Von der spanischen Revolutionärin Dolores Ibárruri, genannt La Pasionaria, gibt es Hunderte Bilder: die Pasionaria beim Singen eines Arbeiterliedes, die Pasionaria mit Soldaten an der Front im Spanischen Bürgerkrieg, die Pasionaria mit gereckter Faust vor einer riesigen Menschenmasse. «¡No pasarán!», so scheint sie zu rufen, «sie werden nicht durchkommen!»
Dann gibt es aber auch noch andere Bilder der stets schwarz gekleideten Frau, die eher selten zu sehen, aber ebenso charakteristisch sind. Eines zeigt sie 1972 mit dem kommunistischen Diktator Nicolae Ceausescu, der Rumänien mit einer Mischung aus Grössenwahn und brutalsten Polizeistaatmethoden regierte. Ein anderes zeigt sie lächelnd mit ihrem Landsmann Ramón Mercader, der in den 1960er Jahren in Moskau im Exil lebte, als ordengeschmückter «Held der Sowjetunion».
Mercader war ebenfalls spanischer Kommunist, und seinen Orden hatte er sich verdient, indem er 1940 nach Mexiko reiste, um Josef Stalins altem Rivalen Leo Trotzki einen Eispickel in den Schädel zu rammen. Das war ganz im Sinne von Dolores Ibárruri. Schliesslich war die glühende Antifaschistin eine ebenso glühende Anhängerin des sowjetischen Diktators Josef Stalin, den sie als «Licht der Freiheit und der Gerechtigkeit» verehrte. Seine realen und imaginären Feinde dagegen betrachtete sie als faschistische Verräter, die «wie Raubtiere» ausgerottet werden müssten.
Mutige Kämpfer gegen das Böse, so lernen wir daraus, können böse Absichten haben. So banal diese Erkenntnis auch sein mag, so schwer ist sie für manche Leute zu akzeptieren. Dies besonders, wenn der Kampf gegen das Böse unter dem Titel «Antifaschismus» geführt wird, der derzeit wieder in aller Munde ist. So ist es innerhalb der Linken seit einigen Jahren Mode, Maifeiern und Reden mit Kampfparolen wie «Nie wieder Faschismus!» oder «¡No pasarán!» zu schmücken. Antifaschisten werden pauschal zu Helden erklärt, und seit dem mutmasslichen Mord an George Floyd ist es selbst für die brave SPD-Vorsitzende Saskia Esken Pflicht, sich «selbstverständlich» zum Antifaschismus zu bekennen.
Die Frage, wer und was damit alles gemeint ist, bleibt bei allem Pathos oft diffus. Mit echter Sorge hat der Antifa-Sprech denn auch nur zum Teil zu tun. Zwar entzündet er sich immer wieder an gefährlichen Bewegungen und Tendenzen, vom jahrelang verharmlosten rechtsextremen Terror über den völkischen Flügel der AfD bis zum faschistischen Revisionismus in Italien. Da der Kreis der Faschismusverdächtigen meist auffällig weit gefasst wird, geht es aber um viel mehr als um berechtigte Warnungen. Es geht um Koketterie, aber auch Identifikation mit einem alten Kampfmittel, dessen Patentante nicht umsonst Dolores Ibárruri heisst.
So ist es kaum Zufall, wenn SP-Politiker wie Cédric Wermuth ihre Reden wider den Kapitalismus, den Sexismus, den Rassismus, die SVP, Trump, Davos und die «liberale Elite» aus FDP und CVP mit Parolen wie «¡No pasarán!» und «Kein Fussbreit dem Faschismus!» spicken, um gleichzeitig an die Einheit der Linken zu appellieren. Oder wenn sich Jungsozialisten mit antifaschistischem Pathos mit Linksextremisten solidarisieren, die sich an Maos Roten Garden orientieren und Milchshake-Attacken auf SVP-Politiker als Akte heroischer Gegengewalt feiern.
