© 2020 NZZ: Corona-Krise in 5 Episoden

Der Koch, sein Chef und das Virus:

Hat der Bundesrat in der Krise auf die richtigen Experten gehört?

Hat die Schweiz zu spät und zu heftig reagiert?

 

Die Corona-Krise in fünf Episoden.

 Von Stefan Bühler, Anja Burri, Michael Furger, Lukas Häuptli, Peter Hossli, Theres Lüthi, Franziska Pfister, Rafaela Roth und Rahel Eisenring (Illustrationen)

06.06.2020, 21.00 Uhr

 

Die Schweiz in der Corona-Krise, das könne man mit einem Flugzeug vergleichen, sagt der Epidemiologe Marcel Salathé. Es gibt einen Defekt an Bord, die Maschine beginnt zu sinken. Die Passagiere spüren, dass etwas nicht stimmt. Aber die Piloten erklären über den Bordlautsprecher, alles sei in bester Ordnung. In Reihe 34 sitzen zwar ein paar Leute, die realisiert haben, was passiert, aber was sie sagen, gelangt nicht bis zu den Piloten ins Cockpit.

 

Salathé sagt zwar keine Namen, aber es ist klar, wen er meint: Einer der Passagiere in Reihe 34, die angeblich genau wussten, was passiert, ist er selbst. Und die Leute im Cockpit, die nicht hätten hören wollen, das sind für Salathé der Bundesrat und die Spitzen des Bundesamtes für Gesundheit, in erster Linie Daniel Koch, der Corona- Verantwortliche.

Wenn man die Geschichte der Krise in der Schweiz auf ein paar wenige Wahrheiten herunterbrechen will, dann ist eine davon der tiefe Graben zwischen den Epidemiologen an den Hochschulen und den Beamten in Bern. Beide Seiten sind davon überzeugt, dass die andere Seite die Situation falsch eingeschätzt hat. Das wäre an sich kein Problem, aber nach allem, was wir heute wissen, wurde die eine Seite von der Politik gehört und die andere nicht.

 

Die Abneigung des Praktikers Daniel Koch gegenüber den Wissenschaftern könnte ein zentraler Grund dafür gewesen sein, dass der Bundesrat lange zögerte und dann unser Land innert weniger Tage zum Stillstand bringen musste – mit all den negativen wirtschaftlichen Folgen, die wir wohl noch lange spüren werden.

Es war eine klassische Vollbremsung: Sie kam spät, und sie war stark. Wieso hat man nicht früher gebremst? Hätte man damit vielleicht den Lockdown verhindern können? Was passierte in den entscheidenden Tagen in den Konferenzsälen in Bern und den Sitzungszimmer der Grossbanken? Warum gab es zuerst keine Masken und nun Hunderte Millionen?

 

Wie Wissenschafter den Bundesrat zu warnen versuchten und an alten Seilschaften scheiterten.

 

Was auf die Welt und damit auf die Schweiz zukommen sollte, war schon früh ziemlich klar, genauer gesagt am 5. Januar. Die Weltgesundheitsorganisation WHO setzte eine Warnung ab: «Pneumonia of unknown cause – China». Sie wurde registriert sowohl im Bundesamt für Gesundheit in Köniz bei Bern als auch bei den Epidemiologen an den Universitäten.

Von diesem Moment an gibt es zwei verschiedene Verhaltensmuster: hier die Wissenschafter, die bald zum Schluss kommen, dass die Lage schnell sehr ernst werden könnte, dass das Virus sich weltweit ausbreiten würde, dass es viele Toten geben könnte. Dort die Bundesverwaltung und die Politik, die weitermachen wie gehabt, zum Beispiel die freisinnige Nationalratspräsidentin Isabelle Moret, die am 12. Januar zu einer fünftägigen Reise nach China aufbricht, um das 70-jährige Bestehen der diplomatischen Beziehungen zu China zu zelebrieren.

 

Moret jettet kreuz und quer durchs Land und reist am 17. Januar wieder zurück ans World Economic Forum nach Davos. Dort erzählt sie am Rande eines Empfangs, dass sie unter anderem einen Minister getroffen habe, der tags zuvor noch in Wuhan weilte. Sie erzählt es lachend, mit einem wohligen Gruseln, so scheint es. Der Ernst der Lage ist bei ihr noch nicht angekommen, so wenig wie bei fast allen anderen WEF-Teilnehmern.

Gesundheitsminister Alain Berset sagt in Davos zu einer allfälligen Corona-Pandemie: «Wir sind sehr gut vorbereitet.» Es ist der 22.  Januar. Am nächsten Tag riegelt die chinesische Behörde die Millionenstadt Wuhan ab. Aus dem Bundesamt für Gesundheit heisst es erstmals, man sei «eher beunruhigt».

Wenige Tage später, am 29. Januar, spricht der Bundesrat in seiner Sitzung erstmals ausführlich über das Virus. Es hat sich bereits in 17 weitere Länder verbreitet und Europa erreicht: Frankreich meldet die ersten Fälle, Bayern verzeichnet einen ersten positiven Test. In Wuhan sind es rund 4500 Infizierte und über 106 Tote. Der Bundesrat berät Massnahmen für Gesundheitskontrollen an Flughäfen. Berset rapportiert die Aktivitäten des BAG: Man stehe in Kontakt mit den Kantonsärzten, Informationen für Einreisende aus China würden aufgeschaltet, eine Hotline eingerichtet. Danach folgt die erste Februarwoche, und Bundesbern verreist in die Sportferien.

Es ist die Zeit, in der die Situation zu eskalieren beginnt und die Erkenntnisse der Wissenschaft sich verfestigen. Die beiden Epidemiologen Christian Althaus und Julien Riou veröffentlichen am 30. Januar eine Studie im Wissenschaftsjournal «Eurosurveillance». Eine zentrale Erkenntnis darin: Das neue Virus hat das Potenzial, sich global auszubreiten. «Es war klar, dass es nicht gut ausschaut», sagt Althaus. Als ihm die Resultate vorliegen, verkauft er sein Aktienportfolio. Die Studie wird weltweit zitiert. Am gleichen Tag erklärt die WHO einen «Notfall im Bereich der öffentlichen Gesundheit von internationaler Bedeutung». «Ab diesem Zeitpunkt hätte man in der Schweiz eine Task-Force zusammenstellen müssen», sagt Althaus heute. Doch im Bundeshaus passiert nichts. Die Bundesratssitzung fällt ferienhalber aus.

 

Unter den Wissenschaftern breitet sich Frustration aus. Man fragt sich, ob das BAG den Ernst der Lage begreift, ob dort epidemiologisches Wissen ausreichend vorhanden ist. Ob man überhaupt Interesse hat an einem Austausch mit der Wissenschaft. Tatsächlich spricht vieles dagegen. Christian Althaus meldet sich bereits im Januar mehrmals beim BAG und bietet Hilfe an. Er ruft Koch direkt an, mailt ihm seine Studie ein paar Tage vor der Veröffentlichung und schreibt, er könnte «beim Auftreten von Sekundärinfektionen in der Schweiz hilfreiche Informationen liefern».

 

Später schreibt er einen Brief an den Bundesrat. Koch wird später gegenüber der «NZZ am Sonntag» sagen: «Herr Althaus hat nie versucht, mich zu kontaktieren, und hat nie beim BAG eine Warnung abgegeben.» Stattdessen sei er mit seinen Modellen sofort zu den Medien gegangen. Doch die E-Mails von Althaus liegen vor. Was Koch sagt, stimmt nicht.

Es scheint immer klarer: Der oberste Pandemieverantwortliche, 65- jährig und kurz vor der Pensionierung, will mit den jungen Epidemiologen nichts zu tun haben. Er ist davon überzeugt, dass ihre Forschung wenig bringt. Die Modelle von Althaus und seinen Kollegen hätten zu wenige Grundlagen für eine seriöse Voraussage und basierten auf unausgereiften Algorithmen, sagt er. Die theoretischen Ansätze der forschenden Wissenschaft taugten in der praktischen Umsetzung nicht.

 

Er und das BAG setzen auf andere Informationen. «Wir haben 30 Jahre Erfahrung mit Grippekurven. Wir wissen recht gut, welche Voraussagen man bei Epidemien machen kann.» Koch greift auf sein eigenes Netzwerk von Praktikern zurück. In engem Austausch mit ihm steht der Spitalinfektiologe Didier Pittet aus Genf. Auch er sieht der Pandemie gelassen entgegen. Am 26. Februar gibt er der Zeitung «Le Temps» ein Interview und sagt, er erwarte in der Schweiz «ein paar Einzelfälle». Es gebe keinen Grund, alarmiert zu sein. Zu diesem Zeitpunkt ist die Situation im Nachbarland Italien bereits ausser Kontrolle. Schulen, Museen und Universitäten sind geschlossen, ganze Gebiete unter Quarantäne.

 

Das BAG, so viel steht fest, schätzt in diesen ersten Wochen des Jahres 2020 die Gefahr völlig anders ein als die Epidemiologen und die WHO. Und die Behörde ist offenbar nicht bereit, die andere Seite anzuhören. Ein Verdacht drängt sich auf: Könnte es sein, dass der Bundesrat zu wenig umfassend informiert war? Dass er nur die Einschätzung seiner Beamten kannte, die sich auf ihre Erfahrung stützen? Und die Erkenntnisse der Epidemiologen drangen nicht bis ins Bundesratszimmer vor, obwohl zwei der wichtigsten nationalen Forschungsgremien dieses Landes von Epidemiologen präsidiert werden: der Forschungsrat des Nationalfonds mit Matthias Egger und die Akademien der Wissenschaften mit Marcel Tanner.

