#chronos (2009)

Michael-Jackson

«You are not alone, I am here with you», sangen die untröstlichen Fans vor dem Anwesen des King of Pop. Der mit fast einer halben Milliarde ­verkaufter Tonträger erfolgreichste Entertainer aller Zeiten erlitt im Alter von 51 Jahren einen plötzlichen Herzstillstand. Michael Jacksons Privatarzt Conrad Murray (Monatslohn 150 000 Dollar) hatte ihm zum Einschlafen das Narkosemittel Propofol verabreicht. Er wurde wegen fahrlässiger Tötung zu vier Jahren Haft verurteilt.

«Yes, we can», war eine Dialogzeile aus der weltweit ausgestrahlten Kinderserie «Bob the Builder». US-Politstratege David Axelrod übernahm den Slogan für die Präsidentschaftskampagne von Barack Obama und begleitete damit den ersten Afroamerikaner ins Weisse Haus. Im gleichen Jahr erhielt Obama für «seine Stärkung der internationalen Diplomatie» den Friedensnobelpreis.

Während die UNO das Internationale Jahr der Aussöhnung verkündete, listete der «Fischer Atlas» für das Jahr 2009 achtunddreissig ­kriegerische Konflikte auf.

Unblutig, aber nicht minder desaströs waren die Auswirkungen der globalen Finanzkrise, die im Sommer 2007 als US-Immobilienkrise begonnen hatte. Nach dem Platzen weiterer Blasen ­meldeten immer mehr Unternehmen Insolvenz an; Banken, die ihren Top­shots jahrelang Boni in Millionenhöhe ausbezahlt hatten, ­mussten nun mit den Steuer­geldern des kleinen Mannes gerettet werden. Weltweit nahm die verantwortungslose Staatsverschuldung zu, die Weltwirtschaft geriet ins Straucheln, Japan rutschte in die schwerste Rezession der Nachkriegszeit und die Wall Street hatte den grössten Skandal ihrer Geschichte:

Seit den 70er-Jahren hatte der Finanz- und Börsenmakler Madoff mit absurden Traumrenditen Anleger geködert und mit dem frischen Geld neuer Anleger bezahlt. Tausende von Investoren mussten die Erfahrung machen, dass Renditen ab fünf Prozent möglicherweise mit einem etwas grösseren Risiko ­verbunden sind. Sie bezahlten diesen Lehrgang mit Verlusten von über 65 Milliarden Dollar. Madoffs ältester Sohn Mark erhängte sich 2010 in der Wohnung, sein jüngerer Bruder starb ein Jahr später an Krebs.

«Es gibt überhaupt nur zwei Dinge auf der Welt, die mir Spass machen – das Zweite ist der Film.» 2009 wurde der polnische Filmregisseur Roman Polanski aufgrund eines internationalen Haftbefehls bei seiner Einreise in die Schweiz verhaftet. Er war 1977 von einem Strafgericht in Los Angeles wegen «Vergewaltigung einer ­Minderjährigen unter Verwendung betäubender Mittel» angeklagt worden und war geflohen. Die internationale Kulturszene setzte sich für seine sofortige Freilassung ein. Nur gerade Regisseur Luc Besson erinnerte an die Prinzipien des ­Rechtsstaates: Rechtsgleichheit.

Als die 47-jährige Schottin Susan Boyle die Bühne der Castingshow «Britain’s Got Talent» betrat, wurde sie von Jury und Publikum wegen ihres Asperger-Syndroms verspottet. Doch als sie «I Dreamed a Dream» anstimmte, verschlug es selbst dem Berufszyniker Simon Cowell die Sprache: 150 Millionen Mal wurde der Clip auf Youtube angeschaut und Susan Boyle startete eine erfolgreiche internationale Karriere.

Was Hyperinflation und Währungsreformen bedeuten, konnte man 2009 in Zimbabwe beobachten. Nachdem bereits im Jahr zuvor beim Zimbabwe-Dollar Nummer 3 zehn Nullen gestrichen worden waren, erhielt man nach der erneuten Währungsreform für den Zimbabwe-Dollar Nummer 4 für eine Billion alte Dollars gerade noch einen einzigen neuen Zimbabwe-Dollar.

Jede Papierwährung findet eines Tages zu ihrem eigentlichen Wert: null (gemäss Voltaire).

#chronos (1955)

cueni_jamesdean_1955_chornos«Wenn jemand sagt, er wolle über etwas nicht sprechen, so bedeutet das in der Regel, dass er an nichts anderes denken kann», schrieb Nobelpreisträger John Steinbeck in seinem Roman «Jenseits von Eden» (East of Eden). Der Weltklassiker wurde 1955 von Elia Kazan mit James Dean in der Hauptrolle verfilmt.

James Dean schloss noch im Herbst des ­gleichen Jahres eine Lebensversicherung ab, drehte einen Werbespot für Verkehrssicherheit («Fahrt vorsichtig!»), kaufte sich den legendären Renn­wagen Porsche 550 Spyder und prallte mit übersetzter Geschwindigkeit ungebremst in einen Ford, der ihm die Vorfahrt genommen hatte. Trotz Abenddämmerung hatte er die Scheinwerfer nicht eingeschaltet. Er starb auf dem Weg ins Krankenhaus 24-jährig.