Wichtig ist in dieser Weltsicht einzig, ob jemand gefühlsmässig der faschistischen Seite zugeordnet wird oder der antifaschistischen. Ob jemand Gewalt ablehnt und sich an demokratische Gepflogenheiten hält, spielt dagegen bei Freund wie Feind keine Rolle. Diese Logik passt bestens zur gegenwärtigen Woke-Kultur, die ihre Stärke gerne in Form von Shitstorms, Schnellurteilen und der Verehrung seltsamer Heiliger demonstriert. Sie gehört indes schon lange zum Wesen eines militanten Antifaschismus, der das demokratisch-kapitalistische «System» zu delegitimieren versucht, indem er möglichst viele Leute als Faschisten entlarvt. Ob Trump, die Polizei, die SVP oder sämtliche AfD-Mitglieder nach wissenschaftlichen Kriterien wirklich faschistisch sind (selbst politisch unverdächtige Historiker bezweifeln es), ist dabei egal. Denn wo ein neuer Faschismus droht, ist Gewalt legitim, und die Frage nach den wahren Zielen der Gewalttäter ist geradezu obszön.
Die Ursprünge dieses demokratiefeindlichen Antifaschismus gehen in die 1920er und die 1930er Jahre zurück, als der ehemalige Sozialist Benito Mussolini in Italien eine militaristische und rassistische Parteidiktatur errichtete, die in vielen Ländern Nachahmer und Bewunderer fand – namentlich in Deutschland. Für die extreme Linke, die sich in den kommunistischen Parteien sammelte, waren Hitler und Mussolini nur die aggressivsten Büttel des Finanzkapitals, das ihrer Meinung nach auch die Demokratie beherrschte. Folglich richtete sich ihr Kampf gegen den Faschismus von Anfang an gegen den Kapitalismus und die Demokratie, die wie 1917 in Sowjetrussland durch eine Parteidiktatur ersetzt werden sollte.
Der Kreis der potenziellen Faschisten war dabei von Anfang an beliebig erweiterbar. Das mussten zuerst die deutschen Sozialdemokraten erfahren, die von den Kommunisten als «Sozialfaschisten» diffamiert wurden. Die Logik dahinter: Weil die SPD den Kapitalismus de facto duldete, war sie laut Stalin der «objektiv linke Flügel des Faschismus».
Die Folgen dieser Fehldiagnose waren desaströs: Adolf Hitler kam 1933 auch dank der Spaltung der Linken an die Macht, Tausende Kommunisten und Sozialdemokraten wurden verhaftet und ermordet. Aus dieser Niederlage trugen die Kommunisten jedoch einen nachhaltigen moralischen Sieg davon. Da das europäische Bürgertum zum Teil offen mit Faschisten und Nazis sympathisierte, vermarkteten sie sich geschickt als einzige wahre antifaschistische Kraft, die Sozialdemokraten und liberale Nazigegner bestenfalls als Juniorpartner duldete. Mit Hitler, so schreibt der französische Sozialwissenschafter und Ex-Kommunist François Furet in seinem Werk «Das Ende der Illusion», erhielt Stalin endlich einen Feind nach Mass. Aufgrund ihres mit zahlreichen Opfern errungenen Prestiges bestimmten die Stalinisten nun nicht nur darüber, wer Antifaschist sein durfte (im Prinzip jeder, solange er die Kommunisten nicht kritisierte), sondern auch, wer Faschist war (im Prinzip jeder, der lästig war oder als Sündenbock gelegen kam).
Statt an der Frage, wofür und mit welchen Methoden die Kommunisten eigentlich kämpften, wurden sie nun laut Furet einzig an ihrer Gegnerschaft zu Hitler, Mussolini und Konsorten gemessen. Selbst liberale Bürger und Intellektuelle glaubten nach 1933, man habe es hier mit echten Verteidigern der Freiheit und der Demokratie zu tun – denn so verkündete es ja auch die stalinistische Propaganda. Das ist umso bemerkenswerter, als Stalin unter Applaus seiner internationalen KP-Anhängerschaft in den 1930er Jahren die schlimmsten Verbrechen verüben liess, die jene des «Dritten Reiches» zunächst weit übertrafen: durch Folter konstruierte Schauprozesse gegen «faschistische» Verschwörer, Massendeportationen, Mordjustiz in Hunderttausenden Fällen.