«Wie ist es möglich», sagt Salathé, «dass man sich eine hochkompetente und teure Wissenschaft leistet, aber in diesem entscheidenden Moment nicht auf sie zurückgreift?»

Für diese Vermutung spricht, dass während des Monats Februar, währenddessen die Schweiz ahnungslos Richtung Lockdown steuert, in Bundesbern nicht viel passiert. Als der Bundesrat nach den Skiferien wieder tagt, beschäftigt man sich mit Reise- und Handelseinschränkungen für China. Man beginnt mit Corona-Tests, es sind wenige, und sie fallen negativ aus. Äusseren Anlass zur Beunruhigung gibt es nicht. Auch die Lage im Ausland scheint unter Kontrolle, die Crypto-Affäre lenkt die Aufmerksamkeit weg von Corona.

Derweil schliesst sich aus Sicht der Wissenschafter ein Zeitfenster, währenddessen man den Lockdown hätte verhindern können. So sagt es jedenfalls Marcel Salathé. «Die Wahl zwischen dem Kollaps des Gesundheitswesens und dem Lockdown mit wirtschaftlichem Schaden wäre nicht nötig gewesen.» Es hätte für eine Zeitlang eine dritte Option gegeben, eine sanftere Bremsung, mehr Normalität, vielleicht ein Zustand wie heute.

«Die WHO hat sehr früh und sehr deutlich kommuniziert, dass man das kurze Zeitfenster nützen sollte, um sich auf einen Ausbruch vorzubereiten», sagt Althaus. «Ich fragte mich manchmal, ob die verantwortlichen Stellen in der Schweiz die Pressekonferenzen der WHO verfolgt haben.»

 

Zwei Fragen stellen sich: Was hätte man denn im Februar, als noch Zeit war, tun müssen, um die Vollbremsung zu verhindern? «Man hätte alles versuchen müssen, um die Übersicht über die Infektionsketten nicht zu verlieren», sagt Salathé. «Man hätte intensiver testen müssen. Dafür hätte aber der Bund die Versorgung mit Tests und Hygienemasken schon Ende Januar an die Hand nehmen müssen. Eine frühere Schliessung der Grenze, insbesondere zu Italien, hätte auch geholfen.»

 

Die zweite Frage lautet: Hätte man die Krise besser überstanden, wenn der Bund besser auf die Epidemiologen gehört hätte? Die Frage kann man nicht beantworten. Fest steht: Das wichtigste Ziel, nämlich zu verhindern, dass das Gesundheitswesen kollabiert, hat das BAG erreicht. Dazu kommt: Auch die Szenarien der Epidemiologen können danebenliegen – taten sie zum Teil. Aber das Problem ist, dass sie offenbar gar nicht beachtet wurden.

So entschliessen sich Althaus und Salathé, ihre Warnung öffentlich auszurufen. Es ist Ende Februar, als Althaus der NZZ ein vielbeachtetes Interview gibt. «Ich konnte nicht verstehen, dass man die Epidemie einfach auf uns zukommen liess, als ob nichts wäre. Darum habe ich mich dazu entschlossen.» Am 26. Februar erscheint das Interview. «Man muss nicht die halbe Schweiz unter Quarantäne stellen» lautet der Titel. Von anderen Medien wird vor allem die Zahl «30 000 Tote» aufgegriffen, welche die beiden NZZ-Journalisten als mögliches Szenario nennen und zu dem Althaus bemerkt: «Ein solches Worst-Case-Szenario ist nicht ausgeschlossen.»

Noch während das Interview für die Publikation vorbereitet wird, merkt man im Departement des Inneren von Alain Berset, dass sich die Welle nicht mehr verhindern lässt. Es ist der 25. Februar, der Tag, an dem der Bundesrat von den Ereignissen mitgerissen wird.

 

  1. Die Reaktion: Ein Flug nach Rom

Wie Alain Berset über den Alpen den Ernst der Lage erfasste und der Bundesrat von den Ereignissen mitgerissen wurde.

 

An diesem Dienstag, 25. Februar, um die Mittagszeit hebt in Bern- Belp der Bundesratsjet ab. An Bord: Gesundheitsminister Berset, zwei Kaderleute des BAG, zwei Beraterinnen aus Bersets persönlichem Stab sowie sein Kommunikationschef. Destination: Rom. Die italienische Regierung hat Minister der Nachbarstaaten sowie Deutschlands eingeladen, um zu demonstrieren, wie gut Italien auf die Krise vorbereitet ist. «Es sollte eine PR-Aktion des Gesundheitsministers werden», heisst es aus dem Kreis der Reisegruppe. Doch das Treffen gerät zum Desaster.

Praktisch gleichzeitig wird bekannt, dass in der Schweiz erstmals eine Person positiv getestet wurde. Der Chef des BAG, Pascal Strupler, und Daniel Koch treten um 17 Uhr in Bern vor die Medien und versuchen zu beruhigen. Für die Bevölkerung bestehe «zurzeit ein moderates Ansteckungsrisiko», sagt Strupler. Koch erklärt auf die Frage, ob nun die bevorstehende Basler Fasnacht abgesagt werden müsse: «Im Moment ist nicht vorgesehen, dass man die Massnahmen nun verschärft.»

 

Der Satz ist in dem Moment, in dem er gesagt wird, Makulatur. Denn in Rom wird Berset und seinen Begleitern klar, dass die Behörden in Italien die Kontrolle über die Epidemie verloren haben. «Wir wurden uns bewusst, dass die Lage gerade explodiert», sagt einer, der dabei war. Mit dieser Erkenntnis kehrt die Delegation am späten Abend nach Bern zurück. So spät, dass es nicht mehr reicht, um für die Bundesratssitzung vom nächsten Tag schriftliche Unterlagen zu erstellen. Für Berset ist auf dem Rückflug über die Alpen klar, dass er in den Krisenmodus schalten muss.

Am Mittwoch, 26. Februar, orientiert Berset seine Regierungskollegen mündlich. Auf Freitag wird eine geheime Sitzung angesetzt. Bis dahin bereitet Berset mit seinen Beratern die ersten Massnahmen vor. Sein Stab besteht aus knapp zehn Personen, die sich auch in normalen Zeiten jeden Morgen um 8 Uhr zur Sitzung treffen, intern «die Morgenandacht» genannt. Während der Corona-Krise finden diese Treffen im Sitzungszimmer im Parterre des Innendepartements statt, an einem ausladenden Tisch – so gross, dass die Distanzregeln eingehalten werden können.

Hier erhalten Bersets Anträge an den Gesamtbundesrat den letzten Schliff. Am Freitag, 28. Februar, geht er mit zwei wichtigen Vorschlägen in die Regierungssitzung: Er beantragt, die «besondere Lage» auszurufen, und schlägt vor, Veranstaltungen mit mehr als 1000 Personen zu untersagen. Die Regierung stimmt zu, womit die Absage der Basler Fasnacht besiegelt ist.

In diesem Moment agiert der Bundesrat schneller als die anderen Regierungen in Europa und glaubt, sich mit den Massnahmen etwas Luft verschafft zu haben. In der Woche darauf nimmt er nur noch Retuschen vor. Er entsendet zwei Armee-Ambulanzen zur Unterstützung ins Tessin. Die Stimmung in diesen Tagen ist geprägt von einer «maximalen Ungewissheit».

In Italien ist die Seuche ausser Kontrolle, in der Schweiz hingegen ist die Lage noch ruhig, zumindest oberflächlich. Am 4. März treffen sich die kantonalen Gesundheitsdirektoren in Bern. Es gibt Sandwiches im Plastiksäckchen, die Stimmung ist angespannt, die Meinungen gehen auseinander. Zürich hat noch keine einzige Massnahme erlassen, der Tessiner Gesundheitsdirektor fordert, die Grenzen zu schliessen.

 

Doch eine Grenzschliessung ist für den Bundesrat nicht nur eine medizinische, sondern in diesem Moment auch eine hochpolitische Frage. Die Abstimmung zur Begrenzungsinitiative steht an, die Tessiner Spitäler sind auf die Grenzgänger angewiesen. Kein Nachbarland hat bisher zu diesem Mittel gegriffen. Soll man wirklich dichtmachen? «Die Situation war mit keiner anderen zu vergleichen», sagt die Waadtländer Gesundheitsdirektorin Rebecca Ruiz. «Es gab permanente Unsicherheiten, ein Projekt ohne Meilensteine, ohne Anfang und ohne Ende.»

Rudolf Hauri, Präsident der Kantonsärzte, bemerkt: «Nachträglich kann man sagen, man hätte wohl eine Woche früher reagieren können. Doch man muss bedenken, dass sich die Situation bloss abzeichnete, wir aber nicht wussten, wie sie sich tatsächlich entwickelt.»

Kurz bevor die Welle die Schweiz erreicht, sieht man ein Land in politischer Lähmung. Niemand ist sich sicher, was zu tun ist. Will man handeln – oder noch warten? Kommen wir vielleicht um das Schlimmste herum? Was machen die anderen Länder?

Italien beschliesst den Lockdown, Österreich folgt kurz danach. Der Druck aus den Kantonen wird grösser. Das Innendepartement tagt nun fast rund um die Uhr. In einem Prachtsaal des Hotels «Bellevue» hält man Sitzungen mit Kantonsvertretern ab. Im «Bernerhof», dem nicht weniger prächtigen Sitz des Finanzdepartements, treffen sich Krisenstäbe und Parteienvertreter.

Am 13. März verbietet der Bundesrat Veranstaltungen mit mehr als 100 Personen, verhängt Limiten für Gastrobetriebe, führt Grenzkontrollen zu Italien ein, kündigt die Schulschliessung an und präsentiert ein Hilfspaket für die Wirtschaft. Im engsten Kreis denkt man immer noch nicht ans Schlimmste. «Wir glaubten, wir hätten ein paar Tage Ruhe», erinnert sich ein Bundesratsberater. Einmal mehr kommt es anders.

