#chronos (1953)

il_fullxfull.434687029_owqiIn den US-Kinos lief der Western «Law And Order» an. Ein Schauspieler namens Ronald Reagan spielte den Marshal Frame Johnson, der sich mit seiner geliebten Jeannie auf eine Ranch in der Nähe von Cottonwood zurückziehen will. Doch zuvor muss er dieses gottverdammte Tombstone säubern. 28 Jahre nach Drehschluss hatte er als 40. Präsident der Vereinigten Staaten immer noch ein paar Dialogzeilen in Erinnerung. Er nannte die polnische Führung «eine Bande verderbter, verlauster Pennbrüder».

«Der Tod eines einzelnen Mannes ist eine Tragödie, der Tod von Millionen nur eine Statistik», war das Motto von Josef Stalin, dem Idol von Che Guevara. Unter Stalin wurden mehrere Millionen Menschen in Schau- und Geheimprozessen zu Zwangsarbeit verurteilt, in Arbeitslager deportiert oder gleich ermordet. Nach seinem Tod 1953 folgte Nikita Chrusch­t­schow als erster Sekretär der KPdSU. Er begann mit der Entstalinisierung der Sowjetunion, überzeugte aber nicht einmal die eigenen Familienmitglieder. Sein Sohn Sergej lebt heute als Politikwissenschaftler und Buchautor in den USA und besitzt die amerikanische Staats­bürgerschaft. Sein Enkel Nikita wiederum lebt als Journalist im heutigen Russland und kritisiert den «abtrünnigen» Vater.

Rebelliert wurde auch im sozialistischen «Arbeiter-und-Bauernstaat». Wilde Streiks und Demonstrationen erschütterten die DDR. Die Menschen protestierten gegen den Sozialismus, gegen unmenschliche Arbeitsnormen, Repression gegen die Kirchen und politische Unfreiheit. Als sich der Volksaufstand auf das ganze Land ausbreitete, schritten die in der DDR stationierten sowjetischen Truppen ein und walzten mit ihren Panzern die «Ungeziefer» blutig nieder. Das Langzeitmotto der DDR war: «Von der Sowjetunion lernen heisst siegen lernen.»

Auf Kuba stürmte der Rechtsanwalt Fidel Castro mit einer kleinen Guerillatruppe die Moncada-Kaserne von Santiago de Cuba. Kurz zuvor hatte er vergebens versucht, auf dem Rechtsweg den Diktator Fulgencio Batista wegen Verfassungsbruchs einzuklagen. Er berief sich deshalb auf das in der Verfassung garantierte Wiederstandsrecht. Der Angriff scheiterte, aber es war der Auftakt zur Kubanischen Revolution und zum Untergang des Diktators, dessen Geheimdienste Tausende von Menschen entführt, gefoltert und, zur Abschreckung der Bevölkerung, aus fahrenden Autos geworfen hatten.

In der Londoner Westminster Abbey wurde Elizabeth Alexandra Mary zur Königin des Vereinigten Königreiches von Grossbritannien und Nordirland gekrönt. Trotz aller Skandale der Royals lieben die Briten ihre Queen Elizabeth II, die sich ihre gelegentlichen Auftritte in der­Öffentlichkeit mit 13 Millionen vergüten lässt. Im Gegensatz zu den Vermögen von König Bhumibol Adulyadej von Thailand (25 Milliarden) und Fürst Albert II. von Monaco (1,5 Milliarden) nagt die Grossmutter von Prinz William mit bescheidenen 500 Millionen am royalen Hungertuch. Sie investiert mit Vorliebe in Immobilien, Schmuck, Pferde und Obstplantagen.

Im gleichen Jahr erschienen winzig kleine Comicstrips mit der Figur «Bazooka Joe». In diese Strips wickelte der amerikanische Hersteller Topps Company seinen rosaroten zuckersüssen Kaugummi, der die Kinder begeisterte. Schöpfer der Figur war der Cartoonist Wesley Morse, «the greatest pretty girl artist on broadway», der mit erotischen Pin-up-girls und den Pornocomics «Tijuana­bibles» Kultstatus erlangt hatte. Als man ihn fragte, wieso Bazooka Joe eigentlich diese schwarze Augenklappe trägt, antwortete er: «Keine Ahnung.»

© Basler Zeitung; 28.10.2016

Interview «Ich lebe jetzt» Basler Zeitung 24.09.16

 

Interview als PDF

Tagestehema: Gottlose Sonne. Der Basler Schriftsteller hat ein grossartiges Buch geschrieben über Glauben, Aberglauben und Atheismus. Seite 2

Der Schriftsteller Claude Cueni über Werden, Vergehen, Glaube, Aberglaube, Atheismus, Rotwein und die Liebe

Von Michael Bahnerth

Allschwil. Jede Geburt ist der Anfang eines Sterbens, bei Claude Cueni (60) ganz besonders. Im Grunde sollte er schon tot sein. Cueni hatte vor sieben Jahren Leukämie und ist seit der Knochenmarktransplantation in Behandlung. Die Spenderzellen, die ihn von der Leukämie heilten, stiessen 60 Prozent seiner Lunge ab. Er nennt es Bürgerkrieg in mir drin. Im Moment ist gerade Waffenstillstand, aber niemand weiss, wie lange. Das halbe Jahr im Krankenhaus verbrachte der Mann, der als unglückliches Kind ins Leben stolperte, dann Bohemien wurde, später Drehbuchautor, dann Schriftsteller, der später seine erste Frau an den Krebs verlor und sie in seinem Garten vergrub, damit er sie jeden Tag sehen konnte, und der seiner ersten Frau beinahe gefolgt wäre, mit Schreiben. «Script Avenue» heisst seine Lebensbeichte. So lange ich schreibe, sterbe ich nicht, sagt er. Und so schreibt er. Immer um sein Leben. Und zuletzt «Godless Sun».

BaZ:

Warum begannen Sie mit Schreiben? Einfach, weil Sie es konnten? Oder als Therapie?

Claude Cueni: Ich habe bereits als Knirps am Laufmeter Geschichten erfunden und als ich dann schreiben konnte, habe ich sie aufgeschrieben. Zuerst auf Französisch. Am Anfang überbordet die Fantasie und es braucht die Einsicht, dass es auch handwerkliches Können braucht, damit die Musik spielt. In der Pubertät beschleunigt sich dann der Schreibprozess, man wird risikofreudiger, unvernünftiger, frecher. Ich habe fast zehn Jahre lang für den Papierkorb gearbeitet, bis sich ein Verlag meiner erbarmte. Mein erster Roman wurde von den Feuilletons gelobt, aber es war pubertärer Schwachsinn. Heute habe ich immer noch den Ehrgeiz, mein Handwerk zu verbessern, ich lese deshalb die Feedbacks der Leserinnen und Leser sehr sorgfältig.

Ob das alles eine Therapie war? Die vielen Bücher, die ich in den ­letzten sieben Jahren geschrieben habe, waren sicher ein Akt der ­Verzweiflung.

In Ihrem neuen Buch «Godless Sun» entwerfen Sie das Konzept des Atheismus als Religion. Warum wurden Sie Atheist?

Wir werden doch alle als Atheisten geboren. Religiosität wird uns als Kleinkinder verabreicht wie eine Schluckimpfung. Aber spätestens im Schulunterricht erkennen viele Teenager, dass Religion allen Naturwissenschaften widerspricht und eine Form des Aberglaubens ist. Bei religiösen Menschen beschränkt sich der Aberglauben selten nur auf die Religion. Sie glauben auch an die Kraft von Ritualen, Amuletten und haben am Freitag, dem 13., ein mulmiges Gefühl. An einem Freitag, dem 13., bin ich übrigens geboren. Jetzt denkt bestimmt einer: Aha, siehst du!