Genauso unerbittlich machte die Führungsriege der KP Spaniens um Dolores Ibárruri im Spanischen Bürgerkrieg (1936 bis 1939) Jagd auf Andersdenkende in den eigenen Reihen, die mithilfe des sowjetischen Geheimdienstes als faschistische Agenten verfolgt wurden. 1939 entlarvte Stalin den linksextremen Antifaschismus endgültig als Lügengebilde, indem er mit Adolf Hitler einen Pakt zur Aufteilung Europas besiegelte. Weil Hitler diesen Pakt 1941 brach und von der Sowjetunion unter enormen Opfern besiegt wurde, lebte der Antifaschismus stalinistischer Prägung nach dem Zweiten Weltkrieg jedoch wieder auf, mit einem Glanz, der bis heute nachwirkt. Zumal sich Politiker, Journalisten und selbst Wissenschafter gerne blenden lassen: Während der Antikommunismus gemeinhin als böse gilt, weil ihn übereifrige Bürgerliche und rechte Militärregime dazu missbrauchten, um gegen Andersdenkende aller Art vorzugehen, sieht man im Antifaschismus nur das Gute. Dies, obwohl er sich auch nach dem Krieg erneut in seiner vollen Widersprüchlichkeit entfaltete.
So lobte die Philosophin Susan Neiman kürzlich in der «NZZ am Sonntag» ausgiebig den Nachkriegs-Antifaschismus in Deutschland, der in der DDR «von oben» und in der BRD «von unten» gekommen sei, aber allemal «wünschenswert» gewesen sei. Als ob es hüben wie drüben nur um die Aufdeckung alter und neuer Nazi-Netzwerke gegangen wäre. In Wahrheit liessen Stasi-Chef Erich Mielke und seine Genossen im Namen des Antifaschismus Tausende demokratische Gegner einsperren, Volksaufstände niederknüppeln und einen «antifaschistischen Schutzwall» bauen, der als «Mauer» bekannt ist. Auch westdeutsche Berufsrevolutionäre witterten überall Faschisten, die Gewalt und Terror rechtfertigen sollten – unter anderem gegen Holocaust-Überlebende, die kollektiv für die «faschistische» Politik Israels büssen sollten.
All das waren keine Betriebsunfälle, sondern logische Konsequenzen einer überdrehten Ideologie, die sich jederzeit gegen jeden richten kann. Gleichwohl wird heute kaum jemand misstrauisch, wenn DDR-Nostalgiker, alte Stalinisten, Vermummte und jungsozialistische Eiferer an Demos verkünden, Faschismus sei «keine Meinung, sondern ein Verbrechen». Es klingt ja erst einmal gut, weshalb die Medien lieber von «bunten Protesten» berichten, als sich mit der Ideologie hinter solchen Parolen zu befassen.
Und während Hitler-Bezwinger Churchill und andere Ikonen derzeit postum für ihre Sünden büssen müssen, wird Dolores Ibárruri bis heute als Grande Dame des Antifaschismus verklärt, als Demokratin, deren Verstrickungen in den Stalinismus höchstens anzutönen oder als vorübergehendes Problem zu betrachten sind. Für manche Jungsozialistinnen ist sie gar ein Vorbild, das die Linke «einen» wollte. Auf die Idee, das berühmte Denkmal der Pasionaria in Glasgow mit Warnhinweisen zu versehen, ist die Generation Woke dagegen noch nicht gekommen.
«¡No pasarán!»: Im Spanischen Bürgerkrieg richtete sich dieser Schlachtruf gegen Faschisten und gegen alle möglichen Feinde.