#chronos (1899)

Facebooktwitterredditpinteresttumblrmail
March - April 1899

March – April 1899

1899 erschien eins der meistgelesenen ­Sachbücher des 20. Jahrhunderts, die ­«Traumdeutung» des Tiefenpsychologen Sigmund Freud (1856–1939). Er bezeichnete sich als Feind der Religion «in jeder Form und ­Verdünnung» und hielt Religiosität für eine ­«Kindheitsneurose». Er vertrat auch die Meinung, wonach «sich hinter jeder starken Frau ein ­tyrannischer Vater ­versteckt».

Emanzipation und Gleichberechtigung ­machten weitere Fortschritte: Im Deutschen Reich wurden erstmals Frauen zu den Staatsprüfungen der Medizin, Zahnmedizin und Pharmazie ­zugelassen und im Sing-Sing-Gefängnis setzte man Martha M. Place, auch sie die erste Frau, auf den elektrischen Stuhl.

In diesem Jahr wurden auch drei Männer geboren, die wenig von Gleichberechtigung ­hielten: Humphrey Bogart («Ein kluger Mann widerspricht nie einer Frau. Er wartet, bis sie es selbst tut.»), Ernest Hemingway («Man braucht zwei Jahre, um sprechen zu lernen, und fünfzig, um schweigen zu lernen») und Alfred Hitchcock: «Ich habe nie gesagt, dass ich Schauspieler für dumme Kühe halte, ich sagte bloss, man müsse sie so behandeln. Aber wichtiger ist, dass die Länge eines Film im direkten Verhältnis zum Fassungsvermögen der menschlichen Blase ist.»

Es ist nicht überliefert, ob die Firma Bayer AG angesichts dieser Weisheiten Aspirin beim Kaiserlichen Patentamt als Marke eintragen liess. Seitdem nennt man im Volksmund die Acetylsalicylsäure (ASS) Aspirin.

In den USA tobte der ­Kongress, weil die Regierung dem Erzfeind Spanien 7101 philippinische Inseln abkaufte. Es widersprach dem Selbstverständnis einer Nation, die durch Rebellion gegen das Mutterland ­entstanden war. Zwei Tage nach der «wohlwollenden Annexion» (US-Präsident ­William McKinley) riefen Revolutionäre die ­Philippinische Republik aus. Die USA schickten umgehend 26 Generäle, die sich während der Indianerkriege durch besondere Grausamkeiten ausgezeichnet hatten. Sie besetzten mit ihren ­Truppen die neue Kolonie. Oberbefehlshaber General Jacob H. Smith, ein Veteran des Wounded-­Knee-Massakers, wollte die ganze ­Inselgruppe in eine «heulende Wildnis» verwandeln: «Ich wünsche keine Gefangenen. Ich ­wünsche, dass ihr tötet und niederbrennt; je mehr getötet und niedergebrannt wird, umso mehr wird es mich freuen.» Er schlachtete über eine Million Zivilisten ab, 20 Prozent der gesamten philippinischen Bevölkerung endeten in Massengräbern. Erst Jahre später empörten sich die ­amerikanischen Medien und Smith kam vor Gericht. Nach Abzug der amerikanischen Truppen setzten die Japaner während des Zweiten ­Weltkrieges die Massaker auf den strategisch wichtigen Inseln fort.

Das britische Weltreich stand den Gräueltaten der amerikanischen Kolonisten in nichts nach. Das British Empire wollte als «führende Rasse (Cecil Rhodes)» die Pax Britannica weltweit durchsetzen. Im rohstoffreichen (Gold, ­Diamanten) Südafrika kämpften sie während des zweiten Burenkrieges erbitterte Schlachten und trieben in British India Millionen von Menschen in den Hungertod.

1899 beschleunigte sich der weltweite ­Informationsaustausch, AT&T kaufte American Bell und verschafft sich damit das Telefon­monopol in den USA. Guglielmo Marconi gelang die erste drahtlose telegrafische Verbindung über den Ärmelkanal. Charles H. Duell, der Beauftragte des US-Patentamtes, frohlockte: «Alles, was ­erfunden werden kann, ist erfunden worden.»

Jules Verne (1828–1905) widersprach ihm jedoch und schrieb: «Alles, was ein Mensch sich vorzustellen vermag, werden andere Menschen verwirklichen können.»

Claude Cueni ist Schriftsteller und lebt in Basel.

www.cueni.ch

 

 23. Oktober 2015 / Folge 26

Facebooktwitterredditpinteresttumblrmail