Glauben Sie an sich selbst?

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass ich für jedes lösbare Problem eine Lösung finde, ich vertraue meiner Kreativität auch in praktischen Dingen. «Debroulliard» ist das passende Wort.

Glauben Sie an Schicksal?

Nein, sicher nicht. Der Glauben an ein Schicksal kann tröstlich sein, weil es uns von jeder Schuld freispricht, aber es ist auch die Weigerung, Verantwortung zu übernehmen.

Glauben Sie an Zufälle?

Die Welt ist voller Zufälle. Der Mensch neigt dazu, in dieser chaotischen Welt eine Ordnung zu suchen und wünscht sich in seiner Hilflosigkeit eine allmächtige Kraft. Es ist nicht einfach zu akzeptieren, dass wir nicht mehr Bedeutung haben als ein Regenwurm und als Häufchen Kompost enden.

Warum glauben Sie nicht?

Sigmund Freud beschrieb Religion als Versuch, die Sinneswelt, in die wir gestellt sind, mit der Wunschwelt zu bewältigen. Für ihn war Religion eine Kindheitsneurose. In meinem Roman «Godless Sun» bezeichnet die Hauptfigur Religion «als grösste Betrugsgeschichte der Menschheit». Ich bin ein Freund der Naturwissenschaften. Wissen statt Glauben, Fakten statt Meinungen. Religion ist in den Industriegesellschaften ein Auslaufmodell. Die Menschen verlieren den Glauben, aber nicht den Aberglauben. Esoterisch angehauchte Patchwork- Religionen und dynamische Freikirchen mit poppigen Bühnenshows liegen im Trend, die Menschen lesen Ernährungsbibeln und treffen sich mit Gleichgesinnten in Fresstempeln oder betreiben einen exzessiven Fitnesskult: Verliebt in die eigene Magersucht. Gemeinsam haben all diese neuen Ersatzreligionen den Wunsch, Teil einer Gemeinschaft zu sein, die sich über ihre Symbole, Rituale, Accessoires und Insiderwissen definiert und sich mit sprachlichen Eigenkreationen bewusst von Aussenstehenden abgrenzt. Das stärkste verbindende Element ist die gemeinsam praktizierte Intoleranz gegenüber Skeptikern.

Benutzen Sie gelegentlich das Wort «göttlich»?

Sie meinen im Sinne von «gross- artig»? Also, wenn meine Frau ihre Frühlingsrollen serviert, sage ich nach dem Essen manchmal «Fucking good», weil sie dann so tut, als würde sie dieser Ausdruck schockieren, aber «göttlich»? Nein.

Können Sie lieben?

Ich kann mich für andere Menschen zurückstellen, ich hatte damit nie ein Problem, da ich nie der Meinung war, dass mein Leben wertvoller ist als das Leben anderer Menschen. Ich habs auch lieber, wenn ich jemandem ein Geschenk machen kann als umgekehrt. Wer sich zugunsten von anderen zurückstellen kann, liebt. Wer das nicht schafft, liebt nur sich selbst.

Die Möglichkeit des Sterbens ist Ihnen ein naher Begleiter. Was bedeutet das für Ihr Leben?

Müssen Sie mich daran erinnern? Mein Zustand hat sich auf einem ­tiefen Niveau stabilisiert, ich bin sehr zufrieden und der Hämatalogie des Basler Unispitals unendlich dankbar. Aber ich lebe natürlich weiter unter dem Damoklesschwert und habe immer wieder mal ein paar stressige Tage. Aber mit der Zeit hat man mehr Erfahrung, um plötzlich auftretende Entzündungen einzuordnen, man wird gelassener, aber auch gleichgültiger.

Warum wollen Sie leben?

Da wären wir wieder bei den Frühlingsrollen. Puede ka-bang gummaua nang lumpia bukas? Ich kann nicht wirklich Tagalog, aber ich kann meine Frau in Tagalog fragen, ob sie heute Frühlingsrollen macht. Aber im Ernst: Ich liebe den Gesang meiner philippinischen Nachtigall, ihre Lebensfreude und ihren smarten Humor, ich liebe die langen Gespräche mit meinem Sohn, unseren Humor und unsere Vertrautheit, und ich liebe es, Neues zu lernen. «Zwar weiss ich viel», sagt Wagner zu Faust, «doch möcht ich alles wissen.»

Was finden Sie im Rotwein?

Ich liebe Rotwein und auch die Historie dazu, Château Pape Clement, Château Palmer, das sind doch sehr verblüffende Geschichten, die uns auch einiges über die Weltgeschichte erzählen. Als Drehbuchautor habe ich mir früher nach jedem verkauften Krimidrehbuch eine Kiste Bordeaux gekauft. Da ich in den letzten zehn Jahren zuerst meine Frau gepflegt und dann an Leukämie erkrankt bin, hatte ich keine Möglichkeit, diese Weine zu trinken. Jetzt sind sie alle über 15 Jahre alt. Wäre ich gesund geblieben, wären all diese Flaschen längst im Glascontainer. Neuerdings trinke ich am Wochenende die jeweils beste Flasche, die ich im Keller habe. Ich warte nicht mehr auf besondere Gelegenheiten. Ich lebe jetzt.

Sie spielen am Computer Panzerschlachten. Weshalb?

1989 schrieb ich das Computergame für eine Handels- und Kriegssimulation zum Zweiten Punischen Krieg. Ich hatte 756 historische Städte mit den Bevölkerungszahlen und Anbau- flächen nach den Studien von Professor Beloch integriert. Programmiert hat es Andy Seebeck, der Vater der interaktiven TV-Telefonie-Games, die Grafiken waren von Ingo Mesche, dem Vater des Moorhuhns. Ich war stets Gamedesigner und kein Spieler, aber ich schaue mir immer wieder mal an, was an neuen Hex-Grid-Spielen für das iPad auf den Markt kommt und wie die Algorithmen funktionieren. Rundenbasierte Games sind schachähnliche Strategiespiele.

Welches Übel der Zeit halten Sie für das schlimmste?

Die Schwäche der westlichen Regierungen. Sie lassen ihre Bevölkerung im Stich. Man empfiehlt den Frauen, nachts nicht mehr alleine rauszu- gehen, einen Pfefferspray zu kaufen und eine Armlänge Abstand zu halten. Man schränkt also die Bewegungsfreiheit von Steuerzahlerinnen ein, damit eine Minderheit von jungen Abenteuermigranten, die ihren Sexualtrieb nicht unter Kontrolle haben, weiterhin eine maximale Bewegungsfreiheit haben. Ironischerweise kommen die Opfer mit ihren Steuerzahlungen für den Unterhalt der Täter auf.

Wohlstand macht träge. Wir werden in Europa von einer Generation regiert, die noch nie eine echte politische Krise meistern musste. Können Sie sich einen Winston Churchill vorstellen, der das britische Parlament fluchtartig Richtung Klo verlässt, weil ein Abgeordneter Tacheles redet? Wenn ein Staat, der seit 1848 erfolgreich funktioniert, nicht fähig ist, mit zwei pubertierenden Jungs innert eines Tages fertig zu werden, wie will er dann die Migrationskrise über- stehen? Das Berliner Institut für Bevölkerungsentwicklung hat Zahlen vorgelegt: In den nächsten 13 Jahren werden in den Herkunftsländern der Migranten zusätzlich 100 Millionen Menschen leben. Von der jetzigen Bevölkerung wollen bereits 25 Prozent nach Westeuropa. Wie soll das gehen? Es ist unsere humanitäre Pflicht, Menschen aus Kriegsgebieten aufzunehmen, aber das sind lediglich zehn Prozent der Migranten. Die übrigen sind Wirtschaftsmigranten auf der Suche nach einem besseren Leben. Das ist verständlich, aber nicht realisierbar. Erschwerend kommt hinzu, dass wir Antisemitismus, Frauenverachtung, religiösen Extremismus und ethnische Konflikte importieren. Das erträgt weder das Sozialsystem noch die Gesellschaft. Die politische Mitte wird nach rechts verschoben. Peter Scholl-Latour schrieb einmal: Wer halb Kalkutta bei sich aufnimmt, rettet nicht Kalkutta, sondern wird selber zu Kalkutta.

