078 Blick »Blond«

© Blick 8. Januar 2021 / Cuenis Geschichtskolumne 078


»Nur weil ich blond bin, glaub nicht, dass ich blöd bin.» Das ist eine Zeile aus dem Song «Dumb Blond» (1967) der damals 21-jährigen US-amerikanischen Country-Sängerin Dolly Parton. Mit zunehmendem Erfolg (über 100 Millionen verkaufte Alben) wuchsen auch ihre blonde Perücke und ihre Brustimplantate. Rasch hatte sie den Ruf der dummen Blondine, aber die temperamentvolle Senkrechtstarterin reagierte stets selbstbewusst und mit viel Selbstironie.

Seit Marilyn Monroe («Blondinen bevorzugt», 1953) assoziierte man blondes Haar mit Sex, Naivität und Blödheit. Mit den Komödien der kichernden Goldie Hawn erreichte der Blondinenwitz in den 1980er-Jahren den Höhepunkt. Oft schrieb man alte Witze um und ersetzte die «dummen Ostfriesen» oder den «dummen Mantafahrer» durch die «dumme Blondine».

Dolly Parton, die Paten-Tante von Miley Cyrus, feiert am 19. Januar ihren 75. Geburtstag: «Die Leute fragen mich immer, ob es meine eigenen Brüste sind. Ja, sie gehören mir – ich habe sie gekauft und gut dafür bezahlt.» Bisher hat sie für ihre Inszenierung als blondes Kunstobjekt über 600 000 Dollar ausgegeben: «Nichts an mir ist echt, aber alles kommt von Herzen.»

Und ja, sie hat ein grosses Herz: Der Firma Moderna spendete sie eine Million Dollar für die Impfstoff-Forschung. Ihre gemeinnützige Organisation «Imagination Library» verschenkt monatlich Bücher an Kinder im Vorschulalter, bisher über 150 Millionen Mal. Sie setzte sich bereits für die Gay-Community und gleichgeschlechtliche Ehe ein, als die Mütter heutiger Feministinnen noch in der Küche standen. Der Preis waren Morddrohungen und eine Ehrendoktorwürde. Als Songwriterin schrieb sie die Welthits «Jolene» ( 44 Cover-Versionen) und «I Will Always Love You», das achtzehn Jahre später von Whitney Houston gecovert wurde. Egal ob sie als Autorin Bücher schrieb oder als Unternehmerin ihren Freizeitpark «Dollywood» zum Erfolg führte: Die Powerfrau setzte sich durch.

In ihrem Ratgeber «Dream More» rät sie der Leserschaft, mehr zu träumen, mehr zu lernen und mehr zu sein. Die meisten Menschen bereuen am Ende des Lebens, dass sie nie den Mut hatten, das zu sein, was sie sein wollten. Dolly Parton hatte diesen Mut. Happy Birthday, Dolly!

Weltwoche: Pechvögel & Glückspilze 2020

© Die Weltwoche vom 23. Dezember 2020


Den einen hat das Leben einen Tritt verpasst, den andern Flügel verliehen: Gewinner und Verlierer 2020. Von Michael Bahnerth: Die Gewinner:


Claude Cueni Die Welt verdankt ihm ein paar verdammt gute Sätze, einer der besten ist: «Selbstmitleid ist Zeitverschwendung.» Claude Cueni ist 64 Jahre alt und der erfolgreichste Überlebenskünstler dieses Planeten in den Wüsten und Dschungeln seiner selbst.

Seit elf Jahren lebt er nach einer Blutkrebserkrankung mit einem Immunsystem, das kaum der Rede wert ist. Das sind elf Jahre Isolation, sind ein paar Dutzend Spaziergänge im Jahr, wenn wirklich alles zusammenpasst: seine Gesundheit, die Abwesenheit von Grippewellen, von Pollen. Ein Buch zu schreiben, ist für ihn einfacher, als in die Ferien zu gehen. Meist sitzt er zu Hause vor seinen Bildschirmen, tagsüber, nachts, und tippt und schreibt sich in die Welten des Lebens, kommentiert den Irrsinn des Weltenlaufs, die Irrläufe der Vernunft, schafft diese ganze und wundervolle #cuenification der grossen Dinge und des kleinen Zeugs. Sitzt da unter einem kleinen grossen Licht neben einem Hometrainer, umgeben von seinen Schaufensterpuppen, die Figuren aus seinen Romanen abbilden, und seiner Frau, die die Figur seines Lebens ist.

Im Januar sah es so aus, als ob er, der wie einer lebt, der den Koffer schon gepackt hat, es nicht packen und entschwinden würde dorthin, wo die Originale seiner Figuren schon längst sind. Alles war organisiert für das Entschweben; Ort, Datum, Zeitpunkt. Und dann packte er es doch noch, kam zurück nach diesem kleinen Sterben, fast so unzerstörbar wie eine seiner Figuren.


 

Gretas Milliardäre

Gretas Milliardäre – Millionen für den Klimaaufstand


Das Magazin Tichys Einblick wurde von Roland Tichy (*1955) gegründet. Tychi ist ein deutscher Journalist und Publizist. Er war Chefredakteur der Magazine Impulse, Euro und der Wirtschaftswoche. 


 

Am Anfang war Greta, am Anfang einer internationalen Klimahysterie-Kampagne, die seit letztem Jahr ununterbrochen auf die Bürger einwirkt und immer größere Ausmaße annimmt. In kurzer Zeit haben sich zahlreiche Bewegungen / Organisationen gebildet wie zum Beispiel Fridays for future oder Extinction Rebellion, die apokalyptischen Wahnvorstellungen von einer kurz vor dem Kollaps stehenden Welt huldigen und im Namen des Kampfes gegen den Klimawandel gegen die bestehende Ordnung zu Felde ziehen. Als Graswurzelbewegungen werden sie oftmals verklärt, doch es gibt Hintermänner, Profiteure und Finanziers.

Ein neuer Finanzier ist vor circa vier Wochen in den USA entstanden. Es ist eine Organisation namens Climate Emergency Fund (Klima-Notstand-Fonds). Sie sieht die Menschheit in existenzieller Klima-Gefahr und fordert eine dringende Reaktion ein. Wörtlich heißt es: „We believe that only a peaceful planet-wide mobilization on the scale of World War II will give us a chance to avoid the worst-case scenarios and restore a safe climate.“ Angestrebt wird also eine weltweite Mobilisierung im Ausmaß des 2. Weltkriegs (!!!), um den Klimawandel zu bekämpfen. Ziel ist die Sensibilisierung der Öffentlichkeit für die angeblichen Bedrohungen durch den Klimawandel durch eine umfassende Störung des Alltags („large scale disruption of everyday live“). Sprich: das Land soll lahmgelegt werden. Inspiriert von Gruppierungen wie Extinction Rebellion will die neue Organisation sehr viel Geld – vornehmlich bei Milliardären – einsammeln, um Aktivisten und Organisationen bei ihrem Feldzug gegen den Klimawandel zu unterstützen.

Laut der internationalen „Westpresse“ Guardian, Washington Post, Independent oderForbes verteilte der neue Fonds bereits 500.000 Pfund bzw. 600.000 US-Dollar insbesondere an die Organisation Extinction Rebellion sowie zu einem kleineren Teil an Climate Mobilization, die das 2.Weltkrieg-Gerede schon länger praktiziert (siehe hier). Nur innerhalb der nächsten Wochen und Monate wolle der neue Fonds das Hundertfache bei der globalen Finanzelite einsammeln (laut Guardian sagte der Gründer Trevor Neilson, dass die Fonds-Gründer „were using their contacts among the global mega-rich to get a hundred times more in the weeks and months ahead“). Das wären dann also um die 60 Millionen Dollar.

Wer aber nun sind der Climate Emergency Fund und Extinction Rebellion?

