#chronos (1972)

Unknown«Mein Na­me ist Moe Green! Ich hab schon den Ers­ten um­ge­bracht, als du noch in den Win­deln lagst!» Die ers­te Fol­ge der Tri­lo­gie «The God­fa­ther» kam 1972 in die Ki­nos. Pa­ra­mount hat­te dem Schrift­stel­ler Ma­rio Pu­zo die Film­rech­te an sei­nem gleich­na­mi­gen Ro­man für 12 500 US-­Dol­lar ab­ge­kauft und den da­mals 31-jäh­ri­gen Fran­cis Ford Cop­po­la mit ei­nem Bud­get von sechs Mil­lio­nen be­traut. Der Film wur­de mit Mar­lon Bran­do in der Hauptrol­le ein Mei­len­stein der Film­ge­schich­te und spiel­te bis heu­te über ei­ne Vier­tel­mil­li­ar­de ein. Ei­ni­ge mein­ten, der Film sei «der bes­te Wer­be­spot für die Ma­fia, der je ge­dreht wur­de». Als kürz­lich der Sarg des Ma­fia­bos­ses ­Vit­to­rio Ca­sa­mo­ni­ca in ei­ner gol­de­nen Kut­sche durch die Stras­sen Roms ge­führt wur­de, er­schall­te der So­undtrack «The God­fa­ther» und em­pör­te die ita­lie­ni­sche Pres­se.

Einen «Bloo­dy Sun­day» er­leb­ten auch 13 un­be­waff­ne­te Zi­vi­lis­ten, die bei ei­ner De­mons­tra­ti­on in Nordir­land von bri­ti­schen Fall­schirm­jä­gern er­schos­sen wur­den. Blu­tig gin­gen auch die ­Olym­pi­schen Som­mer­spie­le in Mün­chen zu En­de. Mit­glie­der der pa­läs­ti­nen­si­schen Ter­ro­r­or­ga­ni­sa­ti­on «Schwar­zer Sep­tem­ber» hat­ten elf is­rae­li­sche Sport­ler des Olym­pia-Teams als Gei­seln ge­nom­men und die Frei­las­sung von 232 Pa­läs­ti­nen­sern ge­for­dert. Bei der ver­such­ten Gei­sel­be­frei­ung ka­men al­le Gei­seln, fünf Ter­ro­ris­ten und ein ­Po­li­zist ums Le­ben.

Un­blu­tig en­de­te die ­Ent­füh­rung ei­nes Jum­bo-Jets von Frank­furt in den Süd­je­men. Die ara­bi­schen Ter­ro­ris­ten er­hiel­ten fünf Mil­lio­nen Dol­lar Lö­se­geld und ­ani­mier­ten wei­te­re Ter­ror­grup­pen zu Flug­zeu­gent­füh­run­gen. In Deutsch­land wur­den mit An­dre­as Baa­der und Ul­ri­ke Mein­hof der Kopf der «Ro­ten Ar­mee Frak­ti­on» ver­haf­tet.

Doch das männ­li­che Ge­schlecht in­ter­es­sier­te sich mehr für das Ma­ga­zin ­Play­boy, das erst­mals in ei­ner deut­schen Aus­ga­be auf den Markt kam, ob­wohl be­reits die ame­ri­ka­ni­sche Aus­ga­be nicht sehr text­las­tig war.

In den USA be­herrsch­ten Vi­et­nam­krieg und Wa­ter­ga­te-Af­fä­re die Schlag­zei­len. In Wa­shing­ton wa­ren fünf Ein­bre­cher beim Ver­such ver­haf­tet wor­den, in das Haupt­quar­tier der De­mo­kra­ti­schen Par­tei ein­zu­bre­chen, um Ab­hör­wan­zen zu in­stal­lie­ren und Do­ku­men­te zu fo­to­gra­fie­ren. Den an­sch­lies­sen­den Ver­tu­schungs­ma­nö­vern und ­Jus­tiz­be­hin­de­run­gen durch die Ni­xon­re­gie­rung folg­ten wei­te­re Ent­hül­lun­gen: Il­le­ga­le Par­tei­spen­den, Ver­kauf von Bot­schaf­ter­pos­ten und Re­gie­rungs­be­schlüs­sen, Steu­er­hin­ter­zie­hun­gen des Prä­si­den­ten.

