#chronos (1963)

cueni_chronos_19631963 schluckte die State Mutual Insurance Company einen Konkurrenten und wollte die Übernahme mit einem freundlichen Gesicht visualisieren. Der Freelancer Harvey Ball entwarf in zehn Minuten einen gelben Kreis mit zwei fröhlichen Augen und einem lächelnden Mund. Für seinen «Smiley» erhielt er 45 Dollar und eine Menge Ärger. Jahrelang kämpfte er mit seinen Anwälten vor Gericht, damit seine Urheberschaft anerkannt wird. Nach 40 Jahren erfolglosem ­Prozessieren war selbst dem Schöpfer des Smiley das Lächeln vergangen. Seine Kreation ist heute die meistverbreitete Werbegrafik der Welt.

Weltweite Verbreitung fand auch der Song «We Shall Overcome». Auf dem Marsch der 300 000 nach Washington sangen die Menschen den 60 Jahre alten Gospelsong des Pfarrers Charles Tindley, der mittlerweile über 100 Coverversionen erlebt hat und heute die Hymne der Bürgerrechtsbewegungen in aller Welt ist. Auf ­diesem «March on Washington for Jobs and Freedom» hielt Martin Luther King seine berühmte Rede «I Have a Dream».

Ganz andere Träume hatten die Frauen, die sich die ersten Silikonimplantate einsetzen liessen. Nach unzähligen Versuchen mit Rinderknorpel, Wolle, Glaskugeln, Paraffin und Bienenwachs schien man nach 68 Jahren Forschung das geeignete Material gefunden zu haben. Doch 20 Jahre später verklagten Hunderte der 1963 operierten Frauen den Implantathersteller wegen Autoimmunerkrankungen.

1963 liess Alfred Hitchcock in den USA die Möwen fliegen. «The Birds» basierte auf der gleich­namigen Shortstory von Daphne du Maurier und machte das New Yorker Fotomodell Tippi Hedren berühmt. Über die tiefere Bedeutung des Films wurde lange debattiert. Die einen glaubten im Angriff der Vögel die Luftangriffe der Deutschen während des Krieges zu erkennen, andere hielten die Möwen für die kommunistische Bedrohung. Unbestritten ist, dass Hitchcock mit diesem Film einen Klassiker des Horrorfilms gedreht hat.

Wesentlich kontroverser war «Das Schweigen» von Ingmar Bergmann. Die Presse fragte sich «Ist das noch Kunst oder schon Pornografie?» Marcel Reich-Ranicki schrieb, nun könnten Spiesser und Heuchler beruhigt «einen feuchten weiblichen Busen» betrachten und «sich aufgeilen» lassen. Die Sexszenen in einer leer stehenden Kirche riefen die Zensurbehörden auf den Plan und bescherten dem Film einen grossen Erfolg und Einsparungen in Werbung und Marketing.

Problemlos verliefen hingegen in Hamburg die Dreharbeiten zum Sketch «Dinner for One». In der 18-minütige NDR-TV-Produktion spielte der Komiker Freddie Frinton den Butler James, der für Miss Sophie die Rolle der vier verstorbenen Gäste übernehmen muss. «The same procedure as every year?»

Eine Abweichung vom üblichen Prozedere schaffte Charles de Gaulle, als er den Beitritts­antrag Grossbritanniens zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) überraschend ablehnte. Von den bisherigen Standards wich auch der Philips-Konzern ab: Er erfand einen neuen Datenträger: die Compact Cassette, und Bobby Vinton sang sich mit «Blue Velvet» auf Platz 1 der US Charts.

John F. Kennedy erlitt vor dem Berliner ­Rathaus Schöneburg eine Identitätskrise und behauptete, er sei ein Berliner. Noch im selben Jahr wurde er in Dallas von einem Attentäter erschossen. Die zahlreichen Verschwörungstheorien halten bis heute an.

Der Basset «Wurzel» startete in der Daily Mail seine Comic-Weltkarriere als ironisch reflektierender Vierbeiner. Wurzel überlebte sogar den Tod seines Schöpfers Alexander Graham (1991), denn seine Tochter lieferte später die Ideen für mittlerweile über 15 000 Comicstrips.

© Basler Zeitung; 12.12.2014

#chronos (1981)

 

Bildschirmfoto 2015-02-26 um 15.34.11«Ich will den War Room sehen», sagte der ­frisch gewählte amerikanische Präsident Ronald ­Reagan, als er zum ersten Mal das Weisse Haus betrat. Man musste ihm schonend beibringen, dass der War Room, den er im Kino gesehen hatte, eine Kreation des Bühnenbauers Ken Adams war. Er hatte für die meisten James-Bond-Filme die futuristischen Bunker gebaut. «Bigger than life» war sein Credo.

Der ehemalige Cowboy-Darsteller Reagan hatte sich zum Ziel gesetzt, den Warschauer Pakt zu Tode zu rüsten und in Europa Mittelstrecken­raketen zu stationieren. Allein in Amsterdam ­marschierten fast eine halbe Million Menschen für den Frieden auf die Strasse und begründeten zusammen mit Atomkraftgegnern, Umwelt­aktivisten und Hausbesetzern eine neue Alternativkultur.

Die Abrüstungsverhandlungen in Wien waren nur gerade für den Russen Nikolai Koroljuk ­erfolgreich. Dank seinen guten Deutschkennt­nissen flüchtete der Dolmetscher noch während der Gespräche in den Westen, wo gerade mit dem «European Currency Unit» (ECU) die Verrechnungseinheit der Europäischen Gemeinschaft ­eingeführt wurde.