Die Idee war zuerst, dass Sie ein Interview mit sich selbst führen. Sie taten das, Ihr Sohn fand es Scheisse. Weshalb?

Mein Sohn würde nie einen solchen Ausdruck benützen. Ich habe die Idee in meiner SMS «big shit» genannt, wobei «shit» nicht so stark nach «Scheisse» riecht. Mein Sohn fand die Idee einfach peinlich und ich ­vertraue seinen pragmatischen ­Einschätzungen.

Sie schlafen kaum wegen der Krankheit. Träumen Sie noch?

Jede Nacht. Da ich ununterbrochen mit meinen Figuren und Geschichten beschäftigt bin, setzt das Gehirn während des Schlafs die Puzzles zusammen. Ich sehe viele Szenen als fertige Filmsequenzen, höre Dialoge, spreche mit meinen Figuren. Meine Frau macht sich dann am Morgen über mich lustig und imitiert mich. Aber netterweise weckt sie mich nachts nie auf. Denn sie weiss, ich arbeite.

Sie sagen immer wieder, sie möchten Reisen und das Schreiben ein wenig beiseitelegen. Glauben Sie, Sie ­ schaffen das?

Weder meine Frau noch mein Sohn glauben das. Aber ich hatte seit Mai ernsthaft im Sinn. eine Schreibpause einzulegen, aber jetzt sind aus ein paar Ideen die ersten 50 Seiten eines neuen Romans entstanden, nichts Historisches, nichts Politisches, nichts Autobiografisches, was ganz Neues. Manchmal denke ich, ich habe mich selber versklavt. Aber es ist schwierig, nach 40 Jahren Dauerschreiben den Stecker zu ziehen. Ich wüsste nicht einmal, wo er ist.

Claude Cueni: «Godless Sun». Roman. Offizin, Zürich. 376 S., Fr. 31.90.

© Basler Zeitung; 24.09.2016

IM FOKUS Claude Cueni, Schriftsteller

Sonntagsblick

 

von RENÉ LÜCHINGER

© Sonntagsblick; 18.09.2016

Glanz im Schatten

Zwei Jahre lang hat der TV-Journalist Michael Perricone auf diesen Film hingearbeitet, zweimal «Script Avenue», die Biografie dieses Mannes gelesen. Er weiss: In der Geschichte des Schriftstellers Claude Cueni (60) stecken Grenzerfahrungen aus dem Reich zwischen Leben und Tod, Glanz und Schatten der menschlichen Existenz, Dramatik für zwei Fernsehfilme, zwei Biografien, zwei Leben.

In seiner 640 Seiten dicken Niederschrift spricht Cueni von seiner Mutter, einer «katholischen Taliban», die ihm die «jugendlichen Faxen mit Weihwasser austreibt», als sei er, wie er nüchtern zu Protokoll gibt, vom Teufel besessen.

Der Sohn koppelt sich ab von diesem irdischen Jammertal, flüchtet, wie er es nennt, in sein «Kino im Kopf». Er versucht, leichtfüssig zu leben, wird schriftstellernder Bohémien. Und holt sich zunächst Inspirationen dafür: als Gelegenheitsarbeiter, als Kellner, als Briefträger, als Magaziner, als Werbetexter. Frühe Erfolge stellen sich ein, der Schriftsteller heiratet seine Jugendliebe Annemarie, Sohn Clovis ist unterwegs.

Cuenis Leben im Sonnenschein kippt ins Finstere. Dem gesunden Frühchen Clovis pumpen sie im Brutkasten Sauerstoff ins Hirn – und aus dem Säugling wird ein schwerer Spastiker, der, um je laufen zu lernen, fünf Stunden am Tag trainieren muss. Aus dem Bohémien wird ein Vollzeit-Betreuer und Hochleistungs-Schreiber: Geld für die notwendige Pflege des Kindes muss eingespielt werden. Der Druck fördert die Schaffenskraft; mit Urgewalt brauen sich historische Fantasiewelten im Kopf des Autors zusammen.

Es entsteht eine historische Trilogie über Gaius Julius Cäsar, über den Mathematiker John Law, der in Frankreich das Papiergeld einführte, und über die Machenschaften des Vatikans in der Finanzkrise – drei Romane über die Dreifaltigkeit von Politik, Wissenschaft und Religion, ausgebreitet auf 1400 Seiten. Sie werden in Dutzende Sprachen übersetzt.

Als Cuenis Sohn irgendwann seine Prothesen in den Müll wirft, leuchtet wieder ein wenig Sonne durch die Schatten.

Doch nichts ist von Dauer. Annemarie erkrankt, stirbt nach langem Leiden an Krebs. Alle Fotos von sich hat sie verbrannt, ein einziges von Claude und ihr bleibt erhalten.

Cueni flieht, um zu vergessen, mit dem Sohn nach Hongkong, lernt die Philippinerin Dina Ariba kennen. Die Liebe entflammt, er will sie in die Schweiz kommen lassen, die Sonne soll nun ewig scheinen… Aber das Leben spielt nicht mit. In seiner Biografie notiert Cueni trocken: «Erkrankung an akuter Leukämie. Isolierstation. Bestrahlung. Hirnblutung, Koma. Knochenmark-Transplantation. Sechzigprozentige Abstossung der Lunge.»

Dina sagt, in ihrer Heimat laufen nur Männer vor dem Schicksal davon. Sie wird die Frau eines Todkranken. Im Angesicht des nahenden Endes drängt ihn der Sohn, seine Geschichte aufzuschreiben, als wohl letzten Bestseller. An der Buchvernissage von «Script Avenue» schlägt Perricone dem Autor vor, die bewegende Story in bewegte Bilder zu übersetzen. Doch der Protagonist winkt ab. Das Kortison hat sein Gesicht verändert. So aufgedunsen will er nicht auf die Mattscheibe.

Die Geschichte könnte der düstere Plot eines Bestsellerautors sein – aber nichts ist erfunden. Für einmal ist es das Kino des Lebens. Und der Film ist real. Der Streifen des TV-Journalisten, «Selbstmitleid ist Zeitverschwendung», wird heute um 21.40 Uhr auf SRF 1 ausgestrahlt.

«Dieser Autor ist kein schreibendes Ego»

Der Hauptdarsteller dieser Geschichte, Claude Cueni, empfängt mit kräftigem Händedruck. Danach bittet er den Besucher höflich, die Hände zu desinfizieren.

Er bewegt sich ein wenig verlangsamt – wer genau hinhört, kann das leise Scheppern des Atmens hören – und nimmt Platz inmitten seiner Welt: zur Rechten in Lebensgrösse eine Figur des Mathematik-Genies John Law, zur Linken ein Kardinal aus derselben historischen Trilogie. In seiner Basler Wohnung verschmelzen Fantasie und Wirklichkeit; Bindeglied ist der lebende Claude Cueni. Ein schreibendes Ego – wie so viele – ist er nicht. Für Selbstinszenierungen ist ihm die verbleibende Zeit zu kostbar.

Vielleicht hat er darum wieder, vielleicht ein letztes Mal, in die Tasten gegriffen. Das Werk handelt von einem Groschenheft-Autor, einem Atheisten, der alle Religionen für Varianten des Aberglaubens hält. Aus der Perspektive des Freidenkers schreibt er ein Buch über den Ursprung der Religionen und gerät dadurch in Konflikt mit religiösen Fanatikern.