Die 70er-Jah­re wa­ren das se­xu­ell ­frei­zü­gigs­te Jahr­zehnt des 20. Jahr­hun­derts, bis Ai­ds 1981 der frei­en Lie­be ein En­de setz­te. Ero­tik do­mi­nier­te auch die US-Charts des Jah­res 1972: Chuck Ber­ry be­sang sein «Ding-A-Ling», die ­bri­ti­sche Rock­band The Sweet ih­ren «Litt­le Wil­ly», Neil Young war im­mer noch auf der Su­che nach ei­nem «He­art of Gold», wäh­rend Gil­bert ­O’Sul­li­van «Alo­ne Again» war.

Die «Gren­zen des Wachs­tums» war kein neu­er Best­sel­ler des da­mals po­pu­lä­ren Se­xon­kels und Best­sel­ler­au­tors Os­walt Kol­le über die erek­ti­le Dys­funk­ti­on, son­dern ein Sach­buch des ­re­nom­mier­ten «Club of Ro­me». Füh­ren­de ­Wis­sen­schaft­ler aus 30 Län­dern hat­ten ein ­düs­te­res Bild un­se­rer Zu­kunft pro­gno­s­ti­ziert: Die Re­vo­lu­ti­on von In­ter­net und Mo­bi­les hat­ten sie zwar nicht vor­aus­ge­se­hen, aber das Auf­brau­chen der welt­wei­ten Roh­stof­fe durch un­ge­zü­gel­tes Wirt­schafts­wachs­tum. Nebst Dür­ren bib­li­schen Aus­mas­ses, soll­te auch die west­li­che Au­to­mo­bil­in­dus­trie durch ja­pa­ni­sche Bil­li­gim­por­te zer­stört wer­den. Ein klei­ner Trost war im­mer­hin, dass wir im Jah­re 2010 eh kei­nen Trop­fen Erd­öl mehr ha­ben wür­den. Wann ha­ben Sie ei­gent­lich das letz­te Mal ge­tankt?

Clau­de Cue­ni ist Schrift­stel­ler und lebt in Ba­sel. www.cue­ni.ch

© Basler Zeitung, 25.9.15

Leben in der Nachspielzeit

Die Weltwoche – 17. September 2015
 

Eigentlich sollte ich längst tot sein. Mein Gesundheitszustand war hoffnungslos. Also habe ich  das Haus verkauft, viele Besitztümer verschenkt. Dass ich noch am Lebenbin, macht mich ratlos.  Von Claude Cueni

Im Januar werde ich sechzig, über dieses Datum ging meine Lebensplanung nie hinaus. Niemand hielt es für möglich, dass ich zuerst die Leukämie und dann noch die Folgen der Knochenmarktransplantation überlebe. Jetzt bin ich einigermassen ratlos, weil ich wider Erwarten noch am Leben bin. Ich habe keine Pläne, mein Koffer war schon gepackt.

Ich hatte mein Haus verkauft, meine DVD-Sammlung verschenkt, die meisten Zeitungsabonnemente gekündigt, ich hatte mit Exit und Lifecircle gesprochen – warten gehört nicht zu meiner Kernkompetenz. Ich hatte trotz negativer Erfahrungen fünfstellige Summen in die Dritte Welt geschickt, Hilfe zur Selbsthilfe und so, gebracht hat es gar nichts. Ich habe meine Autorenexemplare verschenkt, denn wenn das Totenhemd keine Taschen hat, kann man wohl auch keine Bücherboxen mitschleppen, und heutige Särge sind doch ziemlich schmal, und in den Krematorien empfehlen sie für Bücher die Entsorgung als Altpapier. Zum Altpapier schmiss ich auch mein gesamtes Archiv, 48 Plastikboxen mit jeweils zehn Hängemappen, Romananfänge, Short Storys, Exposés und all die Texte, die im Jenseits eh keiner mehr lesen will.

