Wahlkampf auf den Philippinen

Weltwoche_duterte«Gott wird weinen»

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Claude Cueni

Auf den Philippinen, der ältesten Demokratie Südostasiens, stehen Wahlen an. Der Favorit für das Präsidentenamt rühmt sich, Teil von Todesschwadronen gewesen zu sein. Andere Kandidaten versprechen, mit Ausserirdischen zu kooperieren. Bericht aus einem Land, in dem Recht und Ordnung zusammengebrochen sind. Von Claude Cueni

Jose Larry Maquinana, 41, ist einer von aktuell 130 Kandidaten, die sich für das Amt des philippinischen Staatspräsidenten bewerben. Maquinana hält seine Wahlkampfreden in einem Hakenkreuz-Shirt und verspricht den knapp 100 Millionen Filipinos die stärkste Armee der Welt. Nicht minder irritierend ist Romeo John Ygonia, 51, der sich «Erzengel Luzifer» nennt und von einem mysteriösen Meister erkoren wurde, sein Land zu retten. Einer seiner Konkurrenten ist Allan Carreon, 43, Grillmeister bei der Fastfood-Kette «Wendy’s». Er verspricht, Kontakt zu Ausserirdischen aufzunehmen und sich von diesen beraten zu lassen. Psychiatrische Betreuung würde auch Arturo Pacheco Reyes, 65, brauchen, der sich als Nachkomme Moses sieht, der nun seine Landsleute ins gelobte Land führen wird. Hat ihn etwa Angela Merkel eingeladen?

Von den 130 Bewerbern hatten anfangs nur gerade vier ernsthafte Chancen: der amtierende Innenminister und Investmentbanker Mar Roxas II., Vizepräsident Jejomar Binay, Medienfachfrau Grace Poe und Rodrigo Roa Duterte, der seine Kandidatur erst in letzter Minute einreichte und laut Umfragen bereits in Führung liegt. Die Financial Times nennt ihn «Dirty Harry», Al-Dschasira spricht von ihm als «The Punisher». Duterte, 70, ist Rechtsanwalt und Politiker, arbeitete für Staatsanwaltschaft und Polizei, war 22 Jahre lang Bürgermeister von Davao City und verwandelte während seiner sieben Amtszeiten die kriminellste Stadt der Philippinen in die sicherste Stadt des Landes. Er war noch erfolgreicher als der New Yorker Bürgermeister Rudolph Giuliani III, der in seiner Amtszeit (1994–2001) mit seiner «zero tolerance»-Strategie die Kriminalität um 57 Prozent senkte. Duterte verspricht, die gesamten Philippinen von Korruption und Kriminalität zu befreien, mit Methoden, die Demokraten erbleichen lassen. Aber ist die älteste Demokratie Südostasiens überhaupt ein funktionierender Rechtsstaat?

Manndeckung bei Stimmabgabe

Die Stimmabgabe in den ländlichen Provinzen erinnert eher an die römische Antike, als die Kandidaten auf dem Forum ihre Tische aufstellten und den Bürgern ihre Stimme abkauften. Auf der Insel Negros kostet eine Stimme 250 Peso, also rund 5 Dollar. Der Captain des Barangay, der Gemeindepräsident, geht mit einem Kumpel von Haus zu Haus, verteilt Peso-Scheine und ringt jedem das Versprechen ab, für ihn zu stimmen. In den verarmten Provinzen mit ungenügender Strom- und Wasserversorgung nimmt man das Geld gerne an. Keiner würde es wagen, sein Versprechen am Wahltag zu brechen, bei der Stimmabgabe herrscht enge Manndeckung.

Eigentlich hätten die Filipinos gerne den abtretenden Präsidenten Benigno S.  Aquino III., behalten, aber das Gesetz verbietet eine zweite Amtszeit. Aquino III. ist der Sohn der vom Volk verehrten früheren Präsidentin Corazon Aquino II., die wiederum die Witwe des 1983 auf dem Flughafen erschossenen Oppositionsführers Benigno Aquino Jr. ist. Die Präsidentschaft des abtretenden Aquino III. lief unter dem Motto «Daang Matuwid» – der aufrechte Gang. Er hatte sich vorgenommen, während seiner Regierungszeit die Korruption zu bekämpfen. Gemäss einem früheren Finanzminister beträgt sie 50 Prozent des Staatshaushalts. Im Korruptionsindex von Transparency International belegen die Philippinen Rang 85. Zum Vergleich: Die Schweiz liegt auf Rang 5. Korruption ist auf den Philippinen Lifestyle, daily business. Der Familienclan steht über den Gesetzen, denn verlassen kann man sich nur auf die Familie. Symptomatisch war der «pork barrel»-Skandal im Jahr 2013, der zu landesweiten Demonstrationen führte. Viele Abgeordnete hatten Billionen Peso an Staatsmitteln Scheinorganisationen überwiesen, die wiederum die Billionen Peso diskret an die Abgeordneten zurücküberwiesen. Eine Filipina, die in einem Callcenter in Manila arbeitet, sagt: «Wir nennen unsere Abgeordneten ‹tongress men›: bestechliche Männer. Es ist denen egal, ob wir nichts zu essen haben. Niemand interessiert sich für uns.»

Aufgrund eines korrupten Staatsapparates, fehlender Rechtssicherheit und des Mangels an Sozialsystemen vertrauen Filipinos lieber dem Gesetz von «utang na loob», der gegenseitigen Dankbarkeitsschuld. «Tust du mir – oder der Cousine des Onkels meiner Schwägerin – einen Gefallen, ist es meine Pflicht, mich zu ‹revanchieren›.» So wäscht eine Hand die andere, wie das auch in Griechenland zum alltäglichen Durchwursteln gehört. Irgendwie ist jeder im Kommissionsgeschäft tätig. Selbst Polizeibeamte fühlen sich «utang na loob» mehr verpflichtet als dem Eid, den sie einst abgelegt haben.

Im November wurde publik, dass Flughafenangestellte in Manila beim Check-in Gewehrpatronen in die Koffer von Touristen schmuggeln und diese dann als Terrorverdächtige abführen. In einem Hinterzimmer kann man, ganz unbürokratisch, das Lösegeld entrichten. Ein Dauerärgernis sind auch die Zollbeamten, die sich immer wieder in den über siebzig Zentimeter grossen Balik-bayan-Boxen bedienen, die Expats nach Hause schicken.

Vor zwei Jahren wurden im Rahmen der Kampagne «Faule Eier in Uniform» 49 Polizisten der National Capital Region (NCR) gefeuert und 67 vom Dienst suspendiert. Vorgeworfen wurde ihnen Autodiebstahl, Erpressung von Drogendealern, Beschlagnahmung von Autos für den Privatgebrauch, Erpressung von Touristen, schwere Körperverletzung gegen Frauen und Kinder, Vergewaltigung, Totschlag und Auftragsmorde. Ein Killer in Uniform kostet gemäss einer Tageszeitung auf Cebu 45 Dollar. Nicht umsonst nennt man das Land den «Wilden Westen Asiens».