Diese Kunstfigur könnte Cueni selber sein. Er ist Atheist wie sein Romanheld. Und er lebt in der Jetztzeit, in der radikale Muslime weltweit ihr zorniges Haupt erheben. Es gilt also keine Zeit zu verlieren, schon gar nicht für Cueni. Deshalb musste dieses Buch jetzt in die Buchläden. Es heisst «Godless Sun» – es könnte die Überschrift seines eigenen Lebens sein.

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Der Titel seines neusten Buches «Godless Sun» (Gottlose Sonne) könnte die Überschrift von Cuenis eigenem Leben sein.

Das einzige Bild, das Cueni von seiner Jugendliebe Annemarie geblieben ist. Alle anderen vernichtete sie, bevor sie 2008 an Krebs starb.

Dina Ariba, Claude Cuenis zweite Frau, am Tag, als sie den Schweizer Pass erhielt.

Sein Sohn Clovis, Jurist und nebenamtlicher Strafrichter, mit Gattin Jessie.

 

 

#chronos (1855)

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Napoleon III. überlebte im April 1855 ein Attentat und weihte einen Monat später die erste Pariser Weltausstellung ein. Es war eine patriotische Leistungsschau, die Erfindungen vorführte, die ganz im Zeichen der Industrialisierung und der Beschleunigung standen. Über fünf Millionen Menschen besuchten die 23 000 Aussteller aus 36 Nationen. Der Amerikaner Samuel Colt, der Erfinder eines wasserfesten Transatlantikkabels, präsentierte einen Revolver mit Drehzylinder, Singer holte mit seiner Nähmaschine den ersten Preis, der Belgier Adolphe Sax blies in ein merkwürdiges Instrument, das auf den Namen «Saxofon» hörte, während Edward Loysel de Santais an seinem hydraulischen, drei Meter hohen Druckbrühapparat 2000 Espressi pro Stunde ausschenkte.

Doch die für die Zukunft gewichtigste Erfindung waren nicht neuartige Dampfmaschinen, Fahrstühle, Klimaanlagen, sprechende Puppen oder die Einführung der Bordeaux-Klassifizierung, nein, eines der wichtigsten Geräte des Industriezeitalters war die Kontrolluhr.

Mit der Industrialisierung gerieten die Fabrikarbeiter unter das Diktat der Zeitmessung. Hatte man bisher eine sehr lockere Auffassung von Zeit, disziplinierte die Stechuhr die Menschen. «Zeit ist Geld», hatte Benjamin Franklin bereits 1748 in seinem Buch «Ratschläge für junge Kaufleute» gepredigt. 1753 hatte der Graf von Rumford die «ganz unglaubliche Bummelei» in Verwaltung und Produktion beklagt und für Arbeitszeitkontrollen plädiert. Ohne exakte Zeitmessung konnten keine Produktionsziele und Zeiträume geplant und laufend überprüft werden.

Die Kontroll- oder Stechuhr wurde zum «Herzschlag des Kapitalismus» (Karl Marx); sie gab an den Fliessbändern den Takt an. Die neue Pünktlichkeit wurde zur neuen Tugend. Sie bedeutete mehr Effizienz, Gewinnmaximierung und schaffte einen entscheidenden Vorteil gegenüber Ländern ohne Zeitdisziplin.

Weiterhin nach dem Stand der Sonne richtete sich David Livingstone, der als erster Europäer die Victoriafälle erreichte. Der neu gegründete Daily Telegraph berichtete ausführlich darüber, aber Schlagzeilen machte auch der für alle Seiten zermürbende Krimkrieg, der auch als Geburtsstunde der Kriegsfotografie gilt. Erstmals wurden den Menschen zu Hause keine kriegsverherrlichenden Gemälde präsentiert, sondern die brutale Realität des Krieges vor Augen geführt.

Mit Gustave Courbet hielt der Realismus auch in der Malerei Einzug. Einige seiner Gemälde wurden von der Jury, die für die Weltausstellung die Auswahl traf, abgelehnt, worauf Gustave Courbet kurzerhand mit privaten Mitteln den Pavillon du Réalisme aus dem Boden stampfte, in dem abgelehnte Verfechter des neuen Realismus ausstellen konnten. Berühmt und berüchtigt wurde er neun Jahre später mit seinem fotorealistischen Skandalbild einer nackten Frau mit gespreizten Schenkeln, wobei er sich auf die behaarte Vulva im Grossformat konzentrierte: «Der Ursprung der Welt» (L’Origine du monde) hängt heute im Musée d’Orsay. Als man Courbet später doch noch das Kreuz der Ehrenlegion anbot (zusammen mit Honoré Daumier) lehnten beide ab, weil sie die Ansicht vertraten, dass der Staat keinen Einfluss auf künstlerische Belange nehmen sollte.

Höchste Anerkennung erhielt der Mathematiker und Astronom Urbain Leverrier, der am 19. Februar 1855 der Pariser Akademie der Wissenschaften die erste Wettervorhersage vortrug. Seine Prognose basierte auf telegrafisch eingeholten Wetterinformationen aus aller Welt und gilt als Geburtsstunde der Meteodienste. Denn seine Prognose war – richtig.

#chronos (1957)

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«Wissen Sie, was heute für ein Tag ist, Colonel?»

«Ich habe leider den Überblick verloren.»

In dem mit sieben Oscars ausgezeichneten Kriegsfilm von David Lean spielten William ­Holden und Alec Guiness die Hauptrollen. Der Film war umstritten. Die einen kritisierten die Darstellung bedingungsloser Pflichterfüllung, die anderen glaubten, feine Ironie zu erkennen («Wie stirbt man nach Vorschrift?»). Der Militärmarsch, den die Kriegsgefangenen pfiffen, wurde weltweit ein Hit und in Werbung und Coverversionen mit ironischen Texten verballhornt.

1957 erklärt US-Präsident Dwight D. Eisen­hower vor dem Kongress seine Eisenhower-­Doktrin, wonach Amerika alle Länder im Nahen Osten gegen kommunistische Expansionsgelüste verteidigen müsse. Die Staatschefs von Ägypten, Jordanien, Syrien und Saudi-Arabien lehnten diese Einmischung ab und beschlossen eine «Aktive Neutralität».

Ärger hatte Eisenhower auch im eigenen Land. Als Orval Faubus, der Gouverneur von Arkansas, trotz offizieller Aufhebung der ­Rassentrennung durch den obersten Gerichtshof, neun schwarze Schüler am Betreten der Highschool in Little Rock hinderte, und dafür sogar Nationalgardisten aufbot, schickte Eisenhower die 101. Luftlande­division und entzog dem ­Gouverneur sämtliche Polizei- und ­Armeeeinheiten.

In Algerien wüteten die französischen Fremdenlegionäre mit systematischen Entführungen, Folterungen und abscheulichen Exekutionen und brachten sogar die französische Öffentlichkeit gegen sich auf. Jean-Jacques Servan-Schreiber, ein ehemaliger Leutnant der französischen Armee, hatte als Chefredakteur von

L’Express die Zustände in ­zahlreichen Artikeln und in seinem Buch «Lieutenant en Algérie» kritisiert. Gegen ihn wurde von einem Pariser ­Militärgericht ein Verfahren eröffnet. Einmal mehr sollte nicht der Verursacher, sondern der Überbringer der Nachricht bestraft werden.