Erotikbildchen unter der Kellertreppe

Ich habe noch alte Jugendfreunde und -freundinnen besucht, ähnlich wie Bill Murray in Jim Jarmuschs «Broken Flowers», die meisten kamen zu mir auf einen Kaffee und desinfizierten sich vor Betreten der Wohnung die Hände mit Sterilium. Die meisten hatte ich seit der Pubertät nie mehr gesehen, und das ist doch schon eine Weile her, so hoffe ich wenigstens. Wir sprachen über Fussball, die FCB-Arena und Karli Odermatt, wir sprachen über die Comics von Hansrudi Wäscher, Sigurd, Falk und die Erotikbildchen unter der Kellertreppe; ich traf auch frühe Liebschaften, aber sie konnten sich kaum noch an das erinnern, was uns damals wirklich Spass gemacht hat. Die meisten waren mittlerweile geschieden, einige hatten erwachsene Kinder, andere noch einen Hund.

Die fremden Knochenmarkzellen, die mich von der Leukämie geheilt hatten, hatte meine Lunge mittlerweile bis auf vierzig Prozent Restvolumen abgestossen, die Haut war mit dem Gewebe darunter verklebt und hatte die Gelenke versteift. Ich kenne mich ein bisschen aus mit Aktienmärkten und Charttechniken, der Trend auf demComputerausdruck des Lungenlabors war eindeutig negativ.

Ich war mittlerweile ein Sanierungsfall. Punktionen von Knochenmark, Leber, Lunge und hohe Kortisondosen empfand ich inzwischen als Konkursverschleppung. Als Firma hätte ich längst Insolvenz angemeldet und die Bilanz deponiert.

Am Samstag sass ich über Mittag oft mit meiner Frau im «Chez Donati», wir assen Scaloppine in «Purgatorio del Padrone». Die Kellner dachten, ich sei jetzt ganz gross im Geschäft, hätte Erfolg mit meinen Büchern, aber wir besprachen die Zeit danach. Es gibt Lebenspartner, die sich in Erwartung des bevorstehenden Single-Daseins emotional zurücknehmen, aber man kann sich weder schützen, noch kann man auf Vorrat trauern. Meine Frau ersparte mir dieses Gefühl des frühzeitigen Verlassenwerdens. Swerte, der unerschütterliche Optimismus der Filipinas, grenzt an Realitätsverweigerung, aber meine philippinische Nachtigall war entgegen allen medizinischen Prognosen überzeugt, dass ich überlebe. Ich legte einen Ordner an und beschriftete ihn mit «Day After»; ich schrieb alle Briefe, die sie später würde schreiben müssen, ich überlegte, ob ich jeweils schreiben sollte: «Ich bin heute gestorben und bitte Sie deshalb . . .», und meine Frau würde später noch das Datum einsetzen. Ja, wir mussten herzhaft lachen, als sie den Ordner durchblätterte. Den Humor haben wir nie ganz verloren.

Und dann bin ich einfach nicht gestorben. Nein, den Krebs habe ich nicht besiegt, niemand besiegt den Krebs. Ich ärgere mich jedes Mal, wenn ich so etwas in denMedien lese, denn wenn ein Kranker seinen Krebs besiegen könnte, würde es bedeuten, dass jeder, der an Krebs stirbt, sich zu wenig angestrengt hat. Ich habe mich nicht angestrengt, ich war einfach beschäftigt, zuletzt mit der «Pacific Avenue», es ist auch nicht so, dass ich keine Zeit zum Sterben gehabt hätte, ich bin einfach nicht gestorben, that’s it. Ich habe nicht das Geringste dafür getan. Das Verdienst gebührt dem anonymen Knochenmarkspender und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Isolierstation und des Zellersatzambulatoriums der Hämatologie des Universitätsspitals Basel. Sie alle hielten mich am Leben, ermunterten mich, noch diese oder jene Strapaze zu ertragen, und teilten mir nach sechs Jahren Behandlung mit, dass sich die Organabstossungen endlich stabilisiert hätten, auf einem tiefen Niveau, aber damit könne man immer noch schreiben und am Wochenende einen Château Pape Clément entkorken. Das Damoklesschwert wollte jedoch keiner abhängen, theoretisch könnte es morgen wieder losgehen, aber sie gingen nicht davon aus. Ich würde weiterleben. Überleben ist wohl das Wichtigste im Leben.