Dass auch Rauchen tödlich enden kann, berichtete Reader’s Digest in einem Artikel über die Ursachen von Lungenkrebs. Marlboro verpasste ihren Zigaretten umgehend einen Filter, Designer Frank Gianninoto entwarf die rotweisse Verpackung und Leo Burnett erschuf den harten Marlboro Man im Wilden Westen. Durch die Emotionalisierung der Kampagne stieg der ­Verkauf bereits nach wenigen Monaten um das Fünfzig­fache. Vielleicht lag es auch daran, dass man der Marlboro das süchtig machende Ammonium beigemischt hatte. Heute ist Marlboro die meistverkaufte Zigarette und gehört zu den zehn wertvollsten Marken der Welt.

Bundeskanzler Konrad Adenauer war militanter Nichtraucher, denn «Raucher vernebeln nicht nur die Luft, sondern meist auch ihren eigenen Geist, so kann man dann leichter mit ihnen fertig werden …» Er reiste nach Moskau, um die letzten deutschen Kriegsgefangenen nach Hause zu holen.

Zehn Jahre nach Kriegsende waren Lebensmittel immer noch knapp, Fisch gab es jedoch in rauen Mengen. Die Firma Birds Eye zersägte kurzerhand gefrorenen Fisch in kinder­gerechte Portionen, panierte sie, briet sie kurz an und fror sie gleich wieder ein.

Heute assoziiert man Birds Eye nicht mehr mit Fischstäbchen, sondern mit dem weltberühmten The Bird’s Eye Jazz Club am Kohlenberg 20 in Basel.

Aufsehen erregte 1955 auch die Afroamerikanerin Rosa Parks, die sich in Alabama weigerte, ihren Sitzplatz im Bus einem weissen Fahrgast zu überlassen. Der anschliessende Aufruhr gilt als Geburtsstunde der schwarzen Bürgerrechts­bewegung. Das oberste Gericht gab ihr recht und beendete damit die Diskriminierung in öffentlichen Verkehrsmitteln.

1955 verfehlte der leidenschaftliche Jäger und Brauereibesitzer Hugh Beaver einen Goldregenpfeifer nur knapp und startete Recherchen über den schnellsten Vogel der Welt, um seinen Fehlschuss zu relativieren. Darauf schrieben die Zwillinge Ross und Norris McWhirter den ersten Sammelband der Rekorde, der seitdem jedes Jahr die Bestsellerlisten anführt. Einem Brauerei­besitzer haben wir also zu verdanken, dass wir heute wissen, dass der Weltrekord im Dauer­glotzen bei 87 Stunden und 43 Sekunden liegt und dass die Fingernägel von Chris Walton 6,02 Meter lang sind. Leider verschweigt das Buch, wie Chris «The Dutchess» die tägliche ­Körperpflege bewältigt.

Während in England die Eisenbahner streikten, knackte die Knutschkugel von VW die Millionengrenze und wurde erneut das meistverkaufte Auto des Jahres. Der VW 1200 hatte damals 30 PS und kostete 3950 D-Mark.

Während Shirley MacLaine wegen Hitchcock «Immer Ärger mit Harry» hatte, sorgte sich Carl Perkins um seine blauen Velourslederschuhe und schrieb den Rockklassiker «Blue Suede Shoes».

Well, it’s one for the money

Two for the show

Three to get ready

Now go, cat, go

Claude Cueni ist Schriftsteller und lebt in Basel.

© Basler Zeitung vom 14.8.2015

#chronos (1903)

 

great-train-robbery-1903-grangerNachdem die Eisenbahn die meisten Grossstädte miteinander vernetzt und das Leben beschleunigt hatte, begann der Siegeszug des motorisierten Individualverkehrs. Henry Ford gründete 1903 in Michigan mit 100 000 Dollar die Ford Motor ­Company, revolutionierte die Fliessbandtechnik und machte als Verfasser des antisemitischen Essays «The International Jew» von sich reden.

Im gleichen Jahr ratterte die berühmte ­Schauspielerin Anna Held mit ihrem futuristischen De-Dion-Bouton-Motordreirad durch ­Milwaukee und entflammte die Leidenschaft zweier Männer. Für ihr Motorrad. William Harley und Arthur Davidson zeichneten die erste ­Konstruktion eines eigenen 116-cm³-Motors und bezogen einen Schuppen hinter dem Haus. Vier Jahre später gründeten sie die «Harley-Davidson Motor Company of Milwaukee», die heute eine Marktkapitalisierung von 13 Milliarden hat.

In England setzten die beiden technikbesessenen Buben eines protestantischen Bischofs zum Höhenflug an. Zuerst flickten sie Fahrräder, ­verkauften die ersten Velos mit zwei gleich ­grossen Rädern, und entwickelten erste Flug­geräte. Die unverheirateten «Wright Brothers» gingen als Pioniere des ersten gesteuerten ­Motorflugzeugs in die Geschichte ein. Doch ­sieben konkurrierende Flugzeugpioniere bestritten diese Pionierleistung. Der Erfolg hat viele Väter, der Misserfolg bleibt ein Waisenkind.

Im russischen ­Kischinew mündete die von Armut und Arbeitslosigkeit geprägte Wirtschaftskrise in einen dreitägigen Massenpogrom von russischen Christen gegen Juden. Nach internationalen Protesten schritten die Behörden ein und ­Theodor Herzl organisierte in Basel den ersten Zionistischen ­Weltkongress.

In England wurde die «Women’s Social and Political Union» ­gegründet. In Berlin beschloss die internationale Währungskonferenz einen festen Wechselkurs zwischen Silber- und Goldwährungen.

