Interview mit Francisco Sionil José (96)

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2016 interviewte ich Francisco Sionil José für die Weltwoche. In deutsch ist lediglich sein lesenswertes BuchFrancisco Sionil José wurde 1924 in der philippinischen Provinz Pangasinan geboren, war editor der Manila Times und Korrespondent des Economist. Seine  auf Englisch verfassten Romane wurden in 28 Sprachen übersetzt. Seit Jahren wird er als Kandidat für den Literaturnobelpreis gehandelt.


«Vereinfacht gesagt, ist seine Ideologie die Liebe zum Land und zu den Menschen.»


 

 


Herr José, Sie gehören zu den wenigen philippinischen Schriftstellern, die international erfolgreich sind. Ihre Bücher wurden in 28 Sprachen übersetzt, Sie sind 91 und haben bereits fünfzehn Staatspräsidenten erlebt. Was unterscheidet Rodrigo Duterte von allen andern?

 

Wenn Sie unsere Politik und Geschichte studieren, sehen Sie, dass die jeweiligen Regierungen all die Jahre von wohlhabenden Philippinern manipuliert wurden. Präsident Duterte ist der erste Politiker, der nicht die offene Unterstützung der Oligarchie geniesst. Bei seiner Rede zur Lage der Nation zeigte er auf die Mitglieder des Senats und des Kongresses und sagte: «Ich schulde euch nichts.» Ich glaube, wir stehen am Anfang einer philippinischen Revolution. Schaut man sich unsere Geschichte an, dann sieht man, dass viele Probleme der Philippinen auf die Kolonialisierungen zurückzuführen sind – die erste durch die Spanier, dann jene durch die Amerikaner und am Ende diejenige durch die Japaner. Schliesslich wurden wir durch unsere eigene Elite kolonialisiert. Alle Anzeichen dafür waren bereits 1896 sichtbar, als die philippinische Revolution gegen die spanischen Kolonialbehörden einsetzte.

 

Wann wird diese «Revolution» zu Ende sein?

 

Das lässt sich nicht in zwei, drei Jahren erledigen. Wie lange hat die vietnamesische Revolution gedauert? Die chinesische Revolution fing in den zwanziger Jahren an. Die Französische Revolution dauerte weniger lang, aber fast alle Revolutionen währen über Jahre, vielleicht eine Generation lang, und sie verändern Länder und Gesellschaften für immer, während die Macht von den Unterdrückern zu den Unterdrückten übergeht.

 

Seit Dutertes Amtsantritt am 1. Juli sind gemäss Polizeidirektor Dela Rosa 26 861 mutmassliche Drogenhändler und Süchtige verhaftet und 4742 aussergerichtlich erschossen worden. Rechtfertigt das Ziel die Mittel?

 

Der Krieg gegen Drogen sollte nicht unterbrochen werden. Aber es sollte darauf geachtet werden, dass der sogenannte Kollateralschaden reduziert wird.

 

Wie ist es möglich, dass die Mehrheit eines christlichen Landes diesen blutigen Rachefeldzug gegen Kriminelle gutheisst?

 

Sie misst der Religion einen zu hohen Stellenwert bei. Nazideutschland war auch christlich.

 

Nach hundert Tagen im Amt erreicht Duterte in allen Umfragen immer noch Rekordwerte von 86 Prozent Zuspruch. In den westlichen Medien wird er hingegen als «Donald Trump des Ostens», «Hitler» oder «serial killer» bezeichnet. Wie erklären Sie sich diese Diskrepanz?

 

Trotz aller Kritik, besonders im Ausland, zeigen die jüngsten Umfragen, dass Duterte eine riesige Popularität geniesst. Der Grund dafür liegt in der allgemeinen Wahrnehmung von mehr Frieden und Sicherheit im ganzen Land, verglichen mit der Vergangenheit. Seine Wahl wurde durch Millionen von Philippinern entschieden, die genug von der Korruption auf allen Ebenen unserer Gesellschaft hatten. Sie sind frustriert, dass sich die Erträge der vorherigen Aquino-Administration nicht im Sinne einer verbesserten Wohlfahrt und grösseren Sicherheit ausgewirkt haben.