Während in Stuttgart der letzte Mercedes-Benz vom Band rollte, definierte IBM mit dem ­ersten «persönlichen Computer» den weltweiten Computerstandard. Der IBM PC 5150 hatte noch keine Festplatte, dafür aber 5,25-Zoll-Disketten mit 160 KB Speicherplatz. Shakin’ Stevens sang «You Drive Me Crazy».

Im gleichen Jahr wurde das Computer Science ­Network (CSNET) gegründet, der Vorläufer des Internets. Der US-Seuchenschutz berichtete erstmals über eine neue Immunkrankheit: Aids.

Im Fernsehen erklärte uns Tilli das neue Palmolive: «Sie baden gerade Ihre Hände darin.» Gleich nach der Werbung wurde die ­Hochzeit von Lady Diana Spencer und Prinz Charles übertragen. Charles hatte noch kurz vor dem Jawort seiner heimlichen Geliebten gemailt, dass er gerne ihr Tampon wäre. Camilla, die Duchess of Cornwall, erbarmte sich seiner und heiratete ihn später.

Die ARD startete die US-Serie «Dallas». J. R.: «Wenn ich nächstes Mal das Kriegsbeil begrabe, begrabe ich es in deinem Schädel!» Robert De Niro kämpfte «Wie ein wilder Stier», während Elias Canetti den Literaturnobelpreis erhielt und noch einen Sohn zeugte.

Das Licht der Welt erblickten auch Beyoncé und Britney Spears, das Licht erlosch für Bill Haley, Bob Marley und Georges Brassens. Der ägyptische Präsident Anwar al-Sadat wurde bei einer Militärparade erschossen, während sowohl Papst Johannes Paul II. als auch Ronald Reagan Opfer von Attentätern wurden und überlebten.

In Polen wurde der Kriegszustand verhängt, um die Solidarnosc in die Knie zu zwingen. Auf den Philippinen wurde das Kriegsrecht wieder auf­gehoben, nachdem Diktator Ferdinand Marcos über 30 000 Oppositionelle in Militärlagern ­inhaftiert und zahlreiche Gegner erschossen hatte. Das Land, das nach dem Zweiten Weltkrieg die zweitstärkste Wirtschaftsmacht in Südostasien war, verkam zu einem Drittweltland. Imelda ­Marcos sagte einmal: «Ich bin der Star und der Sklave der kleinen Leute, und es kostet mich weit mehr Arbeit und Zeit, mich für einen Besuch in den Elendsvierteln zurecht­zumachen als für einen Staatsbesuch.» Ihr Clan hatte dem Volk 30 Milliarden geraubt.

Eine weitere «Klapperschlange» machte von sich reden, der Science-Fiction-Film von John ­Carpenter. In schwedischen Gewässern dümpelte wieder einmal ein sowjetisches U-Boot und ­Freddie Mercury sang die Titelmelodie des ­Flash-Gordon-Remakes: «Gordon’s alive, flash, ah, ah, he’ll save ev’ry one of us.»

One more thing: Bill Gates verkündete: «640 Kilobyte sind genug für jeden.»

Claude Cueni ist Schriftsteller und lebt in Basel.

www.cueni.ch

© Basler Zeitung; 27.02.2015

 

#chronos (1893)

 

cueni_chronos_1893«Wir sind leider pleite», verkündete der ­griechische Premier Charilaos Trikoupis 1893, «Dystychos eptochefsame». Das Land war bereits seit 1826 hoffnungslos überschuldet und hatte die Auslandskredite nicht mehr zurückzahlen können. Ursache war wie üblich die griechische Tradition, den Staat vor allem als Versorgungs­anstalt zu ­nutzen. Kulturell verankert waren auch die ­fehlende Steuermoral und «Fakelaki», die Kunst der freundlichen Bestechung. Auch nach 100 ­Jahren besetzt Griechenland gemäss ­«Transparency International» Platz eins auf der europäischen Korruptionsliste.

Nach der Bankrotterklärung verlor Trikoupis haushoch gegen Theodoros Deligiannis, der seine Anhänger mit populistischen Versprechungen begeisterte und als «grösster Demagoge ­Neugriechenlands» in die Geschichtsbücher ­einging. Trotz leeren Staatskassen plante man in grotesker Selbstüberschätzung einen aussichts­losen Angriffskrieg (1897) gegen das ­übermächtige Osmanische Reich, der aber bereits nach einem Monat kläglich scheiterte.

In diesem Jahr gingen auch zahlreiche ­Investoren jenseits des Atlantiks pleite. In der «Panik von 1893» crashte die Börse, nachdem eine weitere Eisenbahngesellschaft Insolvenz angemeldet hatte. In Erwartung einer Dollar­abwertung (aufgrund der geschrumpften Gold­reserven) begann am «Industrial Black Friday» der plötzliche Ausverkauf an den Börsen. Fünfzehn­tausend Firmen gingen bis Ende Jahr bankrott, ­Hunderte von Banken und Eisenbahngesellschaften waren pleite.

Nach dem Eisenbahnhype folgte der Automobilhype: Rudolf Diesel erhielt das Patent für seinen Diesel­motor, Whitcomb Judson ein Patent auf seinen neuartigen Reissverschluss und Charles Cretors brachte Maiskörner maschinell zum Platzen und patentierte die Popcornmaschine, die heute zu jeder Kinoausstattung gehört.

Kino gabs jedoch erst in der «Black Maria», dem ersten kommerziellen Filmstudio der Welt. Inspiriert durch die Serienfotografien von ­Muybridge und Marey hatte Thomas Edison, gemeinsam mit dem Ingenieur und Hobby­fotografen Dickson, ein Gerät entwickelt, das während einer Minute bewegte Bilder ­aufzeichnen und wiedergeben konnte: den Kinetoskopen.