Extinction Rebellion – Aufstand statt Protest

Die von den Milliardären großzügig bedachte Organisation Extinction Rebellion wurde erst Ende Oktober 2018 gegründet und sieht sich im Kampf gegen die ökologische Katastrophe. Sie ist bisher vor allem in England aktiv, aber auch in Deutschland gibt es laut eigenen Angaben angeblich mittlerweile schon 75 Ortsgruppen (Stand 16.08.2019). In Deutschland steht die Organisation etwas im Schatten von Fridays for future, denen die mediale Aufmerksamkeit vornehmlich gehört.

Während Fridays for future bisher auf friedliche Demonstrationen und Kongresse setzt, setzt Extinction Rebellion auf Blockaden und droht auch Sabatogeaktionen an (zum Beispiel gegen den Flughafen Heathrow, siehe hier). Sie will Rebellion und Aufstand statt nur Protest (siehe hier). Sie läßt sich als der radikale, gewaltaffine, große Bruder von Fridays for future bezeichnen. Zwischen Extinction Rebellion und Fridays for future gibt es zahlreiche Verbindungen. Man unterstützt sich, wirbt füreinander, und viele von Extinction Rebellion sind auch bei Fridays for future dabei, wie die deutsche Sprecherin von Extinction Rebellion bestätigte (siehe hier). Vom 20.09. bis 27.09.2019 [oder nur an beiden Tagen, die diversen Ankündigungen sind unklar] sind weltweite Generalstreiks von Fridays for future und Extinction Rebellion geplant (siehe hier).

Climate Emergency Fund – neue Geldsammelstelle für Fridays for future & Co

Hinter der neu gegründeten Geldsammelstelle für Fridays for future & Co steht der amerikanische „Geldadel“. Zum Beispiel Rory Kennedy, Tochter von Robert Kennedy, oder Aileen Getty, Enkel des Öl-Tycoons Joan Paul Getty, der einmal als reichster Mann Amerikas galt.

Mitbegründer und Leiter des Climate Emergency Fund ist Trevor Neilson. Er ist auch Geschäftsführer und zusammen mit Howard Buffett, dem Enkel des Multi-Milliardärs Warren Buffett, Mitbegründer von i(x) investments, einer Investmentholding mit Schwerpunkt unter anderem auf erneuerbare Energien und carbon to value-Wirtschaft (= Wiederverwendung von Kohlenstoff in werthaltigen Produkte).

Der Fonds-Gründer Neilson war zudem Direktor der Global Business Coalition, einer Vereinigung von über 200 multinationalen Unternehmen, die mit Geldern von Bill Gates, George Soros und Ted Turner gegründet worden ist. Neilson war auch Mitglied des Teams, das die Bill & Melinda Gates Foundation gründete, und deren Direktor. Er diente außerdem im Weißen Haus unter Präsident Clinton und ist er für die Lobby- und Kampagnenorganisation „One“ tätig. Deren „Jugendbotschafterin“ ist Luisa Neubauer, Mitglied der Grünen und mediales Aushängeschild von Fridays for future.

Großkapital meets Ideologie

Großkapital meets Ideologie – könnte man also kurz sagen. Die einen schaffen das Geld heran, die anderen sollen das Land lahmlegen. Und mittendrin bzw. Ausgangspunkt der Entwicklung seit letztem Jahr: Greta. Beziehungsweise ihre Berater, die nicht nur die Figur Greta aufgebaut haben, sondern auch wichtige Aktivisten bei Extinction Rebellion und Fridays for future sind.

Zu nennen sind beispielsweise Bo Thoren und Janine O´Keeffee. Der schwedische Umweltaktivist Thoren ist einer der Initiatoren von Extinction Rebellion (siehe hier). Er war es, der Greta angeworben und ihr die Idee der Schulstreiks nahegebracht hatte, er ist weiterhin deren Berater und wichtige Bezugsperson (siehe hier und hier). O´Keeffee ist Mitglied der schwedischen Grünen und sowohl für Fridays for future als auch Extinction Rebellion aktiv. Sie unterstützt Greta, „wo sie nur kann“, wie der DLF schreibt (siehe hier).

In dem Zusammenhang sei folgendes erwähnt: Greta erhielt den Zugang zur UN-Klimakonferenz in Kattowitz Anfang Dezember 2018, die ihr die große mediale Bekanntheit brachte, durch die ghanaische Organisation Abibiman Foundation. Diese Foundation organisierte eine Pressekonferenzen mit Greta und Vertretern von Extinction Rebellion (siehe hier).

Eine andere Pressekonferenz der Foundation fand mit Greta und dem Marketingdirektor Marten Thorslund vom Unternehmen „We don’t have time“ statt (siehe hier). Dieses Unternehmen, bestehend aus einer Aktiengesellschaft und Stiftung, will das größte soziale Klima-Netzwerk der Welt aufbauen. Gegründet hat es der schwedische PR-Manager und Finanzunternehmer Ingmar Rentzhog. Rentzhog ist Mitglied des Climate Reality Project des früheren US-Vizepräsidenten Al Gore. Er hat Greta bekannt gemacht und mit ihr geworben, um für sein neues Unternehmen die benötigten Investoren-Gelder hereinzuholen. Greta war zwischenzeitlich für einige Zeit auch Ratgeber im Vorstand der Stiftung (siehe hier).

Fridays for future – das nächste Spendenkonto und wieder Geheimniskrämerei

Rentzhog unterhält gute Kontakte zum Club of Rome, der seit Anfang der 70er Jahre vor der Apokalypse warnt. Im November 2018 moderierte er die weltweite Live-Präsentation des Climate Emergency Plan des Club of Rome (siehe hier). [Die Wortgleichheit mit dem neuen Climate Emergency Fund ist sicher kein Zufall.]

Der Vizepräsident der deutschen Sektion des Club of Rome ist bekanntlich Frithjof Finkbeiner. Dessen Stiftung „Plant-for-the-Planet Foundation“ steuert – wie berichtet – Fridays for future finanziell und organisatorisch. Wer genau die verantwortlichen Personen sind, die für Fridays for future handeln, von wem sie dazu bevollmächtigt wurden und aufgrund welcher Rechtsmacht sie das tun, ist bis heute nicht offengelegt. Bekannt ist, daß es mittlerweile noch mehr Vereine im Umfeld von Fridays for future gibt (organize future! e.V. und Donate for future e.V.), die Spenden für Fridays for future sammeln. Für nähere Informationen über die Hintergründe und finanziellen Ungereimtheiten bei Fridays for future und Verbindungen zur Ökofinanz siehe die TE-Berichterstattung hier, hier oder hier).

Auch die GLS Bank sammelt übrigens Geld für Fridays for future ein – unter dem Label „Companies for future“. Interessant ist, was die Bank darüber schreibt, wer über die Verwendung der Mittel zu bestimmen hat: „Über die Verwendung des Guthabens entscheiden drei Organisatoren von Fridays for Future gemeinsam.“ Eine namentliche Nennung dieser drei erfolgt natürlich nicht. Und wer den drei diese Aufgabe übertragen hat, bleibt unklar. Die Geheimniskrämerei bei Fridays for future geht also weiter. Bezeichnend auch, dass man von „Organisatoren“ schreibt. Damit können genauso die Aktiven wie die Hintermänner gemeint sein. Einer dieser Organisatoren ist möglicherweise der Berufsaktivist Louis Motaal. Er ist – wie berichtet – die rechte Hand Finkbeiners bei der Plant-for-the-Planet Foundation, bewegt sich ständig im Umfeld von Greta und hat auf sich auch die Markenrechte an „Fridays for future“ beim Deutschen Patent- und Markenamt angemeldet. Laut einem Welt-Artikel ist er für das (welches?) Spendenkonto bei Fridays for future zuständig (siehe hier).