Die Philippinen sind heute ein verarmtes Drittweltland. Das war nicht immer so. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren die Philippinen nach Südkorea die zweitstärkste Wirtschaftsmacht Südostasiens, bis Ferdinand Marcos 1965 Präsident der Philippinen wurde und ab 1972 das Land als Diktator mit blutiger Hand zu regieren begann – worauf das Volk ihn 1986 zum Teufel jagte. Die USA flogen ihn nach Hawaii aus. Im Handgepäck hatte er 30 Milliarden Volksvermögen. Imelda kam als Witwe nach einigen Jahren zurück und lebt heute in Manila in einer der teuersten Attikawohnungen der Philippinen. Einem Reporter sagte sie: «Ich bin der Star und der Sklave der kleinen Leute, und es kostet mich weit mehr Arbeit und Zeit, mich für einen Besuch in den Elendsvierteln zurechtzumachen als für einen Staatsbesuch.»

Laut Unicef zählen die Philippinen zu den zehn Ländern weltweit, die die höchste Anzahl fehlernährter Kinder unter fünf Jahren haben. 22 Millionen Menschen sind täglich von Hunger betroffen, fast die Hälfte der Einwohner verdient weniger als einen Dollar pro Tag.

Feudale Strukturen

Das ist erstaunlich, denn eigentlich könnten die Philippinen mit einer BIP-Wachstumsrate von über 6 Prozent eine florierende Volkswirtschaft sein. Doch der Reichtum erfasst nicht die breiten Schichten: In der Landwirtschaft leben  45 Prozent der Menschen unter der Armutsgrenze. Der jährliche Vermögenszuwachs der vierzig reichsten Familien entspricht 76 Prozent des Bruttoinlandprodukts (im Vergleich zu Japan mit 3 Prozent). Es sind noch immer die feudalen Strukturen, die die spanischen Konquistadoren nach der Landung Magellans im Jahre 1521 installiert hatten, die das politische Bild prägen. Die Spanier hatten die Verwaltung der neuen philippinischen Kolonie lokalen Häuptlingen anvertraut und sie auf diese Weise in die Herrschaft eingebunden. (Mit Hilfe keltischer Fürsten hatte bereits Cäsar Gallien kolonialisiert.) Aus dieser einheimischen Spezies entstand die Principalía, eine einheimische Führungsschicht, verwöhnt mit Privilegien und Ländereien, die bis heute von Generation zu Generation weitervererbt werden. Als Geldeintreiber boten sich spanische Missionare an: Sie schwärmten in alle Landesteile aus, lernten die einheimischen Dialekte, predigten das Christentum und zogen Steuern ein.

Heidnische Christen

Heute regieren immer noch achtzehn weitverzweigte Familienclans mit spanischen Wurzeln die hundert Millionen Filipinos im fünftgrössten Inselstaat der Welt. Die Einheimischen begegnen diesem Umstand mit Gleichgültigkeit und wählen aus den Reihen der Principalía oft Schauspieler, Schlagersternchen, Sportler und sogar die Witwe Imelda Marcos und ihre Kinder in staatliche Ämter. Gemeinsam bilden sie die alten und neuen Kolonisatoren und geniessen den Schutz der mächtigen Bischöfe. Siebzig Prozent der Abgeordneten entstammen diesen Familiendynastien.

Aber wer vertritt die Menschen, die auf Müllhalden wie denen von Smokey Mountain oder Payatas leben? Tausende von minderjährigen scavengers (Aasfresser, Müllsammler) stochern mit Eisenhaken in den bis zu vierzig Meter hohen Müllbergen, um am Ende des Tages 50 Peso (ca. einen Dollar) verdient zu haben. Als eine kleine Filipina Papst Franziskus anlässlich seines Besuches weinend fragte, wieso Gott das alles zulasse, sagte er: «Lasst uns mit diesem Mädchen weinen.» Er hätte Thomas de Maizière zitieren können: «Ein Teil meiner Antwort würde dich nur verunsichern.»

Der wohl grösste Feind der Philippinen ist die katholische Kirche. Sie landete mit den spanischen Konquistadoren auf der Insel Mactan und startete hier die Christianisierung Südostasiens. Die meisten philippinischen Stämme (bis auf die Sippe des Nationalhelden Lapu-Lapu) nahmen die neue Religion achselzuckend an und beteten insgeheim weiterhin zu ihren Göttern, auch wenn diese nun andere Namen und Gesichter hatten. Ähnlich arrangierten sich auch die Kubaner nach dem Einfall der spanischen Konquistadoren. Die aus Afrika importierten Gottheiten wurden christlichen Heiligen zugeordnet. Nicht umsonst nennt man diese Christen «heidnische Christen», da ein Patchwork aus animistischen Religionen, Geistern, Aberglauben und Christentum ihren Alltag bestimmt. Die Religion ist, ähnlich wie im Nahen Osten, wo ein vorislamisches Religionsverständnis gelebt wird, der grösste Hemmschuh für Aufklärung und Innovationen. Zivilisatorische Fortschritte müssen stets gegen die Religion erkämpft werden. Wie viele Erfindungen der letzten 300 Jahre stammen aus nicht säkularisierten Ländern?

Es ist das Verdienst des abtretenden Präsidenten Aquino III., dass er sich gegen den erbitterten Widerstand der katholischen Bischofskonferenz durchsetzte und im drittgrössten katholischen Land der Welt das «Reproductive Health Law» einführte. Dieses erlaubt Sexualaufklärung an Schulen und den erleichterten Bezug von Verhütungsmitteln. Obwohl die Bischöfe wie üblich mit der Exkommunikation aller zustimmenden Kongressabgeordneten drohten, setzte sich die Regierung durch. Infolge Armut, religiöser Indoktrination und mangelhafter Bildung leiden die ländlichen Gegenden unter einer unkontrollierten Bevölkerungsexplosion. Arbeitslose Familien mit zehn Kindern sind keine Seltenheit. Die Kinder werden an Verwandte oder Nachbarn abgegeben, im schlimmsten Fall an die Sexindustrie ausgeliehen, oder sie fristen in den Städten ein armseliges Dasein als Strassenkinder ohne Zukunftsperspektive.

Für viele ausländische Investoren sind die Philippinen ein rotes Tuch: Sie dürfen lediglich 40 Prozent an einem Unternehmen halten und sind oft Nötigung oder Erpressung durch Polizeikräfte ausgesetzt. Geschichten von Polizeibeamten, die westliche Firmengebäude betreten und zwei Laptops, einen Flachbildschirm und vier iPhones einfordern, sind keine Seltenheit. Bis vor einigen Jahren exportierte das Land Reis. Nachdem die EU und die USA ihre eigene Reisproduktion subventionierten, brachen die Preise auf den Philippinen zusammen. Heute müssen die Philippinen teuren Reis importieren, und die Verursacher schicken «Entwicklungshilfe»; die Hälfte versickert wie üblich in den Taschen korrupter Politiker. Wenigstens der Tourismus könnte eine bedeutende Einnahmequelle sein, verfügen doch die Philippinen über paradiesische Sandstrände und Naturlandschaften von unglaublicher Schönheit. Aber Korruption und Kriminalität sind omnipräsent.