Im Vatikan starb Papst Leo XIII. im Alter von 93 Jahren, nachdem er 86 päpstliche Rund­schreiben verschickt und mindestens so viele ­Fässer Vin Mariani genossen hatte. Das war ein berauschendes Getränk aus Rotwein und ­Extrakten des ­Coca-Strauches, dem historischen Vorläufer von Coca-Cola. Möglicherweise ­euphorisiert von ­diesem edlen Tropfen, verlieh ihm Papst Leo XIII., kraft seines Amtes, eine ­Goldmedaille, worauf Leo XIII. fortan die Etikette des Vin Mariani schmückte.

Edwin S. Porter drehte den ersten Western der Filmgeschichte, «The Great Train Robbery». In 14 realistischen Szenen erzählte Porter die Geschichte des Grossen Eisenbahnraubs und gilt seitdem als Pionier der Filmerzählung und ­Montagetechnik. In Farbe war natürlich nur das Filmplakat. Der Film hatte eine rekordverdächtige Länge von zwölf Minuten.

In der Schweiz wurde der erste Hooligan aktenkundig, ein Italiener namens Benito ­Mussolini, der im Polizeirapport als «notorischer, marxistischer Unruhestifter» bezeichnet wurde.

Dass die Auferstehung von den Toten ­durchaus möglich ist, bewies der 1893 ­verstorbene Sherlock Holmes, der in den ­Reichenballfällen den Tod fand und nach der ­Kündigung von 20 000 zornigen Abonnenten wieder zum Leben erweckt werden sollte. Obwohl Arthur Conan Doyle nicht nur Autor, sondern auch Arzt war, weigerte er sich, zu reanimieren: «Wenn ich ihn nicht töte, wird er mich ­umbringen!» Er stellte deshalb unerfüllbare ­Honorarforderungen, doch das Magazin erfüllte sie, und als selbst Doyles Mutter sich den ­Protesten anschloss, wachte Sherlock Holmes im Jahre 1903 in «The Return of Sherlock Holmes» wieder auf. «Elementary, my dear Watson.»

Claude Cueni ist Schriftsteller und lebt in Basel. www.cueni.ch © Basler Zeitung

#chronos (1950)

chronos_1950_cueni1950 kam der im Vorjahr in den USA in ­Schwarz-Weiss abgedrehte Spielfilm «All The King’s Men» in die Kinos des zerbombten ­Deutschlands. Der Film basierte auf dem Roman des Pulitzerpreisträgers Robert Penn Warren. Das Politdrama war ein Plädoyer gegen Diktatur und Terror. Der deutsche Titel war «Der Mann, der herrschen wollte».

Herrschen, aber gleich über den ganzen ­Planeten, wollte auch der erfolgreiche Science-Fiction-Autor L. Ron Hubbard. Er publizierte 1950 seine neue «Lehre und Technik zur ­Manipulation menschlichen Verhaltens» unter dem Titel ­«Dianetik». Er schrieb: «Dianetik ist eine ­Ingenieur-Wissenschaft, sie enthält daher keine Meinung über Religion, denn Wissenschaften basieren auf Naturgesetzen.» Vier Jahre später erkannte der notorische Hochstapler und ­praktizierende Satanist die wirtschaftlichen und steuerlichen Vorteile von Religionsgemein­schaften, benannte sein Hauptquartier in ­«Scientology-Kirche» um und bezeichnete fortan seine ­Aussendienstmitarbeiter als «Geistliche». Das Akquirieren von Kunden in Lebenskrisen bezeichnete er jedoch weiterhin als ­«herzustellende ­Produkte der Produktions­maschine Scientology».

Mit ganz anderen Problemen beschäftigte sich Doktor Ernst Gräfenberg in seiner Praxis. Er entdeckte eine erogene Zone in der Vagina der weiblichen Kundschaft und nannte sie «Gräfenberg-Zone», obwohl seine Kollegen nach aufopfernden Feld­versuchen bestritten, und teilweise immer noch bestreiten, dass es einen G-Punkt, ­G-Spot oder eine G-Zone gibt. Es wird weiter geforscht.

Forschungen anderer Art betrieb eine Couch-Potato im Ingenieurbüro der Firma Zenith Radio Corporation. Sie entwickelte 1950 das Gerät «Lazy Bones» (Faulpelz), die erste ­Fernbedienung, die noch über Kabel mit dem Fernseher verbunden war. Nachdem der Tüftler mehrmals über sein eigenes Kabel gestolpert war, wurde das Gerät aus dem Handel genommen und sechs Jahre später durch den kabellosen «Space Commander» ersetzt. Mit der inflatorischen Zunahme neuer TV-Kanäle kam Zapping in Mode, das ungeduldige Hin- und ­Herschalten mit verminderter Aufmerksamkeit. «Zapped» bedeutete übrigens im Wilden Westen abgeknallt, und so denken sich heute TV-­Programmentwickler alles mögliche aus, damit ihre Sendung nicht abgeknallt wird.

1494 teilte Papst Alexander VI. (Borgia) mit dem Vertrag von Tordesillas die Welt zwischen den beiden Seemächten Portugal und Spanien auf, 1950 teilten die Siegermächte die Welt erneut und starteten ein ruinöses Wettrüsten zwischen Ost und West. Es begann die Epoche des Kalten Krieges und der gegenseitigen Abschreckung. Auch Deutschland war nun in zwei deutsche Republiken aufgeteilt.