Durchaus filmreif war auch die Karriere von Grover Cleveland. Der frühere Sheriff wurde zum 24. Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt. Der Naturbursche galt als integer und bekämpfte die Korruption. Er liebte gesellige Pokerrunden in den Saloons und das weibliche Geschlecht. Eines seiner Kinder wurde gleich im Weissen Haus geboren, und selbst ein uneheliches Kind konnte ihm im prüden 1893 nicht das Genick brechen. Aufgrund seiner Leibesfülle wurde der ­Genussmensch «Big Steve» genannt, nach Ablauf seiner Amtszeit hatte er bereits die ­Schwergewichtsklasse erreicht und hiess fortan «Uncle Jumbo».

Genussmenschen gehörten auch zur Klientel des Kellners Maxime Gaillard, der in Paris das Restaurant Maxim’s eröffnete. In der Schweiz wurde eine Volksinitiative zur Abschaffung des Schächtens angenommen, bewirkt hat es jedoch wenig. Und in Basel wurde der FC Basel gegründet.

1893 war auch die Zeit von Rosa Luxemburg, der Terroranschläge von Anarchisten in Paris und Barcelona, die Zeit der europäischen Kriege auf Kolonialgebiet. Deutsche töteten in Deutschland-­Südwestafrika, Spanier jagten Berberstämme im nördlichen Marokko, Franzosen unterwarfen Mali und gründeten die Kolonie Französisch-Sudan, und selbst in Asien führten sie Krieg und schufen die Kolonie Französisch-Indochina (Laos).

Und Edvard Munch malte die erste Version seines Gemäldes «Der Schrei».

Claude Cueni ist Schriftsteller und lebt in Basel.

© Basler Zeitung; 13.02.2015

Was ist autobiographisch? 15 Fragen an Claude Cueni

 

cueni_scriptavenue_redInterview: Dante Andrea Franzetti, Interessen.org, Wochenmagazin für Kultur und Politik.

 

Interessen.org: Wie viel ist autobiographisch an Ihrer Autobiographie? Die Frage ist weniger bizarr, als es scheint: „Script Avenue“ ist sehr ausgeschmückt und ausgeblümt, und Sie nennen das Buch einen „Roman“.

 

Claude Cueni: Ich habe das Buch als Roman angeboten, weil es mir peinlich gewesen wäre, es als Autobiographie zu bezeichnen. Ich bin ja keine Berühmtheit. Aber mein Agent und meine Verlegerin Gaby Baumann meinten, das sei eine Autobiographie. Diese Genrebezeichnung war für mich auch aus juristischen Gründen nicht sinnvoll. Wir haben uns dann rasch auf „Roman“ geeinigt.

„Die Script Avenue“, das ist mein Leben, selbst Dialoge aus den 60er Jahren konnte ich eins zu eins abrufen. Wenn ich mich erinnere, sehe ich Filme, und wenn ich schreibe, kann ich diese Filme abrufen.

 

Gibt es diesen Onkel Arthur, Fremdenlegionär, der sich in Algerien vor an Panzerrohren baumelnden, abgehackten Köpfen fotografieren liess, tatsächlich? Wie andere Personen, etwa der marxistische Schriftsteller Berthold Krenz, scheint er eher eine Kunstfigur.

 

Es gibt keine Kunstfiguren in der „Script Avenue“. Der reale „Onkel Arthur“ wohnt heute in Basel, aber ich habe ihn seit schätzungsweise zwanzig Jahren nicht mehr gesehen. Und bin froh darüber. Das Panzerfoto mit dem Totenschädel hat mich damals als Bub schockiert und ist mir deshalb in lebhafter Erinnerung geblieben. Diese Figur ist eins zu eins aus der Realität übernommen, die Dialoge, die Prügeleien, die Vergewaltigungen, die Erzählungen über die Fremdenlegion in Algerien, einfach alles. Ich habe nur den Vornamen ausgewechselt.

Auch der marxistische Schriftsteller Berthold Krenz ist keine Kunstfigur. Viele Dialoge sind Originaldialoge aus der damaligen Zeit an den jeweiligen Schauplätzen.

Die erste Fassung hatte 890 Seiten und die richtigen Namen und Ortsangaben. Diese habe ich dann nach dem juristischen Lektorat verfremdet. Sie werden das jurassische Dorf „Vilaincourt“ auf keiner Karte finden, denn es ist „Boncourt“. Ich habe ein Wortspiel aus „vilaine court“ (hässlicher Hof) und „bonne court“ (guter Hof) bzw. Boncourt gemacht.

 

Ihre Memoiren, oder wie man es nun nennen will, zeichnen sich durch Ironie und Sarkasmus, barocke Fülle und einen souveränen distanzierten Stil aus. Die Stimmlage ist ein Ton höher, schriller als in Ihren übrigen Büchern. Kann man nur als eine Art Simplizissimus über sich selbst schreiben?

 

Ich bin wohl von klein auf so programmiert, dass ich überall die Ironie des Schicksals oder die Komik des Alltags erkenne. Auch der Rückblick auf mein merkwürdiges Leben konnte deshalb nicht frei von Ironie sein. In jedem Leben steckt eine Menge Pulp Fiction.

 

Feinfühlig, aber auch nüchterner sind Ihre an Krebs verstorbene Frau und Ihr Sohn dazwischengeschaltet. Es sind die einzigen, die vom Sarkasmus des Erzählers ausgenommen sind. Verbat sich hier die Ironie?

 

Der Tod meiner Frau war ein monumentales Ereignis, ein Crashkurs in Philosophie. Das Leid war so, dass keine Ironie aufkommen kann. Über meinen Krebs kann ich Witze reissen, aber nicht über den Krebstod meiner Frau.