Ich fuhr nach Hause, setzte mich im Keller auf einen Stapel Weinkisten. Die Bordeaux, die ich mir in den neunziger Jahren als gutverdienender Drehbuchautor und Game-Designer zugelegt hatte, hatte ich behalten und jeweils an Geburtstagen verschenkt. Aber chronisch Kranke haben chronisch wenig Freunde. Man stirbt in seinem Umfeld, bevor man gestorben ist. Ich nahm einen alten Château Palmer und setzte mich im Wohnzimmer in den schwarzen Sessel, in dem ich unzählige Nächte durchgestanden hatte. Eigentlich sollte ich bei all den Pillen, die ich nach wie vor einnehmen muss, keinen Wein trinken. Auf den Packungsbeilagen der Medikamente sind die Kontraindikationen aufgeführt. Ein Château Palmer ist nirgends erwähnt. Ich hatte schier vergessen, wie grossartig ein alter Bordeaux schmeckt. Wäre ich gesund geblieben, wären diese Weine nicht alt geworden.

Goodbye-Modus

Jetzt ist nach der «Script Avenue» noch die «Pacific Avenue» erschienen, und ich frage mich, was ich jetzt noch anfangen soll. Eine Verlängerung war nicht geplant, das Spiel war zu Ende, ich war seit Beendigung der «Script Avenue» im Goodbye-Modus. Manchmal denke ich, ich sollte den anonymen Knochenmarkspender aufsuchen, der mir das Leben gerettet hat, und ihm sagen: «Schau, das bin ich, mit deinem Knochenmark. Danke, dass du all die Unannehmlichkeiten auf dich genommen und gespendet hast, und komm, lass uns was trinken, erzähl mir von deinem Leben.» Aber in Europa müssen die Spender anonym bleiben, bei der Infusion wird sogar die Etikette auf dem Beutel abgedeckt. Falls Sie können, spenden Sie Knochenmark! Es gibt irgendwo da draussen einen Menschen, der Ihnen unendlich dankbar sein wird. Ich werde es immer sein. Und weiterschreiben.

Flüchtlingswellen in der Antike

Bildschirmfoto 2014-09-01 um 04.36.19 Bildschirmfoto 2014-09-01 um 04.53.36 cueni_plankus_ss  

Flüchtlingswellen zur Zeit Cäsars (Auszug der Helvetier / Gallischer Krieg)

Das Gute an historischen Romanen: Sie haben nicht das Verfalldatum von zeitgenössischen Romanen. Mein Roman »Cäsar Druide« erlebte in den letzten 16 Jahren zahlreiche Neuauflagen (Heyne Verlag), u.a. in deutscher, spanischer und italienischer Sprache, erschien im letzten Jahr (leider) unter dem neuen Titel »Das Gold der Kelten«, was viele Leser zurecht verärgert, wenn sie zweimal das gleiche Buch gekauft haben.

Erzählt wird die Geschichten des jungen spastischen Druidenlehrlings, der in der Nordwestschweiz aufwächst und sich dem Zug der Helvetier anschliesst und Schreiber in Cäsars Kanzlei war. In einem Gutachten der Uni Basel wird bestätigt, dass der Abenteuerroman auf dem neusten Stand der Cäsarforschung basiert. Daran hat sich bis heute nichts geändert.

Wie in allen meinen Büchern ist auch »Cäsars Druide« ein Mutmacher, weil der Roman von einem jugendlichen Helden erzählt, der schwierige Lebenssituationen meistert und nie aufgibt.

https://www.cueni.ch/buecher/das-gold-der-kelten/

#chronos (1933)

News-Week_Feb_17_1933,_vol1_issue1«You will have the tallest, darkest leading man in Hollywood», versprach Regisseur Merian C. Cooper der Schauspielerin Fay Wray, falls sie die weibliche Rolle in «King Kong und die weisse Frau» ­annehmen würde. Der Film wurde ein Erfolg und war mit seiner revolutionären Stop-Motion-Tricktechnik wegweisend. Bei diesem Verfahren ­werden Standbilder in rascher Abfolge aneinandergereiht, um Bewegung zu simulieren. Revolutionär war auch die erstmalige Unterlegung von Dialogen mit Musik und der Einbau von realen Schauspielern in Miniaturmodellen.

