Leben in der Nachspielzeit

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Die Weltwoche – 17. September 2015
 

Eigentlich sollte ich längst tot sein. Mein Gesundheitszustand war hoffnungslos. Also habe ich  das Haus verkauft, viele Besitztümer verschenkt. Dass ich noch am Lebenbin, macht mich ratlos.  Von Claude Cueni

Im Januar werde ich sechzig, über dieses Datum ging meine Lebensplanung nie hinaus. Niemand hielt es für möglich, dass ich zuerst die Leukämie und dann noch die Folgen der Knochenmarktransplantation überlebe. Jetzt bin ich einigermassen ratlos, weil ich wider Erwarten noch am Leben bin. Ich habe keine Pläne, mein Koffer war schon gepackt.

Ich hatte mein Haus verkauft, meine DVD-Sammlung verschenkt, die meisten Zeitungsabonnemente gekündigt, ich hatte mit Exit und Lifecircle gesprochen – warten gehört nicht zu meiner Kernkompetenz. Ich hatte trotz negativer Erfahrungen fünfstellige Summen in die Dritte Welt geschickt, Hilfe zur Selbsthilfe und so, gebracht hat es gar nichts. Ich habe meine Autorenexemplare verschenkt, denn wenn das Totenhemd keine Taschen hat, kann man wohl auch keine Bücherboxen mitschleppen, und heutige Särge sind doch ziemlich schmal, und in den Krematorien empfehlen sie für Bücher die Entsorgung als Altpapier. Zum Altpapier schmiss ich auch mein gesamtes Archiv, 48 Plastikboxen mit jeweils zehn Hängemappen, Romananfänge, Short Storys, Exposés und all die Texte, die im Jenseits eh keiner mehr lesen will.

Erotikbildchen unter der Kellertreppe

Ich habe noch alte Jugendfreunde und -freundinnen besucht, ähnlich wie Bill Murray in Jim Jarmuschs «Broken Flowers», die meisten kamen zu mir auf einen Kaffee und desinfizierten sich vor Betreten der Wohnung die Hände mit Sterilium. Die meisten hatte ich seit der Pubertät nie mehr gesehen, und das ist doch schon eine Weile her, so hoffe ich wenigstens. Wir sprachen über Fussball, die FCB-Arena und Karli Odermatt, wir sprachen über die Comics von Hansrudi Wäscher, Sigurd, Falk und die Erotikbildchen unter der Kellertreppe; ich traf auch frühe Liebschaften, aber sie konnten sich kaum noch an das erinnern, was uns damals wirklich Spass gemacht hat. Die meisten waren mittlerweile geschieden, einige hatten erwachsene Kinder, andere noch einen Hund.

Die fremden Knochenmarkzellen, die mich von der Leukämie geheilt hatten, hatte meine Lunge mittlerweile bis auf vierzig Prozent Restvolumen abgestossen, die Haut war mit dem Gewebe darunter verklebt und hatte die Gelenke versteift. Ich kenne mich ein bisschen aus mit Aktienmärkten und Charttechniken, der Trend auf demComputerausdruck des Lungenlabors war eindeutig negativ.

Ich war mittlerweile ein Sanierungsfall. Punktionen von Knochenmark, Leber, Lunge und hohe Kortisondosen empfand ich inzwischen als Konkursverschleppung. Als Firma hätte ich längst Insolvenz angemeldet und die Bilanz deponiert.

Am Samstag sass ich über Mittag oft mit meiner Frau im «Chez Donati», wir assen Scaloppine in «Purgatorio del Padrone». Die Kellner dachten, ich sei jetzt ganz gross im Geschäft, hätte Erfolg mit meinen Büchern, aber wir besprachen die Zeit danach. Es gibt Lebenspartner, die sich in Erwartung des bevorstehenden Single-Daseins emotional zurücknehmen, aber man kann sich weder schützen, noch kann man auf Vorrat trauern. Meine Frau ersparte mir dieses Gefühl des frühzeitigen Verlassenwerdens. Swerte, der unerschütterliche Optimismus der Filipinas, grenzt an Realitätsverweigerung, aber meine philippinische Nachtigall war entgegen allen medizinischen Prognosen überzeugt, dass ich überlebe. Ich legte einen Ordner an und beschriftete ihn mit «Day After»; ich schrieb alle Briefe, die sie später würde schreiben müssen, ich überlegte, ob ich jeweils schreiben sollte: «Ich bin heute gestorben und bitte Sie deshalb . . .», und meine Frau würde später noch das Datum einsetzen. Ja, wir mussten herzhaft lachen, als sie den Ordner durchblätterte. Den Humor haben wir nie ganz verloren.