 

Laut Dela Rosa sollen sich bereits über 800 000 Drogensüchtige gemeldet haben, um einen Entzug zu machen – aus Angst, erschossen zu werden. Es gibt aber viel zu wenig Therapieplätze. Was geschieht mit den Drogenabhängigen in der Zwischenzeit?

 

Das Problem des Drogenentzugs ist seit je ein zentrales Anliegen der Regierung. Entzugskliniken werden in Armee-Camps eingerichtet, aber mit der steigenden Zahl von Süchtigen, die aufhören wollen, werden diese Zentren bald so überfüllt sein wie unsere Gefängnisse.

 

Duterte will die 2006 abgeschaffte Todesstrafe wieder einführen und auch Steuerhinterziehern, illegalen Wettanbietern und Umweltsündern den Krieg erklären. Wird die philippinische Revolution ihre Kinder fressen?

 

Das ist eine schreckliche Möglichkeit. Das Hauptproblem revolutionärer Gewalt besteht darin, dass sie nicht kontrolliert werden kann. Die Philippiner selbst müssen ihre Freiheit vor den Exzessen revolutionärer Gewalt schützen. Es ist die erste Pflicht der Justiz und der Armee, die bürgerlichen Freiheiten zu sichern.

 

Was hat Duterte seit seinem Amtsantritt am 1. Juli erreicht?

 

Die wichtigste Errungenschaft in den ersten hundert Tagen sind tiefgreifende Veränderungen im politischen System, um die Korruption in den höchsten Machtzentren aufzuspüren. Ausserdem hat er begonnen, das Vertrauen in die Armee wiederherzustellen und eine Aussenpolitik zu entwickeln, die sich nicht auf die traditionelle Bindung an die USA beschränkt.

 

Es sieht so aus, als ob er den Krieg gegen Drogen priorisiert hat, aber schauen Sie genau, was gerade geschieht. Zunächst wollte er Bedingungen des Friedens schaffen. Die kommunistische Revolution wurde bedeutungslos. Das Problem im Süden ist weitaus gefährlicher. Daher hat er gleich nach seiner Amtsübernahme Friedensverhandlungen mit allen Gruppen begonnen. Ohne Frieden können sich die Philippinen nicht entwickeln – ein Frieden, der durch Kriminalität, immer wieder in Zusammenhang mit Drogen, so sehr erschüttert worden ist. Vereinfacht gesagt, ist seine Ideologie die Liebe zum Land und zu den Menschen und die Bereitschaft, dafür Opfer zu bringen.

 

Kürzlich begann Duterte eine Pressekonferenz im Stil eines Stand-up-Comedians und plauderte über sein Lieblingsthema «Duterte und die Frauen», es gab Szenenapplaus, es wurde viel gelacht. Plötzlich wechselte er das Thema und liess eine zornige Tirade vom Stapel. Die Schauspielerin und Sängerin Agot Isidro nannte ihn einen Psychopathen. Leidet er an einer bipolaren Störung, wie er selbst einmal behauptet hat?

 

Duterte ist ein äusserst ehrlicher Mann, der seine Gedanken ausdrückt und sehr viel von sich selbst preisgibt. Das ist bewundernswert, aber diese Ehrlichkeit macht ihn auch verletzlich. Seine Schmähreden gegen Präsident Obama, Uno-Generalsekretär Ban Ki Moon und die Europäische Union sind nicht akzeptabel. Bei seiner ersten Rede zur Lage der Nation sagte er, die Philippiner seien selbst deren schlimmster Feind geworden. Nun müssen sie den Willen und den Mut zur Veränderung haben.