Während sich die demokratische ­Bundesrepublik Deutschland mit ihrer sozialen Marktwirtschaft in den nächsten Jahrzehnten zu einer der stärksten Volkswirtschaften der Welt entwickelte, scheiterte die realsozialistische ­Parteiendiktatur, die sich zum Marxismus-­Leninismus bekannte, wie üblich an der Realität und an der Natur des Menschen. 1990 wurde der Unrechtsstaat aufgelöst.

Der Kalte Krieg führte 1950 zum ersten ­Stellvertreterkrieg auf fremdem Boden. Das einst von Japan annektierte Kaiserreich Korea war nach Hitlers Niederlage von den USA und der Sowjetunion in Nord- und Südkorea aufgeteilt worden. Nachdem der Norden den Süden ­angegriffen hatte, griffen die USA und China in den Konflikt ein. Die USA erwogen erneut den ­Einsatz von Atombomben, die Welt befürchtete bereits den nächsten Weltkrieg.

Und Frank Sinatra sang: «I’ll Never Smile Again».

Claude Cueni ist Schriftsteller und lebt in Basel.

© Basler Zeitung; 17.07.2015

#chronos (1940)

cueni_chronos1940»Niemand kauft einem irischen Einwanderer Frikadellen im Brot ab.« Mit diesen Worten beantwortete eine Bank das Kreditgesuch der Gebrüder Richard und Maurice McDonald, die soeben die Firma McDonald’s gegründet hatten. 1961 verkauften sie das Konzept an den Milkshake-Maschinen-Verkäufer Ray Kroc für 2,7 Millionen Dollar. Kroc entwickelte die Idee weiter und erfand die Quickservice-Systemgastronomie mit Franchise Teilnehmern. Heute ist McDonald’s die weltweit erfolgreichste Fast-Food-Kette. Obwohl Ernährungswissenschafter und Umweltorganiationen (»Eating up the Amazon«) den Konzern regelmässig an den Pranger stellen, ist das Maskottchen Ronald McDonald mittlerweile fast so bekannt wie der Weihnachtsmann.

1940 wurden in Delaware, der heute »legalen« amerikanischen Steuerfluchtoase, der erste Nylonstrumpf aus echter Kunstfaser verkauft. Alleine in Pittsburgh prügelten sich 40.000 Frauen um die heissbegehrten Nylonstrümpfe (»Nylon Riots«). Erfinder war der Chemiker Wallace Careothers, der eigentlich eine echte Kunstfaser für Zahnbürsten hatte entwickeln wollen. Wer sich keine Nylonstrümpfe leisten konnte, färbte sich die Beine beige und malte mit dem Schminkstift die Naht nach.

Hitlers Wehrmacht hatte ihren Blitzkrieg fortgesetzt und die unvorbereiteten neutralen Staaten Belgien, Luxenburg und die Niederlande unterworfen. Nach der Kapitulation Frankreichs begann sie einen unerbitterlichen Luftkrieg gegen den letzten verbliebenen Gegner: England. Hitler unterbreite anlässlich einer Reichtstagsrede ein Friedensangebot, um freie Resourcen für seinen geplanten Russlandfeldzug zu haben, doch der neue Premierminister Winston Churchill lehnte ab und versprach seinem Volk nichts »als Blut, Schweiss und Tränen«. Als die deutsche Luftwaffe die ersten Bomben über London abwarf, befahl Churchill Vergeltungsangriffe auf Berlin: »Never, never, never give up«.

Mit dem Dreiländerbund zwischen Italien, Deutschland und Japan verschmolzen die Kriegsschauplätze in Europa, Afrika und Asien zu einem einzigen grossen Flächenbrand, der nun Millionen Menschen das Leben kostete. Aber trotz aller Kriegsverbrechen und Völkermorde hatte der Zweite Weltkrieg den Höhepunkt des Grauens noch lange nicht erreicht. SS Reichsführer Heinrich Himmler ordnete das Errichten des Konzentrationslagers Ausschwitz an.

In Paris nahm sich Joseph Meister das Leben. Er hatte sich als Neunjähriger als Versuchskaninchen für die erste Tollwutimpfung von Louis Pasteur zur Verfügung gestellt und später zum Dank einen Job als Pförtner im Institut Pasteur erhalten. Als die Nazis ihm befahlen, Pasteurs Grab zu öffnen, nahm er sich das Leben.

Während in Europa sowohl die Olympischen Spiele als auch die Vergabe des Nobelpreises ausgesetzt wurden, vergab Hollywood ihre Oscars. Alfred Hitchcock erhielt für den in schwarzweiss verfilmten Roman »Rebecca« von Daphne du Maurier einen Oscar für den besten Film und insgesamt elf Nominationen.

1940 veröffentliche der amerikanische Folkmusiker Woody Guthrie sein Album »Dust Bowl Ballads« mit dem Hit »Do-We-Di«. Er erkrankte später, wie auch seine Mutter und zwei seiner Kinder, an einer neuro-degenerativen Erbkrankheit, der Huntingtonsche Chorea, die früher Veitstanz genannt wurde. Bob Dylan besuchte sein Idol am Sterbebett und widmete ihm später den »Song to Woody«.

Ernest Hemingway publizierte »For Whom the Bell Tolls (Wem die Stunde schlägt)« und schrieb: »Die Welt ist ein schöner Ort und wert, dass man um sie kämpft.«

#chronos (1998)

cueni_biglebowskichronos«Ich kann Ihren Drecksnamen nicht leiden, Ihr Drecksbenehmen nicht leiden und Ihre ­Drecksfresse nicht leiden. Hab ich mich klar genug ausgedrückt?» «Tut mir leid, hab grad nicht zugehört.» Die Weltpremiere fand am 18. Januar 1998 auf dem Sundance Film Festival statt. Jeff Bridges spielte im Kultfilm «The Big Lebowski» den Dude. Es war eine Filmkomödie der Brüder Ethan und Joel Coen.