 

Es taucht aber auch ein ominöser Literaturagent auf, der u.a. die Schwierigkeiten der Publikation dieses Buches schildert. Waren kritische Bemerkungen über die arabische Kultur das Problem? Oder Ihre Weigerung, den Feminismus als Gottes Segen zu verstehen?

Meinem Agenten verdanke ich den internationalen Erfolg meiner historischen Romane. Er hatte kein Problem mit dem Mangel an Political Correctness. Er hielt den Roman einfach für unverkäuflich, weil er weder Roman noch Autobiographie, weder Tragödie noch Komödie ist. Er meinte, ich müsste mich für ein Genre entscheiden, sonst könne er das Buch nicht anbieten. Die erste Frage eines Verlegers sei immer: Welches Genre? Aber ich wollte ganz bewusst ein Buch schreiben, das alles vereint, was das Leben ausmacht: Komödie und Tragödie, eine Schweizer Forrest-Gump-Geschichte.

 

Glauben Sie, dass die Reaktion der Verlage nach den Massakern in Paris eine andere gewesen wäre – in dem Sinne: Unsere Selbstzensur muss jetzt ein Ende haben? Oder ist es umgekehrt: Kuschen wir alle noch mehr vor den Geboten der PC?

 

Der Buchmarkt zeigt, dass alles möglich ist. Bei Grossverlagen entscheidet am Ende der finanzielle Aspekt und nicht die Political Correctness. Die Selbstzensur haben sich eher die Kulturschaffenden auferlegt. Intellektuelle sind es gewohnt, mit Worten zu kämpfen. Stehen sie plötzlich einem primitiven Kerl gegenüber, der mit roher Gewalt droht, überlegt sich ein Autor oder Karikaturist zweimal, ob sich das Risiko wirklich lohnt. Ein Kulturschaffender im Westen hat mehr zu verlieren als ein religiöser Fanatiker ohne Bildung und berufliche Perspektive.

 

Ist es bezeichnend für unsere Zeit, dass wir wieder mehr um die Freiheit der Kunst kämpfen müssen?

 

Die Freiheit der Kunst muss täglich verteidigt werden, sonst verliert man sie. Das war schon in der Antike so. Honoré Daumier wanderte 1832 wegen seiner Gargantua-Karikatur ins Gefängnis. Als 1951 die „Sünderin“ mit Hildegard Knef aufgeführt wurde, stürmte ein katholischer Priester mit Gleichgesinnten die Kinos und warf Stinkbomben und weisse Mäuse in den Saal, 1963 wurde vor den Theatern gegen die Aufführung von Rolf Hochhuts „Stellvertreter“ demonstriert. Kontroversen wird es immer geben, das gehört zur Entwicklung einer Gesellschaft, aber heute sind die Skandale oft gesucht und Teil der Marketingkampagne.

 

Es gibt zweifellos einige Stellen im Buch, die Rechtspopulisten gefallen würden: zum Beispiel, dass unser Staat Pädophilen erlaubt, mit Kindern zu arbeiten; oder Afrikaner, die in der Bronzezeit lebten und „vor dem Penaltyschiessen Schimpansenknochen unter der gegnerischen Trainerbank kreuzen“. Die Schweiz sei ein Land, in dem Leistung „ein Offizialdelikt“ sei. Soll das schockieren? Und wen?

 

Dass man rechtskräftig verurteilten Pädophilen nicht mehr erlaubt, mit Kindern zu arbeiten, finde ich als liebender Vater selbstverständlich. Dass wir verwöhnte Wohlstandsbürger geworden sind, diese Einschätzung ist nicht eine Frage der Ideologie, sondern des Alters. Im Alter kann man vergleichen. Dort, wo ich aufgewachsen bin, ging man nicht in die Ferien. Heute darf man in den Medien jammern, wenn man nicht zweimal im Jahr Urlaub machen kann.

Wenn Sie die Dritte Welt gesehen und realisiert haben, dass eine Milliarde Menschen in Slums wohnen, kommen Sie zum Schluss, dass wir jede Verhältnismässigkeit verloren haben. Auch diese Einschätzung hat nichts mit Ideologie zu tun, sondern mit dem Wissen über die katastrophale Armut in der Dritten Welt.

Zu den Schimpansenknochen noch ein Wort: Ich bin an einem Freitag den 13. geboren und habe für Aberglauben nur Spott übrig. Meine Mutter kreuzte manchmal zwei Küchenmesser unter meinem Bett, um mich davon abzuhalten, Sartre oder Henry Miller zu lesen. Ich kann heute noch herzhaft darüber lachen. Wieso darf ich nicht auch darüber lachen, wenn ein Afrikaner zwei Schimpansenknochen unter der gegnerischen Trainerbank kreuzt? Die Fussballwelt ist voller abergläubischer Menschen. Die meisten Menschen sind abergläubisch. Auch Religion ist eine Form von Aberglauben.

 

Ihr Urteil über die Schweizer Literatur und Kritik der letzten Jahrzehnte ist vernichtend: langweilig, sozialdemokratisch, brav, uninspiriert, Gesinnungsliteratur usw. Trifft es Sie, dass das Feuilleton Sie sozusagen als gehobenen Trivialautor betrachtet?

 

Ich habe doch nichts gegen sozialdemokratische Literatur. Ich bin eh ein Freund von Meinungsvielfalt und freier Meinungsäusserung. Ich mag jene Art Literatur nicht besonders, die in pastoralem Ton belehrt und bekehren will. Für Botschaften soll man bekanntlich die Post benützen. Ich will Geschichten erzählen mit Charakteren, die berühren und nachhaltig wirken, ich schreibe Historie in Romanform, zeige, dass Wissen sexy ist. Als „Trivialliteratur“ sind meine historischen Romane noch nie bezeichnet worden, meistens wählt man „intelligente Unterhaltung“. Was soll daran schlecht sein?