Um Gerechtigkeit ging es auch in Sidney Lumets Justizdrama «12 Angry Men» (zu Deutsch «Die zwölf Geschworenen») mit Henry Fonda und Lee J. Cobb in den Hauptrollen. Obwohl als Kammerspiel inszeniert, wurde der Film wegen seiner psychologischen Feinzeichnung ein Welterfolg und gilt heute nicht nur als Klassiker, sondern auch als Beispiel für das Verhalten von Individuen im einem gruppendynamischen Prozess.

Auch in der Deutschen Demokratischen ­Republik (DDR) gab es gruppendynamische ­Prozesse. Immer mehr Menschen flohen aus dem sozialistischen Paradies. Um den Verlust wertvoller Arbeitskräfte zu verhindern, wurde «Republikflucht» unter Strafe gestellt. Doch die Jugend­lichen wollten lieber im kapitalistischen Westen in spitzen Lederstiefeletten und schwarzen Leder­jacken Rock’n’Roll tanzen statt «Auferstanden aus Ruinen» (Nationalhymne) singen.

In Westdeutschland (BRD) fanden die Wahlen zum 3. Deutschen Bundestag statt. Konrad ­Adenauer machte die weit verbreite Altersarmut zum Wahlkampfthema. Nach dem Zweiten ­Weltkrieg war die Kapitalbasis der Renten­versicherung zerronnen, die Löhne dank des ­Wirtschaftswunders gestiegen, die Kluft zwischen Berufstätigen und Rentnern immer grösser ­geworden. Adenauer gewann die Wahlen mit dem Versprechen, die «dynamische Leistungsrente» einzuführen. Kaum wiedergewählt, vergass er die versprochene Rentenerhöhung: «Was ­interessiert mich mein Geschwätz von gestern?» Kommt uns das bekannt vor?

Oscarwürdiger war der Song, den Doris Day in Alfred Hitchcocks Thriller «Der Mann, der zu viel wusste» sang. Das Lied ging um die Welt und wurde die Erkennungsmelodie der TV-Show von Doris Day: «Whatever will be, will be (que sera, sera)».

© Basler Zeitung; 30.09.2016

 

Neunzig Tage Anarchie

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© Die Weltwoche; 29.09.2016; Ausgaben-Nr. 39 Als PDF anschauen

Mit drastischen Mitteln sorgt der neue philippinische Präsident Rodrigo Duterte  in seinem von Korruption und Drogen verseuchten Land für Ordnung. Die Begeisterung für «Rody»  zieht sich durch alle sozialen Schichten. Von Claude Cueni

Man hat ihn nicht ernst genommen, den Major aus dem vernachlässigten Süden der Philippinen, als er seine Kandidatur für die philippinische Präsidentschaftswahl anmeldete. Doch Rodrigo «Rody» Duterte stahl den 129 Mitbewerbern vom ersten Tag an die Show. Auf dem Hochglanzmagazin Esquire Philippines posierte er wie ein südamerikanischer Revolutionär mit einem Schnellfeuergewehr im dichten Dschungel. «How to be a man» war der Titel. Im Interview erklärte der Jurist und ehemalige Staatsanwalt, dass er als Präsident genau das tun werde, was ihm in seinen 22 Amtsjahren als Bürgermeister von Davao City gelungen ist: Mit Hilfe von Todesschwadronen hat er die kriminellste Stadt der Philippinen zur sichersten des Landes gemacht. Er hat nichts verheimlicht: «Falls ich Präsident werde, töte ich nicht 500, sondern 100 000. Und die korrupten Politiker in Manila werde ich auch töten und ihre Leichen in die Manila Bay werfen, um die Fische zu füttern, so dass die Fische fett werden.»

Jeden Tag schockierte er die Medien mit sexistischen Sprüchen, Beleidigungen von Würdenträgern und Details zu seiner Anti-Kriminalität-Strategie. Die Financial Times nannte ihn «Dirty Harry», Al-Dschasira «The Punisher», aber auf den Philippinen wurde «Rody» Kult, er gilt als Rächer der Armen, der die korrupten Clans aus dem Malacañang-Palast vertrieben hat und nun im Dirty-Harry-Stil aufräumt. Fernsehsender melden, Nostradamus habe die Ankunft eines Erlösers prophezeit: Duterte. Sogar in japanischen Comics wird er als Actionheld verehrt.

Analystin Lourdes Tiquia nennt Dutertes Wahlsieg die einzige Alternative zum unglaublich korrupten Establishment. Carlos Conde von Human Rights Watch in the Philippines sieht Dutertes Wahl als Folge des totalen Zusammenbruchs von Recht und Ordnung.

«Disciplina Duterte»

Seit Dutertes Amtsantritt am 1. Juli wurden bereits über 3000 mutmassliche Kriminelle aussergerichtlich erschossen. (In den hundert Tagen zuvor waren es 36.) Die neue Regierung meldet eine Reduktion der Kriminalitätsrate um 49 Prozent. 720 000 Drogendealer und -süchtige haben sich freiwillig gestellt, aus Angst, erschossen zu werden. Ronald dela Rosa, Generaldirektor der Philippine National Police (PNP), sagt, dass seine 160 000 Polizeibeamten seit Dutertes Amtsantritt insgesamt 850 000 Hausdurchsuchungen durchgeführt und 15 700 Drogenhändler verhaftet haben. Dabei seien 1466 Personen getötet worden. Die übrigen 1490 Toten seien das Werk von Bürgerwehren und rivalisierenden Drogengangs.

Die unglaublich hohe Zahl an Verhaftungen von Bürgermeistern, Gouverneuren, Polizeioffizieren, Richtern und Staatsanwälten zeigt, wie verfault das gesamte Staatswesen ist; vom einfachsten Polizisten bis zum obersten Richter scheint alles auf der Lohnliste der mexikanischen und chinesischen Drogensyndikate zu stehen. Selbst Leila de Lima, die Justizministerin der abgewählten Regierung Aquino III., war Teil der Drogenmafia und warnte jeweils vor bevorstehenden Polizeieinsätzen. Sie tanzte auf den Partys der Drug Lords und liess den Drogenknast New Bilibid in eine luxuriöse Kommandozentrale des philippinischen Drogenhandels umbauen. Hinter den Zuchthausmauern war «Roxas Boulevard»: Es gab dort Drogen, Alkohol, ein Casino, einen Nachtklub, Hahnenkämpfe, eine Sauna und ein Bordell. Leila de Lima kassierte insgesamt umgerechnet 1,4 Millionen Franken, 60 000 im Monat. Dafür müsste ein Polizist, der 300 Franken im Monat verdient, sechzehn Jahre lang arbeiten. Fünf verhaftete Polizeigeneräle (Monatseinkommen: 1000 Franken) erhielten für ihre Komplizenschaft je 7 Millionen Franken im Jahr. Über 100 000 Staatsbeamte sind am Drogenhandel beteiligt. Sie wohnen in luxuriösen Villen, die von Bodyguards bewacht werden. Hinter den Palästen vegetieren Menschen im Elend. Laut Unicef zählen die Philippinen zu den zehn Ländern weltweit, die die höchste Anzahl fehlernährter Kinder unter fünf Jahren haben. 22 Millionen Menschen sind täglich von Hunger betroffen, fast die Hälfte der 110 Millionen Einwohner verdient weniger als einen Dollar pro Tag. Das Drogenproblem hat epidemische Ausmasse erreicht, 3,7 Millionen Süchtige beschaffen sich täglich mit Raubüberfällen und Morden das Geld für Shabu, einen billigen Verschnitt von Crystal Meth.