Wirtschaftliche Impulse kommen vorwiegend aus den Zentren in Manila und Cebu City, wo internationale Grosskonzerne für Arbeitsplätze sorgen. Allein der indische Branchengigant Aegis People Support beschäftigt in seinen Callcentern Tausende Filipinas. Im Zeitalter der Globalisierung gibt es immer ein Land, das noch billiger ist. Im Gegensatz zu den Inderinnen sprechen Filipinas das verständlichere amerikanische Englisch. Das kommt daher, dass sie die amerikanische Kultur lieben und konsumieren, sie wachsen mit US-Serien, US-Charts und Fastfood auf. Die Sympathie mag verblüffen, haben doch die Amerikaner während des Philippinisch-Amerikanischen Kriegs (1899–1902) rund eine Million Zivilisten getötet. Unter dem Kommando von 26 Generälen, die noch an den blutigen Indianerkriegen teilgenommen hatten, ermordeten sie 20 Prozent der philippinischen Bevölkerung. Oberbefehlshaber General Jacob H. Smith, ein Veteran des Wounded-Knee-Massakers, wollte die ganze Inselgruppe in eine «heulende Wildnis» verwandeln: «Ich wünsche keine Gefangenen. Ich wünsche, dass ihr tötet und niederbrennt; je mehr getötet und niedergebrannt wird, umso mehr wird es mich freuen.» No bad feelings. Diese Gleichgültigkeit gegenüber den Widrigkeiten des Schicksals prägt noch heute die philippinische Kultur, die wenig Interesse für Vergangenes zeigt: «Wieso soll ich mich für Geschichte interessieren, das ist ja schon vorbei.»

«Ich bin Teil der death squads»

Ohne die monatlichen Überweisungen der etwa zehn Millionen Menschen zählenden Diaspora könnten viele Grossfamilien nicht überleben. Während die Männer meistens auf See anheuern oder sich auf arabischen Ölfeldern verdingen, arbeiten die Frauen als Haushälterinnen in Asien, im Nahen Osten oder als Krankenschwestern in Europa und den USA. Die jährlichen Geldüberweisungen von knapp 20 Milliarden Dollar machen heute 9 Prozent des Bruttoinlandproduktes aus. Ein ehemaliger Chefarzt eines Schweizer Universitätsspitals sagt: «Filipinas gehören zu den zuverlässigsten Mitarbeiterinnen, man findet sie heute auch in Operationssälen und Führungspositionen. Bei den Patienten sind Filipinas äusserst beliebt.» Jene Filipinas, die in muslimischen Ländern wie Katar oder Saudi-Arabien arbeiten, nehmen sogar in Kauf, dass sie vom ganzen Clan jahrelang vergewaltigt werden und im Falle einer Anzeige auf dem Polizeiposten wegen ausserehelichen Verkehrs ins Gefängnis kommen. Glücklich sind jene, die in freie, säkularisierte Gesellschaften auswandern. Befragt man sie nach ihrem ersten Eindruck, erhält man stets ähnliche Antworten. Vier Genfer Filipinas, die einen Take-away-Stand betreiben, sagen: «Am Anfang war es ein Kulturschock. Hier ist alles sauber und geordnet. Es ist grossartig, wie ihr mit der Zeit umgeht, alles ist perfekt organisiert, hier fühlt man sich sicher.» Vielleicht sollte man ab und zu das eigene Land durch die Augen der Expats betrachten, um die Vorzüge eines funktionierenden demokratischen Rechtsstaates gebührend zu schätzen, denn «die gefährlichste Weltanschauung ist die Weltanschauung derer, die die Welt nie angeschaut haben» (Alexander von Humboldt).

Eine ewige Baustelle bleibt die Insel Mindanao im Süden der Philippinen. Sie ist seit dem 14. Jahrhundert muslimisch. Hier treibt ein chaotischer Haufen durchgeknallter philippinischer und indonesischer Terrorjunkies sein Unwesen. Sie nennen sich Abu Sayyaf, Moro National Liberation Front, Moro Islamic Liberation Front, Bangsamoro Islamic Freedom Fighters, legen Bomben in Warenhäusern, entführen Schmetterlingsjäger und Biologielehrer und solidarisieren sich abwechselnd mit al-Qaida und dem Islamischen Staat – und berufen sich stets auf den Koran. Immer mehr glauben, dass nur Rodrigo Roa Duterte all diese Probleme lösen kann. Wer also ist Duterte? In einem TV-Interview konfrontierte ihn die Moderatorin mit den Vorwürfen der Justizministerin Leila de Lima, die behauptet, er sei in Davao City für Hunderte von Morden der dortigen Todesschwadronen verantwortlich.

«Wie nahe stehen Sie den death squads?», fragte sie. «Ich bin Teil von ihnen», antwortete Duterte gelassen. Die Moderatorin hielt die Antwort für einen Scherz und fragte nach, ob es ihm ernst sei mit dem, was er da soeben gesagt habe. «Ja», sagte Duterte, «wir haben Davao gesäubert. Wenn einer in meine Stadt kommt und ein Kind vergewaltigt, erschiesse ich ihn.» – «Haben Sie selber Menschen getötet?» – «Ja», sagte er emotionslos, «wenn ich an der Reihe bin, dann gehe ich raus.» – «Sie kandidieren für das Amt des Staatspräsidenten. Falls Sie gewählt würden . . .» – «Dann würde ich nicht 500 töten, sondern 100 000. Und die korrupten Politiker in Manila werde ich auch töten und ihre Leichen in die Manila Bay werfen, um die Fische zu füttern, so dass die Fische fett werden. Gott wird weinen, falls ich Präsident werde.» Mit solchen Aussagen ist er Kult geworden. Man sagt, er sei ein «Mann mit Eiern», gradlinig, absolut unbestechlich, kompromisslos, ein «Dirty Harry» eben.

Zwei Freundinnen

Laut der letzten Umfrage des renommierten Meinungsforschungsinstituts SWS vom 28. November liegt Duterte mit 38 Prozent in allen Landesteilen und Einkommensschichten in Führung. Ein Konkurrent nach dem andern gerät ins Straucheln: Vizepräsident Jejomar Binay ist in einen Korruptionsskandal verstrickt, Grace Poe wurde nachträglich von der Wahlkommission ausgeschlossen, weil diese «plötzlich» Zweifel an ihrer reinrassigen Herkunft hatte. Dutertes letzter Konkurrent ist der vom amtierenden Präsidenten favorisierte Innenminister und Investmentbanker Mar Roxas II. Er liegt mit 15 Prozent weit abgeschlagen auf dem letzten Rang und schmiedet angeblich fleissig Intrigen. Kürzlich wurde Duterte vorgeworfen, er sei gleichzeitig mit zwei Frauen verheiratet und habe erst noch eine Freundin. Duterte antwortete, das sei nicht wahr, er habe zwei Freundinnen, und versprach: «I will not be like other presidents.»