Große Transformation – gemeinsames Ziel von Finanzeliten und Linksideologen

Ob Extinction Rebellion, Fridays for future oder andere ähnlich positionierte Gruppen und Organisationen – sie alle wollen die radikale Umgestaltung der Gesellschaft, den Systemwechsel, die „Große Transformation“ zu einer post-industriellen Gesellschaft, wie es schon 2011 in einem Gutachten des wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung heißt. Vorsitzender dieses Beirats war damals Hans-Joachim Schellnhuber, der auch Mitglied beim Club of Rome ist (siehe hier). In ähnlicher Diktion spricht die Heinrich-Böll-Stiftung der Grünen von „Radikalem Realismus“ zum Zwecke einer sozial-ökologischen Transformation.

Die Klima-Politik dient als Vehikel für diese Transformation. Es mehren sich die Stimmen, die diktatorische Mittel zu deren Umsetzung nicht ausschließen, wenn es demokratisch nicht schnell genug machbar ist – schließlich geht es angeblich um das weltweite Sein oder Nicht-sein (siehe hier, hier oder hier). Als Mittel dienen vor allem auch CO2-Steuern und Klima-Zertifikatehandel. Das dadurch mögliche Volumen einer Umverteilung von unten nach oben ist immens. 7.600 Milliarden Euro könnten es allein in Deutschland sein laut Berechnungen von Prof. Fritz Varenholt (siehe hier). Hans-Joachim Schellnhuber schätzte 2016 die erforderlichen Investitionen für eine kohlenstoffarme Infrastruktur weltweit auf 93 Billionen Dollar in den nächsten 15 Jahren (siehehier).

Neue Machtstrukturen, erweiterte Verdienstmöglichkeiten – das läßt die Allianz von Teilen der globalen Finanzelite und linksradikalen Ideologen verständlich erscheinen. Die Anschubfinanzierung für den Klima-Aufstand, die der neue Climate Emergency Fund an Extinction Rebellion und andere Organisationen zur Verfügung stellen will, dürfte sich insofern als lohnendes Investment erweisen. Leidtragende dieser unheilvollen Allianz werden die sogenannten kleinen Leute und der Mittelstand sein. Doch von denen begreifen es viele nicht und klatschen sogar noch Beifall zu ihrer Ausplünderung und Bevormundung.

077 Blick »Mein Jahresrückblick 2020«

©Blick / 11.12.2020

 

Covid-19 hat den Menschen die Zündschnur gekürzt und die sozialen Medien in ein Schlachtfeld der Rechthaberei verwandelt. Der Pizzabäcker fordert ein Ende des Lockdowns, seine Gäste essen die Pizza im Homeoffice. Selbstdarsteller Alain Berset inszeniert sich als Kapitän, doch auf seiner Titanic brilliert der Trödel-Bundesrat mit alternativen Fakten.

 

Der Klimawandel wurde verdrängt, überlebt hat der Altersrassismus, den Greta Thunberg salonfähig gemacht hat. Jetzt können auch Menschen ohne Argumente Diskussionen, die sie überfordern, mit «Ok, Boomer» beenden.

 

Der afroamerikanische Ökonom Thomas Sowell kommentierte die Rassismusdebatte: «Haben wir das Endstadium der Absurdität erreicht, in dem Leute für Dinge verantwortlich gemacht werden, die vor ihrer Geburt stattgefunden haben, und andere Leute nicht einmal für das, was sie heute machen?»

 

Seit Angela Merkels unkontrollierter Grenzöffnung (2015) skandieren in unseren Strassen Barbaren «Allahu Akbar». Sie kamen als Flüchtlinge getarnt, weitere leben bereits unter uns, andere sind noch unterwegs. Der rot-grüne Teppich, den man religiösen Faschisten ausrollte, war ein Akt der Selbstaufgabe. Merkel wird als diejenige in die Geschichte eingehen, die Europa den grössten Schaden seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges zugefügt hat.

 

Über die Festtage hätte Europas Sonnenkönigin gerne die Kavallerie nach Zermatt geschickt, doch Ross und Reiter waren nicht wintertauglich.

 

Der Zeitgeist erlaubt neuerdings, dass man seine Partikularinteressen über den Rechtsstaat stellt. Man darf demnächst die Scheiben des Nachbarn einschlagen und dessen Auto abfackeln, falls man es moralisch begründen kann.

 

Donald Trump werden die Karikaturisten bitter vermissen, obwohl Joe Biden («Wie war die Frage?») nicht nur mit dem Teleprompter Probleme hat.

 

Auf den Philippinen geniesst der bekennende Sozialist Rodrigo Duterte eine Zustimmung von 91 Prozent. Er hat nicht das Chaos ins Land gebracht, sondern das Chaos hat «Dirty Harry» geboren.

 

Das Wetter soll nächstes Jahr wechselhaft werden, die Aktienkurse könnten steigen, aber auch fallen.

 

Für 2021 wünsche ich uns allen: Gesundheit, Humor und Gelassenheit: Wer eine andere Meinung hat, ist kein Feind.

Weltwoche: Komitee zur Rettung der Welt

© Weltwoche 10.12.2020

Ungekürzte Version

 

Komitee zur Rettung der Welt

 

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges waren die Menschen finanziell und psychisch zerrüttet und mit der Bewältigung des Neubeginns beschäftigt. Das war eine historische Gelegenheit für einen radikalen Reset: Der Wohlfahrtsstaat wurde ausgebaut, die Charta der UNO in Kraft gesetzt, in Bretton Woods einigten sich 44 Länder auf feste Wechselkurse.

 

Klaus Schwab (*1938), Gründer des Weltwirtschaftsforums (WEF), schrieb zusammen mit seinem Team den Bestseller »Covid-19: Der Große Umbruch (Covid-19: The Great Reset)«. Er glaubt, daß nun auch Covid-19 als »Gelegenheit genutzt werden sollte, um institutionelle Veränderungen in die Wege zu leiten« und einen Reset zu erzwingen: zurück auf Start, Geschichte ausblenden und nochmals alle historisch gescheiterten Rezepte wiederholen.

 

Er beginnt mit Analysen, denen viele zustimmen können. Er beschreibt differenziert die Verkettung historischer, wirtschaftlicher, geopolitischer, gesellschaftlicher, ökologischer und technologischer Fakten, doch in seinem komplexen Räderwerk klammert er ein Zahnrad aus: Die Überbevölkerung mit all ihren gravierenden Auswirkungen auf Resourcen, Klima und Migration. Er glaubt offenbar, im Gegensatz zu Wirtschaftsnobelpreisträger Milton Friedman, daß man sowohl offene Grenzen als auch ein Sozialsystem haben kann.

 

Irritierend ist auch seine Behauptung, es habe während des Lockdowns »keine Luftverschmutzung« gegeben, weltfremd sein Glaube, wonach die Menschen während und nach der Pandemie mehr Empathie und Solidarität zeigen werden. Die Geschichte zeigt, daß in Pandemien Angst und Panik stets zu egoistischem und asozialem Verhalten geführt haben. Nur gerade bei örtlich und zeitlich begrenzten Naturkatastrophen bewiesen die Menschen Solidarität. Doch bei einer Pandemie macht das unsichtbare Virus jeden Nachbarn zum potentiellen Totengräber. Klaus Schwab weiß das, aber er glaubt, daß diesmal alles anders wird.