Es ist anspruchsvoll, einen historischen Roman wie „Das grosse Spiel“ zu recherchieren und zu schreiben, der die Erfindung des Papiergeldes in Europa dramatisiert und richtig Spass macht. Sie kennen sicher das Zitat: Jede Art zu schreiben ist erlaubt, nur nicht die langweilige. Wir leben in einem freien Land, jeder soll schreiben, was er mag, und jeder soll lesen, was er mag.

 

Weite Strecken von „Script Avenue“ lesen sich wie eine nostalgische Hymne auf die 70er Jahre. Nie wieder, heisst es, würden wir eine solche Freiheit erleben. Was hat sich verändert?

 

Alles. Die 70er Jahre waren wilder, frecher, schräger, unkonventioneller, erotischer. Eine Janis Joplin lebte ihre Songs auf der Bühne, ein Joe Cocker litt an seinen Songs, Song und Sänger waren eins. Heute haben wir eine singende „Arsch- und Tittenkultur“, Medienstars wie Paris Hilton oder Kim Kardashian sind berühmt für ihr Berühmtsein. Stars werden nicht mehr geboren, sondern künstlich erschaffen. Und das Ganze sieht dann eher aus wie ein Werbespot für Badeschaum.

Aber das ist okay, jeder nach seinem Geschmack. In den 70er Jahren gab’s einfach weniger Bürokratie, Reglementierungen, Bevormundungen, mehr originelle Typen, schräge Filme, weniger Political Correctness. Es war nebst der Belle Epoque das geilste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts.

 

Die Zeichnung der 70er Jahre ist aber auch ambivalent: Es sei das Zeitalter gewesen, in dem Leute Geld ohne Leistung gefordert hätten. Kann man sagen: Sie stehen fest auf dem Boden der freien Marktwirtschaft?

 

Dieses Zitat bezieht sich nicht auf die 70er Jahre, sondern auf die Gegenwart. Aber zu Ihrer Frage: Ich bin für eine soziale Marktwirtschaft, in der Leistung honoriert, aber die Schwächsten der Gesellschaft beschützt und unterstützt werden. Keine einzige Partei setzt sich heute für Behinderte ein. Ich bin auch für ein Maximum an individueller Freiheit, solange sie die Freiheit anderer nicht einschränkt. Aber Marx hatte absolut Recht, als er schrieb: „Das Sein bestimmt das Bewusstsein“.

Ich wollte als Kind immer „weniger Vater“, als Erwachsener wünschte ich mir „weniger Staat“, als junger Autor lebte ich wie ein Bohemien und war prädestiniert, ein Big Lebowski zu werden. Doch Schicksalsschläge zwangen mich, meine Interessen zurückzustellen und sehr viel zu arbeiten. Ich musste ein Leben lang als Einzelkämpfer viel Leistung erbringen. Ich war und bin deshalb ein Freund von Selbstverantwortung und Verantwortung anderen Menschen gegenüber.

 

Schon in „Das grosse Spiel“, einem Roman über den Papiergeld-Erfinder John Law, ist Ihr Gespür für Dramaturgie offensichtlich. Dramaturgie ist grundsätzlich an Fiktion geknüpft, das wahre Leben kennt viele Leerstellen, Wiederholungen, Langeweile etc. Wie liessen sich die Erfordernisse der Autobiographie und der Dramaturgie überhaupt zusammenbringen?

 

Das war relativ einfach. Stellen Sie sich vor, mein Leben besteht aus einem Becher Popcorn. Sie suchen gezielt einige interessante Popcorns aus und reihen sie nach dramaturgischen Gesichtspunkten auf dem Tisch aneinander. Das ist dann die Script Avenue. Nach der ersten Fassung von 890 Seiten habe ich alles gestrichen, was in meinem Leben zwar wichtig, aber für den Roman langweilig war. Es gibt’s nichts Langweiligeres, als wenn der Nachbar detailliert über seine Ferien auf Mallorca erzählt. Das Leben wird mit den Jahren in der Tat ein bisschen repetitiv, der 3429. Orgasmus ist nicht mehr so aufregend wie der erste.

 

Wäre der Begriff Autofiktion auf „Script Avenue“ anwendbar? Dramatisierung des eigenen Lebens?

 

Ja, Karl Ove Knausgård schreibt auch Autofiktion, aber er hat trotzdem eine Menge Klagen am Hals. (Karl Ove Knausgård, 1968, norwegischer Schriftsteller, schrieb den Romanzyklus mit dem etwas irritierenden Titel „Min Kamp“, der unter anderem eine Abrechnung mit dem Vater ist – die Red.)

 

Sie sind schwer krank. Schärft diese Lage den Blick? Macht sie freier gegenüber Konventionen? „Script Avenue“ atmet eine eindrückliche, geradezu meisterhafte – verzeihen Sie die Direktheit – Souveränität des Sterbenden.

 

Ich musste mich in den letzten fünf Jahren zweimal damit abfinden, dass ich in den nächsten Wochen sterbe. Das verändert alles. Ich lebe im Bewusstsein, dass es nächste Woche schon zu Ende sein kann. In dieser Situation wird man sehr bescheiden, demütig und schreibt ehrliche Bücher ohne Rücksicht auf die eigene Reputation.

Das ist wohl die Stärke der »Script Avenue«. Nach solchen existentiellen Erfahrungen wird man auch gelassener, vielleicht sogar gleichgültiger, und beschreibt die Dinge, wie man sie sieht, und nicht, wie man sie gerne sehen möchte, oder wie erwartet wird, dass man sie sieht. Man ist »signed off«. Das Phänomen habe ich in Hongkong oft beobachtet. Gestrandete Expats, die sich abseits ihres Kulturkreises einen Deut um ihre Reputation kümmern.