Am Samstagabend schliesst das Tessin alle Restaurants und Geschäfte. Am Sonntag rufen vier Kantone den Notstand aus und verbieten Versammlung mit mehr als 50 Personen. Die Spitzen des Parlaments brechen die Frühlingssession ab, Österreich und Deutschland machen die Grenzen dicht – und die Infektionszahlen explodieren. Erstmals kommen in der Schweiz innert 24 Stunden über 1000 neue Corona-Infizierte hinzu.

 

Noch am Sonntagabend trifft sich die Regierung zu einer Sitzung, beschliesst den Lockdown und mobilisiert die Armee. Laut mehreren Quellen sträubt sich Finanzminister Ueli Maurer gegen jegliche Massnahmen, die über die bisherigen hinausgehen. Auf der anderen Seite bringt Verteidigungsministerin Viola Amherd sogar eine Ausgangssperre ins Spiel. Die Regierung wählt einen Mittelweg. In der Nacht auf Montag werden die gesetzlichen Grundlagen für die Beschlüsse ausgearbeitet und am Montag vom Bundesrat genehmigt. Um 17 Uhr treten Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga, Karin Keller-Sutter, Viola Amherd und Alain Berset vor die Medien.

Dass sich Ende Februar das Virus überall ausbreiten könnte – also auch in der Schweiz – hat der Epidemiologe Christian Althaus mit seinem Modell schon im Januar berechnet. Der Pandemieverantwortliche Daniel Koch hingegen findet noch heute: «Es ist nichts eingetroffen, was Althaus gesagt hat.» Selbst als der Ernstfall da ist, will das BAG von den Epidemiologen offenbar noch nichts wissen – obwohl es zuerst danach aussieht.

Die Behörde hat die Wissenschafter nämlich zu einer Sitzung nach Bern eingeladen. Es ist der 18. März, zwei Tage nach dem Lockdown. Als Marcel Salathé sich zu Hause in Lausanne von seiner Familie verabschiedet, sagt er, er komme vielleicht am Abend nicht zurück. Er rechnet damit, dass der Bund nun eine Task-Force einrichtet und er sich in Bern ein Hotelzimmer nehmen wird. Doch die Sitzung dient nur dazu, die Wogen zu glätten, eine Aussprache, dann werden die Wissenschafter freundlich verabschiedet. Salathé übernachtet doch zu Hause. Drei Tage später twittert er: «In diesen Wochen ist mein Vertrauen in die Politik erschüttert. Nach der Aufarbeitung – was alles falsch lief und wie total veraltet die Prozesse sind – wird kein politischer Stein auf dem anderen bleiben.»

Dass Althaus und Salathé sich öffentlich kritisch äussern, kommt nicht überall gut an. Es sei ihm nahegelegt worden, sich zu mässigen, sagt Salathé. «Ich musste mir überlegen, wie man eine wissenschaftliche Wahrheit vermittelt, ohne jemandem in Bern auf den Schlips zu treten. Das war fast wie in Nordkorea. Man sagte uns: Ihr habt recht, aber wenn ihr es zu aggressiv in den Medien sagt, dann geht die Türe für eine Task-Force zu.» Wer ihm das gesagt, hat will Salathé nicht sagen.

Am 31. März beschliesst der Bundesrat eine Task-Force, Salathé und Althaus gehören dazu.

 

  1. Die Materialschlacht: Masken für Instagram

Warum in der Schweiz zuerst die Masken fehlten und dann die Armee für eine Milliarde Material zusammenkaufte.

 

Am 27. Februar 2020 sitzt Daniel Koch in Bern mit Verantwortlichen des Bundesamts für Gesundheit vor den Medien und sagt einen Satz, der zu den umstrittensten Aussagen dieser Krise gehören wird: «Hygienemasken nützen Menschen, die nicht krank sind, nichts. Es ist nicht bewiesen, dass die Masken eine Wirkung auf die Verbreitung des Virus’ haben.»

 

 Der Satz ist erstaunlich. Schliesslich haben Mitarbeiter desselben Bundesamts zwei Jahre zuvor in den Pandemieplan geschrieben: «Schutzmasken verringern das Übertragungsrisiko und sind deshalb prinzipiell während der gesamten Pandemiewelle einsetzbar.» Darum ist im Plan genau angegeben, wer wie viele Hygiene- und Atemschutzmasken auf Vorrat haben soll: Spitäler, Spitex-Dienste, Arztpraxen, Alters- und Pflegeheime und Privathaushalte. Hygienemasken sind für die Bevölkerung, Atemschutzmasken für das Gesundheitspersonal, gedacht.

Allerdings ist der Pandemieplan in diesem Punkt nicht viel mehr wert als das Papier, auf dem er steht. Bei den Masken-Vorräten handelt es sich nämlich nicht um Vorschriften, sondern um unverbindliche Empfehlungen. Längst nicht alle halten sich daran.

Die Maskenfrage ist eine der verwirrlichsten Episoden dieser Pandemie. Sie steht für eine Planungspanne, an deren Anfang erneut der Verdacht steht, der Bund habe zu spät realisiert, was auf die Schweiz zukommt. Am 12. Februar kommen die Schutzmasken in der Bundesratssitzung zur Diskussion: Ein Konzept für deren Einsatz sei in Arbeit, heisst es, doch «die Verfügbarkeit sei beschränkt». Es kam, wie es kommen musste: Beim Ausbruch der schwersten Pandemie herrscht in der Schweiz massiver Maskenmangel.

Zwar verfügt die Armeeapotheke zu diesem Zeitpunkt über 13 Millionen Hygienemasken. Doch diese reichen – sollte die gesamte Bevölkerung der Schweiz damit versorgt werden – gerade mal für drei bis vier Tage. «Die Spitäler hätten mehr vorsorgen müssen», sagt Daniel Koch heute und räumt ein, dass auch der Bund es unterlassen habe, genügend Schutzmaterial anzulegen. «Solche Verbrauchsgüter sind völlig vernachlässigt worden.»

Könnte es sein, dass Daniel Koch und mit ihm Gesundheitsminister Alain Berset der Bevölkerung nicht aus medizinischen Gründen von Masken abraten, sondern deshalb, weil die Vorräte nie und nimmer reichen. Der Verdacht hält sich hartnäckig – auch wenn Koch heute sagt: «Meine Aussagen zu den Masken hatten nichts mit deren Knappheit zu tun. Wir hätten auf keinen Fall Masken für den öffentlichen Raum empfohlen.»

 

Doch das wird sich ändern, je länger die Krise dauern wird. Koch bleibt zwar bei seiner Haltung, nicht aber die Behörden quer durch die Schweiz. Tramdurchsagen, Plakate, Maskenverteilaktionen an Bahnhöfen – bei geringer Distanz soll man Masken tragen, heisst es, und auch Bundesrat Berset erklärt in einem Interview mit CH Media auf einmal: «Die wissenschaftlichen Erkenntnisse über das Virus machen gewalttätige Fortschritte, und das hat auch einen Einfluss auf die Frage, ob und wann Masken sinnvoll sein können. Ich schliesse deshalb nicht aus, dass wir mit der Lockerung in bestimmten Situationen eine Maske empfehlen.» Wie ist es zu dieser Kehrtwende gekommen?

Am 23. März 2020 steigt in der Schweiz die Zahl der Personen, die an einem Tag positiv auf Corona getestet werden, auf 1455. Das sind, wie man heute weiss, so viele nie zuvor und danach: Es ist der Höhe- oder eher Tiefpunkt der Krise.

In diesen Tagen zieht der Bundesrat die Notbremse und entscheidet, die Verantwortung für die Beschaffung medizinischer Güter, zu denen auch Masken gehören, der Armee zu übertragen. Verteidigungsministerin Viola Amherd setzt Brigadier Markus Näf als sogenannten Beschaffungskoordinator des Bundes ein. Dieser arbeitet im zivilen Leben als Anwalt in einer Kanzlei an der Zürcher Bahnhofstrasse. Der Sprecher des Verteidigungsdepartements, sagt: «Markus Näf kennt den Markt hervorragend. Und er hat Kompetenzen im weltweiten Einkauf von Gütern.»

Näf hat einen Auftrag – und viel Geld zur Verfügung. Er soll für die Schweiz fast 400 Millionen Hygienemasken und 60 Millionen Atemschutzmasken kaufen. Dafür stellt ihm der Bund rund eine Milliarde Franken zur Verfügung. Plötzlich heisst die Losung: Masken müssen her – kosten sie, was sie wollen.

Und die Masken kosten viel. Denn jetzt sind Staaten aus der halben Welt auf der Jagd. Allen voran die USA. Deren Gesundheitsbehörde CDC gibt am 2. April 2020 die Empfehlung ab, dass alle Amerikaner und Amerikanerinnen in der Öffentlichkeit Masken tragen sollen. Auch deshalb ist der Markt völlig überhitzt. «Vor der Corona-Krise hatte eine Hygienemaske zwischen 2 und 5 Rappen gekostet», sagt Markus Näf. «Ende März zahlten wir dafür bis zu 90 Rappen.»

 

Konkurrenten sind allerdings nicht nur andere Staaten, sondern auch Kantone, Gemeinden, Spitäler, Spitex-Dienste und Altersheime in der Schweiz. Das absurde Gegeneinander ist Folge einer sogenannt dualen Beschaffungsstrategie. Es herrscht, wie eine Kadermitarbeiterin eines Spitals sagt, Catch-as-catch-can – Hol dir, so viel du kannst.