Die Menschen sind traumatisiert. Sie hatten die Wahl zwischen Pest und Cholera, sie haben einen «Punisher» gewählt, der tut, was er sagt: «Diese Hurensöhne zerstören unsere Kinder, falls ihr einen kennt, geht hin und tötet ihn, es wäre zu schmerzhaft, wenn es die Eltern tun müssten.» Selbst als der 71-Jährige Zivilisten eine licence to kill erteilte und das staatliche Gewaltmonopol teilweise an den Mob der Strasse abtrat, wurde Duterte weiterhin wie ein Popstar gefeiert. Seine 16,6 Millionen Wähler nehmen das Abrutschen in die Anarchie bewusst in Kauf, weil sie glauben, dass dies nur vorübergehend sein wird. Sie sagen, man spüre abends in den Strassen bereits die «Disciplina Duterte», es sei merklich ruhiger und friedlicher geworden. In den sozialen Medien wird jeder erschossene Drogenbaron gefeiert. Jedes «Fuck you», jedes «Son of a Bitch», jedes «I kill you» wird unzählige Male gelikt und geteilt, die User fordern mittlerweile die Todesstrafe für Drogenhändler und beschimpfen die Moralisten aus dem Westen: «Hatten die USA, die Uno oder die EU in den letzten 50 Jahren jemals Mitleid mit der hungernden Bevölkerung?» Die Begeisterung für «Rody» zieht sich durch alle sozialen Schichten. In der letzten Umfrage von Pulse Asia gaben 91 Prozent der Befragten an, grosses Vertrauen in ihren neuen Präsidenten zu haben.

180-Grad-Pirouetten

Duterte redet oft über das Kriegsrecht und nennt den Diktator Ferdinand Marcos den besten philippinischen Präsidenten aller Zeiten. Er beteuert immer wieder, dass er nicht Diktator werden will, beteuert es so oft, dass langsam der Eindruck entsteht, er prüfe die Stimmung im Volke. Manchmal droht er damit, manchmal besänftigt er. Die permanente Meinungsänderung ist die einzige Konstante.

Während des Wahlkampfes hat Duterte freimütig gestanden, er leide unter einer bipolaren Störung. Der damalige Vizepräsident Binay hatte ihm nach jeder verbalen Entgleisung empfohlen, sich in die Psychiatrie einweisen zu lassen. Verteidigungsminister Delfin Lorenzana und Aussenminister Perfecto Yasay haben mittlerweile alle Hände voll zu tun, um die 180- Grad-Pirouetten ihres Präsidenten zu erklären. Aber wie soll man einen Mann kontrollieren, der sich selbst nicht unter Kontrolle hat?

Wer unter einer bipolaren Störung leidet, hat zahlreiche Gesichter:

1 _ Duterte der Antichrist, macht die katholischen Bischöfe, diese «heuchlerischen Hurensöhne», für die Überbevölkerung und die damit verbundene Massenarmut verantwortlich. Er propagiert Sexualaufklärung und die Dreikindfamilie.

2 _ Duterte der Umerzieher, zieht Karaoke- Anlagen nach 22 Uhr den Stecker und sammelt minderjährige Kinder, Betrunkene und Männer mit nacktem Oberkörper ein. Wer grundlos hupt, was eigentlich alle tun, wird bestraft.

3 _ Duterte der Reformer, plant ein föderalistisches Staatsmodell nach Schweizer Vorbild und die Inbetriebnahme des stillgelegten Atomkraftwerkes Bataan, das nie eine Wattstunde Strom produziert hat. In Metro Manila gibt es die ersten kostenlosen Strassenküchen für Arme.

4 _ Duterte der Nationalist, Lapu-Lapu, der Wilhelm Tell der Philippinen, soll wieder ein nationaler Held werden, ausländische Kultureinflüsse sollen gestoppt, Dialekte gefördert und Songs wieder auf Tagalog gesungen werden.

5 _ Duterte der Sozialist, im O-Ton: «Stop contractualization or I will kill you.» Wen will er eigentlich nicht töten? Mit «contractuals» sind ungelernte Temporärarbeiter ohne Arbeitsverträge und mit Tagespauschalen von vier Dollar gemeint.

6 _ Duterte der Anti-Amerikaner. Er fordert die 107 US-Soldaten in Zamboanga City auf, das Land zu verlassen, und bestellt sein neues Kriegsmaterial in China, Japan und Russland.

Die USA werden nicht mehr lange tatenlos zusehen. Die Philippinen sind der wichtigste Standort für die Abhörstationen der National Security Agency (NSA) im pazifischen Raum. Sie brauchen die Drohnenlandeplätze in Mindanao, um den IS, der dort ein Kalifat ausrufen will, zu stoppen.

Vor wenigen Tagen besuchte Duterte Camp Tecson in Bulacan und übergab den Militärs eine explosive Liste mit den Namen von über tausend verdächtigen, ranghohen Staatsangestellten. Er deutete an, dass er möglicherweise seine sechsjährige Amtszeit nicht überleben werde. Die milliardenschweren Familienclans sind teilweise mit den Drogenbaronen verbandelt, die wiederum mit den Bombenlegern und Auftragskillern der Sayyaf-Terroristen zusammenarbeiten, die wiederum ihre Bestände mit zurückkehrenden IS-Kämpfern aufstocken.

Einer von Dutertes Leibwächtern wurde bereits mit Kopfschüssen niedergestreckt. In Dutertes Heimatstadt Davao riss eine Bombe im letzten Monat 15 Menschen in den Tod. Auf dem Awang-Flughafen wurden Vizebürgermeister Abdul Wahab Safal und seine Leibwächter verhaftet. Sie stehen im Dienst der Drogenkartelle und hatten eine Bombe im Gepäck. High Noon für einen Nationalsozialisten?

© Die Weltwoche; 29.09.2016; Ausgaben-Nr. 39

Michel Perricone, Autor der SRF Doku über Claude Cueni

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Michael Perricone, Autor der SRF Doku »Selbstmitleid ist Zeitverschwendung«, 22 min.

Claude Cueni hat als Schweizer Schriftsteller international Erfolg mit seinen historischen Romanen über Henker, Räuber und Römer. Der heute 60jährige erfindet Geschichten seit einem Kirchenbesuch in früher Kindheit. Seine grösste Geschichte aber ist die seines eigenen Lebens.

Link auf bebilderten Beitrag SRF / mit Filmtrailer

http://www.srf.ch/sendungen/dok/schicksal-pfeiff-drauf

 

Zum Autor

Ironie? Schicksal? Einfach purer Zufall, würde Claude Cueni sagen und die Sache nicht weiter deuten. Jedenfalls nahm ich nach einer Operation im Spitalbett liegend seine Autobiographie «Script Avenue» zur Hand, die ich mir vor längerer Zeit besorgt hatte. Zwar wusste ich, dass der Cueni mal ziemlich krank war, aber dass er sein Leben selber im Spitalbett liegend niederschrieb, buchstäblich auf den Tod wartend, das wusste ich nicht.

Und dann diese Offenbarung: so kraftvoll, witzig, selbst- und schonungslos haben wohl nur wenige Autoren ihre Lebensgeschichte niedergeschrieben. Die 640 Seiten haben mir meinen zweitägigen Spitalaufenthalt zum Erlebnis gemacht. Ich kontaktiere Cuenis Verlegerin Gabriella Bauman-von Arx und lerne einige Monate später den Schriftsteller kennen.

 

Sarkastisch und scheu

Wie alle muss ich mir, zu Besuch bei Cueni in Allschwil/BL, zuerst die Hände desinfizieren. Zwar ist er auf einem zuversichtlichen Weg der Genesung, aber noch ist sein Körper nach den Anti-Leukämitherapien und der Knochenmark-Transplantation äusserst schwach und anfällig. Ich lerne einen bescheidenen Mann kennen, dessen klare Ansichten über das Leben und die Welt scharf mit seinem zurückhaltenden Auftreten kontrastieren. Für mich macht das den Menschen und Autoren Cueni nur noch interessanter. Kraftvolle Sprache, Sarkasmus und schonungslose Offenheit im Buch – scheu und eher schüchtern als reales Gegenüber.