Carlos Conde, Verantwortlicher für die Philippinen bei Human Rights Watch, bezeichnet Dutertes Popularität als Folge des Zusammenbruchs von Recht und Ordnung. Bei einer Wahl Dutertes fürchtet er einen Abbau der Menschenrechte. Dan Mariano, ein Politanalyst und Kolumnist in Manila, schreibt, dass die Kriminalität im Land am meisten Ängste schüre. Er traue dem «Punisher» zu, ein «game changer» zu sein. Über den weiteren Spielverlauf entscheiden die Philippinen am 9. Mai 2016.

Claude Cueni ist Schriftsteller und lebt in Basel. In seinem  im Herbst erschienenen Roman «Pacific Avenue» beschreibt er  zwei Reisen auf die Philippinen, eine im Jahre 1521 an Bord von Magellans «Trinidad» und eine im Jahre 2015 zu seiner  philippinischen Verwandtschaft (Wörterseh. 440 S., Fr. 36.90).

© Die Weltwoche; 17.12.2015

#chronos (1982)

Unknown-11982 hörte Lucky Luke mit dem Rauchen auf. Nachdem er seit 1946 in 30 Millionen Alben geraucht hatte, beugte er sich der Political Correctness und verwandelte den Wilden Westen in eine No Smoking Area. Von 1955 bis 1977 hatte übrigens Asterix-Sprechblasenkünstler René Goscinny die Storys getextet. Leider fiel er ausgerechnet bei einem Gesundheitscheck tot vom Fitnessvelo.

«Kompanieführer ruft Rambo! Melde dich Junge!» 1982 erschien der Klassiker des ­Faustrechts in den Kinos. Sylvester Stallone kämpfte sich als One-Man-Army durch British Columbia und übte Selbstjustiz. Am Ende erlitt er ein Burn-out und die Duden-Redaktion nahm «Rambo» ins Lexikon auf. Der Name geht auf eine Apfelsorte zurück, einige behaupten, es sei eine Verballhornung des rebellischen Dichters ­Rimbaud, der mit englischem Akzent gesprochen wie «Rambo» klingt.

Friedfertiger war ein grossartiger Ben Kingsley in der Rolle des indischen Unabhängigkeits­kämpfers und Pazifisten Mohandas Gandhi. Die mit beinahe 300 000 Statisten gedrehte Film­biografie von Richard Attenborough wurde mit acht Oscars ausgezeichnet.

1982 präsentierte Nokia mit dem «Mobira Senator» das erste Mobile der Welt. Es wog ­lediglich 9,8 Kilo und verlangte erst nach drei Stunden nach einer Steckdose. Das 1865 von einem Finnen gegründete Unternehmen produzierte ursprünglich Gummistiefel und Radmäntel für Rollstühle. Bis 2011 war Nokia Markt­führer für Mobiles, 2014 schluckte Microsoft das ­Unternehmen, verschluckte sich daran und stellte ein Jahr später die Handysparte von Nokia ein. Wer nach 1982 geboren ist, fragt sich, wie die Menschen früher ohne Handy ihr Leben gemeistert haben.

1982 besetzten 5000 argentinische Soldaten die Falklandinseln im ­Südatlantik und nahmen 79 britische Marine­soldaten gefangen. Die Inselgruppe, die seit ihrer ersten Besetzung im Jahre 1690 abwechselnd Franzosen, Spaniern und Briten gehörte, wurde seit dem 19. Jahrhundert sowohl von Argentinien als auch von England beansprucht. Die britische Premierministerin Margaret Thatcher sandte ­umgehend 36 Kriegsschiffe mit 5000 Mann ­Besatzung auf ihre 13 000 Kilometer entfernte Kronkolonie. Nach Luftangriffen und über 1000 Toten, ­kapitulierte Argentinien und überliess seine ­hunderttausend Schafe und Pinguine den Briten. Die nationale Schmach führte zum Sturz der ­Militärjunta und zur Wiederherstellung der Demokratie. In einem späteren Referendum ­sprachen sich 99,8 Prozent der 1672 wahl­berechtigten Insulaner für einen Verbleib bei ­England aus, doch seit 60 Milliarden Barrel Öl vermutet werden, steht einem erneuten ­militärischen Konflikt nichts mehr im Wege.

1982 kam der erste Commodore 64 auf den Markt und brachte den «Brotkasten» in die ­Kinderzimmer. Das Magazin Der Spiegel titelte: So schön kann hässlich sein. Noch hässlicher war das erste Computervirus Elk Cloner, das der 16-jährige Rich Skrenta in Umlauf brachte. Das Time Magazine wählte den Computer zur «Person of the year» und bildete eine anonymisierte Person vor einem PC ab.

«Hundert Jahre Einsamkeit». Gabriel García Márquez erhielt den Nobelpreis für Literatur. Der Kolumbianer prägte den Stil des «Magischen ­Realismus» und thematisierte die Einsamkeit des Individuums, aber auch die Isolation Latein­amerikas in seinen Werken.

Einsam war auch E.T., die Filmfigur, die von ihren ausserirdischen Kumpels auf der Erde ­vergessen wurde und sich unter der Leitung von Steven Spielberg nach ihrer drei Millionen ­Lichtjahre entfernten Heimat sehnte. Er hatte nur einen Wunsch: «Nach Hause telefonieren.»

Claude Cueni ist Schriftsteller und lebt in Basel.

www.cueni.ch

© Basler Zeitung; 18.12.2015

Textauszug, Roman: Pacific Avenue / Imelda Marcos

Tirona#ImeldaMarcos #PacificAvenue #Philippinen

Morgen (17.12.15) in der #Weltwoche: Mein 4seitiger Bericht über den Wahlkampf auf den Philippinen.

Die Witwe des philippinischen Diktators Ferdinand Marcos hat auch in der Pacific Avenue ihren Auftritt. Textauszug: Klick auf Bild.

Am 24. Dezember bringt Spiegel TV eine 50minuten Doku (2015) um 21.10. Die Serie heisst: Despot Housewives / Klepto Ladies: Imelda Marcos.

#chronos (1952)

4 R

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1952 standen Marlon Brando und Anthony Quinn am Rio Grande und urinierten in den Fluss. Sie urinierten um die Wette. Wer am weitesten konnte, sollte die Rolle eines mexikanischen ­Bauern spielen. Marlon Brando gewann und spielte unter der Regie von Elia Kazan den ­mexikanischen Volkshelden Zapata.