Und dann bin ich einfach nicht gestorben. Nein, den Krebs habe ich nicht besiegt, niemand besiegt den Krebs. Ich ärgere mich jedes Mal, wenn ich so etwas in denMedien lese, denn wenn ein Kranker seinen Krebs besiegen könnte, würde es bedeuten, dass jeder, der an Krebs stirbt, sich zu wenig angestrengt hat. Ich habe mich nicht angestrengt, ich war einfach beschäftigt, zuletzt mit der «Pacific Avenue», es ist auch nicht so, dass ich keine Zeit zum Sterben gehabt hätte, ich bin einfach nicht gestorben, that’s it. Ich habe nicht das Geringste dafür getan. Das Verdienst gebührt dem anonymen Knochenmarkspender und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Isolierstation und des Zellersatzambulatoriums der Hämatologie des Universitätsspitals Basel. Sie alle hielten mich am Leben, ermunterten mich, noch diese oder jene Strapaze zu ertragen, und teilten mir nach sechs Jahren Behandlung mit, dass sich die Organabstossungen endlich stabilisiert hätten, auf einem tiefen Niveau, aber damit könne man immer noch schreiben und am Wochenende einen Château Pape Clément entkorken. Das Damoklesschwert wollte jedoch keiner abhängen, theoretisch könnte es morgen wieder losgehen, aber sie gingen nicht davon aus. Ich würde weiterleben. Überleben ist wohl das Wichtigste im Leben.

Ich fuhr nach Hause, setzte mich im Keller auf einen Stapel Weinkisten. Die Bordeaux, die ich mir in den neunziger Jahren als gutverdienender Drehbuchautor und Game-Designer zugelegt hatte, hatte ich behalten und jeweils an Geburtstagen verschenkt. Aber chronisch Kranke haben chronisch wenig Freunde. Man stirbt in seinem Umfeld, bevor man gestorben ist. Ich nahm einen alten Château Palmer und setzte mich im Wohnzimmer in den schwarzen Sessel, in dem ich unzählige Nächte durchgestanden hatte. Eigentlich sollte ich bei all den Pillen, die ich nach wie vor einnehmen muss, keinen Wein trinken. Auf den Packungsbeilagen der Medikamente sind die Kontraindikationen aufgeführt. Ein Château Palmer ist nirgends erwähnt. Ich hatte schier vergessen, wie grossartig ein alter Bordeaux schmeckt. Wäre ich gesund geblieben, wären diese Weine nicht alt geworden.

Goodbye-Modus

Jetzt ist nach der «Script Avenue» noch die «Pacific Avenue» erschienen, und ich frage mich, was ich jetzt noch anfangen soll. Eine Verlängerung war nicht geplant, das Spiel war zu Ende, ich war seit Beendigung der «Script Avenue» im Goodbye-Modus. Manchmal denke ich, ich sollte den anonymen Knochenmarkspender aufsuchen, der mir das Leben gerettet hat, und ihm sagen: «Schau, das bin ich, mit deinem Knochenmark. Danke, dass du all die Unannehmlichkeiten auf dich genommen und gespendet hast, und komm, lass uns was trinken, erzähl mir von deinem Leben.» Aber in Europa müssen die Spender anonym bleiben, bei der Infusion wird sogar die Etikette auf dem Beutel abgedeckt. Falls Sie können, spenden Sie Knochenmark! Es gibt irgendwo da draussen einen Menschen, der Ihnen unendlich dankbar sein wird. Ich werde es immer sein. Und weiterschreiben.

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