«Sag mir eins, Dude: Musst du eigentlich immer so viel fluchen?» «Wasn das für ne bekackte Frage?»

Viele Fragen hatten auch die über 10 000 angereisten Delegierten und Medienleute im japanischen Kioto. Doch die Antworten zum Rahmen­abkommen der Vereinten Nationen über ­Klimaveränderungen waren eher dürftig. Die Konferenzteilnehmer referierten wortreich und endlos über die völkerrechtlich verbindlichen Zielwerte für den Ausstoss von Treibhausgasen. Dem Klima hat das Kyoto-Protkoll wenig gebracht, dafür umso mehr dem Nachtleben von Kioto.

Erotik gab es auch im Weissen Haus. Während Bill Clinton seinen Nuclear Football (Atomkoffer) stets unter Kontrolle hatte, verlor er die Kontrolle über ein ebenfalls gut behütetes Ding, um dessen Pflege sich die Praktikantin Monica Lewinsky oral kümmerte. Während das amerikanische ­Repräsentantenhaus ein Amtsenthebungsverfahren einleitete, beteuerte Clinton: «Ich hatte keine sexuellen Beziehung zu dieser Frau. Und ich muss jetzt an meine Arbeit für das amerikanische Volk zurückkehren.»

Pol Pot drohte kein Amtsenthebungsverfahren, ­sondern die Auslieferung an die USA. Im Norden Kambodschas beging er deshalb ­Suizid. Leider kam der 70-Jährige nicht schon früher auf die Idee, denn während seiner kommunistischen ­Diktatur eliminierte der «Bruder Nr. 1 der Roten Khmer» rund zwei Millionen nicht erziehbare Kambodschaner. Sein kommunistisch-primitiv­istischer Bauernstaat war an seiner Paranoia und an der Realität gescheitert.

An der Realität scheiterte auch die Rote- Armee-Fraktion, die sich wie eine Sekte in einer hermetisch abgeriegelten Parallelwelt abgeschottet hatte. Ihr Konzept, mit Bombenterror die ­Bevölkerung zu einer Revolution anzustacheln, war nicht wirklich stringent.

1998 löste Gerhard Schröder («Auch Sie ganz persönlich können Konjunkturmotor sein») ­Helmut Kohl («Entscheidend ist, was hinten ­rauskommt») ab und erklärte: «Putin ist ein lupenreiner Demokrat.» 1998 ging Russland bankrott. Der Rubel verlor 60 Prozent, was wiederum den in US-Dollar verschuldeten russischen Geschäftsbanken den Garaus machte. Der einsetzende Bankenrun stiess zahlreiche Banken in die Insolvenz.

Die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union beschlossen, trotz den Warnungen renommierter Ökonomen, die Einführung des Euros. Die Politik hatte sich durchgesetzt. Die ­Aufgabe der Deutschen Mark (DM) war der Preis für die Wiedervereinigung. Der Euro wurde am 1. Januar 1999 als Buchgeld, drei Jahre später als Bargeld eingeführt. Der Euro sollte ein Fitness­programm werden, das gleichzeitig Übergewichtigen und Magersüchtigen hilft. In den Hitparaden triumphierten die Soundtracks von «Titanic» und «Armageddon».

Irgendetwas Wichtiges vergessen? Den ­Gomphus clavatus? Nun gut, die deutsche ­Gesellschaft für Mykologie wählte das Schweins­ohr zum Pilz des Jahres.

And one more thing: Bill Gates persönlich ­testete auf der Comdex 98 live das neue Betriebssystem Windows 98. Doch was die angereisten Journalisten sahen, war der «Blue Screen of Death», der blaue Windowsbildschirm, wenn das System abstürzt. Zum Glück wurde die Software nicht in Autos eingebaut.

Claude Cueni ist Schriftsteller und lebt in Basel.

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© Basler Zeitung; 19.06.2015

#chronos (1892)

jt2cg91892 gründete der Apothekengrosshändler Asa Griggs Candler The Coca-Cola Company ­ nachdem er John Stith Pemberton die Rechte für 2300 US-Dollar abgekauft hatte. 1917 zog er sich aus der Firma zurück und wurde Bürgermeister von Atlanta. Um sein Lebenswerk zu sichern, ­vermachte Candler die Firma seinem Sohn. Doch dieser veräusserte das Vorerbe heimlich für 25 Millionen an ein Konsortium.

Heute verkauft Coca-Cola täglich 1,76 Milliarden Getränke in 206 Ländern, weist eine ­Marktkapitalisierung von rund 170 Milliarden aus und einen Zuckergehalt von 106 Gramm pro Liter Standardcola. Offiziell nicht erhältlich ist ­Coca-Cola in Ländern, die immer noch mit der «Überwindung des Kapitalismus» beschäftigt sind: Auf Kuba trinkt Fidel Castro das von Nestlé vermarktete «Tukola», doch dank Obama ist das Original in Griffnähe.

Während in Hamburg die letzte grosse ­Cholera-Epidemie ausbrach, liess der ­amerikanische ­Ingenieur Jesse Wilford Reno den Vorläufer der heutigen Rolltreppen ­patentieren. In einer ­späteren Open-Air-­Ausstellung benützten ­Tausende von Neugierigen erstmals eine rollende Treppe.