 

Die Realität widerspricht ihm. Seit Greta Thunberg Altersraßismus salonfähig gemacht hat, ist von Solidarität zwischen den Generationen nicht mehr viel übrig. In einer stark fragmentierten Ich-Gesellschaft, die Partikularintereßen über das Gemeinwohl setzt, bleibt Egoismus die treibende Kraft. Auch die sozialen Medien widersprechen: Sie sind zum Schlachttfeld von Rechthaberei und Intoleranz geworden, draußen demonstrieren zornige Menschen gegen Corona-Maßnahmen. Der Pizzabäcker, der seinen Laden schließen muß, hat nicht die gleichen Intereßen wie der Bankangestellte, der seine Pizza im Homeoffice ißt. Das Einzige, was die beiden gemeinsam haben, ist die Wut. Covid-19 hat allen die Zündschnur gekürzt.

 

In der ersten Hälfte des Buches versucht Schwab mit einer Sowohl-als-auch-Rhetorik Neutralität vorzutäuschen. Er gewährt kontroversen Ansichten Raum und man weiß nie, was eigentlich seine Meinung ist. Hat er eine? Ja, aber die erfährt man erst am Ende des Buches.

 

Schwab zitiert Laotse: »Auch eine Reise von tausend Meilen beginnt mit einem Schritt.« Der erste Schritt in Schwabs »Schöner Neuer Welt« ist wohl die Abschaffung des Bargeldes, denn »sein Staat« braucht die Möglichkeit, bei Bedarf die digitalen Sparguthaben der Bevölkerung per Mausklick zu plündern. Wie 2013 auf Zypern, als übers Wochenende der »größte Bankraub der Geschichte (Spiegel)« abgewickelt wurde. Fast alle Notenbanken planen heute die Einführung von digitalem Zentralbankgeld. Wir wißen alle, daß man die aktuelle Staatsverschuldung von 53 Billionen Dollar nicht mehr auf anständige Art und Weise tilgen kann.

 

Die Pandemie bietet nun die Chance, aus hygienischen Gründen die Abschaffung des Bargeldes zu beschleunigen. Dank Covid-19 zahlen viele Leute nur noch digital und akzeptieren, daß sie dadurch zum gläsernen Bürger geworden sind. Schwab blendet die negativen Seiten nicht aus, er beschreibt die Vorteile jedoch so, daß die Leserschaft zur Einsicht gelangen muß, daß ein »Gesundheitsarmband« mit Tracing- und Traffic-Funktion einen besonderen Schutz bieten könnte. Das chinesische Social-Credit-System kann bereits jedes Fehlverhalten mit Bewegungseinschränkungen oder mit Geldbußen (die in Echtzeit abgebucht werden) bestrafen. Die Akzeptanz in der freien Welt ist eine Frage des Marketings. Wäre es nicht auch für das Klima hilfreich, wenn der CO2-Fußabdruck jedes Individuums sichtbar wäre? Ein grünes Social-Credit-System zur Rettung der Erde?

 

Allmählich wird deutlich, was der Sinn und Zweck dieses Buches ist: der »richtige Weg«. Nachdem uns Schwab mit einer Dystopie im Konjunktiv erschreckt hat, bietet er im letzten Kapitel seine Lösung an: Er wünscht sich ein »Komitee zur Rettung der Welt«, das die »Tyrannei des BIP Wachstums« beendet, er träumt von einer »globalen Ordnungsmacht« nach marxistischen Prinzipien, von einer EU im Weltformat unter dem Kommando von WHO, UNO, IWF und dem »Großen Steuermann« Klaus Schwab. Er bestreitet nicht, daß die Umsetzung seiner Ideen viele Menschen in die Arbeitslosigkeit stürzen würde, und empfiehlt deshalb einen maßiven Ausbau des Sozialstaates.  Man hat den Eindruck, er würde am liebsten alle Menschen enteignen und ihnen monatlich Sozialhilfe überweisen.

 

In seiner »Schönen Neuen Welt« wird der Mensch zur Datenquelle degradiert, zu einem kleinen Pixel, der von einem Software-Algorythmus von der Wiege bis zum Tod begleitet, bevormundet, belohnt und bestraft wird. Schwabs Utopie ignoriert die Natur des Menschen und unterschätzt den Drang nach Freiheit und Selbstbestimmung. Seine Welt nützt nur denen, die sie entworfen haben.


Zahlen zum WEF

Das 1971 von Professor Klaus Schwab gegründete Weltwirtschaftsforum zählt die tausend größten Weltkonzerne zu ihren Mitgliedern. Jeder Konzern bezahlt eine Basis-Jahresmitgliedsgebühr von 42’500 Schweizer Franken und eine Gebühr von 18’000 für die Teilnahme am Jahrestreffen. Industrie- und strategische Partner bezahlen zwischen 250’000 und 500’000, um an den Initiativen des Forums mitzuwirken.

Gemäss Klaus Schwab (Meldung vom 9.12.2020) soll den Teilnehmern in Singapur ausnahmsweise die Gebühr erlassen werden.


 

Heilige Unmoral

© Tages-Anzeiger
– 05. Dezember 2020
 

Heilige Unmoral – wie die Kirche die Spenden für die Armen verprasst

Skandal im Vatikan Hunderte Millionen an Hilfsgeldern für Bedürftige wurden in Hollywoodfilme, Bierbrauereien oder Luxusimmobilien für die Reichsten investiert: Die Römische Kurie wird von der grössten Finanzaffäre der letzten 30 Jahre erschüttert. Dass sie aufgedeckt wurde, ist auch das Verdienst des italienischen Enthüllungsjournalisten Emiliano Fittipaldi.

Oliver Meiler, Rom

«Cupolone», «grosse Kuppel», so nennen die Römer das Dach von Sankt Peter, sie sagen es mit liebevollem Unterton. Die Kuppel spannt sich wie ein Gewölbe über ihre Stadt. Kein weltlicher Bau in Rom darf höher und erhabener sein als Michelangelos Werk, so wollten es die Päpste. Das vermeintlich Heilige sollte über dem Profanen thronen, die Kirche über dem Staat. Moralisch überlegen. Das war natürlich immer schon ein Scherz, die Geschichte ist Zeugin. Aber die architektonische Entrückung ist geblieben.

Ganz besonders eindrucksvoll wirkt das Panorama der Vatikanstadt, dieses kleinen Staates im Staat, ein paar Hundert Einwohner, von Mauern umgeben, wenn man von der Tiberbrücke Umberto I. hinüberschaut. Ist nicht Pandemie, stehen jeden Abend Fotografen auf der Brücke und warten auf das Dämmerrot, den Feuerhimmel über San Pietro. Wenn noch schwarze Wolken den Cupolone umspielen, ist das Drama perfekt, dann entstehen Fotos für Zeiten wie diese.

«Im Vatikan wird gerade der grösste Finanzskandal der letzten 30 Jahre verhandelt», sagt der Investigativjournalist Emiliano Fittipaldi, ein berühmter Enthüller vatikanischer Unheiligkeiten, 46 Jahre alt, Neapolitaner. Wenn nur die Hälfte von dem stimmt, was an Verdachtsmomenten und Ermittlungsthesen schon zirkuliert, ist diese Affäre grösser als Vatileaks 1 (2011) und Vatileaks 2 (2015), die Skandale um die gefrässige Kurie und die Wirrungen bei der Bank des Vatikans. Von Vatileaks 1 heisst es, es habe dazu beigetragen, dass Papst Benedikt XVI. zurücktrat. Bei Vatileaks 2 war Fittipaldi unfreiwillig Hauptfigur, in der Rolle des Aufdeckers. Jetzt aber schreiben die Medien von der «grossen Plünderung des Vatikans», vom «Überfall in der Kurie».

«Komisch, nicht?»

Vor einigen Wochen warf Franziskus einen Kurienkardinal raus, der so mächtig war, dass er Hunderte Millionen Euro aus dem Spendentopf der katholischen Kirche verschieben konnte, fast nach Belieben, mit dem Plazet der Päpste natürlich.