Und Cueni sagt zu, ohne Wenn und Aber. Ohne Wenn und Aber heisst, dass er alles mitmacht, was ihm gesundheitlich möglich ist. Cueni hat nur noch einen Teil seiner Lunge, ist deshalb schnell erschöpft, was ihn immer wieder ärgert. Ohne Wenn und Aber heisst, dass er mit mir «zurück» reist nach Boncourt/JU in jene Kirche, die ihn zum Geschichtenerzählen inspirierte – eine Reise, die viele unschöne Erinnerungen weckt. Ohne Wenn und Aber heisst auch, dass er mir kaum einen Wunsch ausschlägt, mich machen lässt und mir grosses Vertrauen entgegen bringt.

 

Etwas tun fürs Glück

Vertrauen auch, was meine filmische Vision für diesen «Reporter» betraf. Ein Autor lebt von seiner Phantasie, seinen Ideen, seinen Texten – all das lässt sich schlecht filmen, lässt sich nicht einfach so in Bildern erzählen. Deshalb habe ich mir eine besondere Form ausgedacht, um Cuenis Schöpfungskraft als Autor – seine «Script Avenue», wie er es nennt –, visuell darzustellen. Ohne zu wissen, was auf ihn zukommt, hat sich Claude Cueni auch diesen mehrstündigen Dreharbeiten «unterzogen».

Ich habe einen beeindruckend starken Menschen erlebt, der weiss, was er in seinem Leben will. In unseren vielen Gesprächen hat Claude etwas immer wieder betont: Das Leben ist nicht gerecht. Wenn man das akzeptiert und etwas für sein eigenes Glück tut, dann können trotzdem Träume wahr werden.

Diesen Gedanken habe ich, analog zu Cuenis Buch «Script Avenue», zum Leitmotiv dieser filmischen Biographie gemacht.

Film von Michael Perricone, Schweizer Fernsehen, SRF, Sonntag, 18. September, 21.40 Uhr

#chronos (1930)

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Was hat Joe Cocker mit Ricola zu tun? Im Jahre 1930 gründete der Bäckermeister Emil ­Richterich in Laufen (BL) die Confiseriefabrik Richterich & Compagnie und entwickelte die ­ersten Bonbons, die er vorerst nur in der Region verkaufte. Heute verschickt die Ricola AG in der dritten Generation ihre Produkte in über 50 Länder. Ein besonderes Kompliment erhielten die Kräuterbonbons von Joe Cocker: «Meine Stimme ist nach fünf Minuten ruiniert, wie willst du anschliessend noch fünfunddreissig Konzerte geben?» Der Mann mit der Reibeisenstimme gestand, er würde seine Stimme mit Ricola- ­Kräuterbonbons kurieren, «With A Little Help From My Friends» erlangte damit eine ganz neue Bedeutung.

1930 erschien im Kino «Im Westen nichts Neues», eine Verfilmung des Antikriegsromans von Erich Maria Remarque. Das Buch schildert die Schrecken des Ersten Weltkrieges aus der Sicht eines jungen Soldaten. Da viele Kinos damals noch nicht für den Tonfilm eingerichtet waren, kam der Streifen sowohl als Stummfilm als auch als Tonfilm in die Filmtheater. Louis Wolheim («Seine Fresse ist sein Kapital») spielte den harten Kerl Katczinsky. Nach Abschluss der Dreharbeiten verstarb der 50-­jährige Wolheim infolge einer brachialen Abmagerungskur, die er für seinen nächsten Film begonnen hatte.

Während noch die Wunden des Ersten Weltkrieges aufgearbeitet wurden, zerbrach im September 1930 Deutschlands Grosse ­Koalition und die National­sozialistische Deutsche ­Arbeiterpartei (NSDAP) wurde zweitstärkste Partei. Sie hatte ihren Stimmenanteil von 810 000 (1928) schlag­artig auf 6,4 Millionen gesteigert. Nach der Hyperinflation und der Weltwirtschaftskrise der 20er-Jahre hatten ­verfassungsfeindliche Parteien wie die NSDAP und KPD die Wähler radikalisiert und den Weg für Adolf Hitler freigemacht.

Sigmund Freud schrieb in seinem 1930 erschienen Klassiker «Das Unbehagen in der ­Kultur»: «Die Menschen haben es jetzt in der Beherrschung der Naturkräfte so weit gebracht, dass sie es mit deren Hilfe jetzt leicht haben, einander bis auf den letzten Mann auszurotten».

1930 übernahm Haile Selassie («Macht der Dreifaltigkeit») die Herrschaft über Äthiopien. Er nannte sich ganz unbescheiden König der Könige und hielt sich für den 225. Nachfolger von König Salomon. Da ihm der Machterhalt wichtiger war als die Anliegen der Bevölkerung, kam es in den 70er-Jahren infolge einer Nahrungsmittel­knappheit zu gewaltsamen Protesten. Sie ­endeten mit einem Militärputsch. Der spätere Diktator Mengistu Haile Mariam, der «Schlächter von Addis», liess den Leichnam Selassies unter einer Toilette einmauern.

Die Entdeckung des Zwergplaneten Pluto ­inspirierte den Zeichner Norman Ferguson. Er nannte den tolpatschigen Hund, den er gerade für die Disney Studios entwickelte, «Pluto». Sein erster Auftritt hatte der virtuos animierte Pluto 1930 in der Micky-Maus-Episode «The Chain Gang», in der er als Spürhund die Fährte eines entflohenen Sträflings aufnehmen muss. Der ­einzige Dialog, den Pluto jemals sprach, war: «Kiss me.»

Mercedes-Benz brachte den luxuriösen ­«Grossen Mercedes» auf den Markt, den Typ 770, den sich kaum jemand leisten konnte. In acht Jahren wurden gerade mal 117 Fahrzeuge ­produziert. Gekauft wurde die repräsentative Staatskarosse von Reichspräsident Hindenburg, dem japanischen Kaiser Hirohito, Adolf Hitler und den Vertretern der «Kirche der Armen»: Papst Pius XI. und Papst Pius XII. Weniger Erfolg hatte der britische Automobilhersteller Bentley. Die Entwicklungskosten für seine Luxuskarosse trieben ihn in den Ruin.

© Basler Zeitung; 16.09.2016

Im siebten Jahr der Nachspielzeit

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Wie geht es dem Basler Autor Claude Cueni, dessen Leben von Krankheit und Tod geprägt ist? SRF-„Reporter“ sucht Antworten. © Tele; 14.09.2016; Nr. 38; Seiten 12 – 14

Text: Miriam Zollinger, Fotograf: Sebastian Magnani

Leider kann ich Sie nicht mit dem Auto abholen, da ich nicht mehr Auto fahre – den Fussgängern zuliebe …“ Die Begegnung mit einem, der so viel erlitten hat, ruft gemischte Gefühle hervor. Zum ersten, aber nicht letzten Mal nimmt ihnen Claude Cueni mit feinem Witz die Spitze.

Die Türe unten öffnet sich surrend, bevor die Klingel gedrückt ist, die obere steht bereits offen. Zuerst Hände desinfizieren, dann ins geräumige Wohnzimmer, das trotz dunklen Möbeln sehr hell ist, und am schweren Holztisch auf ebenso schweren Stühlen Platz nehmen. iPhone, iPad und Notebook liegen neben ihm, werden vom Schriftsteller aber konsequent ignoriert, als sie sich während des Gesprächs bemerkbar machen.