Die Zürcher Gesundheitsdirektorin Natalie Rickli etwa beauftragt die Kantonsapotheke mit dem Einkauf von Schutzmaterial. Am 5. April um 17 Uhr 54 landet die erste Maschine aus Schanghai. Der CEO des Spitals Männedorf drängt in die Kabine, reisst eine Kiste auf, kontrolliert das Material. Dann posieren er, Natalie Rickli, der Leiter der Kantonsapotheke und der Pilot für ein Foto. Es erscheint auf Ricklis Instagram-Account.

16 weitere Flüge aus China sollten im Verlauf der Epidemie in Zürich landen, eine mit zwei Produktionsmaschinen an Bord. Sie sollen Masken für die Spitäler produzieren, eine zahlt Zürich, eine das VBS. Wegen Problemen mit der Zertifizierung produzieren sie bis heute nicht. Insgesamt kauft die Zürcher Kantonsapotheke allein 20  Millionen Artikel ein.

Es sind nicht nur Masken, die gefragt sind. Vor den Produktionsstätten der Firma Hamilton Medical in Ittingen und Ems fliegen im März und April Transporthubschrauber der Armee ein und holen Beatmungsgeräte ab. Hamilton hat die Kapazität bis Ende April verdoppelt, die Mitarbeiter arbeiten auch am Wochenende. Ende April sind 600 Apparate ausgeliefert – eine Materialschlacht.

Deshalb zieht der Bundesrat Anfang April zum zweiten Mal die Notbremse: Per Notverordnung zentralisiert er weite Teile des Beschaffungswesens für Medizingüter und Medikamente beim Bund.

Zwischen Ende März und heute kauft der Bund 250 Millionen Hygienemasken. Rund 40 Millionen davon verkauft er zum Selbstkostenpreis den Kantonen und dem Detailhandel weiter. «Wir sind nicht überall mit den Preisen einverstanden, die uns nun in Rechnung gestellt werden», sagt Rickli. 90 Millionen Masken sind gegenwärtig noch in Produktion in China oder auf dem Weg von dort hierher. Und 120 Millionen befinden sich in Lagern in der Schweiz. Diese sind jetzt – fast zwei Monate nach Ausbruch von Corona in der Schweiz – prall gefüllt.

 

  1. Das Geld: Der Anruf kam nach Feierabend

Wie ein paar Banker in neun Nächten das grösste Wirtschafts- Rettungspaket der Schweizer Geschichte schnürten.

 

Es ist Dienstagabend, 10. März. Am Fuss des Zürcher Üetlibergs, im Bürokomplex Üetlihof, macht sich Andreas Gerber auf den Heimweg. Er arbeitet bei der Credit Suisse, ist dort verantwortlich für das Geschäft mit kleinen und mittleren Unternehmen. Gegen 18 Uhr klingelt sein Telefon. Es ist Thomas Gottstein, seit Mitte Februar CEO der CS. «Wir müssen etwas tun für Schweizer KMU», sagt er und skizziert eine vage Idee. Unkompliziert sollen Banken zinslose Darlehen an Firmen vergeben, um sie trotz Lockdown finanziell über Wasser zu halten. «Morgen früh will ich einen Vorschlag», ordnet Gottstein an und stellt Gerber eine Frage: «Wie würdest du Darlehen strukturieren, wenn du die Schweizer Regierung wärst?»

 

Gerber arbeitet mit seinem Team die Nacht durch und skizziert auf zwei A4-Seiten einen Plan, der in 40 Milliarden Überbrückungskredite münden wird. Sie sind Teil eines 72 Milliarden schweren Hilfspakets für die Wirtschaft, des grössten der Schweizer Geschichte. Im Lead sind CS und UBS, die sich Wochen zuvor noch als Feinde im Fall von Tidjane Thiam und Iqbal Khan gegenüberstanden.

Gerbers Team legt in seinem Papier fünf Punkte fest:

  1. Firmen mit Liquiditätsengpässen sollen Geld erhalten.
  2. Der Bund soll Sicherheiten stellen.
  3. Die Banken verteilen das Geld.
  4. Die Refinanzierung geschieht über die Schweizerische Nationalbank.
  5. Der Bund bestimmt eine Stelle, welche die Koordination und Garantieabwicklung unter den Beteiligten sicherstellt.

Am nächsten Tag geht das Papier zu Gottstein, und der setzt sich ans Telefon und holt andere an Bord: Mark Branson, Chef der Finanzmarktaufsicht, Nationalbankpräsident Thomas Jordan, Finanzminister Ueli Maurer. Er habe in eine ähnliche Richtung gedacht, sagt dieser und leitet die Banker an Daniela Stoffel weiter, an die Staatssekretärin für internationale Finanzfragen SIF.

Schliesslich ruft Gottstein Sergio Ermotti an, den CEO der UBS, seinen direkten Konkurrenten. Der Zürcher und der Tessiner reden Englisch. «I actually think it’s a good idea», wertet Ermotti den Vorschlag.

Gottstein instruiert sein Team, die Chefs der Kantonalbanken der Waadt und von Zürich sowie der Raiffeisen anzurufen. Eine aussenstehende Anwaltskanzlei – Baker McKenzie – wird eingeschaltet, um den Prozess juristisch neutral zu unterstützen. Gottstein will verhindern, dass sich die Hausanwälte verschiedener Banken streiten.

 

Bis zum 20. März arbeiten die Banker bis in die frühen Morgenstunden durch. Während Tagen reden sie zuerst miteinander, dann gehen sie mit ihren Anliegen zum SIF. «Das war teilweise eine zähe Angelegenheit», sagt Gerber. «Wir mussten immer wieder warten, bis der Bundesrat einverstanden war. Es galt Notrecht, aber der Bundesrat musste jeweils zuerst Gewissheit haben, was er tun darf.»

Alle Sitzungen laufen über Telefonkonferenzen. Am ersten Tag ist Gerber 13 Stunden am Apparat. Es ist chaotisch. Die Länge der Telefonmeetings wird auf drei bis vier Stunden beschränkt. Als er in einer langen Nacht realisiert, dass er Hilfe braucht für die Abwicklung der Kredite, schickt er eine Mail an die CS-Mitarbeiter und fragt, wer mitarbeiten möchte. Innerhalb von 24 Stunden melden sich 160 Personen, alle aus dem Home-Office.

Die Banken legen fest, die Situation dürfe nicht ausgenutzt werden, um sich gegenseitig Kunden abzuwerben. Firmen müssen die Kredite bei ihrer Hausbank beantragen. Bestehende Kredite dürfen nicht mit Covid-19-Darlehen refinanziert werden. Die Banken harmonieren. «Es ist wie im Krieg, man hat einen gemeinsamen Feind», so Ermotti. «Das Virus zu bekämpfen, hat absolute Priorität.»

Die letzten Fragen zum Rettungspaket werden erst wenige Stunden vor der Medienkonferenz am 20. März geklärt. Bedenken entstehen durch Maurers Forderung, das Geld müsse in dreissig Minuten bei den Kunden sein. «Es war allen klar, dass in dieser Zeit keine detaillierte Kreditprüfung stattfindet», sagt Gerber. Statt die Kreditwürdigkeit zu prüfen, einigt man sich auf eine «Plausibilisierung» des Umsatzes und der weiteren Angaben auf dem Antragsformular.

Am Ende kommt Ermotti mit einem ungewöhnlichen Vorschlag: «Ich habe von Anfang an gesagt, wir Banken sollten an diesen Krediten nichts verdienen, das wird sicher für UBS der Fall sein.» Banken beziehen das Geld bei der SNB zu einem Minuszins von 0,75  Prozent. Geben sie es zinslos weiter, verdienen sie 0,75 Prozent daran, abzüglich Kosten. «Dieser Nettogewinn gehört meiner Meinung nach nicht den Banken», sagt Ermotti. Er einigt sich mit Gottstein, die Gewinne in eine Stiftung für notleidende Unternehmen einzubezahlen.

 

  1. Das Lobbying: Eine PR-Maschine springt an

Wie zwei mächtige Wirtschaftsverbände erfolgreich auf eine rasche Aufhebung des Lockdown drückten.

 

Der Lockdown ist vier Tage jung, der Schock weicht erst langsam. Doch während der Wirtschaftsminister Guy Parmelin in der Bundesstadt Bern vor die Medien tritt und Dutzende von Milliarden Franken Hilfsgelder für die Wirtschaft verkündet, reift in der Finanzmetropole Zürich eine Erkenntnis: Staatliche Unterstützung ist gut, aber ein Ende des Shutdown wäre besser.

Dem Wirtschaftsminister und seinem Staatssekretariat für Wirtschaft Seco trauen sie in Zürich nicht zu, das Ruder in der Corona-Debatte herumzureissen. Es ist keine einfache Zeit für Parmelin, mehrere seiner Familienmitglieder sind an Covid-19 erkrankt. Er versucht, sich in die Debatte einzubringen, verliert sich aber auf Nebenschauplätzen: Er setzt sich in der Regierung für eine baldige Wiedereröffnung der Gärtnereien, Baumärkte und Zoos ein.

 

Doch nicht nur in den Medien, sondern auch im Bundesrat dominiert ein anderer die Diskussion: Gesundheitsminister Alain Berset. Für ihn hat die Gesundheit oberste Priorität. Anfang April gibt er der «Sonntags-Zeitung» ein Interview: Für die Wirtschaft hat er keine guten Nachrichten. Wer zu früh nachgebe, verlängere die Krise, sagt er. Und es sei noch nicht möglich, zu sagen, wann erste Lockerungen möglich würden.

Und so kommt die Maschinerie des mächtigsten Verbandes der Schweiz und bald darauf auch jene der Vertreter Hunderter Hoteliers und Restaurants in Gang: Economiesuisse und Gastrosuisse. Der eine Verband setzt auf vertrauliche Gespräche, der andere auf Poltern in den Medien, und beide sollten mit ihrer Methode Erfolg haben.