 

Das gilt jetzt auch für ihn selbst. Er hat eine Revolution begonnen, die er zu einem erfolgreichen Abschluss führen muss. Der Zweck dieser Revolution liegt in der Gerechtigkeit für die Unterdrückten. Diese Gerechtigkeit ist sehr simpel und bedeutet: drei Mahlzeiten pro Tag, ein Dach über dem Kopf, Bildung für unsere Kinder und medizinische Versorgung für die Kranken. Mit anderen Worten, die Priorität liegt in der wirtschaftlichen Entwicklung. Er muss so viele Arbeitsplätze schaffen, wie er nur kann, und das in kurzer Zeit. Er braucht zudem die Unterstützung von allen, die dazu bereit sind.

 

Duterte nannte den Diktator Ferdinand Marcos den besten philippinischen Präsidenten aller Zeiten. Duterte droht oft mit der Ausrufung des Kriegsrechts. Wird er in Marcos Fussstapfen treten?

 

Er hat völlig unrecht damit, Marcos als den besten Präsidenten zu bezeichnen, den die Philippinen je hatten. Der beste Präsident war Ramon Magsaysay. Zuerst dachte ich, Duterte sei ein wahrer Vorbote der Veränderung wie einst Magsaysay, aber jetzt sehe ich einen Unterschied zwischen den beiden. Magsaysay umgab sich mit den besten Leuten des Landes. Wenn er einen Fehler beging, machte er rechtsumkehrt. In gewisser Weise war Magsaysay selbstlos und demütig. Wenn Duterte Erfolg hat wie Magsaysay, braucht er kein Kriegsrecht. Die Menschen werden ihm folgen.

 

Kürzlich sagte Duterte, Imee Marcos, die Tochter des Diktators Ferdinand Marcos, habe – entgegen früheren Aussagen – seinen Wahlkampf mitfinanziert. Duterte hat erlaubt, dass der 1989 verstorbene Diktator nachträglich auf dem Heldenfriedhof bestattet wird. Dutertes Vater war Mitglied der Regierung Marcos. Duterte unternimmt keine Anstrengungen, das vom Marcos-Clan geraubte Milliardenvermögen zurückzufordern. Welche Beziehung hat Duterte zum Marcos-Clan?

 

Philippinische Politiker würden Geld vom Teufel nehmen, wenn sie könnten. Dutertes Loyalität sollte nicht den Geldgebern seiner Kampagne gelten, sondern den Millionen von Philippinern, die ihm vertrauen und auf ihn zählen. Sehr vieles an der Kritik gegenüber Duterte ist nicht gerechtfertigt, denn sie kommt von Leuten in komfortablen Positionen, die den Kontakt zu den Massen verloren haben.

 

Duterte beschimpft dauernd die katholische Kirche. Es hat ihm bisher nicht geschadet. Verlieren Kirche und Religion auf den Philippinen an Bedeutung?

 

Keine der Kirchen auf den Philippinen hat wirklich politische Macht. Philippiner wählen nicht aufgrund einer Ideologie oder politischen Zugehörigkeit. Sie wählen Persönlichkeiten.

 

Nach dem grossen Erdbeben von Lissabon 1755 verloren viele Menschen den Glauben an einen barmherzigen und allmächtigen Gott. Die Philippinen gehören zu den Ländern, die regelmässig am härtesten von Naturkatastrophen heimgesucht werden. Hat dies keinen Einfluss auf den Glauben?

 

Besuchen Sie an einem Sonntag die Kirchen in unserem Land. Sie sind überfüllt, ganz im Gegensatz zu den Kirchen in Europa, die leer sind.

 

In der Vergangenheit hat man Ihnen vorgeworfen, dass Sie Ihre Bücher auf Englisch schreiben. Sie nannten Ihre Kritiker «Tagalog-Machos». Duterte hat nun den Musiker Freddie Aguilar als Berater beigezogen, um westliche Kultureinflüsse zu unterbinden. Welche Auswirkungen wird das haben?

