28 Blick »Macht der Propaganda«
27 Blick »Champagner und clevere Witwen«
Highway to hell. Kein Nachruf.
© Weltwoche vom 10. Januar 2019
Der Teufel, der ihn verfolgte
Im autobiografischen Roman «Script Avenue» liess ich meinen Vater frühzeitig sterben. Nun ist er tatsächlich tot. Zuvor kam es zu einer eigenartigen Begegnung.
Von Claude Cueni
Ich habe meinen Vater nicht aus Rache getötet, ich wollte ihn auch nicht bestrafen, ich habe ihn aus Angst getötet. Das erste Mal 1980 in meinem Erstlingswerk «Ad acta». Später, als ich mit «Das Gold der Kelten» den Gallischen Krieg dramatisierte, liess ich ihn von einem nubischen Sklaven vergewaltigen, von römischen Legionären ans Kreuz nageln und schliesslich vor den Toren Alesias jämmerlich zugrunde gehen. Vergebens. Nachts schlich er sich in meine Träume zurück, er hatte Arme wie Monsterkraken. Sie stanken nach abgestandenem Zigarettenrauch und Feldschlösschen-Bier. Mit einem Beil zerhackte ich die Hände, die so viel Übles getan hatten. Sie wuchsen nach wie die Häupter der Hydra. Ich erträumte mir Schwerter, Harpunen und die Machete von Danny Trejo in Robert Rodriguez’ «Machete Kills», die Hydra wuchs nach.
«Nüdeli mit Hackbraten»
Schliesslich beendete ich 2014 mit meinem autobiografischen Roman «Script Avenue» die Endlosschlaufe. Ich liess den «hageren Blonden im hellblauen Hemd» eines natürlichen Todes sterben. Die Beerdigung verlief unblutig. Ich dachte, die Dämonen würden jetzt tief unter der Erde vermodern, Staub zu Staub. Doch im Folgeband «Pacific Avenue» erhielt ich von einem DHL-Boten die Tagebücher meines Vaters. Offenbar hatte er noch ein bisschen weitergelebt. Ich las seine Tagebücher und dachte, vielleicht könnte ich mehr über diesen merkwürdigen Menschen erfahren, aber er hatte nichts Bewegendes festgehalten. Mozart schrieb am 13. Juli 1770 wenigstens: «Gar nichts erlebt. Auch schön.» Mein Vater notierte am 22. November 1963: «Nüdeli mit Hackbraten, 20:00 St. Anton.» Das war der Tag, an dem Kennedy erschossen wurde.
Ich hörte nichts mehr von meinem Vater, jahrelang. Bis mich schliesslich im Herbst dieses Jahres eine SMS erreichte. Mein Vater liege im Sterben, er habe den Wunsch geäussert, mich nochmals zu sehen, er sei sehr unruhig in der Nacht. Ich bestellte ein Taxi und besuchte ihn im Pflegeheim, sein Zimmer war leer. Die Schwester sagte, er sei im Frühstücksraum. Nur gerade zwei Personen sassen an einem viereckigen Tisch, eine alte Frau, die ins Leere starrte, und gegenüber ein alter, ausgemergelter Greis in einem Rollstuhl, das bisschen Haar wie lose Sträucher in der Wüste, ein einziger Zahn war ihm geblieben.
Das musste mein 95-jähriger Vater sein. Ich setzte mich neben ihn und wartete. Er bemerkte, dass sich jemand gesetzt hatte, vermied es aber, den Kopf zu drehen. Wir sassen eine ganze Weile da. Vor ihm war ein Teller mit einem Butterbrot, das jemand in kleine Stücke geschnitten hatte. Ich war gewarnt worden, er sei beinahe taub. Deshalb hatte ich kleine Zettel vorbereitet mit Antworten auf Fragen, die er mir möglicherweise stellen würde. Auf dem ersten Zettel stand: «Ich trage einen Mundschutz, weil ich keine Immunabwehr habe.»
Es ärgerte ihn, dass jemand ihm einen Zettel vors Gesicht hielt, er warf einen flüchtigen Blick darauf, dann gleich einen zweiten, plötzlich schaute er mir direkt ins Gesicht, ich zog meinen Mundschutz für einen Augenblick herunter, er ergriff meinen Unterarm, schaute an die Decke und dankte Gott, dass er das noch erleben durfte. Seine Hand war immer noch riesig, aber sie hatte nicht mehr das Ausmass einer pazifischen Riesenkrake mit klebrigen Saugnäpfen. Die Haut hatte sich dunkel verfärbt, stellenweise bläulich, als hätte jemand seine Lebensenergie gedimmt, als hätte das Blut bereits begonnen zu verdicken und sich zu setzen. Ich begriff, dass man die Hydra nicht besiegt, indem man sie jede Nacht enthauptet, man besiegt sie, indem man sie sein lässt.