«Wir haben uns sehr rasch gefragt: Wie kommen wir aus dieser Krise wieder heraus?», erinnert sich Monika Rühl, Direktorin des Wirtschaftsdachverbandes Economiesuisse. «Es ging natürlich um die Gesundheit der Menschen, aber auch um die Verhinderung gesellschaftlicher Schäden und die Sicherung unseres Wohlstandes.»

Innerhalb des Verbands finden bilaterale Gespräche statt, virtuelle Treffen, grosse Telefonkonferenzen. Am Ende steht ein Plan, er heisst «Leben mit dem Virus. Schrittweise Rückkehr zur Normalität». Die Mitglieder von Economiesuisse formulieren drei Ziele: zusätzliche Verschärfungen vermeiden, die ersten Lockerungen auf möglichst viele Unternehmen ausdehnen und verhindern, dass die Bundesämter die Schutzregeln für die Wiedereröffnung diktieren.

Kurz nach Alain Bersets Interview im April gelingt es den Wirtschaftsvertretern, sich in Bern Gehör zu verschaffen: Nun suchen auch Bersets Mitarbeiter den Kontakt zu den Verbandsspitzen. Anfang April lädt der Bundesrat die Wirtschaftsvertreter in seinen Krisenstab ein. Economiesuisse- Präsident Heinz Karrer telefoniert regelmässig mit den einzelnen Bundesräten, andere Verbandsfunktionäre lassen ihre Kontakte in die Bundesverwaltung spielen.

Am Karfreitag, es ist der 10. April, schickt Economiesuisse schliesslich seinen Wiedereröffnungsplan nach Bern. Sechs Tage später beschliesst der Bundesrat die ersten Lockerungsschritte.

 

Casimir Platzer geht einen anderen Weg. Nach Ostern sitzt der Präsident des Gastronomieverbands wie Hunderte andere Hoteliers und Wirte vor Laptop und Fernseher, um die Pressekonferenz des Bundesrats live mitzuverfolgen. Für sie alle endet der Tag mit einer Enttäuschung. Der Bundesrat schmiedet Pläne für Coiffeure, Gärtner oder Zoos, aber die Restaurants und Hotels erwähnt er mit keinem Wort. Platzer bezeichnet das Schweigen des Bundesrats öffentlich als «Frechheit». Für Berner Verhältnisse ist das eine Eskalation. Aber dafür wird er gehört. Bersets Leute kontaktieren ihn und bitten ihn, weniger konfrontativ aufzutreten. Am 21. April trifft Platzer schliesslich den Gesundheitsminister und kann ihm seine Anliegen erklären.

Am 29. April wird die Wirtschaft erhört: Der Bundesrat hebt den Lockdown schneller auf als geplant. Ab dem 11. Mai können nicht nur Läden, Märkte und obligatorische Schulen, sondern auch Museen, Bibliotheken und Restaurants öffnen. Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga begründet den überraschenden Entscheid mit dem Rückgang der Ansteckungszahlen. Vom zunehmenden Druck aus der Wirtschaft sagt sie nichts.

Interview Magazin Persönlich

Serie zum Coronavirus

«Ich lebe ständig in Quarantäne»

Im Teil 18 unserer Serie: Der Basler Erfolgsautor Claude Cueni ist jeden Winter in der Quarantäne. Deswegen kann er über die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel nur lachen.

von Matthias Ackeret

Herr Cueni, wie fest beeinträchtigt die Krise Ihren persönlichen Alltag?
Seit meiner leukämiebedingten Knochenmarktransplantation vor elf Jahren bin ich immunsupprimiert, um weitere Organabstossungen zu verhindern. Ich verbringe deshalb freiwillig jeden Winter in Quarantäne. Im August war eine Behandlung auf der Intensivstation notwendig. Seitdem lebe ich einer Dauerquarantäne. Das ist der Preis fürs Überleben. Ich habe das als neue Normalität akzeptiert und abgehakt. Wenn Angela Merkel nach ihrer 14-tägigen Quarantäre sagt: «14 Tage allein zu Hause, das ist nicht leicht», dann kann ich nur lachen.

Also hat das Ganze keinen Einfluss auf Ihr Leben …
Die Pandemie hat durchaus einen Einfluss auf meinen Alltag. Alle vier Spitäler, in denen ich seit Jahren in Behandlung bin, haben die Termine auf unbestimmte Zeit verschoben. Das ist unangenehm, weil man ja laufend mein Blut kontrollieren und die Medikamente anpassen muss. Angenehm ist hingegen, dass meine Frau unbezahlten Urlaub genommen hat und mir Gesellsellschaft leistet. Sonst hätte das Risiko bestanden, dass sie mir das Virus nach Hause bringt. Ich geniesse jetzt jeden Mittag ihre asiatische Küche und mache mich als «human selfie stick» nützlich, wenn sie ihre Videos dreht.

Sie sind Schriftsteller. Was ist der Einfluss auf Ihre Tätigkeit?
Keinen. Es ist alles eine Frage der Einstellung. Ich brauche keine optimalen Bedingungen, um kreativ zu sein. Ich hatte nie welche. Hätte ich darauf gewartet, hätte ich keinen einzigen Roman geschrieben.

Gibt es Ihnen sogar Inspiration?
Literatur ist immer auch Selbsterfahrung. Seit frühester Kindheit inspiriert mich alles was ich sehe, höre oder lese zu neuen Geschichten. Ich bin mein eigener Hofnarr und damit sehr glücklich.

Sie haben über vieles geschrieben, aber haben Sie sich einmal so etwas wie die jetzige Situation vorgestellt?
Ja. Ich muss mich seit meiner Leukämieerkrankung mit Viren, Bakterien, Keimen und dem Immunsystem beschäftigen. Das hat mich zum Roman «Genesis – Pandemie aus dem Eis» inspiriert, der am 20. Juli bei Nagel & Kimche erscheint. Ich schrieb ihn bereits ein Jahr vor dem Ausbruch der Conora-Pandemie. Für mich war immer klar, dass nicht Meteoriten, Ausserirdische oder die Klimaerwärmung das grösstmögliche Unglück für die Menschheit darstellen, sondern eine Pandemie. 

Lesen Sie in der heutigen Zeit?
Auch hier hat sich nichts geändert. Meine Medikamente haben starke Nebenwirkungen. Spätestens um 2 Uhr muss ich aufstehen und beginne meinen Arbeitstag mit meinem Rehab-Programm. Dann verfolge ich das Geschehen an den asiatischen Börsen. Über den Tag verteilt lese ich jeweils circa drei Stunden die internationale Presse. Diese Woche lese ich die Druckfahnen von «Genesis», und anschliessend lese ich das neue Manuskript «Hotel California», bevor ich es meinem Agenten zur Prüfung schicke.

063 Blick »Howgh, Hallo & Hi«

 

Der Stamm der Lakota Sioux grüsste meistens mit «Howgh», einer Kurzform von «Hau kola» (Hallo Freund). Das wichtigste Begrüssungsritual bestand jedoch nicht aus Worten, sondern aus einer Geste. Mit der erhobenen, offenen Hand signalisierte man: Ich bin unbewaffnet.

In den meisten asiatischen Ländern wird bei der Begrüssung Körperkontakt vermieden: In Japan gilt die respektvolle Verbeugung, in Thailand begrüsst man sich mit dem Buddhisten-Gruss «Wai», man faltet zusätzlich die Hände vor der Brust, und in Indien praktizieren vor allem Hindus das sehr ähnliche «Namaste».

Begrüssungsrituale sind nicht nur kulturell bedingt, sondern unterliegen auch dem Zeitgeist. Wer hätte vor 50 Jahren seinen Chef mit Vornamen begrüsst oder den dreifachen Wangenkuss praktiziert? Kinder wurden noch dazu angehalten, Erwachsenen artig die Hand zu schütteln. Seit Covid-19 wird davon abgeraten.

Eine US-Untersuchung stellte fest, dass in den Handabstrichen der Studienteilnehmer Spuren von insgesamt 4742 Bakterienarten gefunden wurden. Lediglich fünf kamen bei allen Probanden vor. Je nach Immunsystem, Säuregrad der Haut und hormonellen Faktoren waren einige Bakterien harmlos, andere nicht.

Wer auf internationalen Flughäfen auf die Toilette geht, wird immer wieder beobachten, wie Fluggäste die WC-Anlagen verlassen, ohne sich die Hände gewaschen zu haben. Je nach Kultur sind die Hygienegewohnheiten sehr unterschiedlich. Auch in der Gastronomie.

Bargeld-Gegner wittern nun eine neue Chance, denn bei jedem Bezahlvorgang wechseln Banknoten mit circa 3000 Bakterienarten den Besitzer. Doch fast alle bisherigen Epidemien und Pandemien haben ihren Ursprung in den teilweise immer noch offenen Lebendtiermärkten, wo aufgrund der extrem unhygienischen Bedingungen Infektionskrankheiten von Tier zu Mensch übertragen werden.

Dass man in Zukunft Händeschütteln nur noch bei der Besiegelung wichtiger Vereinbarungen praktiziert, ist nicht verkehrt. Denn die nächste Pandemie kommt bestimmt.

Würden wir heute die Begrüssungsrituale ändern, wären sie für die nächste Generation selbstverständlich. Vielleicht gilt dann die japanische Verbeugung, eine Luftnummer von «Gimme five» oder einfach «Howgh» und Handy hochhalten.

Presse: Zombieviren aus dem Eis (Focus)

 

Könnte die nächste Pandemie aus dem Permafrost kommen? Davor warnen in der Tat einige Wissenschaftler. Denn das Schmelzen der Permafrostböden drohe Viren freizusetzen, die im Untergrund lauern.