Mir geht es heute ähnlich. Ich bin wie ein Ausserirdischer, der nicht mehr Teil dieser Gesellschaft ist. Mein Koffer ist gepackt. Aber ich freue mich dennoch jeden Tag, ab drei Uhr morgens auf dem iPad Zeitungen zu lesen und einmal die Woche im Donati meine „Scaloppine Purgatorio del Padrone“ zu essen, ich muss ja nicht mehr fürs Alter sparen.

 

Zuletzt zur Schweiz: Es ist ein buntes Land, das Sie schildern, voller schräger Vögel, die man kaum noch antrifft. Heute scheint dieser Kleinstaat ohne Impulse, kraftlos, geistig verarmt, belanglos, konformistisch und desorientiert. Oder würden Sie diesem Eindruck widersprechen?

 

Ich habe auf so vielen Hochzeiten getanzt, dass ich einer Unzahl schräger Vögel begegnet bin. Die gibt es immer noch, sie leben mitten unter uns, aber sie gewähren einem nur dann Einblick in ihre Seele, wenn man ihnen in einem ersten Schritt mit schonungsloser Offenheit entgegentritt. Sie würden nicht glauben, wie viele schräge Vögel ich durch die Script Avenue kennengelernt habe. Meine Offenheit hat sie animiert, mir sehr Intimes und Bewegendes zu mailen. Viele Menschen haben ihre eigene Script Avenue. Aber sie lassen nur selten jemanden hineinschauen.

Zu unserem Kleinstaat: Viele Leute wachsen wie Prinzen und Prinzessinen heran, die permanente staatliche Rundumversorgung macht sie am Ende lebensunfähig, apathisch, aber auch unzufrieden und unglücklich. Aber es gibt auch einen Teil der Jugend, der Chilli im Hintern hat und etwas aufbauen und erreichen will. Jede Epoche hat ihre eigene Tinte, und die Erde dreht sich weiter.

#chronos (1977)

 

cueni_chronos_19771977 sangen die Eagles «Welcome to the Hotel California, such a lovely place», während in ­Frankreich zum letzten Mal das abgeschrägte Beil der Guillotine heruntersauste.

Der bisher unbekannte John Travolta tanzte sich durch «Saturday Night Fever». Sein Aufstieg zum Hollywoodstar war nicht ganz einfach, da er sich keine fünf Sätze merken konnte und deshalb überall Teleprompter im Weg standen. Und ein paar Scientologen.

Jimmy Carter wurde zum 39. Präsidenten der USA gewählt. Sein Bruder Billy, ein Tankstellen­besitzer, brachte umgehend ein Billy Beer auf den Markt und verdiente damit mehr als sein grosser Bruder in Washington. Er war ein sehr gefragter Interviewpartner, da er laut eigenen Angaben, an guten Tagen 40 bis 50 Dosen Billy Beer trank.

1977 schickte die Nasa ihre Raumsonde ­Voyager 1 zu den Planeten Jupiter und Saturn. Sie war das erste von Menschen geschaffene Objekt, das (nach einer 35-jähriger Reise) den inter­stellaren Raum erreichte. Noch heute sendet Voyager 1 regelmässig Daten zur Erde.

Nicht minder erfolgreich war in diesem Jahr der Start von George Lucas’ «Star Wars». Eigentlich hatte er «Flash Gordon» verfilmen wollen, doch Dino De Laurentiis wollte die Rechte nicht ­hergeben. Nach zahlreichen Absagen wurde das erfolgreichste Filmprojekt aller Zeiten realisiert und erwirtschaftete seitdem, allein mit dem ­Merchandising, über 20 Milliarden Dollars. Die Science-Fiction-Sage prägte nicht nur die Popkultur, ­sondern auch die ­Jugenderinnerungen einer ganzen Generation.

Das Jahr 1977 bescherte Deutschland einen «heissen Herbst». Die kommunistische und antiimperialistische Stadtguerilla Rote Armee Fraktion (RAF) dominierte mit Morden, Entführungen und Sprengstoffattentaten die Schlagzeilen. Als der Kern der RAF inhaftiert wurde, versuchten die letzten Mitglieder, ihre Anführer mit der Entführung einer Boeing der Lufthansa freizupressen. Bundeskanzler Helmut Schmidt schickte die Antiterroreinheit GSG-9 nach Mogadischu. In einer siebenminütigen Aktion erschoss die Spezialeinheit drei der vier Terroristen und befreite die Geiseln. Darauf begingen die vier inhaftierten RAF-Terroristen Selbstmord.

Medienthema war aber auch das anonyme Pamphlet in den Göttinger Nachrichten. Ein anonymer Mescalero brachte seine «klamm­heimliche Freude» über die Ermordung von ­Generalbundesanwalt Siegfried Buback zum ­Ausdruck. 24 Jahre später bekannte sich der Deutschlehrer Klaus Hülbrock zu diesem Text.

Elvis, der «King of Rock ’n’ Roll», der mit über einer Milliarde verkauften Tonträgern der ­erfolgreichste Solokünstler aller Zeiten ist, starb nach drei Herzinfarkten, Leukämie, chronischer Darmentzündung und anderen Krankheiten, die erst viel später publik wurden. Vor seinem Tod gestand er einem Freund: «Jeder denkt, ich sei einfach nur fett. Sie kapieren nicht, dass es ­Flüssigkeit ist. Mein Dickdarm ist hinüber.»

Sterben musste auch die Stummfilm-Legende Charlie Chaplin, der gemäss seinem renommierten Biografen Peter Ackroyd ein Weltstar, aber auch ein ziemlicher Mistkerl ­gewesen sein soll. Er habe seine weit über 100 Sexpartnerinnen «wie den letzten Dreck» behandelt.