Martyrium im Worst Case
Die Kommunikation war einfacher als erwartet. Die meisten Fragen hatte ich geahnt und die Antworten auf den Zetteln notiert. Eine Pflegerin sagte ihm, er solle brav den Mund auftun. Kaum hatte er es getan, schob sie ihm ein Stück Brot in den Mund und bestrich die restlichen Brotwürfel mit einer zusätzlichen Butterschicht. Mein Vater rief laut, dieses Heim sei ein Gefängnis. Die Pflegerin lachte, offenbar hielt sie es für einen Scherz. Aber ich bin sicher, er hatte es ernst gemeint und nur so getan, als fände er es lustig, wie ein Kleinkind behandelt zu werden.
Er sagte der alten Dame gegenüber, dass ich ihr Sohn sei. Sie reagierte nicht. Als er es wiederholte, stand sie auf, nahm ihren Rollator und bewegte sich auf mich zu. Sie crashte gegen meinen Stuhl. Ich dachte, vielleicht hat sie Probleme mit den Augen oder mit der Motorik. Sie crashte erneut gegen meinen Stuhl, immer und immer wieder, wie eine verwelkte Jeanne d’Arc mit ihrem Sturmbock. Ich fragte sie, ob ich vielleicht ihren Stuhl besetzt habe, aber das konnte ja nicht sein, weil sie bereits sass, als ich reinkam. Ich stand auf und schob meinen Vater in sein Zimmer zurück.
Wir setzten uns auf den kleinen Balkon. Er sagte, es sei schon merkwürdig, wie ein Leben ende, er sitze hier und warte auf den Tod. Ich schwieg. Hätte ich ihm etwa sagen sollen, dass ich seit Jahren Mitglied von Lifecircle und Exit bin, weil ich seit zehn Jahren hauptberuflich krank bin und Lebensfreude und Humor unter dem Damoklesschwert nur deshalb intakt sind, weil ich das Martyrium im Worst Case abkürzen könnte? Ich behielt diese Gedanken selbstverständlich für mich. Jeder soll sterben, wie er mag. Mein Vater hatte sich für den christlichen Kreuzgang entschieden, da er glaubte, dass sein unsichtbarer Freund es nicht gerne sehen würde, wenn er sich heimlich aus dem Staub machte.
Mein Vater hatte viel zu erzählen, es war sein Leben, ich war nur eine Fussnote, er hatte nie Kinder gewollt, weder Ehefrau noch Familie. Aber jetzt, wo das Ende nahte, kam ihm in den Sinn, dass es da noch ein paar Blutsverwandte gab. «Ich bin seit zehn Jahren verheiratet», hatte ich auf einem der Zettel notiert. Er äusserte den Wunsch, meine Frau kennenzulernen, also kamen wir am nächsten Tag zu zweit. In ihrer Gegenwart blühte er auf, sang ein joviales Mundartlied über Vergänglichkeit und Tod und dass am Ende eh alles scheissegal sei. Ich erfuhr mehr über ihn als in meiner gesamten Kindheit. Er sagte, er sei vom Dittinger Dorfpfarrer vergewaltigt worden, seine Mutter sei nicht eingeschritten. Dass auch er weggeschaut hatte, als zwei meiner Cousins jahrelang von einem Onkel vergewaltigt wurden, hatte er verdrängt. Seine Biografie hatte er neu erfunden. Schliesslich sagte er, sein ganzes Leben sei schiefgelaufen, er habe viel Unrichtiges getan, so vielen Menschen Unrecht getan, aber daran sei nicht er schuld, sondern der Teufel, der ihn seit Geburt verfolge.
Reue und Hader am Lebensende sind der highway to hell, weil es für alles zu spät ist – ein dornenreicher Abschied, wenn Körper und Geist im Gleichschritt ermatten, bis man endlich aufhört zu existieren. Ich empfand Mitleid für einen Menschen, der heuchlerische Frömmigkeit zum Lifestyle erhoben, aber ein durch und durch unchristliches Leben geführt hatte. Wer ein Leben lang nur an sich denkt, hat am Lebensende niemanden, der an ihn denkt. Ich hörte ihm trotzdem zu, «no bad feelings anymore», die «Script Avenue» war meine reinigende Neunzig-Grad-Wäsche gewesen. Jetzt war alles in trockenen Tüchern.
Todesanzeigen sind Fake News
Als ich Anfang Oktober die SMS erhielt, er sei in der Nacht gestorben, bekam ich feuchte Augen. Seit meine erste Frau vor zehn Jahren gestorben ist, passiert das auch, wenn eine Cartoon-Figur stirbt. Empathie gehört zwar zum Rüstzeug eines Autors, aber weniger wäre mir offen gestanden lieber. Aber wenn man im Leben genügend Leid erfahren hat, entwickelt man ein grösseres Einfühlungsvermögen.
Mein Vater wollte keine Todesanzeige. Vielleicht fürchtete er, man würde wenig Vorteilhaftes über ihn schreiben, obwohl Todes- anzeigen meistens Fake News der gröberen Art sind. Ich hätte getextet: «Er lebte länger als erwartet und deutlich länger als verdient. Sein Tod beweist, dass das Böse tatsächlich sterben kann.» Dass mein Vater 95 Jahre alt wurde, ist vielleicht der ultimative Beweis, dass es keinen Gott gibt.