Steil abwärts ging es hingegen mit dem ­Ingenieur Gustave Eiffel. Nachdem er mit dem ­Eiffelturm (1889) einen weltweiten Triumph gefeiert hatte, krachte seine Eisenbrücke in ­Münchenstein (1891) ­zusammen und riss 80 ­Menschen in den Tod. Bereits ein Jahr später zerstörte der Panamaskandal (1892) seine Reputation endgültig. Für Ferdinand de Lesseps, dem gefeierten Erbauer des ­Suezkanals, hatte Eiffel in Panama gigantische ­Schleusen für die bereits bankrotte Compagnie ­universelle du canal interocéanique de Panama entwickelt. Nachdem 510 französische Parlamentarier und die meisten ­Zeitungsredaktionen bestochen worden waren, ermunterten Regierung und Medien die ­Öffentlichkeit zu Aktienkäufen. Fast eine Million Franzosen verloren ihre Ersparnisse. Gustave ­Eiffel war durch sein Insiderwissen zu einem der reichsten Männer Europas geworden. Während Lesseps zu fünf Jahren Haft verurteilt wurde, erhielt Gustave Eiffel zwei Jahre. Strassen und Plätze, die bereits seinen Namen trugen, wurden wieder umbenannt. Eiffel zog sich in die Anonymität zurück.

Zurückgezogen hat sich auch Paul Gauguin, nachdem er als Arbeiter auf der Panamabaustelle geschuftet hatte. Auf Tahiti lebte er mit der 13-jährigen Teha’amana zusammen, die ihm auch als Modell diente. Im Jahre 1892 malte er zwei Frauen in einer Südseelandschaft, «Nafea faa ipoipo» (Wann heiratest du?). Das auf 300 Millionen Dollar geschätzte Gemälde wurde angeblich 2015 von der Herrscherfamilie von Katar ­erworben, einer arabischen Monarchie, die vor allem für Scharia, Fifa-Korruption, Menschenrechtsverletzungen und den permanenten ­sexuellen Missbrauch ausländischer Haushalt­angestellten bekannt ist.

Einen eher unfreiwilligen Rückzug aus dem Tagesgeschäft erlebten die fünf Dalton-Brüder. In Coffeyville, im US-Bundesstaat Kansas, wurden vier von ihnen nach mehreren Banküberfällen von einem Bürgeraufgebot gestellt und in einer Schiesserei erschossen. Emmett Dalton überlebte als Einziger und wurde zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt, aber 1907 begnadigt. Er arbeitete fortan als Berater für Westernfilme in Hollywood. Ein paar Jahre vor seinem Tod ­veröffentlichte er die Autobiografie «When the Datlons Rode» (deutsche Ausgabe: «Ich ritt mit den Daltons»). Die Memoiren waren Inspiration für den französisch-belgischen Zeichner Maurice de Bévère, der unter dem Künstlernamen Morris, die «Lucky Luke»-Abenteuer erfand.

Claude Cueni ist Schriftsteller und lebt in Basel.

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© Basler Zeitung; 05.06.2015

#chronos (1988)

cueni_chronos_19881988 erweiterte Michail Gorbatschow, der ­Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU), unseren Wortschatz um zwei historische Begriffe, Glasnost (Offenheit) und Perestroika (Umbau). Zum Entsetzen der DDR erklärte er, dass jeder sozialistische Staat sein gesellschaftliches System frei wählen könne. Die UdSSR begann ihren Rückzug aus Afghanistan.

In Deutschland startete der neue Leitindex DAX mit 1000 Indexpunkten. Er umfasste die 30 grössten und umsatzstärksten Unternehmen. Wer 1988 fünftausend Franken in den deutschen Index investierte, hat heute rund fünfzigtausend in seinem Depot.

Mehr im Depot hatte die tickende Zeitbombe «Iron Mike», der zwei Jahre zuvor im Alter von 20 Jahren der jüngste Weltmeister der Boxgeschichte geworden war. 1988 verteidigte er gleich dreimal seinen Gurt, gegen Larry Holmes, Tony Tubbs und Michael Spinks. Er wurde der erste Weltmeister, der gleichzeitig von allen drei Boxverbänden ­anerkannt wurde. Mindestens so turbulent verlief sein Privatleben. Seine Polizeiakte war länger als sein Palmarès. Am Ende hatte das Jahrhundert­talent, das einst 400 Millionen besass, 300 ­Millionen Schulden und kommentierte: «Ich mache aus Gold Scheisse.»

Um Geld ging es auch in Oliver Stones «Wall Street». Michael Douglas spielte den Milliardär und Börsenmakler Gordon Gekko («Das Gewissen hat man ihm bei der Geburt entfernt»). Die Story war an die Biografien der Wall-Street-­Legenden Ivan Boesky und Carl Icahn angelehnt. ­Douglas erhielt einen Oscar und war im selben Jahr in den Schweizer Kinos noch in eine ­«Verhängnisvolle Affäre» mit Glenn Glose verstrickt.

Den dritten Kassenschlager des Jahres bescherte uns «Stirb langsam» mit Bruce Willis. Die Leute mochten den New Yorker Polizisten John McClane, der im Alleingang im Bürohochhaus Nakatomi Plaza Terroristen erschiesst.

Jack: «Wer sind Sie?»

John McClane: «Ich bin nur die Fliege im Honig, Jack. Der Knüppel zwischen deinen ­Beinen. Der Tritt in deinen Arsch.»