© Focus 21.4.2020

Aufgrund der Erderwärmung tauen die arktischen Regionen, deren Böden dauerhaft gefroren sind, besonders schnell. Sie umfassen rund 25 Prozent der Landgebiete der Erde. Dabei wird organisches Material freigelegt, das auch Knochen und Gewebe von Tieren enthält, die seit Tausenden von Jahren im Permafrost konserviert sind. Sie können Mikroorganismen enthalten, die bei den steigenden Temperaturen aktiviert werden.

Hinzu kommt, dass sich in den Schmelzwassertümpeln oder -strömen, die in großer Zahl entstehen, neue Gemeinschaften von Mikroben bilden. Diese waren in Eis eingefroren, das kleine Klüfte im Boden füllte, und lagen teilweise jahrhundertelang gewissermaßen im Tiefschlaf. Das große Tauen erweckt sie nun zu neuem Leben.

Unlängst trafen sich mehr als 50 Forscher aus aller Welt zu einer Konferenz in Hannover, um zu diskutieren, was diese Auferstehung von „Zombieviren“ und anderen Mikroben für die Menschen sowie die Entwicklung künftiger Infektionskrankheiten bedeuten könnte. „Das Treffen sollte den Anstoß geben herauszufinden, was aus dem Permafrost auftaut, um uns zu töten“, sagte die Veterinärmedizinerin Susan Kutz von der kanadischen University of Calgary bei der Konferenz gegenüber Medienvertretern.

Viren waren noch nach 700 Jahren im Eis intakt und infektiös

Tatsächlich beschrieben belgische Biologen in einer Studie mit dem sinnigen Titel „Zurück in die Zukunft in einer Petrischale“ bereits 2017, welche Gefahr von im Permafrost eingefrorenen Mikroben ausgehen kann. Sie hatten im 700 Jahre altem Karibu-Kot zwei Viren gefunden, die sie im Labor wiederbeleben konnten.

Zwar handelte es sich um Erreger, die Pflanzen bzw. Insekten befallen, doch „bemerkenswerterweise waren diese Viren auch nach 700 Jahren im Eis noch intakt und infektiös“, schreiben die Autoren. „“In den letzten Jahren häuften sich die Hinweise, dass der Permafrost ein gigantisches Reservoir alter Viren und Mikroben ist, die aktiviert und wieder freigesetzt werden, wenn sich die Umwelt ändert.“ Schon zuvor hatten französische Biologen in einem Bohrkern mit 30.000 Jahre altem Eis ein Riesenvirus entdeckt, dem sie später zusehen konnten, wie es eine Amöbe befiel.

„Wahrscheinlichkeit, dass durch die Kombination dieser Faktoren eine Seuche ausbricht, ist sehr hoch“

Die Studienmitautorin Ellen Decaestecker von der Universität Leuven weist auf eine weitere Ursache für potenzielle Pandemien hin: Das immer tiefere Vordringen von Menschen in bis dahin unberührte Lebensräume in der Arktis, etwa um Rohstoffe auszubeuten, aber auch durch den Tourismus. „“Wir ändern die Umwelt durch die Fragmentierung von Lebensräumen und den Klimawandel sehr schnell“, so Decaestecker. „Die Wahrscheinlichkeit, dass durch die Kombination dieser Faktoren eine Seuche ausbricht, ist sehr hoch.“

Diese könne zwar auch Menschen betreffen, doch zuerst würden vermutlich Tiere befallen, befindet Decaesteckers Kollegin Kutz: „Da sie im Gelände verteilt sind und auch in Gebieten grasen, in denen der Permafrost taut, können sie als Indikator dienen und früh warnen, bevor Menschen betroffen sind.“ Deshalb gelte es auf Krankheiten oder andere Anzeichen bei Tieren zu achten. Da die Bewohner der Arktis, voran die indigenen Völker, sich vielfach von den Tieren ernähren, seien auch sie den Erregern ausgesetzt.

Dass die Warnungen nicht aus der Luft gegriffen sind,  zeigt eine Milzbrand-Epidemie, die im Juli 2016 in Nordsibirien in einem Nomadenstamm ausbrach. Berichten der „Siberian Times“ zufolge wurden insgesamt 72 Menschen in Krankenhäuser gebracht, ein zwölfjähriger Junge starb. Zudem fielen dem Milzbrand-Erreger „Bacillus anthracis“ nach Angaben der Behörden 2300 Rentiere zum Opfer. Es war der erste Ausbruch seit 75 Jahren.

Der Erreger könnte von Tieren stammen, die vor 70 Jahren an Milzbrand verendet waren. Ihre Kadaver versanken im Permafrostboden, der im Sommer an der Oberfläche auftaut. Seitdem ruhten die toten Tiere im Eis – bis sie durch die steigenden Temperaturen wieder freigelegt wurden. Hinzu kam damals eine Hitzewelle im nördlichen Sibirien mit Temperaturen zwischen 25 und 35 Grad, die über vier Wochen lang anhielt.

Die Hitze, vermuten Forscher, reaktivierte die Sporen des Bacillus anthracis, die im Eis hundert und mehr Jahre überdauern können. Sie wurden auf Weideflächen geweht, wo sie Rentiere infizierten, die sich dort zur Sommerweide aufhielten. Die Nomaden wiederum steckten sich durch das Fleisch erkrankter Tiere an.

Allerdings kamen Wissenschaftler um den Mikrobiologen Karsten Hueffer von der University of Alaska Fairbanks in einer weiteren Studie zu dem Schluss, dass das Ende des russischen Anthrax-Impfprogramms im Jahr 2007 bei dem Ausbruch eine größere Rolle spielte als der warme Sommer.

Neben den schlagzeilenträchtigen Zombieviren drohen den Arktis-Bewohnern noch weitere gesundheitliche Gefahren. Denn durch die globale Erwärmung wandern viele Tier- und Pflanzenarten nach Norden. Sie könnten neue Krankheitserreger in die Arktis einschleppen. Dort sind die Gesundheitssysteme in der Regel aber nur schwach ausgebaut.

Das kanadische Internetportal „The Narwhal“ nennt ein Beispiel: Zu den sich nordwärts ausbreitenden Arten zählt der Biber. Die Nagetiere sind aber oft von Parasiten (sogenannte Giardien) befallen, die das „Biberfieber“ auslösen. Es geht mit starkem Bauchweh und heftigen Durchfällen einher. Der Erreger kann auch Menschen befallen. Deshalb wird es zunehmend gefährlich, Wasser direkt aus arktischen Gewässern zu trinken, wie es viele Leute dort tun.  Zudem wandern die Stechmücken, die das West-Nil-Virus übertragen, immer weiter nach Norden.

Zugleich nimmt die Bevölkerung durch den Bau neuer Straßen, die Einrichtung von Minen und die Rohstoffexploration Erdöl ständig zu. Die aus dem Permafrost freigesetzten oder eingeschleppten Erreger treffen somit auf immer mehr potenzielle Wirte. Diese Entwicklung betrifft auch viele Tiere – etwa das Karibu. Dessen Bestände in Nordamerika sanken in den vergangenen 25 Jahren um rund 40 Prozent. Ursache des Niedergangs ist unter anderen die Verbreitung von Parasiten, die sich im Magen-Darm-Trakt der Tiere festsetzen. „Die Rolle von Infektionskrankheiten dabei wurde lange übersehen, und der Klimawandel facht dieses Feuer noch an“, konstatiert die Tierärztin Kutz. 

In einer Hinsicht gibt die kanadische Forscherin aber Entwarnung: Auf der Basis der bisherigen Beobachtungen erscheine es unwahrscheinlich, dass aus dem Permafrost so ansteckende und tödliche Seuchen wie aktuell Covid-19 entstehen. Dafür gebe es einen anderen Grund zur Sorge. Die tauenden Böden könnten Bakterien oder Viren enthalten, denen der Mensch bisher nicht nicht begegnet ist – oder aber solche, auf die er mit desaströsen Folgen traf, wie etwa die Spanische Grippe von 2018. Dann sei er ihnen ziemlich schutzlos ausgesetzt, jedenfalls so lange, bis es Medikamente oder einen Impfstoff gibt.

Interview Nationalmuseum

Interview mit Claudia Walder / Mai 2020

Einführung

Claude Cueni ist erfolgreicher Autor und hat gesundheitsbedingt bereits Quarantäne-Erfahrung. Am 17. August erscheint bei Nagel & Kimche sein neuer Wissenschafts-Thriller «Genesis – Pandemie aus dem Eis». 2021 wird sein historischer Roman «Das grosse Spiel» verfilmt.

Persönliches

  1. Herr Cueni, Sie sind erfolgreicher Autor und wurden in einem Interview als «Quarantäneprofi» bezeichnet. Haben Sie Tipps für «Ungeübte»?

Wer jammert, sollte sich bewusstwerden, dass eine Quarantäne mit vollem Kühlschrank, Internet und Netflix eine Luxus-Quarantäne ist. In armen Ländern können sich die Leute nicht einmal Hamsterkäufe leisten.

Grundsätzlich ist eine Tagesstruktur hilfreich, egal ob man um 5 Uhr oder um 9 Uhr aufsteht: Fitness, Online-Zeitungen, Kontaktplfege über die sozialen Medien, in der Küche Neues ausprobieren. Und endlich mal den Keller aufräumen. Alles kann hilfreich sein.

  1. Hilft Ihnen die Isolation beim Schreiben – oder das Schreiben in der Isolation?

Weder noch. Ich kann rasch in meine Geschichten abtauchen und alles um mich herum ausblenden. Ich brauche keine optimalen Bedingungen zum Schreiben.