Ein Kräftemessen ganz anderer Art spielte sich zwischen den USA und der Sowjetunion ab. Nach dem Tod des Diktators und Massenmörders Josef Stalin übernahm Nikita Chruschtschow die ­Führung und lieferte sich mit dem neu gewählten amerikanischen Präsidenten Dwight David ­Eisenhower einen «kalten Krieg», der in ein ­ruinöses Wettrüsten ausuferte. Gleichzeitig ­führten Nord- und Südkorea einen ­Stellvertreterkrieg mit den USA und China als Verbündeten. Die Menschen in Europa befürchteten einen dritten Weltkrieg.

Eisenhower zündete zur Einschüchterung auf dem Eniwetok-Atoll im Westpazifik die erste ­Wasserstoffbombe. Die freigesetzte Energie wurde auf 10,4 Millionen Tonnen konventionellen Sprengstoffs geschätzt – was einer ­Zerstörungskraft von mehr als 500 Hiroshima-­Bomben entsprach. Bereits fünf Jahre später konterte die Sowjetunion mit der Atombombe Zar, die eine um das ­Fünffache höhere ­Sprengleistung hatte. Ein Jahr später gestand Eisenhower: «Eine Welt unter Waffen verpulvert nicht nur Geld allein. Sie ­verpulvert auch den Schweiss ihrer Arbeiter, den Geist ihrer ­Wissenschaftler und die ­Hoffnung ihrer Kinder.»

Die Welt kam nicht zur Ruhe. Um die Verstaatlichung britischer Ölfirmen in Iran abzuwenden, gab Eisenhower den Befehl für einen Putsch und für die Einsetzung von Schah Mohammad Reza ­Pahlavi auf dem Pfauenthron. Auf Kuba putschte sich ­Fulgencio Batista an die Macht und regierte als ­Diktator. In Bolivien gelang Víctor Paz Estenssoro ein erfolgreicher Militärcoup. Im Nahen Osten stürzte das ägyptische Militär seinen König Faruq, in Jordanien ereilte König Talal das ­gleiche Schicksal. In Afrika formierten sich Unabhängigkeitsbewegungen gegen die britischen und französischen Kolonialherren.

Während in London eine Smog-Katastrophe mehrere Todesopfer forderte, wurde erstmals im Londoner West End die «Mausefalle» von Agatha Christie aufgeführt. Mit einer Laufzeit von ­mittlerweile 63 Jahren ist die »Mausefalle« das am längsten ununterbrochen gespielte ­Theaterstück der Welt.

Die Deutsche Demokratische Republik (DDR) zog eine fünf Kilometer breite Sperrzone entlang der Demarkationslinie zur Bundesrepublik Deutschland (BRD). Damit sollte verhindert ­werden, dass die Bürger das sozialistische ­Paradies verlassen, 12 000 Anwohner wurden umgesiedelt und die Telefonleitungen nach ­Westberlin zerschnitten. Im freien Westen lebten mittlerweile 9,6 Millionen Flüchtlinge.

In Deutschland erschien erstmals eine Tageszeitung mit grossen Lettern für Menschen mit verminderter Sehschärfe. Die Bild startete mit einer Auflage von 455 000 Exemplaren. Bereits vier Jahre später erreichte sie eine Auflage von 2,5 Millionen Exemplaren und kostete 10 Pfennig. Nach einer Steigerung auf ca. 4,5 Millionen im Jahr 1998, sank sie wieder auf 2 Millionen Exemplare.

In einer kleineren Schriftgrösse erschien Ernest Hemingways «Der alte Mann und das Meer». Er vertrat die Meinung, dass Glück eine gute Gesundheit und ein schlechtes Gedächtnis voraussetze. Und jungen Autoren gab er den ­Ratschlag, stehend an einem Pult zu schreiben. Dann würden ihnen von selbst nur noch kurze Sätze einfallen.

Und Doris Day sang «A guy is a guy»: He followed me down the street like I knew he would. Because a guy is a guy wherever he may be.

 

Claude Cueni ist Schriftsteller und lebt in Basel.

© Basler Zeitung; 04.12.2015

#chronos (2002)

 

images-1Am 1. Januar wurde das Euro-Bargeld in Umlauf gebracht, es war bereits 1999 als Buchgeld ­eingeführt worden. «Dieses Geld wird eine grosse Zukunft haben», sagte Helmut Kohl und ­beteuerte, dass «eine Überschuldung eines Euro-Teilnehmerstaates von vornherein ausgeschlossen» werden könne. Wilhelm Hankel, der vor dem Bundesverfassungsgericht gegen die Einführung des Euro geklagt hatte, meinte ­dagegen: «Der Euro wird zum Symbol der ­Wirtschaftskrise.» George Soros orakelte: «Der Euro ist dazu bestimmt, eine schwache Währung zu sein», und der damalige Fed-Chef, Alan Greenspan, sagte der International Herald Tribune: «Der Euro wird kommen, aber er wird keinen Bestand haben.» Seit seinem Höchststand im Jahre 2008 (1,6038), hat der Euro im Verhältnis zum Dollar um 67 Prozent an Wert verloren.

«Stirb an einem anderen Tag» («Die Another Day») empfahl hingegen Pierce Brosnan im 20. James-Bond-Film, als er in Nordkorea in geheimer Mission unterwegs war. Halle Berry war seine Partnerin. Als sie (wie damals Ursula Andress) im Bikini aus den Fluten stieg, sagte James: «Sex zum Dinner und Tod zum Frühstück, das wird mit mir nicht funktionieren.»

«Tod zum Frühstück» ereilte nach dem Platzen der Dotcom-Blase über 41 000 Unternehmen. Die weltweit drittgrösste Telefongesellschaft, WorldCom, beantragte beim Insolvenzgericht in New York Gläubigerschutz nach Chapter 11 und offenbarte einen der grössten Börsenskandale: Bilanzfälschungen in der Höhe von elf Milliarden. Dafür gabs für Firmengründer und CEO ­Bernard Ebbers 25 Jahre Gefängnis. Auch das mit über 6,5 Milliarden überschuldete Medienimperium Kirch Media musste die Bilanz deponieren.

Erfolgreicher waren die Genforscher. Sie entschlüsselten vollständig die Genome der Malariaerreger Plasmodium yoelii yoelii und das Genom der Stechmückenart Anopheles gambiae.

Die mit Al Qaida und den philippinischen Abu-Sayyaf-Terrormilizen verbündeten Islamisten der Jemaah-Islamiyah-Gruppe beriefen sich auf den Koran, als sie auf Bali einen Bombenanschlag auf mehrere Nachtclubs verübten und 202 «Ungläubige» töteten.

