dort könnte es theoretisch zu einer Freisetzung von Milzbranderregern zu einem späteren Zeitpunkt kommen.

Milzbrand ist in erster Linie eine Krankheit von Tieren. Sie kann aber auch vom Tier auf den Menschen übertragen werden. Die Übertragung von einem Menschen zum anderen ist allerdings sehr unwahrscheinlich.

Das todbringende Bakterium ist im 20. Jahrhundert in Militärlabors sehr gut erforscht worden, da es grundsätzlich auch als biologische Waffe eingesetzt werden kann. Für einen derartigen Angriff würde man Bakterien in der Luft als Aerosol versprühen. Sie können dann in die menschlichen Atemwege eindringen und zu Milzbrand führen.

© Axel Springer SE. Alle Rechte vorbehalten.

063 Blick »Howgh, Hallo & Hi«

 

Der Stamm der Lakota Sioux grüsste meistens mit «Howgh», einer Kurzform von «Hau kola» (Hallo Freund). Das wichtigste Begrüssungsritual bestand jedoch nicht aus Worten, sondern aus einer Geste. Mit der erhobenen, offenen Hand signalisierte man: Ich bin unbewaffnet.

In den meisten asiatischen Ländern wird bei der Begrüssung Körperkontakt vermieden: In Japan gilt die respektvolle Verbeugung, in Thailand begrüsst man sich mit dem Buddhisten-Gruss «Wai», man faltet zusätzlich die Hände vor der Brust, und in Indien praktizieren vor allem Hindus das sehr ähnliche «Namaste».

Begrüssungsrituale sind nicht nur kulturell bedingt, sondern unterliegen auch dem Zeitgeist. Wer hätte vor 50 Jahren seinen Chef mit Vornamen begrüsst oder den dreifachen Wangenkuss praktiziert? Kinder wurden noch dazu angehalten, Erwachsenen artig die Hand zu schütteln. Seit Covid-19 wird davon abgeraten.

Eine US-Untersuchung stellte fest, dass in den Handabstrichen der Studienteilnehmer Spuren von insgesamt 4742 Bakterienarten gefunden wurden. Lediglich fünf kamen bei allen Probanden vor. Je nach Immunsystem, Säuregrad der Haut und hormonellen Faktoren waren einige Bakterien harmlos, andere nicht.

Wer auf internationalen Flughäfen auf die Toilette geht, wird immer wieder beobachten, wie Fluggäste die WC-Anlagen verlassen, ohne sich die Hände gewaschen zu haben. Je nach Kultur sind die Hygienegewohnheiten sehr unterschiedlich. Auch in der Gastronomie.

Bargeld-Gegner wittern nun eine neue Chance, denn bei jedem Bezahlvorgang wechseln Banknoten mit circa 3000 Bakterienarten den Besitzer. Doch fast alle bisherigen Epidemien und Pandemien haben ihren Ursprung in den teilweise immer noch offenen Lebendtiermärkten, wo aufgrund der extrem unhygienischen Bedingungen Infektionskrankheiten von Tier zu Mensch übertragen werden.

Dass man in Zukunft Händeschütteln nur noch bei der Besiegelung wichtiger Vereinbarungen praktiziert, ist nicht verkehrt. Denn die nächste Pandemie kommt bestimmt.

Würden wir heute die Begrüssungsrituale ändern, wären sie für die nächste Generation selbstverständlich. Vielleicht gilt dann die japanische Verbeugung, eine Luftnummer von «Gimme five» oder einfach «Howgh» und Handy hochhalten.

062 Blick »Die Frau, die niemals aufgab«

 

1761 verbrachte Joseph Grosholtz eine Winternacht in den Armen von Anne-Maria Walder, sie wurde schwanger, und Josef zog in den Siebenjährigen Krieg. Als seine Tochter Marie geboren wurde, lag er bereits erschossen auf den Schlachtfeldern der Grossmächte.

Die junge Witwe zog mit der kleinen Tochter nach Bern, erwarb die Schweizer Staatsbürgerschaft und arbeitete als Hausmädchen für den Arzt Philippe Curtius. Er modellierte für den Anschauungsunterricht menschliche Organe in Wachs. Ein Cousin des französischen Königs wurde auf ihn aufmerksam und bot ihm ein Atelier in Paris an. Zusammen mit seiner Patchwork-Familie zog er an die Seine. Die kleine Marie überraschte mit ihrem Talent und schuf bereits als Teenager ein eindrückliches Wachsporträt von Voltaire.

Während der Französischen Revolution stürmten Aufständische das entstehende Wachsfigurenkabinett und forderten die Herausgabe der in Ungnade gefallenen Zeitgenossen. Die Revolutionäre spiessten die Köpfe auf und trugen sie skandierend durch die Strassen. Im Gegenzug, so die Legende, erhielt Marie echte Köpfe zum Nachmodellieren: Die unter der Guillotine abgetrennten Häupter von Ludwig XVI., Marie Antoinette, Danton und später Robespierre.

Als Curtis starb, erbte Marie die Sammlung und heiratete 1795 den Ingenieur François Tussaud. Dieser war allerdings mehr dem Alkohol als dem Maschinenbau zugeneigt. Die resolute Marie trennte sich von ihm und floh vor dem nächsten Krieg mit ihrem kleinen Sohn nach England.

Nachdem sie 33 Jahre lang mit ihren Wachsfiguren an Jahrmärkten aufgetreten war, eröffnete die mittlerweile 74-Jährige ihr weltberühmtes Museum in London und starb fünfzehn Jahre später. Sie musste nicht mehr miterleben, wie während des Zweiten Weltkriegs deutsche Bomben ihr Kabinett in Brand setzten und ihre Wachsfiguren dahinschmolzen.

Mittlerweile ist Madame Tussauds ein internationaler Konzern mit 23 Niederlassungen und investiert in andere Branchen, da die neuen 3D-Drucktechnologien das alte Geschäft bedrohen. Mit lebensechten 3D-Ganzkörperporträts in farbiger Gips-Keramik bedienen junge Start-ups die narzisstische Gesellschaft: jeder ein Unikum, jeder ein Star und erst noch hitzebeständig.