Man kann von jedem Menschen etwas lernen, sowohl vom Positiven als auch vom Negativen. Ich erinnere mich, wie er mich als Knirps an der Hand aus der Wohnung schleifte, nachdem er meine Mutter mit einer brutalen Ohrfeige vom Taburett gefegt hatte. Als ich übermüdet neben ihm im Wirtshaus «Sommereck» sass, sagte er: «Wenn du einmal gross bist, musst du mit deiner Frau auch so verfahren.» Dann bestellte er das Übliche, «ein Bier, einen Sirup».
Muss ich ihm dankbar sein? Ohne ihn hätte ich als Teenager wohl nie die nötige Kraft gehabt, diesem gewalttätigen und religiösen Irrenhaus zu entfliehen. Hätte er Eier gehabt, wären mir keine Strausseneier gewachsen. Mein Leben lang war ich stets bemüht, nicht so zu werden wie er. Ich werde ihn nur vermissen für das, was er nie gewesen ist.
Claude Cueni ist Schriftsteller und lebt in Basel. Zuletzt erschien von ihm «Warten auf Hergé» (Münster-Verlag). Am Sonntag, 13. Januar, 12.35 Uhr auf Radio SRF 2 Kultur: «Musik für einen Gast» mit Claude Cueni.
© Weltwoche vom 10. Januar 2019
Interview Hessischer Rundfunk
Anmoderation: Kai Völker
Vor genau 90 Jahren sind sie zum ersten Mal in ein Abenteuer gezogen. Der junge Mann mit der hochstehenden Locke und sein kleiner weißer Hund. Tim und Struppi haben Millionen Leser in der ganzen Welt begeistert. Was wir heute über ihren Erfinder Hergé wissen, begeistert dagegen wenig. Claude Cueni, Buch- und Fernsehautor aus Basel, hat über Hergé recherchiert. Und einen Essay und einen Roman geschireben. Hallo, Claude Cueni!
Hergé, der Erfinder von Tim und Struppi, stand den belgischen Nazis nah. Merkt man das den Geschichten von Tim und Struppi an?
Heute kaum noch. Die ersten Alben erschienen ja ab 1929 in Schwarzweiss und wurden später von Hergé und seinen unterschlagenen Co-Autoren gekürzt, koloriert und laufend der political correctness angepasst. Das einzige was erhalten geblieben ist, sind die antisemitischen Zeichnungen des skrupellosen jüdischen Bankiers Bohlwinkel im Geheimnisvollen Stern.
Seine Nähe zu den Ideen der Nazis hat Hergé und dem Erfolg seiner Geschichten rund um Tim und Struppi nie geschadet. Das ist aus heutiger Sicht kaum zu verstehen. Haben Sie eine Erklärung?
Das hat ihm anfangs schon geschadet. Nach dem Krieg wurde er ja viermal als Nazi-Kollaborateur verhaftet, verbrachte eine Nacht im Gefängnis, verlor für zwei Jahre sämtliche Bürgerrechte, wurde mit einem Berufsverbot belegt… aber der Rechteinhaberin Moulinsart ist es gelungen, mit Hilfe zahlreicher Fans, die heute als Autoren oder Journalisten arbeiten, den Mythos Herge zu erschaffen. Eine grossartige Geschichtsfälschung.
Sie selber sind mit den Geschichten von Tim und Struppi groß geworden. Sie haben die Geschichten verschlungen und geliebt. Geht das auch heute noch, wo sie die ganze Geschichte von Hergé kennen?
Gute Frage. Als Kind liebt man Tim & Struppi und interessiert sich nicht für Hergé. Wenn ich mir heute eine Haddock-Büste kaufe oder eine Mondrakete, kaufe ich Kindheitserinnerungen. Wir erinnern uns nicht an Hergé, sondern an die Abenteuer von Tim & Strupi, an die Zeit, in der wir der Erwachsenenwelt entflohen und im Schatten des Arumbaya Fetisch vor uns hinträumten.
Für viele Fans von Tim und Struppi war sicher auch ihr Erfinder Hergé ein Held. Sie haben ihn vom Sockel gestoßen. Wie waren die Reaktionen?
Es gab einen Shitstorm aus Belgien und Frankreich. Ich habe damit gerechnet und deshalb im Anhang des Romans WARTEN AUF HERGE 143 Quellen aufgeführt, alles ist transparent, jeder kann es überprüfen und trotzdem die Fakten schönreden. Ich habe damit kein Problem, wir leben in eine freien Land. Und wissen Sie, wenn Sie es allen recht machen wollen, müssen sie am morgen im Bett bleiben.
Mit welchem Zitat würden Sie Hergé am besten charakterisieren?
»Wenn mir eine Idee gefällt, assimiliere ich sie vollständig, und ich vergesse augenblicklich und für immer, dass sie von einem anderen stammt.«