Verstorben ist auch René Goscinny, der ­erfolgreichste Comicautor des 20. Jahrhunderts, der Asterix & Obelix & Lucky Luke die Sprech­blasen füllte. Er erlitt während eines routine­mässigen ärztlichen Belastungstests einen Herzinfarkt.

And one more thing: Ken Olson, Präsident der Digital Equipment Corp., diktierte einem ­Journalisten: «Es gibt keinen Grund, warum irgendjemand einen Computer in seinem Haus wollen sollte.»

© Basler Zeitung; 30.01.2015

Claude Cueni

Die #chronos Kolumnen erscheinen alle zwei Wochen in der Basler Zeitung, jeweils am Freitag.

 

Kolumne: Lolo Kiko on Tour

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Der Papst auf den Philippinen
Lolo Kiko on Tour
Von Claude Cueni

Auf den Philippinen sind sich die meisten ­Menschen einig: Das grösste Problem des Landes ist nicht die exorbitante Korruption, obwohl sie laut einem ehemaligen Finanzminister 50 Prozent des Staatshaushaltes verschluckt. Das grösste ­Problem sind auch nicht die brutalen Tsunamis, Erdbeben, Vulkanausbrüche und ­Terroranschläge der islamistischen Terrorgangs. Nein, das grösste Problem ist die Über­bevölkerung und die ­Katholische Kirche, die bis zum obersten Gericht prozessiert, um Sexualaufklärung an den Schulen zu verhindern. Politiker, die dagegen-­halten, droht die Exkommunikation, was im streng katholischen Land das Ende der politischen Karriere bedeutet.

Der Papst, der auf den Philippinen liebevoll Lolo Kiko genannt wird (Lolo für Grossvater und Kiko als Nickname für Franziskus) sagte auf der Rückreise nach Rom, Katholiken sollten sich nicht vermehren wie die Karnickel, drei Kinder seien genug. Der Protest reicht von kinderreichen Familien bis zu Erwin Leowsky, dem Präsidenten des deutschen Rasse-Kaninchenzüchterverbands.

Doch entscheidend ist nicht die Anzahl Kinder, sondern die Anzahl Kinder, die man ernähren und auf eine Schule schicken kann. In den armen philippinischen Provinzen, abseits der westlich orientierten Wirtschafts­zentren, gibt es tatsächlich Familien, die mehr als zehn Kinder haben, obwohl sie mit vier oder fünf glücklich wären. In diesen Familien bedeuten zehn Kinder, das keines nach der Primarschule in die nächste Stufe wechseln kann. Die Armut wird so von Generation zu Generation weitergegeben. Mehr Bildung und Wohlstand hat gemäss Statistik eine geringere Anzahl Kinder zur Folge.

Was war also der Sinn dieser Papstreise? Als die zwölfjährige Glyzelle Palomar, ein ehemaliges Strassenkind, dem Papst sagte, dass viele Kinder von ihren Eltern verlassen werden und Opfer von Drogen und Prostitution werden, überquerte der Medienstar die Bühne, nahm das weinende Mädchen in die Arme und sagte: «Lasst uns lernen, zu weinen wie sie.» Wahrscheinlich ­würden die ­meisten bessere Lebensbedingungen vorziehen.

Lolo Kiko hätte die Chance gehabt, seinen philippinischen Bischöfen die Leviten zu verlesen. Es wäre in seiner Macht gestanden, als Oberhaupt der Katholischen Kirche Kondom- und Pillen­verbot aufzuheben. Doch er inszenierte sich als lustiger Kumpel. Inhaltlich unterscheidet er sich kaum von seinem erzkonservativen Vorgänger. Neu ist die Inszenierung: Die Kirche der Armen vertraut nicht mehr dem Heiligen Geist, sondern den PR-Beratern von Ernst & Young und McKinsey.

© Basler Zeitung; 23.01.2015

#chronos (1951)

cueni_chronos1951«Everybody likes my rocket 88», sangen «Bill Haley & His Saddlemen» in einer eigenwilligen Coverversion, die als erste Aufnahme eines ­Rock-’n’-Roll-Titels gilt. Das schweizerische ­Verteidigungsministerium beschaffte für die ­Fernmeldetruppen 30 000 «selbstreproduzierende Kleinflugkörper auf biologischer Basis mit festprogrammierter automatischer Rückkehr aus ­beliebigen Richtungen», die 1995, trotz Protest der Brieftaubenlobby, in die zivilen Lüfte ­entlassen und zu Ratten der Lüfte mutierten.

1951 wurde Hitler – wenig überraschend – für tot erklärt und die deutsche Justiz beschleunigte die Ahndung von Kriegsverbrechen, indem sie rund 800 000 Nazis amnestierte. Die rechts­gerichtete deutsche SRP (Sozialistische Reichspartei) erhielt – auch wenig überraschend – bei den niedersächsischen Landtagswahlen elf ­Prozent der Stimmen.

Mehr Stimmen erhielt der Skandalfilm «Die Sünderin», in dem Hildegard Knef eine ­Prostituierte spielt, die ihrem krebskranken Freund Sterbehilfe leistet. Der Erzbischof von Köln verlas gleich zur Premiere einen Hirtenbrief, um gegen die nackten Brüste der Hildegard Knef und gegen die Propagierung von wilder Ehe, ­Prostitution und Sterbehilfe zu protestieren. Im Namen Gottes stürmte der Pfarrer Carl ­Klinkhammer mit Sympathisanten die Kinos, warf Stinkbomben und weisse Mäuse in die ­voll besetzten Säle und war sehr hilfreich für das Marketing.