Den hätte eigentlich auch Arno Martin Franz Funke verdient, der ab 1988 vier Jahre lang unter dem Pseudonym Dagobert das Berliner Kaufhaus KaDeWe um eine halbe Million erpresste. Er scheute sich nicht davor, Bomben in Kaufhäusern zu deponieren. Die ersten Bomben versteckte er nachts, später, während der Öffnungszeiten, in den Fahrstühlen. Nachdem der gescheiterte Künstler und Autolackierer ein erstes Lösegeld erpresst hatte, verprasste er es und setzte ­anschliessend seine Erpressermasche fort. Obwohl er Tote in Kauf nahm, um sich persönlich zu bereichern, wurde er aufgrund seines Pseudonyms und diverser polizeilicher Pannen zum Liebling der Medien- und Kulturszene. Sechs Jahre nach seiner Festnahme wurde er frühzeitig aus der Haft entlassen, trat in Talkshows und ­Realityshows auf («Ich bin ein Star – Holt mich hier raus!») und sang «Lass uns das Ding drehen».

Dass sich Kriminalität leider zu oft lohnt, bewies auch der 23-jährige Robert H. Morris, der Sohn des Leiters der National Security Agency (NSA). Er programmierte den ersten wirklichen Computerwurm («Morris») und legte 6000 ­Rechner lahm; damals in etwa zehn Prozent des weltweiten Internetverkehrs. Morris erhielt eine dreijährige Bewährungsstrafe, 400 Stunden Sozial­arbeit und Gerichtskosten von 150 000 ­Dollar aufgebrummt. Er gründete ein Software­unternehmen, das er für 49 Millionen an Yahoo verkaufte, und wurde Professor am Massachusetts Institute of Technology (MIT).

In Australien wurde der erste Plastikgeldschein eingeführt, eine Banknote aus synthetischem Polymer. Sie war abwaschbar und sicher vor Fälschungen, aber nicht vor der Entwertung durch Quantitative Easing.

Claude Cueni ist Schriftsteller und lebt in Basel.

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© Basler Zeitung; 22.05.2015

#chronos (1905)

cueni_chronos_1905Nach einer Belagerung von 157 Tagen kapitulierte die russische Festung Port Arthur vor der über­legenen Waffentechnik der japanisch-kaiserlichen Truppen. Zar Nikolaus II. versuchte einen ­Volksaufstand blutig niederzuschlagen, aber der Petersburger Blutsonntag markierte bereits den Anfang der Russischen Revolution.

Auf der anderen Seite der Erdkugel vergass der amerikanische Limonadenhersteller Frank Epperson seine Limo auf dem Balkon. Am ­anderen Morgen war die Limonade gefroren. Der Löffel steckte noch im Glas. Er zog ihn heraus und hielt den ersten Glacestängel der Geschichte in der Hand. Kaum hatte er ihn patentieren lassen, ­meldete sein Landsmann Harry Bust ein weiteres Eis-am-Stiel-Patent an: gefrorenes Vanilleeis mit Schokoladenüberzug.

Ganz andere Sorgen hatte der rumänische Gerichtsmediziner Nicolas Minovici, der im selben Jahr seine Studie über das Erhängen publizierte. Die Untersuchung von 172 Selbstmorden durch Erhängen beantwortete nicht die Frage, wie sich Erhängtwerden eigentlich anfühlt. Kurzerhand befahl Minovici seinen Mitarbeitern, ihn zu ­hängen. «Das Gesicht wurde rot, dann blau, die Sicht verschwommen, in den Ohren begann es zu pfeifen, die Frakturen von Kehlkopf und Zungenbein sind fast unvermeidlich.» Minovicis Studie gehört heute zum Basiswissen der forensischen Medizin. Er bewies, dass der Tod nicht durch Ersticken eintritt, sondern durch die unterbrochene Blutzufuhr zum Gehirn.

Heinrich Mann schickte seinen Professor Unrat in den «Blauen Engel» und schrieb einen Gesellschaftsroman, den zuerst alle totschwiegen. Nach der Verfilmung mit Marlene Dietrich (1930) erlangte er Weltruhm.

Weltruhm erlangte auch Mata Hari, der frivole und geheimnisvolle Star der Belle Epoque, die als indische ­Tempeltänzerin mit ihrer Kunst der «erotischen Entkleidung» Europas Eliten begeisterte. Zwölf Jahre später wurde sie von einem französischen ­Militärgericht wegen angeblicher Doppel­­spionage hingerichtet.

Sigmund Freud publizierte Abhandlungen zur Sexualtheorie, während zwei deutsche Forscher den Spirochaeta pallida, den Syphilis-Erreger, entdeckten. Man nannte die Krankheit im ­Volksmund «den Franzosen», denn Mitte des 19. Jahrhunderts war tout Paris in den Orient ­gepilgert. Zurück brachten sie nicht nur erste ­fotografische Erinnerungen, sondern auch den Spirochaeta pallida. Die Milzbrand- und Tuber­kuloseerreger hatte bereits Robert Koch Jahre zuvor beschrieben. Er erhielt dafür 1905 den Nobelpreis. Wenig ­Nobelpreiswürdiges geschah in der Wüste von Nevada. Spekulanten gründeten die spätere Mafiahochburg Las Vegas. Sie hatten die Parzelle für 265 000 Dollar einer Eisenbahn­gesellschaft abgekauft, die es wiederum zwei Jahre zuvor der Rancherwitwe Helen Stewart für 55 000 Dollar abgekauft hatte.