Tagelange Regenfälle verursachten die Jahrhundertflut, die sich über weite Teile Mitteleuropas ergoss. Umweltschützer sahen die Ursache in der Erderwärmung, Städteplaner in der zunehmenden Einengung der Flussläufe und Historiker verwiesen auf die Jahrhundertfluten in den Jahren 1342, 1501, 1787, die «sächsische Sintflut von 1845» und die Jahrhundertflut im Jahre 1954.

Im Februar heiratete der niederländische Kronprinz Willem-Alexander trotz Widerstand von Familie und Öffentlichkeit die Argentinierin Maxima Zorreguieta. Ihr Vater Jorge Zorreguieta hatte als Minister der Militärregierung von General Jorge Rafael Videla angehört, die für das Verschwinden von 30 000 Regimegegnern verantwortlich ist. Willem-Alexander war bereit, aus Liebe zu seiner Maxima auf die Thronfolge zu verzichten, und setzte sich durch. Standvermögen bewies er auch Jahre später in seiner ersten Thronrede. Er verkündete, was jeder Politiker in Europa längst weiss, aber nicht öffentlich zu sagen wagt: Um die Finanzkrise zu beenden, müssten in Zukunft alle selbst die Verantwortung für ihre Gesundheits- und Altersvorsorge übernehmen.

2002 starb der Regisseur und Drehbuchautor Billy Wilder im Alter von 96 Jahren an einer Lungenentzündung. Er hatte in 50 Jahren über sechzig Filme gedreht und dafür 21 Oscar Nominierungen und sechs Oscar-Auszeichnungen erhalten.

«Ist es erforderlich, dass ein Regisseur auch gut schreiben kann?»

«Nein, aber es hilft, wenn er lesen kann.»

© Basler Zeitung; 20.11.2015

Claude Cueni

#chronos (1969)

Unknown«Houston, Tranquility Base here. The eagle has landed.» Am 20. Juli 1969 landete «Apollo 11» auf dem Mond. Der Astronaut Edwin «Buzz» Aldrin wollte nicht als Erster den Mond betreten, er fürchtete die spätere Publizität. Er liess Neil ­Armstrong den Vortritt. Nach der Rückkehr behaupteten die üblichen Verschwörungstheoretiker, Stanley Kubrick habe die Landung in einem Studio gefakt, andere glaubten, eine UFO-­Landebasis entdeckt zu haben. «Buzz» sagte ­später: «Was danach kommt, nenne ich die ­Melancholie der erfüllten Aufgabe.» Er wurde Alkoholiker.

Verschwörungstheorien gab es auch nach dem tödlichen Autounfall auf einer Brücke in ­Chappaquiddick Island. Senator Edward Kennedy verfehlte nach einer Partynacht die Brücke und stürzte mit der 28-jährigen Sekretärin Mary Jo Kopechne in den Kanal. Er konnte sich retten, seine Begleiterin starb qualvoll. Richter Boyle bezichtigte Kennedy später der Lüge und ­verurteilte den «Löwen des US-Senats» (Obama) zu zwei Monaten Haft auf Bewährung, weil er sich unerlaubt vom Unfallort entfernt hatte.

Nebst Apollo-11- und Chappaquiddick-Büchern erschien auch der Bestseller «Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung – das Beispiel Summerhill». Seitdem erntet jeder ­Politiker Lachsalven, wenn er von roten Linien spricht. Staatsmännisch verkündete Red Lines haben nicht mehr Bestand als der Rasierschaum der Schiedsrichter.

In Mexiko-Stadt gab es am 26. Juni jedoch eine Fussballpartie zwischen Honduras und El Salvador, die auch mit zehn Dosen Rasierschaum nicht hätte gebändigt werden können. Sie ging mit ­gewalttätigen Auseinandersetzungen ausserhalb des ­Stadions in die Verlängerung. Unterstützt wurde das ­salvadorianische Team von der Luftwaffe, worauf auch Honduras Kampf­flieger ins Feld schickte. Nach vier Tagen endete die angeblich schönste Nebensache der Welt mit 2100 Toten und über 6000 Verletzten.

Am 15. März 1969 griff die Sowjetunion ­chinesische Truppen an und eroberte die Insel Zhenbao Dao. Bereits ein halbes Jahr früher ­startete die Sowjetunion mit ihren Verbündeten die grösste Militäroperation in Europa seit Ende des Zweiten Weltkrieges. Eine halbe Million ­Soldaten besetzten innerhalb weniger Stunden die Tschechoslowakei und beendeten den «Prager Frühling».

«Make Love Not War» war das Credo der ­jungen Generation, die weltweit gegen den ­Vietnamkrieg demonstrierte. Der Stellvertreterkrieg der beiden Grossmächte tötete oder ­verstümmelte über fünf Millionen Vietnamesen. Der grossflächige Einsatz des dioxinhaltigen ­Entlaubungsmittels «Agent Orange» verseuchte die Agrarflächen der Bevölkerung. Noch heute ­werden Kinder mit schwersten Missbildungen geboren. Eine Sammelklage von Geschädigten wurde 2005 in den USA mit der Begründung abgewiesen, dass es sich beim Einsatz von «Agent Orange» nicht um «chemische Kriegsführung» gehandelt habe und dass ­deshalb kein Verstoss gegen internationales Recht vorliege.

«All we are saying, is: give peace a chance», sagte John Lennon den Journalisten, die seiner Einladung zum «Bed-in» ins Queen Elizabeth Hotel in Montreal gefolgt waren. In Woodstock trafen sich Jugendliche zum legendären Festival. Für die Veranstalter war es zuerst ein finanzielles Desaster, später, dank Kinofilm und Alben, ein grosser finanzieller Erfolg. Die «Easy Riders» Peter Fonda und Dennis Hopper hatten mehr Bock auf LSD und fuhren auf ihren Scrambler-­Motorrädern durch Amerika: «Don’t bogart that joint, my ­friend, pass it over to me, roll another one, just like the other one.»

Claude Cueni ist Schriftsteller und lebt in Basel.

© Basler Zeitung; 06.11.2015

#chronos (1899)

March - April 1899

March – April 1899

1899 erschien eins der meistgelesenen ­Sachbücher des 20. Jahrhunderts, die ­«Traumdeutung» des Tiefenpsychologen Sigmund Freud (1856–1939). Er bezeichnete sich als Feind der Religion «in jeder Form und ­Verdünnung» und hielt Religiosität für eine ­«Kindheitsneurose». Er vertrat auch die Meinung, wonach «sich hinter jeder starken Frau ein ­tyrannischer Vater ­versteckt».

Emanzipation und Gleichberechtigung ­machten weitere Fortschritte: Im Deutschen Reich wurden erstmals Frauen zu den Staatsprüfungen der Medizin, Zahnmedizin und Pharmazie ­zugelassen und im Sing-Sing-Gefängnis setzte man Martha M. Place, auch sie die erste Frau, auf den elektrischen Stuhl.