Ausserhalb der Kinos betrat ein anderes ­Monster die Weltbühne: Im Januar 1933 wurde Adolf Hitler durch Reichspräsident Hindenburg zum Reichskanzler ernannt. Hitlers Machtübernahme beendete die Weimarer Republik und legte den Grundstein für das «Dritte Reich». In seiner ersten Ansprache forderte Hitler die rücksichtslose Germanisierung. Bereits im März wurde in Dachau das erste von über hundert Arbeits- und Vernichtungslagern eingerichtet. Damit begann die systematische Ausrottung von Millionen Juden, Sinti, Roma, Homosexuellen und ­Behinderten. Im Oktober erliess Hitler das «Schriftleitergesetz», das die Gleichschaltung der Presse einleitete und 1300 Journalisten vor die Tür setzte. Nachdem Deutschland auch noch aus dem Völkerbund ausgetreten war, unterzeichneten 88 deutsche Schriftsteller das «Gelöbnis treuester Gefolgschaft» zu Adolf Hitler …

In den USA löste der Demokrat Franklin D. Roosevelt den Republikaner Herbert Hoover ab, er versuchte mit einem «New Deal» die Folgen der Weltwirtschaftskrise zu lindern. Der «New Deal» ­leitete weitgreifende ­Wirtschafts- und Sozial­reformen ein, unter ­anderem ein Programm für unterernährte ­Schulkinder und ­für Sozialversicherungen.

«Sind Sie Seemann?»

«Seh ich vielleicht aus wie ein Cowboy?»

Das war der erste Dialog, den der Zeichner Elzie Crisler Segar seiner Comic-Figur Popeye in den Mund legte. 1933, vier Jahre später, ­produzierten die Fleischer Studios für Paramount Pictures die erste Folge von «Popeye the Sailor». Erst in diesen siebenminütigen Zeichentrick­filmen, die auch im Vorprogramm der meisten Kinos liefen, wurde der Spinat als Zaubertrank ­eingeführt. Schuld daran war der Basler Universitätsprofessor Gustav von Bunge, der 1890 den Eisengehalt von 100 Gramm Spinat mit 35 Milligramm angegeben hatte. 2007 enthüllte das British Medical Journal, dass sich der ­Professor um eine Dezimalstelle verhauen hatte. Somit hatten ganze Generationen von ­Heranwachsenden die vegetarische Variante des Waterboardings über sich ergehen zu lassen, ohne dass sich jemals Eisenwerte und Schulnoten ­verbessert hätten. Segar starb 1938, erst 44-jährig, an Leukämie. Mit seinem Tod verlor auch der pfeifenrauchende Matrose mit dem losen ­Mundwerk den subtilen Humor und verrohte zunehmend.

1933 erwarb Farny Wurlitzer das Patent für einen Musikbox-Mechanismus und brachte bald darauf die erste chromverzierte Jukebox im Art- déco-Stil auf den Markt. Für die Wirte war die Jukebox ein billiger Ersatz für die Livebands und eine zusätzliche Einnahmequelle. Als die US-­Regierung 1933 das Alkoholverbot aufhob, ­schossen Bars mit Musikboxen wie Pilze aus dem Boden. In den 50er-Jahren brachte der Rock ’n’ Roll den weltweiten Durchbruch und ­Kulturpäpste warnten wieder einmal vor der ­Versklavung des Menschen durch den Automaten. Erst mit dem Aufkommen der Diskotheken in den 70er-Jahren verlor die Jukebox an Attraktivität. 1974 musste der Marktführer, die Chicagoer ­Wurlitzer Company, die Produktion einstellen.

Claude Cueni ist Schriftsteller und lebt in Basel. www.cueni.ch

© Basler Zeitung, 11.9.2015

Buchvernissagen in ZH und BS

Bildschirmfoto 2015-09-03 um 18.13.06

 

Donnerstag, 17. September in Zürich: Orell Füssli, Kramhof, 20:15

Dienstag, 22. September in Basel: Thalia, Freie Strasse, 19:30

Türöffnung jeweils 15 Minuten vor Beginn. 

#chronos (2009)

Michael-Jackson

«You are not alone, I am here with you», sangen die untröstlichen Fans vor dem Anwesen des King of Pop. Der mit fast einer halben Milliarde ­verkaufter Tonträger erfolgreichste Entertainer aller Zeiten erlitt im Alter von 51 Jahren einen plötzlichen Herzstillstand. Michael Jacksons Privatarzt Conrad Murray (Monatslohn 150 000 Dollar) hatte ihm zum Einschlafen das Narkosemittel Propofol verabreicht. Er wurde wegen fahrlässiger Tötung zu vier Jahren Haft verurteilt.