«Dieser Topf war extra bilancio», sagt Fittipaldi, ohne Bucheintrag. Das hat er vor einem Jahr aufgedeckt. Der Peterspfennig für die Armen? In den vergangenen zehn Jahren flossen Millionen in Luxusimmobilien in London, in Fonds auf Malta und Luxemburg, auch in Filmproduktionen, die nichts mit dem Vatikan zu tun hatten. 3,3 Millionen Euro für «Men in Black». 1 Million Euro für «Rocketman», den Film über das Leben des Sängers Elton John. Elton John?

«Komisch, nicht?», sagt Fittipaldi, er hat alle Zahlen im Kopf, jeden Namen, jede Affäre, sie brechen wie ein Strom aus ihm heraus. «Die Diskrepanz zwischen dem, was man gemeinhin vom Vatikan erwartet, und dem, was wirklich ist, ist immens.»

Er hat das schon in allen Facetten erlebt. Zu seinem Fachgebiet kam er eher zufällig. Fittipaldi hat Literatur studiert und dann einen Masterkurs in Journalismus absolviert. Als er 2007 von Neapel nach Rom zog, wies ihm sein neuer Arbeitgeber, das Nachrichtenmagazin «L’Espresso», die Schnittstelle zwischen Politik und organisiertem Verbrechen zu. Macht und Mafia, das ganz grosse Feld, es wurde bald noch grösser. «Wenn du in Rom der Spur des Geldes folgst, landest du immer schnell auf der Via della Conciliazione.» So heisst die Allee, die zum Petersplatz führt. «Unweigerlich.»

Fittipaldi ist ein schmaler, grosser Mann, detailverhaftet, beim Zuhören reisst er seine Augen weit auf. Er sitzt jetzt wieder oft in Fernsehstudios und erzählt unfassbare Geschichten von finanziellen Machenschaften, wie aus billigen Thrillern. Geschichten von Gier und Geiz, von Bruderkriegen unter Kurienkardinälen, von schillernden Figuren aus der Halbwelt, von Spionen und Mätressen. «Die Kirche ist eben eine sehr irdische Institution, eine Männerwelt. Geld, Macht, Sex. Das beschäftigt die Herrschaften schon ungemein.» Er sagt das ganz nüchtern, fast emotionslos. «Ich gehe mit technischer Methodik an die Arbeit, als wäre die Kirche eine Institution wie jede andere.» Fittipaldi ist katholisch aufgewachsen, aber zur Messe geht er schon lange nicht mehr. Manchmal spielt man ihm vertrauliches Material zu, dann prüft er die Quellen, schaut sich die Fakten an, die Beweise dazu und schreibt sie auf, neuerdings für die Zeitung «Domani», deren Vizedirektor er ist.

Die italienischen Medien nennen den aktuellen Fall «Caso Becciu». Angelo Becciu ist ein sardischer Kardinal aus Pattada, einem Ort in der Provinz Sassari, arme Verhältnisse, 72 Jahre alt. Ende September fiel er in Ungnade wegen des Verdachts auf Veruntreuung. Abrupt, wie er fand, völlig unfair. «Der Papst begeht einen Fehler», sagte Becciu, als ihm Franziskus nach einer kurzen und angeblich lauten Unterredung alle Rechte und Privilegien des Kardinalsstands entzogen hat. Nur das Purpurrot darf er behalten, die Farbe des Amtes. «Dabei würde ich doch für den Papst sterben.» Das erste Interview nach dem Rauswurf gab Becciu Emiliano Fittipaldi, und das war nicht selbstverständlich: Die zwei verbindet eine lange, durchwachsene Geschichte.

Becciu war von 2011 bis 2018 Substitut des Staatssekretariats, der zentralen Regierungsbehörde des Vatikans, Herz der römischen Kurie. Substitut hört sich nach zweiter Reihe an. Doch Becciu, der davor lange Jahre als Apostolischer Nuntius den Heiligen Stuhl an vielen Orten der Erde vertreten hatte, war ein sehr mächtiger Mann. Die Nummer drei im Vatikan, wenn man so will, nur der Papst und der Staatssekretär standen über ihm. «Er kennt alle Geheimnisse und Winkel des Vatikans», sagt Fittipaldi, «er ist ein Machtmensch, ein versierter Stratege.» Noch haben die Ermittler des Vatikans keine Anklage gegen Becciu erhoben. Fürchtet man ihn? Oder sind die Beweise zu dünn?

Im Staatssekretariat gab es damals eine Kasse, über deren Inhalt niemand Bescheid wissen sollte. Das Geld darin kam vom «Obolus von Sankt Peter», dem Peterspfennig. Jeden 29. Juni bittet der Papst um Spenden für die Bedürftigsten. Der Deal mit den Gläubigen ist: Ihr gebt mir das Geld, und ich verteile es an die Armen. So war das aber nie. Die Spende floss jeweils in die «cassa» im Staatssekretariat. Als Angelo Becciu übernahm, lagen 750 Millionen Euro in der Kasse, etwa 7 Prozent des gesamten vatikanischen Vermögens, das auf 11 Milliarden Euro geschätzt wird. Das ist eine vage Schätzung. Niemand weiss, wie hoch zum Beispiel der Wert der vielen Immobilien im Besitz der Kirche ist. Allein in Rom sind es Hunderte, ganze Palazzi.

Die 750 Millionen in der Kasse des Staatssekretariats aber waren bar, sofort einsetzbar. Das Geld sollte noch etwas mehr werden. Das wäre an sich nicht verwerflich gewesen, hätte sich die Kirche bei ihren Anlagen von den moralischen Standards leiten lassen, die sie von allen einfordert. Doch Becciu war offenbar der Gordon Gekko der Kurie, wie die Hauptfigur im Film «Wall Street» heisst. 2012 hatte er die Idee, 200 Millionen in eine Ölplattform im Meer vor Angola zu pumpen, ein befreundeter angolanischer Erdölindustrieller wollte sie bauen.

Angelo Becciu war als Nuntius lange Zeit in Luanda stationiert gewesen, so hatte man sich kennen gelernt. Die Idee der Plattform wurde verworfen. Die Investition sei nicht sicher genug gewesen, sagte Becciu.

Abgeraten hatte ihm Enrico Crasso, italienischer Financier, wohnhaft in der Schweiz, früher Angestellter der Credit Suisse, der Hausbank des vatikanischen Staatssekretariats. «Das ist kein Zufall», sagt Fittipaldi, «die Verbindung zur Schweiz hat Tradition.» Als sich in Italien 1929 Kirche und Staat trennten, sahen die Lateranverträge eine beträchtliche Entschädigungssumme für den Vatikan vor. 100 Jahre später erfuhr man, dass die Kirche das Geld sofort in die Schweiz brachte, auf Nummernkonten. «Das ist tief drinnen in ihrer Kultur.»

Anstelle der Ölplattform in Angola rückte eine Immobilie in London ins Interesse des Vatikans: Sloane Avenue 60, ein mächtiges kubisches Gebäude mit viel Glas und rotem Backstein, das früher dem Warenhaus Harrods gehörte. Mitten in Chelsea, beste Lage. Der Makler Raffaele Mincione, der das Luxusobjekt anbot, schwärmte Becciu vor, dass sich darin tolle Wohnungen bauen lassen würden, die man dann an vermögende Kunden verkaufen werde. Er kenne da einen grossartigen Innendekorateur.

Und so investierte der Substitut 200 Millionen Euro aus der «cassa» mit dem Geld für die Ärmsten in eine Luxusimmobilie für die Reichsten. Dafür gab es aber nur einen Teil des Gebäudes, es war ein hoch spekulatives und riskantes Geschäft.