In diesem Jahr wurden auch drei Männer geboren, die wenig von Gleichberechtigung ­hielten: Humphrey Bogart («Ein kluger Mann widerspricht nie einer Frau. Er wartet, bis sie es selbst tut.»), Ernest Hemingway («Man braucht zwei Jahre, um sprechen zu lernen, und fünfzig, um schweigen zu lernen») und Alfred Hitchcock: «Ich habe nie gesagt, dass ich Schauspieler für dumme Kühe halte, ich sagte bloss, man müsse sie so behandeln. Aber wichtiger ist, dass die Länge eines Film im direkten Verhältnis zum Fassungsvermögen der menschlichen Blase ist.»

Es ist nicht überliefert, ob die Firma Bayer AG angesichts dieser Weisheiten Aspirin beim Kaiserlichen Patentamt als Marke eintragen liess. Seitdem nennt man im Volksmund die Acetylsalicylsäure (ASS) Aspirin.

In den USA tobte der ­Kongress, weil die Regierung dem Erzfeind Spanien 7101 philippinische Inseln abkaufte. Es widersprach dem Selbstverständnis einer Nation, die durch Rebellion gegen das Mutterland ­entstanden war. Zwei Tage nach der «wohlwollenden Annexion» (US-Präsident ­William McKinley) riefen Revolutionäre die ­Philippinische Republik aus. Die USA schickten umgehend 26 Generäle, die sich während der Indianerkriege durch besondere Grausamkeiten ausgezeichnet hatten. Sie besetzten mit ihren ­Truppen die neue Kolonie. Oberbefehlshaber General Jacob H. Smith, ein Veteran des Wounded-­Knee-Massakers, wollte die ganze ­Inselgruppe in eine «heulende Wildnis» verwandeln: «Ich wünsche keine Gefangenen. Ich ­wünsche, dass ihr tötet und niederbrennt; je mehr getötet und niedergebrannt wird, umso mehr wird es mich freuen.» Er schlachtete über eine Million Zivilisten ab, 20 Prozent der gesamten philippinischen Bevölkerung endeten in Massengräbern. Erst Jahre später empörten sich die ­amerikanischen Medien und Smith kam vor Gericht. Nach Abzug der amerikanischen Truppen setzten die Japaner während des Zweiten ­Weltkrieges die Massaker auf den strategisch wichtigen Inseln fort.

Das britische Weltreich stand den Gräueltaten der amerikanischen Kolonisten in nichts nach. Das British Empire wollte als «führende Rasse (Cecil Rhodes)» die Pax Britannica weltweit durchsetzen. Im rohstoffreichen (Gold, ­Diamanten) Südafrika kämpften sie während des zweiten Burenkrieges erbitterte Schlachten und trieben in British India Millionen von Menschen in den Hungertod.

1899 beschleunigte sich der weltweite ­Informationsaustausch, AT&T kaufte American Bell und verschafft sich damit das Telefon­monopol in den USA. Guglielmo Marconi gelang die erste drahtlose telegrafische Verbindung über den Ärmelkanal. Charles H. Duell, der Beauftragte des US-Patentamtes, frohlockte: «Alles, was ­erfunden werden kann, ist erfunden worden.»

Jules Verne (1828–1905) widersprach ihm jedoch und schrieb: «Alles, was ein Mensch sich vorzustellen vermag, werden andere Menschen verwirklichen können.»

Claude Cueni ist Schriftsteller und lebt in Basel.

www.cueni.ch

 

 23. Oktober 2015 / Folge 26

#chronos (1944)

513EofHcYeL._SY450_„Der Stauffenberg, das war ein Kerl! Um den ist es beinahe schade. Welche Kaltblütigkeit, welche Intelligenz, welch eiserner Wille! Unbegreiflich, daß er sich mit dieser Garde von Trotteln umgab«, sagte Joseph Goebbels, Hitlers Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda, nach dem gescheiterten Hitler Attentat vom 20. Juli 1944.

Oberst von Stauffenberg hatte als glühender Nationalsozialist und Antisemit die ersten Kriegsjahre mitgetragen und seiner Schwester geschrieben: „Die Bevölkerung hier ist ein unglaublicher Pöbel, sehr viele Juden und sehr viel Mischvolk.“ Stauffenberg änderte seine Meinung später und schloss sich den Widerstandskämpfern an, um das NS-Regime zu beseitigen und dadurch den Krieg zu beenden. Er wurde einen Tag nach dem misslungenen Attentat standrechtlich erschossen.

Knapp zwei Monate zuvor, am 6. Juni, waren die Allierten in der Normandie gelandet und hatten mit der Invasion den Zusammenbruch des Deutschen Reiches eingeleitet. Das Unternehmen »Overlord« war die grösste Landeoperation der Geschichte.

Während im gleichen Monat Rom von den Faschisten befreit wurde und die Sowjetunion ihre Sommeroffensive startete, trafen sich im Mount Washington Hotel in New Hampshire 733 Delegierte aus 44 Ländern, um für das nächste Jahrhundert eine folgenreiche Entscheidung zu treffen. In Bretton Woods, am Fusse der White Mountains, wurde bereits ein neues internationales Währungssystem für die Nachkriegszeit beschlossen. Der Dollar sollte als weltweite Ankerwährung festgelegt werden und durch Gold gedeckt sein. Zur Durchsetzung der Beschlüsse wurden die Weltbank und der Internationale Währungsfonds (IWF) gegründet. Nach Bretton Wood waren die USA als neue Weltmacht gesetzt und das einstige Britische Imperium nur noch Geschichte.

Harry Dexter White, der Vater des Bretton Woods Systems, kam später als sowjetischer Spion vor Gericht. Er hatte fälschlicherweise angenommen, dass die beiden grossen Siegermächte nach dem Krieg weiterhin Verbündete sein würden. Und geplaudert. Mit einem Herzinfarkt rettete er sich vor der bevorstehenden Verurteilung.

Obwohl der Krieg auch im September noch tobte, teilten die späteren Siegermächte Deutschland bereits in Besatzungszonen ein und regelten im ersten Londoner Zonenprotokoll die Grenzen zwischen den sowjetischen und westlichen Einflussbereichen.

Während die Allierten im September deutschen Boden betraten, erreichte die Rote Armee im Oktober die deutsche Grenze. Die NSDAP mobilisierte noch alle waffenfähigen Männer im Alter von 16 bis 60 Jahren und opferte über 170.000 Menschen für einen bereits verlorenen Krieg. Von den 6 Millionen Volkssturmpflichtigen hatten sich die meisten freiwillig gemeldet…

Um die Widerstandskraft zu brechen, deckten die Allierten deutsche Städte mit einem Bombenteppich ein und machten viele davon dem Erdboden gleich.