  1. Wenn Sie ein Charakter in einem Ihrer Bücher wären, wie würden Sie sich beschreiben?¨

In meinem autobiographischen Roman »Script Avenue« finden Sie einen Beschrieb auf 640 Seiten, ein Leben zwischen Tragödie und Comedy.

  1. In welcher literarischen oder filmischen Geschichte würden Sie sich gerne wiederfinden?

In keiner. Ich habe mich mittlerweile an mich gewöhnt.

  1. Sie sind 2019 Grossvater geworden, welches ist das erste Buch, das Sie Ihrer Enkelin schenk(t)en?

Ich arbeite noch daran. Es heisst »Hotel California – One more thing for Elodie«. Die zweite Fassung ist fertig. Es beinhaltet die Dinge, die ich meiner Enkelin noch gerne gesagt hätte, wenn sie erwachsen ist. Sie ist gerade ein Jahr alt geworden.

  1. Ihr neustes Buch «Genesis» trägt den Untertitel «Pandemie aus dem Eis». Zufall?

Da ich seit zehn Jahren immunsuprimiert bin, sind mir die Themen Viren und Bakterien vertraut. Ich war immer der Meinung, dass das grösstmögliche Unglück nicht Kriege, Meteoriteneinschläge, Klimaerwärmung oder Negativzinsen sind, sondern eine Pandemie, weil eine solche nicht auf Regionen beschränkt ist. Das fertige Manuskript wurde von meiner Literaturagentur bereits im Oktober 2019 an der Frankfurter Buchmesse den Verlagen angeboten. Geschrieben hatte ich es in den zwölf Moanten davor. Also weit vor dem ersten Auftritt von Covic-19.

  1. Wenn Sie das Geschehen in Ihrem Buch mit der jetzt eingetroffenen Situation vergleichen, was haben Sie sich anders vorgestellt? Was ist eingetroffen?

Auch bei mir ist der Auslöser eine Zoonose, also eine Übertragung von Tier zu Mensch. Der Fokus liegt aber nicht auf einem Horror-Szenario im Stil von Steven King, sondern auf einer indischen Köchin, die vor einer Zwangsheirat nach London flüchtet, eine zugelaufene Ratte dressiert und sich infisziert ohne selber daran zu erkranken.

Womit ich nicht gerechnet habe: Dass viele Schwerkranke aus Angst vor Ansteckung eine dringend notwendige Spitaluntersuhung verschieben und so den Zeitpunkt verpassen, wenn der Krebs noch keine Metastasen gebildet hat.

  1. Sehen Sie in der Corona-Krise auch positive Aspekte?

Jede grosse Krise ist ein Crash-Kurs in Philosophie. Sofern man lernfähig ist. Für mich hat sich nicht viel geändert. Da mir meine Frau keinen Virus nach Hause bringen will, hat sie unbezahlten Urlaub genommen und sich in Co-Quarantäne begeben. Wir haben es sehr gut miteinander.

  1. Mit welcher Persönlichkeit (real, historisch oder fiktiv) würden Sie gerne chatten/skypen – oder Briefe austauschen?

Mit John Law of Lauriston, dem Mann, der Geld aus Papier erfand und nie aufgab. Die Romanverfilmung hätte dieses Jahr beginnen sollen, aber eine Filmcrew hat mehr als fünf Personen und am Hof des Sonnenkönigs sollten nicht alle Darsteller einen Mundschutz tragen.

  1. Welche Frage würden Sie gerne einmal gestellt bekommen (bekommen Sie aber nie)?

Ich bin nicht so interessant, dass die Öffentlichkeit noch mehr über mich erfahren müsste.

Museum

  1. Welche Gedanken verbinden Sie spontan mit dem Begriff «Museum»?

Zeitreisen. Neues Lernen. Wissen ist sexy.

12. Besuchen Sie Museen lieber real oder virtuell? Und weshalb/wann welches?

Unbedingt real. Regelmässig besuche ich das Gelände des Römermuseums in Augusta Raurica, das Landesmuseum, wenn ich in Zürich bin und das British Museum in London. Aber ich mag auch skurrile Museen wie das Henkermuseum in Liestal.

  1. Was müssen Museen tun, um Sie in Zeiten der Isolation zu erreichen bzw. relevant für Sie zu sein?

Interesse wecken, neugierig machen. Egal ob es eine Ausstellung zum Thema »Guillotine«, »Reisen in der Antike« oder »Zinnfiguren« ist. In Corona-Zeiten müsste es virtuell sein. Man nutzt Zeit und Budget aber besser für eine reale Ausstellung nach Ablauf des Lockdowns.

  1. Was sollte ein historisches Museum heute sammeln, um in Zukunft einmal die Corona-Krise darstellen zu können?

Ein begehbarer Supermarkt mit leeren Regalen, im OFF Nachrichten, in jedem neuen Ausstellungsraum ein vermummter Aufseher, ein Bett auf einer Intensivstation, ein Grabmal nach der Vorlage von Auguste Bartholdis Voulminot-Skulptur in Colmar, ein Rehrudel in einer leeren Bar, ein Kurier auf dem Velo, Food-Delivery. Ein Vergleich mit anderen Pandemien in chronologischer Folge.

  1. Welches ist Ihr Lieblingsmuseum? Welche ist Ihre Lieblings-Museumwebseite? (Sind ja nicht unbedingt das Gleiche.)

Mein eigenes Museum war mir natürlich stets am liebsten. Ich hatte zahlreiche Schaufensterpuppen historisch korrekt eingekleidet und im Wald hinter dem Haus eine römische Mansio gebaut, eine römische Herberge. Der Architekturhistoriker Otto Lukas Hänzi hatte sie entworfen. Die meisten Gegenstände stammten aus Werkstätten, die normalerweise für Museen arbeiten. Es gab einen Keltenwald mit Totenköpfen in den Bäumen, ich wollte das alles der Öffentlichkeit kostenlos zur Verfügung stellen, aber der Kanton hat mir dann verboten, im eigenen Wald weiterzubauen.

Nachhaltig beeindruckt hat mich vor 20 Jahren auch der vor acht Jahren umgebaute »MuséoParc Alésia« im Burgund mit den nachgebauten Belagerungsringen um Alesia im Maßstab 1:1.

Meine Lieblingswebseite ist natürlich die vom Money Museum in Zürich. Die Geschichte des Geldes ist ja auch die Geschichte der Zivilisation und Thema meines Romans über die Erfindung des Papiergeldes.

  1. Gibt es ein Museum, in dem Sie oder ein Werk von Ihnen zu finden sind?

In diversen Römermuseen gab es jahrelang meine Dramatisierung des Gallischen Krieges im Museumshop (»Cäsars Druide / Das Gold der Kelten«). Aber ob das heute noch so ist, weiss ich nicht. Ich denke nicht.

  1. Welches Museum wäre das perfekte Setting für einen Roman / einen Film?

Auf jeden Fall das Landesmuseum. Kein anderes. Ich hatte dort vor 20 Jahren eine Buchvernissage. Mir gefiel die Stimmung in den Sälen nach Einbruch der Nacht.

  1. Stellen Sie sich vor, Sie dürften eine Ausstellung gestalten. Was würden die Besucher zu sehen bekommen? Wie würde die Ausstellung heissen? Und wäre sie real oder virtuell?

»Geschichte als Geschichte erzählen«. Auf jeden Fall real. Jeder Raum eine Epoche mit Schauspielern in historischen Kostümen, die sich untereinander unterhalten, aber nicht mit dem Publikum kommunizieren. Vor dem Gebäude eine historische Strassenkantine mit Fastfood nach damaligen Originalrezepten.

  1. Was war der eindrücklichste Moment, den Sie je in einem Museum erlebt haben?

Das war im History Museum in Hongkong. Es war deshalb eindrücklich, weil es grossartig gestaltet ist und diese Kultur für mich damals neu war. Eindrücklich war auch ein Besuch im Bartholdi-Museum in Colmar. Ich stiess auf ein Gemälde von Charles Bartholdi, dem erfolglosen Bruder des weltberühmten Auguste Bartholdi, der die Freiheitsstatue erschuf. Ich fragte mich, wieso sich die Brüder, beide Kunstmaler, nicht gegenseitig gemalt hatten und erkundigte mich bei der Konservatorin. Sie kopierte mir Briefe der Mutter. Darauf habe ich den Roman »Gigangen« neu geschrieben, die Rivalität der Brüder wurde ein zentrales Thema.

  1. In welchem Museum sollte man sich in 100 Jahren an Sie erinnern? Und weshalb?

In keinem. Ich gehöre nicht zu den Autoren, die sich wahnsinnig wichtig nehmen. Sobald ich tot bin, existiere ich nicht mehr. Und aus die Maus.

 

062 Blick »Die Frau, die niemals aufgab«

 

1761 verbrachte Joseph Grosholtz eine Winternacht in den Armen von Anne-Maria Walder, sie wurde schwanger, und Josef zog in den Siebenjährigen Krieg. Als seine Tochter Marie geboren wurde, lag er bereits erschossen auf den Schlachtfeldern der Grossmächte.

Die junge Witwe zog mit der kleinen Tochter nach Bern, erwarb die Schweizer Staatsbürgerschaft und arbeitete als Hausmädchen für den Arzt Philippe Curtius. Er modellierte für den Anschauungsunterricht menschliche Organe in Wachs. Ein Cousin des französischen Königs wurde auf ihn aufmerksam und bot ihm ein Atelier in Paris an. Zusammen mit seiner Patchwork-Familie zog er an die Seine. Die kleine Marie überraschte mit ihrem Talent und schuf bereits als Teenager ein eindrückliches Wachsporträt von Voltaire.