Wahrscheinlich wäre die Geschichte nie aufgeflogen, hätte der Brexit nicht das Britische Pfund in die Tiefe gezerrt – und den Londoner Immobilienmarkt gleich mit. Der Vatikan verlor viel Geld, auch weil er viel zu hohe Kommissionen an die Makler und Mittler entrichtete. Ermittler des Papstes suchen jetzt nach Beweisen für ihre Vermutung, dass auch Kirchenfunktionäre im grossen Stil Geld unterschlagen haben. Bei einem Ex-Angestellten des Staatssekretariats fand die Guardia di Finanza Münzen und Medaillen im Wert von 2 Millionen Euro, dazu 200’000 Euro bar in einer Schuhschachtel.

Becciu war ein Mann der alten Nomenklatura, noch berufen von Benedikt XVI., und er war ein treuer Wegbegleiter von Kardinal Tarcisio Bertone, dem langjährigen Staatssekretär, der Symbolfigur des verschwenderischen Umgangs der Kurie mit dem Geld der Gläubigen. Auch die Geschichte Bertones deckte Fittipaldi auf. 2015 wurden ihm Dokumente zugespielt, die zeigten, dass der hohe Prälat mit Geld aus dem katholischen Kinderkrankenhaus Bambino Gesù in Rom das Penthouse aufhübschte, in dem er bis heute lebt.

Eine halbe Million für den Umbau, vor allem die Dachterrasse soll sehr schön geworden sein. Fittipaldi machte aus der Enthüllung sein Buch «Avarizia», Geiz. Ein Bestseller: 200’000 verkaufte Exemplare, übersetzt in 20 Sprachen. Zusammen mit dem Buch «Via Crucis» des Journalisten Gianluigi Nuzzi, der ebenfalls auf geleaktes Material zurückgreifen konnte, bildete «Avarizia» die Grundlage für Vatileaks 2.

Pressefreiheit? Nicht hier

Dem Vatikan gefiel das gar nicht. Becciu war besorgt, dass sein Kartenhaus ins Wanken gerät. Und Franziskus, der in den Jahren davor versucht hatte, die Missstände in der Kurie aufzuräumen, und dafür ein Sekretariat für Wirtschaft einrichtete, ermahnte jene, die die schmutzigen Geheimnisse ans Licht brachten: die Mitarbeiter der vatikanischen Aufsichtsbehörde, die das Material weitergereicht hatten, und die Journalisten, die es für ihre Bücher nutzten. Auch Fittipaldi und Nuzzi sollte der Prozess gemacht werden hinter dem dicken Gemäuer. Der Vorwurf: Veröffentlichung geheimer Akten. Darauf stehen im Vatikan vier bis acht Jahre Haft. Pressefreiheit? Etwas für die anderen.

Nuzzi wies die Vorladung zurück. Fittipaldi aber ging hin, setzte sich vier Stunden lang auf die harte Holzbank im vatikanischen Tribunal. «Das war stressig», sagt er. «Ich kämpfte um meinen Ruf, sie wollten ihn besudeln, das war ein politischer Prozess.»

Aber es war auch aufregend. Die Welt schaute zu, alle grossen internationalen Sender schickten Kamerateams. Das Buch lief danach hervorragend. Sechs Monate später wurden die italienischen Reporter freigesprochen, weil der Vatikan kein Recht hatte, über sie zu richten. Das war absehbar gewesen, doch der Kirchenstaat ist in solchen Dingen oft erstaunlich dilettantisch, fast schon weltfremd.

Es vergingen zwei Jahre, die Wellen legten sich. Dann ernannte Franziskus Angelo Becciu zum Kardinal und Präfekten der Heiligenkongregation. Eine Promotion, hätte man meinen können. Doch bald wurde klar, dass der Papst ihn befördert hatte, um ihn loszuwerden. Weg vom Staatssekretariat und den Geschäften, rüber ins unverfänglichere Dikasterium der Seligen und Heiligen. Eine erste Entmachtung.

Der Job von Becciu im Staatssekretariat ging an Edgar Peña Parra, einen venezolanischen Erzbischof und engen Vertrauten des Papstes. Der erbte den Investitionsflop an der Sloane Avenue. Doch statt die Anteile zu verkaufen, kaufte Peña Parra noch den Rest dazu, das gesamte Investment des Vatikans betrug nun etwa 350 Millionen Euro. Nie zuvor hatte die Kirche so viel Geld investiert. Und nie so abenteuerlich.

Makler Mincione wurde mit 40 Millionen Euro abgefunden, aus der Schatulle mit dem Peterspfennig. Neu verkehrte der Vatikan nun mit einem schillernden Geschäftsmann, einem gewissen Gianluigi Torzi, der in seiner Karriere oft schon Probleme mit der italienischen Justiz gehabt hatte: etwa wegen betrügerischen Konkurses. Doch im Vatikan kam es niemandem in den Sinn, mal kurz nachzuschauen, mit wem man es zu tun hatte. «Es hätte gereicht, wenn sie Torzis Namen gegoogelt hätten», sagt Emiliano Fittipaldi. Und so sass die Kirche mit ihren 350 Millionen Euro plötzlich im Boot mit diesem Torzi. Im Vertrag inbegriffen: ein Handgeld von 15 Millionen für den Broker. Als sie es merkten, war es schon zu spät.

Der «Fall Becciu» ist also auch ein «Fall Peña Parra» geworden. «Die Geschichte hat zwei Halbzeiten, wie ein Fussballspiel», sagt Fittipaldi. In der ersten spielte der Sarde, die zweite läuft noch, es spielt der Venezolaner. Noch ist nicht klar, in welcher Halbzeit der Vatikan am Ende höher verliert – in der ersten oder in der zweiten.

Der Papst hat dem Staatssekretariat mittlerweile die «cassa» weggenommen. Die Finanzen kommen jetzt alle unter ein Dach, Transparenz und Kontrolle sind das Ziel. «Zum ersten Mal handelt der Vatikan aus eigener Initiative», sagt Fittipaldi. Er spricht von «Vatikanopoli», der Begriff ist angelehnt an «Tangentopoli», wie man in den Neunzigern den Korruptionsskandal in Mailand nannte, den die italienische Justiz mit einer Grossoperation trockenlegte. «Das ist schon mal ein gutes Signal, aber noch keine Garantie für Erfolg.» Erst wenn auch «fedelissimi» des Papstes, engste Vertraute, hart geprüft würden, könne das gelingen.

Gegen Becciu ploppen immer neue Vorwürfe auf. Er soll seine drei Brüder begünstigt haben, heisst es. Einer von ihnen ist Schreiner, er durfte Kirchen renovieren in Ländern, in denen Angelo Botschafter war. Die Rechnungen gingen nach Rom. Ein anderer soll 700’000 Euro für seine karitative Organisation auf Sardinien erhalten haben, die mit der örtlichen Diözese arbeitete. Der dritte Bruder, ein Psychologieprofessor, der nebenbei Bier braut, bekam Geld vom angolanischen Ölindustriellen, dem Freund des Kardinals: 1,5 Millionen Euro. Die Firma nannte er Angel’s S.r.l., Engel GmBH – eine Verneigung vor Bruder Angelo?

Ein unsäglicher Verdacht

Und dann gibt es noch die Geschichte von Cecilia Marogna, einer Managerin aus Cagliari, Sardin, wie Becciu, 39. Eine hübsche Frau, sehr aktiv in den sozialen Medien, was nicht so recht zu ihrem Berufsprofil passen will. Marogna erhielt mehrere Hunderttausend Euro aus dem Staatssekretariat für angeblich geheime Missionen. Etwa für die Verhandlungen zur Befreiung einer kolumbianischen Ordensschwester, die in Mali von Jihadisten verschleppt worden war. Marogna soll nämlich auch eine Paralleldiplomatin sein, perfekt vernetzt mit in- und ausländischen Geheimdiensten. Einen schönen Teil des Geldes aus Rom gab sie für Schmuck, Parfüm und teure Möbel aus, für Kleider, Schuhe und Taschen von Prada, Tod’s und Chanel. Das sei ihr gutes Recht, sagte Marogna, als sie verhaftet wurde, sie habe schliesslich dafür gearbeitet.

