Miss Chiquitas Abenteuer

Die Weltwoche – 09. Juni 2022


Miss Chiquitas Abenteuer

Wie verwegene Geschäftsleute die Banane aus dem Malaria- und Korruptions-Dschungel Zentralamerikas in die Luxusmärkte der Ersten Welt brachten.


Kaum zu glauben, dass Minor Cooper Keith (1848–1929) am Ende des 19. Jahrhunderts die Weichen für einen der ersten Weltkonzerne legte. Denn zuerst hatte er kein Glück, und dann kam noch Pech dazu. Sein Onkel Henry Meiggs hatte ihn 1871 nach Costa Rica gerufen, nachdem er mit dem costa-ricanischen Präsidenten Tomás Guardia Gutiérrez einen Vertrag über den Bau einer Eisenbahnstrecke unterzeichnet hatte. Sie sollte die Hauptstadt San José mit dem karibischen Hafen von Limón verbinden. Minor Cooper Keith war 23 und abenteuerlustig. Er lernte schnell.

Plantagen, so weit das Auge reichte

Das war auch nötig, denn bereits sechs Jahre später starb sein Onkel Henry, und er wurde sein Nachfolger. Keithy erbte einen Haufen ungelöster Probleme, denn sein Onkel war offenbar ein betrügerischer Finanzjongleur, der noch hundert Jahre nach seinem Tod die Gerichte beschäftigte. Keith erbte aber auch grosse Bananenplantagen, die Onkel Henry entlang der Eisenbahn angelegt hatte, um die Lebensmittelversorgung der Arbeiter zu sichern und Lieferkosten zu sparen. Doch es folgte eine Pechsträhne. Die Regierung hielt ihre Zahlungsversprechen nicht ein, Regenfälle, dichter Dschungel und Malaria bedrohten das Projekt. Über 4000 Menschen erlagen dem Sumpffieber, darunter drei von Keiths Brüdern.

Trotz aller Widrigkeiten erreichte Keith schliesslich den Hafen von Limón. Die Freude währte nur kurz. Die Passagiere blieben aus, und Keith blieb auf einem enormen Schuldenberg sitzen. Er hatte nichts mehr. Ausser Bananen. Die Regierung von Präsident Próspero Fernández Oreamuno konnte die vereinbarten Ratenzahlungen nicht zahlen und beglich ihre Schulden mit der Überschreibung von 324 000 Hektaren Land, was fast der doppelten Fläche des Kantons Zürich entspricht.

Jetzt hatte Keith noch mehr Anbauflächen, aber kaum noch Arbeiter, denn die Costa-Ricaner verweigerten den gefährlichen Job im Malariagebiet. Er fand neue Arbeitskräfte in Jamaika. Einer der Schiffskapitäne, die zwischen den Kaimaninseln Passagiere und Waren beförderten, war der Abenteurer Lorenzo Dow Baker, der bereits 1870 160 Bananenbündel aus Mittelamerika nach Hause gebracht hatte. Baker und Keith verstanden sich sogleich, hatten viele Ideen, Bananenplantagen, so weit das Auge reichte, aber sie brauchten Geld – Geld, das sie nicht hatten. Das änderte sich 1885, als sie den berühmten amerikanischen Geschäftsmann Andrew W. Preston als Investor gewannen. Zu dritt gründeten sie vierzehn Jahre später, mit acht Partnerunternehmen, die United Fruit Company (UFC), die sie 1903 an die Börse brachten.

Von nun an beförderte Keith auf seinem Schienennetz keine Passagiere, sondern Bananen. Die Gesellschaft errichtete in Costa Rica rasch die Infrastruktur, die sie für die Expansion ihres Geschäftes brauchten, und bald gehörten ihnen Bahnstrecken, ein Schiffshafen, Telefon- und Radiostationen und eine riesige Flotte von Frachtschiffen mit eingebauten Kühlkammern. Doch Costa Rica war der UFC noch lange nicht genug. Sie breitete sich in ganz Mittelamerika aus und erhielt bald einmal den Namen «el pulpo», die Krake.

Als am 12. November 1928 die Arbeiter auf den kolumbianischen Plantagen wegen mieser Arbeitsbedingungen streikten, verweigerte die UFC Verhandlungen mit den Anführern. Nach erfolglosen Verhandlungen mit der Regierung meldeten die UFC und amerikanische Beamte vor Ort dem US-Aussenminister Frank B. Kellogg «einen kommunistischen Aufstand» und drängten die Regierung, amerikanische Interessen zu schützen. Darauf drohten die USA mit einer Invasion des United States Marine Corps.

Die konservative Regierung von Miguel Abadía Méndez beauftragte General Cortés Vargas, Oberbefehlshaber der Bananenregion, die Situation mit einem auswärtigen Armeeregiment zu klären. An einem Sonntag warteten die gläubigen Bauern nach der Sonntagsmesse dichtgedrängt vor der Kirche auf eine klärende Ansprache des Gouverneurs. Auf den umliegenden Dächern waren 300 Soldaten mit Maschinengewehren in Stellung, sie schossen in die Menge und töteten (je nach Quelle) tausend bis dreitausend Menschen, darunter viele Frauen und Kinder. Das Massaker (Masacre de las bananeras) prägte den Begriff «Bananenrepublik».