«Yes, we can», war eine Dialogzeile aus der weltweit ausgestrahlten Kinderserie «Bob the Builder». US-Politstratege David Axelrod übernahm den Slogan für die Präsidentschaftskampagne von Barack Obama und begleitete damit den ersten Afroamerikaner ins Weisse Haus. Im gleichen Jahr erhielt Obama für «seine Stärkung der internationalen Diplomatie» den Friedensnobelpreis.

Während die UNO das Internationale Jahr der Aussöhnung verkündete, listete der «Fischer Atlas» für das Jahr 2009 achtunddreissig ­kriegerische Konflikte auf.

Unblutig, aber nicht minder desaströs waren die Auswirkungen der globalen Finanzkrise, die im Sommer 2007 als US-Immobilienkrise begonnen hatte. Nach dem Platzen weiterer Blasen ­meldeten immer mehr Unternehmen Insolvenz an; Banken, die ihren Top­shots jahrelang Boni in Millionenhöhe ausbezahlt hatten, ­mussten nun mit den Steuer­geldern des kleinen Mannes gerettet werden. Weltweit nahm die verantwortungslose Staatsverschuldung zu, die Weltwirtschaft geriet ins Straucheln, Japan rutschte in die schwerste Rezession der Nachkriegszeit und die Wall Street hatte den grössten Skandal ihrer Geschichte:

Seit den 70er-Jahren hatte der Finanz- und Börsenmakler Madoff mit absurden Traumrenditen Anleger geködert und mit dem frischen Geld neuer Anleger bezahlt. Tausende von Investoren mussten die Erfahrung machen, dass Renditen ab fünf Prozent möglicherweise mit einem etwas grösseren Risiko ­verbunden sind. Sie bezahlten diesen Lehrgang mit Verlusten von über 65 Milliarden Dollar. Madoffs ältester Sohn Mark erhängte sich 2010 in der Wohnung, sein jüngerer Bruder starb ein Jahr später an Krebs.

«Es gibt überhaupt nur zwei Dinge auf der Welt, die mir Spass machen – das Zweite ist der Film.» 2009 wurde der polnische Filmregisseur Roman Polanski aufgrund eines internationalen Haftbefehls bei seiner Einreise in die Schweiz verhaftet. Er war 1977 von einem Strafgericht in Los Angeles wegen «Vergewaltigung einer ­Minderjährigen unter Verwendung betäubender Mittel» angeklagt worden und war geflohen. Die internationale Kulturszene setzte sich für seine sofortige Freilassung ein. Nur gerade Regisseur Luc Besson erinnerte an die Prinzipien des ­Rechtsstaates: Rechtsgleichheit.

Als die 47-jährige Schottin Susan Boyle die Bühne der Castingshow «Britain’s Got Talent» betrat, wurde sie von Jury und Publikum wegen ihres Asperger-Syndroms verspottet. Doch als sie «I Dreamed a Dream» anstimmte, verschlug es selbst dem Berufszyniker Simon Cowell die Sprache: 150 Millionen Mal wurde der Clip auf Youtube angeschaut und Susan Boyle startete eine erfolgreiche internationale Karriere.

Was Hyperinflation und Währungsreformen bedeuten, konnte man 2009 in Zimbabwe beobachten. Nachdem bereits im Jahr zuvor beim Zimbabwe-Dollar Nummer 3 zehn Nullen gestrichen worden waren, erhielt man nach der erneuten Währungsreform für den Zimbabwe-Dollar Nummer 4 für eine Billion alte Dollars gerade noch einen einzigen neuen Zimbabwe-Dollar.

Jede Papierwährung findet eines Tages zu ihrem eigentlichen Wert: null (gemäss Voltaire).

Neuer Roman

pazific-anzeige

 

Gut zum Druck erteilt. Ab Freitag, den 18. September im Buchhandel. 