Aber hat sie das tatsächlich? Oder war sie am Ende Beccius «dama», wie manche glauben, seine Geliebte? Fittipaldi mahnt zur Vorsicht, oft seien vatikanische Geschichten in Wahrheit ganz anders, als man denke. «Ich habe mal zwei Monate lang an einem Scoop gearbeitet, bis ich merkte, dass ein Kardinal die Geschichte von A bis Z erfunden hatte, um einem Rivalen zu schaden.» Alle Akten waren gefälscht, für den Abfalleimer.

Äusserst unwahrscheinlich kommt ihm jetzt auch eine These vor, die in den vergangenen Wochen Schlagzeilen gemacht hat, es ist eine unerhörte Vermutung. Becciu soll Zeugen dafür bezahlt haben, dass sie sich als Missbrauchsopfer ausgaben im Prozess gegen seinen grossen Rivalen, den australischen Kardinal und früheren Präfekten im Wirtschaftssekretariat, George Pell. Um ihn auszuschalten. Man muss sich das mal vorstellen, es wäre der grösste Skandal von allen, Sloane Avenue hoch zehn. «Bisher gibt es aber keine Beweise dafür», sagt Fittipaldi. «Nichts, gar nichts.» Im Vatikan gibt es Stimmen, die behaupten, die Entourage von Pell habe die These in die Welt gesetzt, um sich zu rächen. Er mache bei diesen Spekulationen nicht mit, sagt Fittipaldi. Und tut es damit doch.

Ihm sind schon viele Scoops gelungen, belegt mit Fakten und Dokumenten. «Aber Journalistenpreise holt man damit keine in Italien», sagt er und lacht. Wer nicht ständig herunterbete, wie wunderbar dieser Papst sei und Amen, der gelte als Gotteslästerer, als Nestbeschmutzer. Das Charisma von Franziskus nehme viele Kollegen gefangen, sagt Fittipaldi. Und macht sie befangen. «Auf mich wirkt es ja auch.» Es blendet ihn aber nicht bei der Arbeit.

Stadtstaat mitten in Rom

350-Millionen-Euro-Deals mit schillernden Geschäftsmännern: Über der Basilika im Vatikan braut sich etwas zusammen. Foto: Christian Hartmann (Reuters)

Wollte die Händler aus dem Tempel jagen: Papst Franziskus. Foto: Keystone

Im Zentrum des Skandals: Kardinal Becciu. Foto: Reuters

Im Fokus der Kollegen: Journalist Emiliano Fittipaldi. Foto: Imago

«Die Kirche brachte das Geld sofort in die Schweiz.»

Emiliano Fittipaldi

«Wenn du in Rom der Spur des Geldes folgst, landest du immer schnell im Vatikan.»

Emiliano Fittipaldi

Textauszug »Pacific Avenue«

 

In der Kiste waren 81 schwarze Büchlein gestapelt, es waren die Tagebücher meines Vaters. Sollte ich sie lesen? Ich dachte, vielleicht wäre das eine Möglichkeit, mehr über diesen seltsamen hageren Blonden im hellblauen Hemd zu erfahren.

Ich griff wahllos in die Kiste und nahm das erste Büchlein heraus, schlug es auf und las: 14. April 1958. Rösti mit Blutwurst. 20.00 Pfarrei. Also wollte ich meinem Vater noch eine Chance geben, damit er mir möglicherweise aufzeigen konnte, dass auch sein Leben in einem gewissen historischen Kontext gestanden hatte.

Nächster Griff in die Kiste: Tagebuch 1963. Hm, haben Sie da irgendeine Erinnerung? Die Vögel von Hitchcock und die erste Lebertransplantation. Dass der Patient nicht überlebte, gehört ins nächste Jahr. Ich schlug eine der letzten Seiten des Jahres 1963 auf: Weihnachten in Vilaincourt. Durchfall. Jurassische Küche. Alte Hexe. Ich vermute, er sprach über die Kochkünste meiner über alles geliebten Großmutter Germaine. Ich muss sie hier in Schutz nehmen, denn die Magen-Darm-Probleme hatte mein Vater, weil er ständig ins Goldene Fass flüchtete und dort eiskaltes Bier trank und die Serviertöchter anhimmelte. Ich kann das bezeugen, denn ich musste ihn jeweils begleiten. Ein Bier, ein Sirup. Erinnern Sie sich?

Ich muss an dieser Stelle erwähnen, dass nicht jeder Tag im Leben eines Menschen der absolute Hammer ist. Mozart schrieb zum Beispiel am 17. Juli 1770 in sein Tagebuch: »Gar nichts erlebt. Auch schön.« Aber immerhin tiefgründiger als: Bohnensuppe.

Sind wir jetzt fertig?, hat meine Lektorin am Rand notiert. Noch nicht ganz.

Ich wollte damit nur zum Ausdruck bringen, dass jedes Leben repetitiv wird, weil das erste Mal nur einmal das erste Mal ist, also einmalig, und was nachher folgt, ist vielleicht eine Variante, aber immer auch eine Wiederholung. Oder können Sie sich an Ihren 475. Orgasmus erinnern? Aber der erste Kuss ist Ihnen bestimmt noch allgegenwärtig. Es gibt Leute, die in ihren Tagebüchern sehr intime Gedanken niederschreiben. Kafka notierte zum Beispiel: »Ein erstes Zeichen beginnender Erkenntnis ist der Wunsch, zu sterben.« Flaubert schrieb in sein Reisetagebuch Dinge wie: »Donnerstag, den 17. Januar, Nil, Sonne, Bäder, Lustknaben. Spital Kasr-el’-Aini. Hübsche Fälle von Syphilis. Negerinnen poussieren.« Das gibt doch was her, oder?

Aber ich will dennoch versuchen, meinem Vater einigermaßen gerecht zu werden, denn Mozart hat uns allen bewiesen, dass nicht an jedem Tag etwas Außerordentliches passieren kann. Um in Erfahrung zu bringen, ob jemand siebzig Jahre lang nur Trash in seine Tagebücher notiert hat, muss man ein Datum wählen, das historisch bedeutsam ist.

Also versuchte ich es mit dem 22. November 1963. Ich weiß nicht, ob Sie sich erinnern, was damals geschah. Wirklich nicht? Ich erinnere mich, dass ich damals die Basler Nachrichten und die National Zeitung im Kleinhüninger Quartier verteilte. Beide Blätter haben das historische Ereignis mit einer seitenfüllenden Fotografie auf die Frontseite gesetzt. Ich hatte Gänsehaut! Es gibt Ereignisse, wie später 9/11, bei welchen jeder noch ganz genau weiß, was er in dieser Stunde getan hat. Also musste doch auch mein Vater diesen historischen Augenblick in seinem Tagebuch erwähnt haben. Ich schlug es auf und las: Kennedy erschossen. Nüdeli mit Hackbraten. 20.00 Pfarrei.

 

Cueni, Claude. Pacific Avenue (German Edition) Wörterseh Verlag. Kindle-Version.

 

 

076 Blick »Lizenz zum Sterben«

© 27.11.2020 

Krieg führen lasse die anderen, heirate!» Das war die Erkenntnis eines Mannes, der fünfzehn Jahre lang Krieg geführt und durch eine Heirat vorübergehend auch seinen persönlichen Frieden gefunden hatte. Kaiser Maximilian I. (1459–1519) war nicht nur «der letzte Ritter», sondern auch der «erste Kanonier», weil er die Kriegsführung modernisierte und der Militärmedizin mit der «strukturierten Triage» sein Siegel aufdrückte. In Kriegszeiten sollten verwundete Soldaten je nach militärischem Rang Vorrang und Zivilisten letzte Priorität haben.