Leider hat das Jahr 1944 kaum Erfreuliches zu bieten. Es widerlegt die christliche These, wonach gläubige Menschen ein anstädigeres Leben führen als Ungläubige. Ueber 90 Prozent der Nazis waren gläubige Christen…

Die Gottlosigkeit dieses Jahrzehnts widerspiegelt sich auch in Billy Wilders stilprägendem Film-Noir »Frau ohne Gewissen« (Double Idemnity) wider. Den Drehbuchautoren Raymond Chandler und Billy Wilder gelang das Kunststück, einen amoralischen Helden zu zeichnen, dem die Zuschauer willig folgen. Der Film begann mit der legendären Dialogzeile: „I killed him for money – and for a woman. I didn’t get the money. And I didn’t get the woman.“

 

 

#chronos (1972)

Unknown«Mein Na­me ist Moe Green! Ich hab schon den Ers­ten um­ge­bracht, als du noch in den Win­deln lagst!» Die ers­te Fol­ge der Tri­lo­gie «The God­fa­ther» kam 1972 in die Ki­nos. Pa­ra­mount hat­te dem Schrift­stel­ler Ma­rio Pu­zo die Film­rech­te an sei­nem gleich­na­mi­gen Ro­man für 12 500 US-­Dol­lar ab­ge­kauft und den da­mals 31-jäh­ri­gen Fran­cis Ford Cop­po­la mit ei­nem Bud­get von sechs Mil­lio­nen be­traut. Der Film wur­de mit Mar­lon Bran­do in der Hauptrol­le ein Mei­len­stein der Film­ge­schich­te und spiel­te bis heu­te über ei­ne Vier­tel­mil­li­ar­de ein. Ei­ni­ge mein­ten, der Film sei «der bes­te Wer­be­spot für die Ma­fia, der je ge­dreht wur­de». Als kürz­lich der Sarg des Ma­fia­bos­ses ­Vit­to­rio Ca­sa­mo­ni­ca in ei­ner gol­de­nen Kut­sche durch die Stras­sen Roms ge­führt wur­de, er­schall­te der So­undtrack «The God­fa­ther» und em­pör­te die ita­lie­ni­sche Pres­se.

Einen «Bloo­dy Sun­day» er­leb­ten auch 13 un­be­waff­ne­te Zi­vi­lis­ten, die bei ei­ner De­mons­tra­ti­on in Nordir­land von bri­ti­schen Fall­schirm­jä­gern er­schos­sen wur­den. Blu­tig gin­gen auch die ­Olym­pi­schen Som­mer­spie­le in Mün­chen zu En­de. Mit­glie­der der pa­läs­ti­nen­si­schen Ter­ro­r­or­ga­ni­sa­ti­on «Schwar­zer Sep­tem­ber» hat­ten elf is­rae­li­sche Sport­ler des Olym­pia-Teams als Gei­seln ge­nom­men und die Frei­las­sung von 232 Pa­läs­ti­nen­sern ge­for­dert. Bei der ver­such­ten Gei­sel­be­frei­ung ka­men al­le Gei­seln, fünf Ter­ro­ris­ten und ein ­Po­li­zist ums Le­ben.

Un­blu­tig en­de­te die ­Ent­füh­rung ei­nes Jum­bo-Jets von Frank­furt in den Süd­je­men. Die ara­bi­schen Ter­ro­ris­ten er­hiel­ten fünf Mil­lio­nen Dol­lar Lö­se­geld und ­ani­mier­ten wei­te­re Ter­ror­grup­pen zu Flug­zeu­gent­füh­run­gen. In Deutsch­land wur­den mit An­dre­as Baa­der und Ul­ri­ke Mein­hof der Kopf der «Ro­ten Ar­mee Frak­ti­on» ver­haf­tet.

Doch das männ­li­che Ge­schlecht in­ter­es­sier­te sich mehr für das Ma­ga­zin ­Play­boy, das erst­mals in ei­ner deut­schen Aus­ga­be auf den Markt kam, ob­wohl be­reits die ame­ri­ka­ni­sche Aus­ga­be nicht sehr text­las­tig war.

In den USA be­herrsch­ten Vi­et­nam­krieg und Wa­ter­ga­te-Af­fä­re die Schlag­zei­len. In Wa­shing­ton wa­ren fünf Ein­bre­cher beim Ver­such ver­haf­tet wor­den, in das Haupt­quar­tier der De­mo­kra­ti­schen Par­tei ein­zu­bre­chen, um Ab­hör­wan­zen zu in­stal­lie­ren und Do­ku­men­te zu fo­to­gra­fie­ren. Den an­sch­lies­sen­den Ver­tu­schungs­ma­nö­vern und ­Jus­tiz­be­hin­de­run­gen durch die Ni­xon­re­gie­rung folg­ten wei­te­re Ent­hül­lun­gen: Il­le­ga­le Par­tei­spen­den, Ver­kauf von Bot­schaf­ter­pos­ten und Re­gie­rungs­be­schlüs­sen, Steu­er­hin­ter­zie­hun­gen des Prä­si­den­ten.

Die 70er-Jah­re wa­ren das se­xu­ell ­frei­zü­gigs­te Jahr­zehnt des 20. Jahr­hun­derts, bis Ai­ds 1981 der frei­en Lie­be ein En­de setz­te. Ero­tik do­mi­nier­te auch die US-Charts des Jah­res 1972: Chuck Ber­ry be­sang sein «Ding-A-Ling», die ­bri­ti­sche Rock­band The Sweet ih­ren «Litt­le Wil­ly», Neil Young war im­mer noch auf der Su­che nach ei­nem «He­art of Gold», wäh­rend Gil­bert ­O’Sul­li­van «Alo­ne Again» war.

Die «Gren­zen des Wachs­tums» war kein neu­er Best­sel­ler des da­mals po­pu­lä­ren Se­xon­kels und Best­sel­ler­au­tors Os­walt Kol­le über die erek­ti­le Dys­funk­ti­on, son­dern ein Sach­buch des ­re­nom­mier­ten «Club of Ro­me». Füh­ren­de ­Wis­sen­schaft­ler aus 30 Län­dern hat­ten ein ­düs­te­res Bild un­se­rer Zu­kunft pro­gno­s­ti­ziert: Die Re­vo­lu­ti­on von In­ter­net und Mo­bi­les hat­ten sie zwar nicht vor­aus­ge­se­hen, aber das Auf­brau­chen der welt­wei­ten Roh­stof­fe durch un­ge­zü­gel­tes Wirt­schafts­wachs­tum. Nebst Dür­ren bib­li­schen Aus­mas­ses, soll­te auch die west­li­che Au­to­mo­bil­in­dus­trie durch ja­pa­ni­sche Bil­li­gim­por­te zer­stört wer­den. Ein klei­ner Trost war im­mer­hin, dass wir im Jah­re 2010 eh kei­nen Trop­fen Erd­öl mehr ha­ben wür­den. Wann ha­ben Sie ei­gent­lich das letz­te Mal ge­tankt?

Clau­de Cue­ni ist Schrift­stel­ler und lebt in Ba­sel. www.cue­ni.ch

© Basler Zeitung, 25.9.15