Wesentlich lustiger waren «Laurel & Hardy», die 1951 der Fremdenlegion beitraten, weil sie sich von ihren Ehefrauen ­vernachlässigt fühlten. Sie waren das erfolgreichste Komikerduo der damaligen Zeit (106 Filme), die Stars der gebeutelten Kriegsgeneration, die sich nach Frieden und Wohlstand sehnte und deshalb den neuen 51er-Buick-le-Sabre mit Begeisterung aufnahm, ein luxuriöser Strassenkreuzer mit riesen Kotflügeln und Stummelflossen.

Für kleinere Budgets gab es die Metallautos von Jack Odell im Massstab 1:64. Er hatte sich ­darüber geärgert, dass es seiner Tochter in der Schule verboten war, Spielsachen, die grösser waren als eine Streichholzschachtel, in den ­Unterricht zu nehmen. Er entwickelte aus Trotz eine kleine Dampfwalze, die so klein war, dass die Tochter sie in einer Matchbox verstecken konnte. Den Durchbruch erreichte die Firma mit ihren blaugelben Matchboxes jedoch erst im nächsten Jahr mit dem Miniaturmodell der ­Krönungskutsche von Her Majesty The Queen.

1951 erschien die deutsche Ausgabe von Simone de Beauvoirs «Das andere Geschlecht» («Man wird nicht als Frau geboren, man wird es») und C.G. Jung publizierte seine Untersuchungen zur Symbolgeschichte, während nordkoreanische und chinesische Truppen den USA einen ­Stellungskrieg lieferten. Aus Angst vor einem ­dritten Weltkrieg setzten weltweit Hamsterkäufe ein. Als Oberbefehlshaber Douglas MacArthur den Abwurf einer Atombombe über China forderte, wurde er von Harry S. Truman entlassen und der Basler Grafiker erfand für Suchard die Milka-Kuh, während Fats Domino seinen Nervenkitzel in Blueberry Hill fand.

I found my thrill on Blueberry Hill

On Blueberry Hill, when I found you

Der Korea-Krieg sorgte in den USA für heisse Köpfe und leitete die McCarthy-Aera ein, die den meisten linken Intellektuellen die Frage stellte: «Sind Sie oder waren Sie jemals Mitglied der kommunistischen Partei.» Etliche Drehbuch­autoren benutzten fortan Pseudonyme, doch John Wayne verpfiff einige von ihnen an das ­Tribunal. Von ihm ist das Zitat überliefert: «Ein Huhn muss tun, was es tun muss.»

Claude Cueni

© Basler Zeitung; 16.01.2015 / die #chronos Kolumnen erscheinen 14täglich, jeweils am Freitag, in der Basler Zeitung

Wem gehört Mohammed?

cueni_copyright_religionMohammed ist eine historische Figur und gehört, wie alle anderen historischen Persönlichkeiten auch, zum geistigen Weltkulturerbe der Menschheit. Er ist genauso wenig Eigentum der Muslime wie Jesus Eigentum der Christen ist.

Satire ist die jahrtausendealte Kunst des Spottens, des übertriebenen Spottes. Alles kann Gegenstand einer Satire sein, sowohl Mohammed als auch Jesus, der Papst oder Kim Jong Un.

Wer wie Bundesrätin Leuthard meint, Satire dürfe nicht alles, irrt. Satire darf alles. Muss alles dürfen. Wer sich dadurch in seiner Ehre verletzt fühlt, darf in unserem Rechtsstaat klagen. Die Richter entscheiden.

Es gibt nicht ein bisschen Satire. Es gibt weder eine Dreiviertel-Pressefreiheit noch eine Meinungsfreiheit nach Gutdünken der Obrigkeit. George Orwell sagte: Freiheit bedeutet, anderen Dinge zu sagen, die sie nicht hören wollen. Freiheit bedeutet auch, Karikaturen zu zeichnen, die andere nicht sehen wollen.

Wer nun in seiner öffentlichen Betroffenheitserklärung das Wörtchen «aber» einbaut und somit den Opfern eine Mitschuld zuschiebt, macht sich zum verlängerten Arm der Schock­terroristen. Wer in vorauseilendem Gehorsam kapituliert, verzichtet auf die Errungenschaften der Französischen Revolution. Wer die Meinungsfreiheit, ein zentrales Recht der freien Welt, nicht verteidigt, verliert sie.

Man kann Intoleranz nicht mit Toleranz begegnen. Wer glaubt, dass Nachgeben die Lösung ist, wird sich noch wundern. Jedes Nachgeben ermuntert zu weiterreichenden Forderungen. Was wird man als Nächstes mit Terrordrohungen erzwingen wollen? Michel Houellebecqs neuer Roman «Unter­werfung» ist kein Zufallsprodukt.

© Basler Zeitung; 09.01.2015; Seite bazab19
Kultur

Jubiläum. 5 Jahre überlebt.

cueni_haddock_3Heute feiere ich (in altersgemässer Umgebung) meinen 5. Geburtstag.

5 Jahre mit fremdem Knochenmark überlebt.

Leider stossen die fremden Blutstammzellen, die mich von der Leukämie “geheilt” haben, meine Organe ab. Ein klassischer Urheberrechtsstreit: Wer ist das Orignal, wer ist die Kopie. Schlacht gewonnen, aber der Krieg geht weiter. 

Eigentlich habe ich mich immer mit Tintin identifiziert, später, als ich zunehmend das Gehör verlor, mit Professeur Tournesol. Doch als ich heute Morgen in den Spiegel blickte, sah ich eher aus wie ein Kortison geschädigter Haddock an Bord eines Lazarettschiffs : Also medizinisch betrachtet, eine Schande für die köngliche Marine. Tonnerre de Brest, vieux cornichon!