#chronos (1901)

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«Geh’ über die Niagarafälle in einem Fass» war die plötzliche Eingebung, die Annie Taylor während der Pan-American Weltausstellung in Buffalo hatte. Seit dem frühen Tod ihres Ehemannes auf den Schlachtfeldern des Amerikanischen Bürgerkriegs tingelte die mittlerweile 61-jährige Schullehrerin ruhelos und verarmt durch die Staaten. Nach einem Probelauf mit einer Katze fand sie einen Sponsor und stürzte sich in einem mit ­Korken versiegelten Fass aus 53 Metern Höhe die Niagara Fälle hinunter. Da ihr Ruhm nur von ­kurzer Dauer war, versuchte sich die «Queen of the Mist» als Hellseherin, sah aber nicht voraus, dass ihr Sponsor mit ihrem ganzen Hab und Gut abtauchen würde.

Die Pan-American-Exposition inspirierte auch den Anarchisten Leon Czolgosz. Er lauerte dem US-Präsidenten William McKinley auf dem Messegelände auf und erschoss ihn kaltblütig. McKinley erlag acht Tage später den Schussverletzungen und Theodore Roosevelt wurde zum neuen ­Präsidenten vereidigt. Czolgosz starb zwei Monate später auf dem elektrischen Stuhl.

Eines natürlichen Todes starb im Alter von 82 Jahren die britische Monarchin Queen Victoria, Kaiserin von Indien und Ururgrossmutter der ­jetzigen englischen Königin Elisabeth II. Als ­Victorias Ehemann, ihr vergötterter Cousin Albert, an Typhus starb, zog sie sich zurück, trug bis ans Ende ihrer Tage Trauerkleidung. Auf ihren Wunsch hin wurde die «Witwe von Windsor» mit ihrem Brautschleier und einem Alabasterabdruck von Alberts Hand zu Grabe getragen.

1901 kehrte der Schwarze Tod zurück. Aus Instanbul und Hamburg wurden ­Pestfälle gemeldet. Im ­gleichen Jahr starb Arnold Böcklin, der mit der «Toten­insel» eines der berühmtesten Gemälde des 19. Jahrhunderts gemalt hat. Er starb an einem Schlaganfall. Nur sechs seiner vierzehn Kinder erreichten das ­Erwachsenenalter.
Mit der Unterzeichnung des «Boxerprotokolls» wurde 1901 die Niederlage der chinesischen Qing-Dynastie besiegelt. Die Aufständischen hatten mit Angriffen auf Ausländer und chinesische Christen versucht, die europäischen Kolonial­herren und die USA aus dem Land zu treiben.

In Liverpool erhielt Frank Hornby ein Patent auf seinen Metallbaukasten «Meccano». Obwohl als Spielzeug deklariert, hatten nicht alle Kinder Freude an den gestanzten Blechteilen und ­Verstrebungen, die ihnen Kenntnisse in der ­Montagetechnik mittels Schrauben, Muttern und Rädern vermitteln sollten. Weil meistens die Väter ihre technischen Fähigkeiten demonstrierten, wurden aus den Buben später doch keine ­berühmten Ingenieure.

Berühmt wurden H. G. Wells mit «The First Men in the Moon», Arthur Schnitzler mit ­«Lieutenant Gustl» und Thomas Mann mit den «Buddenbrooks».
Den erstmals 1901 vergebenen Nobelpreis für Literatur erhielt jedoch der Franzose Sully ­Prudhomme. Der Physiker Wilhelm Röntgen erhielt die Auszeichnung für die Entdeckung der Röntgenstrahlen, der Mediziner Emil von Behring für seine Serumtherapie zur Behandlung der Diphtherie und Henry Dunant (Friedens­nobelpreis) für die Gründung des Internationalen Roten Kreuzes.

Nicht berücksichtigt wurde der Psycho­analytiker Sigmund Freund, der in den folgenden Jahren zwölfmal nominiert, aber nie auszeichnet wurde. Er publizierte 1901 sein Werk «Zur ­Psychopathologie des Alltagslebens», in dem er unter anderem den «freud’schen Versprecher» untersuchte, den er für einen «Mechanismus des Unterbewussten» hielt. Ein freud’scher Versprecher wäre zum Beispiel: Wenn Sie im Hochsommer ein Hotelzimmer mit defektem Ventilator betreten und seufzen: «Ich brauche jetzt dringend einen Vibrator».

© Basler Zeitung; 27.05.2016

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