Nobelpreiswürdiger war hingegen der ­Bestseller «Die Waffen nieder!», geschrieben von der ­Pazifistin Bertha Sophia Felicita Freifrau von ­Suttner. Sie war die erste Frau, die den ­Friedensnobelpreis erhielt.

Einmaliges geschah auch in der Schweiz. Mit 19 770 Metern Länge wurde der damals längste Basistunnel der Welt durchstochen: der Simplontunnel.

Während Albert Einstein einen Aufsatz zur Relativitätstheorie publizierte, veröffentlichte Rainer Maria Rilke im Insel Verlag sein «Stundenbuch». Es verkaufte sich in wenigen Jahren über 60 000-mal. Der Poet behauptete, er würde die Worte wie Gebete empfangen und wie ein Medium niederschreiben:

Vor lauter Lauschen und Staunen sei still,

du mein tieftiefes Leben;

dass du weisst, was der Wind dir will,

eh noch die Birken beben.


 

Claude Cueni ist Schriftsteller und lebt in Basel.

www.cueni.ch

© Basler Zeitung; 08.05.2015


 

#chronos (1962)

chronos19621962 sangen die Marvelettes immer noch ihren Ohrwurm «Please Mr. Postman», der im Dezember 61 die US-Hitparade gestürmt hatte. Auch John F. Kennedy wartete auf den Postmann. Er wollte endlich, per Präsidentenerlass, das verschärfte Handelsembargo gegen Kuba unterzeichnen. Aber zuvor musste sein Pressesprecher noch die 1200 kubanischen Zigarren für seinen Privatkonsum bestellen. Kennedys legendärer Satz: «Fragen Sie nicht, was Ihr Land für Sie tun kann – fragen Sie, was Sie für Ihr Land tun können», ist oft missverstanden worden. Er bezieht sich nur auf die Steuerzahler. Für Staatschefs gilt Spinoza: «Der Nutzen ist das Mark und der Nerv aller menschlichen Handlungen.»

Während die Sowjetunion Mittelstrecken­raketen auf Kuba stationierte und die Presse wieder einmal debattierte, ob es angesichts des bevorstehenden Atomkrieges noch Sinn machte, das Zeitungsabo zu verlängern, frühstückte Audrey Hepburn nach den Anweisungen von Truman Capote bei Tiffany und Sean Connery observierte als Agent 007 eine junge Schweizerin aus Ostermundigen, die in einem weissen Bikini aus dem Wasser stieg: Ursula Andress, das erste Bondgirl.

Mehr Zuschauer hatte der Strassenfeger der 60er-Jahre, der sechsteilige TV-Krimi «Das Halstuch» von Francis Durbridge. Die Einschaltquote betrug 89 Prozent. Wer keinen Fernseher hatte, erhielt für eine Stunde Asyl beim Nachbarn. Ein ganzes Land fragte sich: Wer ist der Mörder? Die Mutter des TV-Schurken verriet es während der Maniküre der Mutter des Kabarettisten Neuss … «Vaterlandsverrat», konstatierte Bild.

Nachdem Kennedy Fidel Castro mit einem atomaren Gegenschlag gedroht hatte für den Fall, dass die Sowjetunion auch nur eine einzige Rakete von Kuba aus abfeuert, richteten die beiden Grossmächte eine Hotline ein und sandten den Satz: «The quick brown fox jumps over the lazy dog.» («Der schnelle braune Fuchs springt über den faulen Hund.»). Da dieser Satz alle Buchstaben des Alphabets beinhaltet, konnte die Zuverlässigkeit der ­Übermittlung geprüft werden.

Verständlicher war hingegen der Satz der Sexikone der 60er-Jahre: «Wenn ich immer alle Regeln befolgt hätte, hätte ich es nie zu etwas gebracht.» Marilyn Monroe starb 36-jährig an einer Überdosis Medikamente und beeinflusste anschliessend die Mode mehr als die Pariser Haute Couture. Sterben mussten in diesem Jahr auch Hermann Hesse und der weltberühmte Schweizer Tiefseeforscher Prof. August Piccard, der in Hergés Comics Pate stand für die Figur des zerstreuten Professors Tryphon Tournesol («Professor ­Bienlein»).

1962 erteilte Decca Recording den Beatles eine Abfuhr: «Wir mögen den Sound nicht und ausserdem ist Gitarrenmusik sowieso am Aussterben.» Vorläufig erfolgreicher war Bill Ramsey mit «Ohne Krimi geht die Mimi nie ins Bett», bis ihn Dany Mann mit dem Song «Ich lese abends keinen Krimi» ablöste.

Auf Tahiti und in Französisch-Polynesien wurde mit der «Meuterei auf der Bounty» der vielleicht spektakulärste Film der 60er-Jahre an Originalschauplätzen abgedreht. Der erste ­Meuterer am Set war jedoch Carol Reed, den Marlon Brandos Starallüren zum Wahnsinn trieben. Entnervt übergab er die Regie (mitsamt der Liste an Sonderwünschen) an Lewis Milestone, der stillschweigend zusah, wie sich Marlon Brando am Set in seine exotische Filmpartnern Tarita Tumi Teriipaia verliebte und den Film erfolgreich zu einem finanziellen Desaster machte.

Captain Bligh zu Fletcher (Marlon Brando): «Suchen Sie sich die dreckigste Ecke der Welt, den verlassensten Winkel, den Sie finden können. Ich werde dort auf Sie warten, mit dem Strick in der Hand.»

Claude Cueni ist Schriftsteller und lebt in Basel. www.cueni.ch

Erschienen in der Basler Zeitung vom 24. April 2015