Die Triage wurde bereits im alten Ägypten praktiziert, in Europa regelte 1787 ein königlich-preussisches Reglement die Vorgehensweise verbindlich. Dominique Jean Larrey, Sohn eines Schuhmachers, setzte im Laufe der napoleonischen Kriege als Militärarzt und Feldchirurg eine neue Triage durch. Er nahm keine Rücksicht auf den militärischen Rang der Verwundeten. Er galt deshalb als «Freund der Soldaten». Mit seinen fliegenden Lazaretten führte er Notamputationen auf dem Schlachtfeld durch, und es war ihm egal, ob der Verwundete Freund oder Feind war.

Mit der Pandemie ist das Thema Triage wieder in den Schlagzeilen. Wer kriegt das letzte Beatmungsgerät? Die Schweizerische Gesellschaft für Intensivmedizin (SGI) hat nun gemeinsam mit den Akademien der Wissenschaften Schweiz (SAMW) neue Richtlinien erlassen. Eine neunstufige Skala soll Intensivmedizinern bei Bedarf helfen, Patienten nach medizinethischen Grundsätzen zu klassifizieren und dafür zu sorgen, dass Entscheide im Nachhinein transparent und nachvollziehbar sind.

Wer aber in den kommenden Wintermonaten durch die Triage fällt, sollte wenigstens die Wahl haben, sein absehbares Ende durch eine externe Freitodbegleitung innerhalb des Spitals abzukürzen. Falls er dies ausdrücklich wünscht. Zurzeit sind Freitodbegleitungen in Universitätsspitälern juristisch nicht zulässig, obwohl Sterbehilfe keine Tötung wäre, sondern eher Schmerzbefreiung mit Todesfolge.

Leider leisten sich viele Gesunde eine Gutmenschenethik, die weder auf Schmerzerfahrung noch auf Empathie beruht. Die Erlösung, die man dem geliebten Haustier gewährt, sollte man auch dem Menschen gewähren. Sofern er dies wünscht.

075 »Verbrechen mit 4 Buchstaben«

 

An Weihnachten 1913 erschien in der Beilage der 1860 gegründeten Zeitung «New York World» das erste Kreuzworträtsel. Es enthielt 31 Suchbegriffe, war rautenförmig und noch ohne schwarze Felder aufgebaut. Der britische Journalist Arthur Wynne soll es erfunden haben, die Idee stammte von seinem Grossvater. Im Laufe der Jahre führte Wynne symmetrische Gitter ein und begrenzte die Worte mit schwarzen Quadraten.

 

Das kniffligste Kreuzworträtsel fand man jedoch nicht in den später erscheinenden Rätselbüchern, sondern 1981 in einem braunen Koffer in der ehemaligen DDR. Ein Bahnarbeiter hatte das Gepäckstück neben den Geleisen in der Nähe von Leipzig entdeckt. Im Koffer lag die Leiche eines siebenjährigen Jungen. Er war sexuell missbraucht und grausam ermordet worden. Die Ermittlungsbehörden erhofften sich Hinweise vom Zeitungspapier, mit dem der Koffer ausgestopft worden war. Sie entdeckten ein von Hand ausgefülltes Kreuzworträtsel.

 

In den folgenden neun Monaten sammelte die Volkspolizei sechzig Tonnen Altpapier in der näheren Umgebung des Tatorts und veranlasste eine halbe Million Schriftvergleiche. Die Ausdauer wurde schliesslich belohnt. In Block 398 wohnte eine Frau, deren Handschrift identisch war mit den ausgefüllten Feldern im sichergestellten Kreuzworträtsel. Sie war jedoch nicht die Täterin. Die gesuchte Person musste also in ihrem Haus verkehren oder verkehrt haben. Sie stiessen auf den Freund ihrer Tochter. Er war der bestialische Mörder.

 

Das Lösen von Kreuzworträtseln gilt heute als geeignetes Gehirnjogging, denn ab dem 50. Lebensjahr prügelt das Alter auf den Stirnlappen des Gehirns, ausgerechnet auf die Stelle, wo die Nervenzellen sitzen, die für die Verarbeitung von Wörtern und Zahlen zuständig sind. Auch unsere Festplatte, der Hippocampus, gerät unter Beschuss. Deshalb werden wir im Alter vergesslicher. Meistens verliert man, was man nicht mehr benutzt. Wer hingegen jeden Tag ein Kreuzworträtsel löst, verjüngt angeblich sein Gehirn um bis zu zehn Jahre. Aber es müssen nicht unbedingt Kreuzworträtsel sein. Hilfreich ist alles, was das Gehirn stimuliert. Förderlich sind auch Memory, soziale Kontakte, grünes Gemüse und Sex.

 

 

074 Blick »Schnitzel ohne festen Wohnsitz«

In den 1970er-Jahren wollten viele von uns Zigeuner sein, denn Zigeuner waren unkonventionelle Lebenskünstler ohne festen Wohnsitz. Das war das Lebensgefühl der Flower-Power-Generation. Wir wollten frei sein. Der Zigeunerlook war populär, er stand für Sex & Drugs & Rock ’n’ Roll. Das Zigeunerleben wurde in Liedern besungen und in Filmen romantisch überhöht. Als Teenager war ich verdammt stolz, als ich als Vagabund per Autostopp durch Europa reiste, denn irgendwie war ich ein bisschen Zigeuner.

Intellektuelle massen sich an, die Bedürfnisse von Randgruppen zu definieren

Soeben ist Göläs Autobiografie «Zigeunerherz» erschienen. Der Religionspädagoge Stefan Heinichen (57) nennt den Buchtitel «eine Verharmlosung und eine Negierung der Bedürfnisse der Sinti- und Roma-Gemeinschaften in der Schweiz». Definiert er neuerdings schulmeisterlich, welche Bedürfnisse Sinti und Roma haben sollten?

Selbst Fahrende nennen sich stolz Zigeuner. Der Schweizer Verein Zigeunerkultur organisiert jeweils die «Zigeunerkulturtage» und schreibt auf seiner Homepage: «Wir benützen dieses Wort aber bewusst und mit positivem Selbstverständnis.»

So stellt sich die Frage, wer eigentlich den Sinti und Roma und der Gesellschaft im Allgemeinen einreden will, dass Zigeuner zum Wortschatz von Rassisten gehört. Der überhebliche Belehrungszwang entsteht stets im universitären Umfeld privilegierter Intellektueller, die den Alltag normaler Leute nur vom Hörensagen kennen und die meiste Zeit mit Genderfragen und künstlichen Debatten über Ampelmännchen und rassistischen Produktebezeichnungen verbringen.

Journalisten versuchen, sich in politischer Korrektheit zu übertreffen

Was diese Sprachpolizei lautstark proklamiert, interessiert praktisch niemanden. Umso grösser ist das Interesse bei jenen Journalisten, die sich gegenseitig in Political Correctness übertreffen wollen.

Wenn also Göläs Biografie den Titel «Zigeunerherz» trägt, wünscht man sich etwas mehr Gelassenheit. Die Meinungsfreiheit endet nicht dort, wo selbst ernannte Kulturkrieger die Grenzen ziehen. Gölä ist einer jener Zigeuner aus der Nach-Woodstock-Ära, so wie auch ich einer war. Wir mochten Zigeuner.

Wahrscheinlich überarbeiten jetzt die meisten Restaurants vorsichtshalber ihre Speisekarten und ersetzen das «Zigeunerschnitzel» durch «Schnitzel ohne festen Wohnsitz».

Claude Cueni (64) ist Schriftsteller und lebt in Basel. Er schreibt jeden zweiten Freitag im BLICK. Sein neuer Thriller «Genesis – Pandemie aus dem Eis» ist im Verlag Nagel & Kimche erschienen.