 

Ich denke nicht, dass ein einzelner Künstler oder zehn Künstler eine Richtung für die Weiterentwicklung der philippinischen Kultur vorgeben können. Die philippinischen Künstler sind mit der Heimaterde verbunden, und diese Verwurzelung wird ihre Kreativität beeinflussen.

 

Duterte hat den Journalisten und Fernsehmoderator Teodore «Teddy Boy» Locsin zum neuen Uno-Botschafter ernannt. Locsin twitterte kürzlich: «Ich glaube, dass das Drogenproblem so gross ist, dass es eine Endlösung braucht, wie sie die Nazis angewendet haben. Daran glaube ich. Kein Entzug!»

 

In den philippinischen Medien wird unglaublich übertrieben, und am besten legt man nicht alles auf die Goldwaage.

 

Das ist keine Übertreibung der Medien. Ich habe den Original-Tweet von «Teddy Boy» Locsin gelesen, und alle seine älteren Tweets bestätigen seine Haltung.

 

Es gibt sehr wenig Antisemitismus auf den Philippinen. Dutertes erste Frau ist eine amerikanische Jüdin. Ich wage, zu behaupten, dass wir hier keinen Antisemitismus haben. Aber es gibt in ganz Südostasien eine latent antichinesische Haltung.

 

Die Philippinen sind für die USA von geostrategischer Bedeutung. Werden die USA tatenlos zusehen, wie sich Duterte nach China, Japan und Russland orientiert? Oder werden sie die zahlreichen Duterte-Feinde zu einem Putsch animieren?

 

Als Bürgermeister von Davao war Duterte ein Pragmatiker, der die objektiven Realitäten des Regierens erkannte. Er hat immer noch 2000 Tage vor sich – genug Zeit, um in einen höheren Gang zu schalten. Duterte wird der Tatsache ins Auge sehen, dass Japan, Südkorea, Taiwan und sogar China ihren Wohlstand den USA verdanken. Duterte muss begreifen, dass China bereits die Insel Panatag übernommen hat. Gleichzeitig können wir uns keine Konfrontation mit China leisten, wir müssen mit dem mächtigen Nachbarn leben. Was Duterte tun sollte: die mächtige chinesische Minderheit auf den Philippinen davon überzeugen, unser Land mitzugestalten, anstatt ihr Geld nach China zu schicken.

 

In der letzten Umfrage sagte eine Mehrheit, sie würde den USA mehr vertrauen als China. Warum will Duterte die Bindungen an die USA lösen und sich China und Russland zuwenden?

 

Sie müssen nicht alles glauben, was Duterte sagt; wir sind genötigt, mehr Beziehungen zu mehr Staaten zu haben. Nicht nur zu den USA.

 

Begrüsst das Militär den Richtungswechsel in der Aussenpolitik?

 

Die Offizierskorps unserer Armee sind Absolventen von West Point und Annapolis. Duterte weiss das.

 

Duterte hat sehr viele Feinde. Angenommen, er würde einem Attentat zum Opfer fallen, wie würden die 16,6 Millionen reagieren, die ihn gewählt haben?

 

Es wäre eine Tragödie, wenn Duterte ermordet würde oder wenn er es dem eigenen Ego gestatten würde, die revolutionäre Bestimmung entgleisen zu lassen. Dann würden wir wieder der Gnade unserer Kolonisatoren anheimfallen und nicht nur unter ihrer Unterdrückung leiden, sondern auch unter der Anarchie ihrer zügellosen Machtausübung.

 

Francisco Sionil José wurde 1924 in der philippinischen Provinz Pangasinan geboren, war editor der Manila Times und Korrespondent des Economist. Seine  auf Englisch verfassten Romane wurden in 28 Sprachen übersetzt. Seit Jahren wird er als Kandidat für den Literaturnobelpreis gehandelt.


 

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