#chronos (1955)

cueni_jamesdean_1955_chornos«Wenn jemand sagt, er wolle über etwas nicht sprechen, so bedeutet das in der Regel, dass er an nichts anderes denken kann», schrieb Nobelpreisträger John Steinbeck in seinem Roman «Jenseits von Eden» (East of Eden). Der Weltklassiker wurde 1955 von Elia Kazan mit James Dean in der Hauptrolle verfilmt.

James Dean schloss noch im Herbst des ­gleichen Jahres eine Lebensversicherung ab, drehte einen Werbespot für Verkehrssicherheit («Fahrt vorsichtig!»), kaufte sich den legendären Renn­wagen Porsche 550 Spyder und prallte mit übersetzter Geschwindigkeit ungebremst in einen Ford, der ihm die Vorfahrt genommen hatte. Trotz Abenddämmerung hatte er die Scheinwerfer nicht eingeschaltet. Er starb auf dem Weg ins Krankenhaus 24-jährig.

Dass auch Rauchen tödlich enden kann, berichtete Reader’s Digest in einem Artikel über die Ursachen von Lungenkrebs. Marlboro verpasste ihren Zigaretten umgehend einen Filter, Designer Frank Gianninoto entwarf die rotweisse Verpackung und Leo Burnett erschuf den harten Marlboro Man im Wilden Westen. Durch die Emotionalisierung der Kampagne stieg der ­Verkauf bereits nach wenigen Monaten um das Fünfzig­fache. Vielleicht lag es auch daran, dass man der Marlboro das süchtig machende Ammonium beigemischt hatte. Heute ist Marlboro die meistverkaufte Zigarette und gehört zu den zehn wertvollsten Marken der Welt.

Bundeskanzler Konrad Adenauer war militanter Nichtraucher, denn «Raucher vernebeln nicht nur die Luft, sondern meist auch ihren eigenen Geist, so kann man dann leichter mit ihnen fertig werden …» Er reiste nach Moskau, um die letzten deutschen Kriegsgefangenen nach Hause zu holen.

Zehn Jahre nach Kriegsende waren Lebensmittel immer noch knapp, Fisch gab es jedoch in rauen Mengen. Die Firma Birds Eye zersägte kurzerhand gefrorenen Fisch in kinder­gerechte Portionen, panierte sie, briet sie kurz an und fror sie gleich wieder ein.

Heute assoziiert man Birds Eye nicht mehr mit Fischstäbchen, sondern mit dem weltberühmten The Bird’s Eye Jazz Club am Kohlenberg 20 in Basel.

Aufsehen erregte 1955 auch die Afroamerikanerin Rosa Parks, die sich in Alabama weigerte, ihren Sitzplatz im Bus einem weissen Fahrgast zu überlassen. Der anschliessende Aufruhr gilt als Geburtsstunde der schwarzen Bürgerrechts­bewegung. Das oberste Gericht gab ihr recht und beendete damit die Diskriminierung in öffentlichen Verkehrsmitteln.

1955 verfehlte der leidenschaftliche Jäger und Brauereibesitzer Hugh Beaver einen Goldregenpfeifer nur knapp und startete Recherchen über den schnellsten Vogel der Welt, um seinen Fehlschuss zu relativieren. Darauf schrieben die Zwillinge Ross und Norris McWhirter den ersten Sammelband der Rekorde, der seitdem jedes Jahr die Bestsellerlisten anführt. Einem Brauerei­besitzer haben wir also zu verdanken, dass wir heute wissen, dass der Weltrekord im Dauer­glotzen bei 87 Stunden und 43 Sekunden liegt und dass die Fingernägel von Chris Walton 6,02 Meter lang sind. Leider verschweigt das Buch, wie Chris «The Dutchess» die tägliche ­Körperpflege bewältigt.

Während in England die Eisenbahner streikten, knackte die Knutschkugel von VW die Millionengrenze und wurde erneut das meistverkaufte Auto des Jahres. Der VW 1200 hatte damals 30 PS und kostete 3950 D-Mark.

Während Shirley MacLaine wegen Hitchcock «Immer Ärger mit Harry» hatte, sorgte sich Carl Perkins um seine blauen Velourslederschuhe und schrieb den Rockklassiker «Blue Suede Shoes».

Well, it’s one for the money

Two for the show

Three to get ready

Now go, cat, go

Claude Cueni ist Schriftsteller und lebt in Basel.

© Basler Zeitung vom 14.8.2015