Während der Französischen Revolution stürmten Aufständische das entstehende Wachsfigurenkabinett und forderten die Herausgabe der in Ungnade gefallenen Zeitgenossen. Die Revolutionäre spiessten die Köpfe auf und trugen sie skandierend durch die Strassen. Im Gegenzug, so die Legende, erhielt Marie echte Köpfe zum Nachmodellieren: Die unter der Guillotine abgetrennten Häupter von Ludwig XVI., Marie Antoinette, Danton und später Robespierre.

Als Curtis starb, erbte Marie die Sammlung und heiratete 1795 den Ingenieur François Tussaud. Dieser war allerdings mehr dem Alkohol als dem Maschinenbau zugeneigt. Die resolute Marie trennte sich von ihm und floh vor dem nächsten Krieg mit ihrem kleinen Sohn nach England.

Nachdem sie 33 Jahre lang mit ihren Wachsfiguren an Jahrmärkten aufgetreten war, eröffnete die mittlerweile 74-Jährige ihr weltberühmtes Museum in London und starb fünfzehn Jahre später. Sie musste nicht mehr miterleben, wie während des Zweiten Weltkriegs deutsche Bomben ihr Kabinett in Brand setzten und ihre Wachsfiguren dahinschmolzen.

Mittlerweile ist Madame Tussauds ein internationaler Konzern mit 23 Niederlassungen und investiert in andere Branchen, da die neuen 3D-Drucktechnologien das alte Geschäft bedrohen. Mit lebensechten 3D-Ganzkörperporträts in farbiger Gips-Keramik bedienen junge Start-ups die narzisstische Gesellschaft: jeder ein Unikum, jeder ein Star und erst noch hitzebeständig.

061 Blick »Besiegte ein Bakterium Napoleon?«

Die Schlacht fand am 18. Juni 1815 in der Nähe des damals niederländischen Dorfes Waterloo statt. Der britische General Wellington besiegte gemeinsam mit dem preussischen Generalfeldmarschall Blücher Napoleons Armee und schickte den Korsen in die Verbannung.

Auf der Atlantikinsel St. Helena erlebte Napoleon sein endgültiges Waterloo: Er starb, fiel womöglich dem Bakterium Helicobacter pylori zum Opfer. Zwei Haare stützten zwar Verschwörungstheorien, wonach er mit Arsen vergiftet worden sei, doch erwiesen ist lediglich, dass sein Hut heute im Deutschen Historischen Museum ausgestellt ist.

Der Name Waterloo, mittlerweile ein Synonym für eine vernichtende Niederlage, überlebte in vielfältiger Art und Weise. Er inspirierte Songwriter (Abba 1974) und war weltweit Namensgeber für über zwei Dutzend Städte. In London tragen ein Bahnhof und eine U-Bahn-Station den Namen, sehr zum Ärger der französischen Regierung. Sie verlangte eine Umbenennung, vergebens. Kapitulieren ist nicht britisch. Weniger standhaft waren die Belgier. Auf Druck von Paris schmolzen sie 180’000 neue Euro-Münzen ein, die an Waterloo erinnerten.

Erhalten blieb uns auch das legendäre Filet Wellington, das sich der Freimaurer Wellington angeblich nach der Schlacht servieren liess. Nebst dem Filet im Teig bescherte Waterloo der Nachwelt auch den edlen Margaux Château Palmer, der es 1961 auf 99 Parker-Punkte brachte. Wellington hatte das französische Weingut seinem treuen General Charles Palmer geschenkt. Trotz enormer Anstrengungen erlebte dieser in den Rebbergen von Bordeaux ein finanzielles Waterloo. Gebodigt hatten ihn weder die Reblaus noch desertierte französische Soldaten, sondern die Bank, die ihm die Verlängerung der Hypothek verweigerte.

Nathan Mayer Rothschild war der Warren Buffett seiner Zeit und der grösste Financier des britischen Imperiums. Einige Autoren warfen ihm vor, dass er dank besseren Nachrichtenverbindungen früher von Napoleons Niederlage erfuhr und diesen Informationsvorteil an der Londoner Börse ausnutzte. Einer seiner Bankkunden, der Dichter und Journalist Heinrich Heine, notierte in seinem Buch «Lutetia» voller Bewunderung: «Geld ist der Gott unserer Zeit und Rothschild sein Prophet.»

 


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Book Home Delivery

Die Buchhandlungen sind wieder offen.

Die Verlagsauslieferungen liefern wieder.

Somit endet meine Aktion.

15. Mai 2020

 

060 Blick »Faule Knochen«

© Blick 2020 / Folge 60 /   17.4.2020                                                                                                              

Faule Knochen

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges versuchte man zur Normalität überzugehen. Es wurde wieder Fussball gespielt, und das Fernsehen entwickelte sich allmählich zum Massenmedium, es gab plötzlich mehr Fernsehzuschauer als Rundfunkhörer. Die Krönung von Elizabeth II. am 2. Juni 1953 brach alle Rekorde, obwohl der Gründer der Filmproduktionsgesellschaft 20th Century Fox behauptet hatte, dass sich das Fernsehen niemals durchsetzen würde: «Die Menschen werden sehr bald müde sein, jeden Abend auf eine Sperrholzkiste zu starren.»

Ermüdet haben die TV-Zuschauer aber nicht die flimmernden Holzkisten, sondern die Bedienung des Fernsehgeräts, weil man zum Umschalten aufstehen musste. Einer dieser Couch-Potatoes entwickelte deshalb für die Firma Zenith eine Fernbedienung mit Kabel. Er nannte sie treffend «Lazy Bones» (Faule Knochen). Nachdem er zu Hause ein paar Mal über das Kabel gestolpert war, erkannte er ein gewisses Verbesserungspotenzial.

«Lazy Bones» wurde begraben, und sechs Jahre später eroberte der kabellose «Space Commander» die Wohnstuben. Dank der inflatorischen Zunahme an neuen TV-Kanälen wurde das schmale Gerät zur Standardausrüstung, und Kinder wurden nie mehr als menschliche Fernbedienung missbraucht.

Die Zapping-Kultur brachte eine ganze Generation ungeduldiger Zappelphilipps mit verminderter Aufmerksamkeit hervor. In den Printmedien wurden die Texte kürzer, die Bilder grösser, und Filme starteten gleich mit einer dramatischen Szene und integriertem Vorspann.

Die Kurzvideo-Plattform Tiktok erlaubte gerade mal eine Länge von 15 Sekunden. Textnachrichten schrumpften, Emojis wurden die Hieroglyphen der Neuzeit, und die Nutzer fühlten sich wie allzeit vernetzte Space Commander. Je mehr Zeit sie einsparten, desto weniger hatten sie übrig.

Die Nachfahren der «Lazy Bones» gehen nun in Rente. Geräte werden mit der Sprache gesteuert. Geblieben ist die Zapping-Kultur. Jeder ist sein eigenes Medienhaus, sein eigener Zensor. Was nicht sofort überzeugt, wird weggezappt. Auch Jobs, Beziehungen und Kleingedrucktes. Im Wilden Westen bedeutete «zapped» abgeknallt.

059 Blick »Das Viagra der Antike«

«Mir wäre es lieber gewesen, du hättest nach Knoblauch gestunken», soll Kaiser Vespasian einem parfümierten Offizier gesagt haben. Die Gewürzpflanze war das Pesto der römischen Antike und gehörte zur Tagesverpflegung der Legionäre. Sie schleppten auf ihren Gewaltsmärschen dreissig Kilo Gepäck und verbrauchten 10 000 Kalorien am Tag (das Wort Burnout wurde erst 1974 erfunden). Die Soldaten waren anfällig für blutige Füsse und Verletzungen der gröberen Art. Die Pflanze galt als entzündungshemmend und wurde zum Synonym für das Soldatenwesen.

Im Mittelalter wurde Knoblauch in Klöstern angebaut und bei Lungenentzündungen empfohlen. Während der Pest glaubte man gar, man könne mit Knoblauch die Seuche bekämpfen. Die Pest ging vorbei wie alle Pandemien, der Aberglauben ist geblieben.

1733 schrieb Johann Christoph Harenberg seine «Christlichen Gedanken über die Vampire» nieder und legte damit den Grundstein für die Fledermaus, die sich als neurotische Blutsaugerin mit Knoblauch-Phobie in Literatur und Film einnistete.

Einige Studien behaupten, Knoblauch sei wirksam bei Lungeninfekten, weil er die in der Knolle enthaltenen Öle über die Lunge ausscheidet. Für einen nachweisbaren Effekt müsste man allerdings täglich ein Kilo Knoblauch essen, dann hätte es sogar einen positiven Einfluss auf die Blutfette. Aber eher einen negativen auf das Eheleben.

Gerüchteweise hört man, das BAG prüfe die kostenlose Abgabe von Knoblauch zur Durchsetzung von Social Distancing. China könnte liefern. Mit jährlich 21 Tonnen decken sie 80 Prozent des weltweiten Konsums. Für den US-Markt wird der Knoblauch in Haftanstalten vorgeschält. Dabei gelangt der Saft unter die Nägel und verbrennt die Haut. Deshalb nehmen viele Zwangsarbeiter die Knollen in den Mund, schälen sie mit den Zähnen und spucken sie wieder aus.

Heute gilt die Gewürz- und Heilpflanze als Viagra des armen Mannes. Es ist empfehlenswert, dass man vorgängig einen gemeinsamen Apéro mit Moretum einnimmt. Das Knoblauch-Rezept hat uns Apicius hinterlassen, der Paul Bocuse der römischen Antike. Leider ohne Angaben der benötigten Menge an Fetakäse, Selleriegrün und Koriander. Vielleicht nutzen Sie die Pausen im Homeoffice, um es herauszutüfteln.