„Ich trinke mein Magnesium“, informiert Cueni über den Inhalt eines gelben Wässerchens, offeriert zum Glück aber andere Getränke, rührt die Amaretti und Biberli auf dem Teller in der Tischmitte selber nicht an. Sie wären mehr Zvieri als Znüni für ihn: Sein Tag beginnt in der Nacht, er ist seit 2.30 Uhr auf den Beinen. Nervenschmerzen. Immerhin, die Spasmen, die ihn heimzusuchen pflegten, sind Vergangenheit.

Wenn er früher, von Krämpfen geschüttelt – er fuchtelt zur Verdeutlichung mit verdrehten Armen in der Luft herum – an der Hand von Dina, seiner zweiten Frau, in der Stube umherging, habe er jeweils zu den antiken Götterfiguren, die auf der Vitrine beim Esstisch thronen, hochgeschaut und habe sie angerufen: „Ihr Arschlöcher, konntet ihr euch nichts Besseres einfallen lassen?“ Man entwickelt so eine Art Galgenhumor. „Hauptsache, es hilft.“ Er versucht die schmerzhafte Erinnerung wegzulachen.

Nun will er wissen, wie der „Reporter“-Dok gefällt, für den er nochmals in die Vergangenheit reiste: die harte Kindheit und Jugend, die Behinderung des Sohns, der Krebstod der ersten Frau, die eigene Erkrankung. Erinnerungen, die er sich im autobiographischen Roman „Script Avenue“ von der Seele schrieb. Die er aufschrieb, um darüber das Sterben zu vergessen. Muss schmerzhaft gewesen sein, nicht? „Für mich war es abgeschlossen mit dem Buch, vergleichbar mit einer 90-Grad-Wäsche und anschliessendem Tumblern.“ Nein, er habe keine Ressentiments, wenn er an jene denke, die ihm als Kind das Leben schwermachten. „Abgesehen vom Tod meiner Frau, der natürlich nicht, das wühlt mich immer noch auf.“ Er hält kurz inne.

„Nachspielzeit“, nennt er sportlich sein Leben nach der Leukämie, sie läuft bereits im siebten Jahr. Doch zweieinhalb Jahre nach der Knochenmarktransplantation trat eine chronische Abstossreaktion auf, 60 Prozent der Lunge starben ab. Die Behandlung hinterlässt Spuren. „Das Cortison bläst mich auf, der Bauch ist nicht vom Essen. Aber es sind nur noch 12 Pillen pro Tag.“ Was blieb: die grosse Müdigkeit. „Die Batterien füllen sich nicht mehr. Ich lebe immer noch unter dem Damoklesschwert, aber keiner weiss, ob’s runterfällt, deshalb fokussiere ich auf andere Sachen.“ Etwa was seine Frau zum Mittagessen koche. Langes Lächeln.

Ja, er hat Bekannte und auch Freunde verloren, sie mit seinem Leiden überfordert. „Man stirbt, bevor man tot ist“, beschreibt der 60-jährige Basler seine Isolation. „Heute fühle ich mich mehr angezogen von Menschen, die Ähnliches wie ich erlebt haben. Man weiss, wovon der andere spricht.“ Dass nicht alle mit Krankheit und Tod umgehen können, verstehe er natürlich, das sei bei uns nicht mehr so selbstverständlich wie früher, in der Welt seiner historischen Romane. „Dabei muss man ja nicht grosse philosophische Diskurse führen, sondern einfach da sein. Wie ein Hund.“

Drei Mal hat er in den letzten Jahren gedacht, es sei endgültig fertig. „Das ist etwas, das dich nicht mehr richtig ins Leben zurückfinden lässt. Man ist wie einer, der den Koffer gepackt hat und wartet.“ Aber, Cueni strahlt, es gehe ihm besser, er habe Freude, nun wieder ohne Mundschutz ins Kino sitzen zu können. „Und Drämmli faare oder in Coop goo – wunderbar.“

Gerade heute habe er in seiner Euphorie einen Flug gebucht, nach Edinburgh, wo einer seiner historischen Helden lebte. „Ich habe mir immer vorgenommen, wenn ich das überlebe und wieder fliegen darf, das Haus von John Law zu besuchen.“ Und Ende Jahr geht’s vielleicht endlich auf die Philippinen, sofern es die politische Situation erlaubt. Über die Heimat seiner Frau sinniert er länger, dann fällt ihm noch etwas ein. Ja, gern würde er auch Kuba bereisen, wegen der Musik. Er sei auch neugierig aufs Essen, auf die Menschen und natürlich fasziniert von der Kulisse. „Gibt es einen besseren Beweis für eine gescheiterte Nation?“

Dieser Tage erscheint nun „Godless Sun“, sein Roman über Aberglauben und Religion. Es sei sein bester, fand der chinesische Übersetzer. In kürzester Zeit ist der Trailer zum Buch über 16 553 Mal geteilt worden, schmunzelt Claude Cueni. „Sie sehen, ich habe auch Glück im Leben.“

Als der Roman fertig war, hat er Frau und Sohn zwar den ganzen Sommer hindurch erklärt, warum er jetzt keine Bücher mehr schreibt („ich möchte mehr reisen“), und trotzdem ist jetzt plötzlich wieder etwas entstanden, auf bislang 50 Seiten. „Ich wollte wirklich nicht.“ Ein Thema, das sich nicht aufdrängte, das noch keiner behandelt habe. Mehr verrät er nicht.

Aber auch ohne den Inhalt zu kennen, sind die 50 Seiten insofern bemerkenswert, als er den angefangenen Roman zur Seite gelegt hat und nun pausiert. Schreiben, um das Sterben zu vergessen, scheint im Moment nicht mehr an erster Stelle zu stehen.

„Schriftsteller neigen dazu, sich zu überschätzen, sind Egoisten und Narzissten.“ Das findet er grauenhaft, „denn ich bin in der Meinung aufgewachsen, dass ich nichts Besonderes bin und habe das stark verinnerlicht“. Prägten ihn Kindheit und Jugend also noch mehr als die Krankheit? Er überlegt. „Die Jugend hat mich gelehrt, dass das Leben nie gerecht ist.“ Und dass man etwas leisten muss, wenn man etwas erreichen will. Die Krankheit, die liess ihn gelassener werden. „Man kann sich nicht jahrelang ängstigen, das ist sinnlos, aber zum Teil ist diese Gelassenheit nahe an der Gleichgültigkeit.“ Er nehme die Realität so zur Kenntnis, wie sie ist.

Wenn man so eine Diagnose wie er erhält, kann man nicht sagen: „Das ist keine Leukämie, ich habe gestern wohl eine schlechte Pizza gegessen.“ Seither legt er den Fokus auf Fakten. „Meinungen interessieren mich nicht mehr. Wer überall beliebt sein will, muss am Morgen im Bett bleiben.“ Apropos: Bald komme seine Frau mit einer Kollegin von der Arbeit, ob man zum Essen bleiben wolle? Bei Tisch werde viel geredet, wie unter Filipinas üblich. Viel verstehe er zwar nicht, schwierige Sprache, dieses Tagalog, aber ein paar Sätze könne er schon, liefert sogleich eine Kostprobe und übersetzt: „Dina, ich liebe dich. Gibt es Frühlingsrollen heute?“

Wie gesagt: Claude Cueni legt im siebten Jahr seiner Nachspielzeit den Fokus auf andere Sachen.

„Man kann nicht einfach sagen, das ist keine Leukämie, ich habe gestern wohl eine schlechte Pizza gegessen.“

Cueni schrieb 14 Romane und über 50 Drehbücher. „Ich kann nichts anderes.“

Für „Script Avenue“ erhielt Claude Cueni den Golden Glory 2014 („meine erste Auszeichnung nach 40 Jahren Schreiben“). „Godless Sun“ ist sein neuster Roman.

„Reporter“

„Script Avenue – Selbstmitleid ist Zeitverschwendung“, SO, 18. 9., 21.40 Uhr, SRF 1.