Nach dem Zweiten Weltkrieg stieg in den USA die Nachfrage nach Bananen, die als gesund galten, und die UFC bewarb mit einem Millionenbudget eine fröhliche Südamerikanerin mit einem Körper in Bananenform. Kein Geringerer als Dik Browne, der Vater von «Hägar dem Schrecklichen», hatte diese «Miss Chiquita» erschaffen, eine singende Markenbotschafterin mit Sex-Appeal und einem Früchtekorb auf dem Kopf. Für die UFC schien alles bestens zu laufen, bis 1951 Jacobo Árbenz Guzmán, Sohn eines Schweizer Immigranten aus Andelfingen und einer Mestizin, mit einem Stimmenanteil von 65 Prozent zum neuen Präsidenten von Guatemala gewählt wurde. Mit einer Landreform wollte Guzmán ungenutztes Land zum Steuerwert erwerben und umverteilen. Darunter auch die brachliegenden Ländereien der United Fruit Company.

Jagd auf Kommunisten

Diese bat die amerikanische Anwaltskanzlei der Gebrüder Dulles, bei Präsident Eisenhower vorstellig zu werden. John Foster Dulles war damals Aussenminister, der Bruder Allen Welsh Dulles Chef der CIA. Das Klima war nicht ungünstig, denn in den USA hatte der Senator Joseph McCarthy mit seinen Tribunalen die Jagd auf echte oder vermeintliche Kommunisten eröffnet. Die UFC erkannte, dass sie ihre verlorenen Ländereien nur zurückerhalten konnte, wenn sie Regierung und Öffentlichkeit davon überzeugen konnte, dass die Sowjetunion im Begriff war, in Guatemala einen Brückenkopf einzurichten.

Die UFC brauchte einen Profi, um Präsident Guzmán und seine Regierung in Verruf zu bringen. Der Job war wie gemacht für Edward Louis Bernays (1891–1995), Neffe von Sigmund Freud, dem Begründer der Psychoanalyse. Bernays galt als Meister der Propaganda und Vordenker der Public Relation. Gemeinsam mit den Dulles-Brüdern entwarf er die Operation PBSuccess, die von Präsident Eisenhower ausdrücklich begrüsst wurde. Auf Kosten der UFC lud man amerikanische Journalisten nach Guatemala ein. Dort präsentierte man ihnen gescriptete Interviewpartner und verstümmelte Leichen (von Unfallopfern), die angeblich vom Regime zu Tode gefoltert worden waren.

Da Bernays mit Arthur Hays Sulzberger (1891–1968), dem Herausgeber der New York Times, befreundet war, wurde die Öffentlichkeit täglich informiert beziehungsweise desinformiert und mit Fake News verängstigt. Angeblich würde sich der Kommunismus von Guatemala aus wie ein Krebsgeschwür über ganz Mittelamerika verbreiten, Amerika war in Gefahr, die Banane war es auch. Plötzlich hörten alle Medien das sowjetische Bellen vor der Haustür. Zahlreiche Radiostationen, die Bernays kurzfristig im Guatemala eingerichtet hatte, berichteten ununterbrochen von einer fiktiven Rebellenarmee, die unaufhaltsam vorrückte. Im Hintergrund hörte man eingespielte Raketeneinschläge und Maschinengewehre. Vor der Küste tauchten US-Kriegsschiffe auf. Irritiert distanzierte sich das guatemaltekische Militär von der Regierung, Guzmán wurde gestürzt. Er floh mit seiner Familie vorübergehend in die Schweiz und ertrank später in Mexico City in seiner Badewanne. Sein Nachfolger war Diktator Carlos Enrique Díaz de León. Er gab dem Bananenkonzern seine Ländereien zurück.

In den folgenden Jahrzehnten geriet die gesamte Branche immer wieder in Verruf wegen Preisabsprachen, Bestechungen, Kinderarbeit, Raubbau an der Natur und Pestizideinsatz.

In den 1990er Jahren waren in Kolumbien Entführungen und Morde an der Tagesordnung. Um die Sicherheit der Angestellten zu gewährleisten, bezahlten die Konzerne Schutzgelder an paramilitärische Terroreinheiten, zuerst an die linke Farc, später an die rechten AUC. Die USA, die selber jahrelang in Waffenlieferungen (Contra-Krieg) involviert waren, erliessen 2001 ein Anti-Terror-Gesetz, das Zahlungen von US-Unternehmen an ausländische Terrororganisationen unter Strafe stellte. Die UFC stellte sich den US-Untersuchungsbehörden. Mit einer Strafzahlung von 25 Millionen Dollar war die Sache vom Tisch.

Seitdem segelt der Weltkonzern unter einer neuen Generation von CEOs und wechselnden Besitzern in ruhigeren Gewässern. Oscar Grillo, der Schöpfer des «rosaroten Panthers», machte aus der Bananenfrau eine menschliche Miss Chiquita. Sie verkauft heute Kochbücher, Merchandising-Artikel, sponsert Sportanlässe und tritt in Filmen und TV-Shows auf. Trotz gelegentlicher Vorwürfe wegen «Rassierung und Sexualisierung» wurde Miss Chiquita grösser als die Firma, und so war es nur folgerichtig, dass sich die United Fruit Company in Chiquita Brands International umbenannte und schliesslich die Voraussetzungen erfüllte, um von der Umweltschutzorganisation Rainforest Alliance zertifiziert zu werden.

Lukrativste Exportgüter

Heute gehört der weltgrösste Bananenproduzent mit seinen 20 000 Angestellten zum internationalen Netzwerk der brasilianischen Investmentfirma J. Safra Sarasin Group (die auch die damalige Schweizer Bank Sarasin übernahm) und des brasilianischen Saftherstellers Cutrale. Sie nahmen nach dem Kauf Chiquita von der Börse, Plantagen betreiben sie vorwiegend in Costa Rica, Guatemala, Honduras, Panama und Kolumbien. Da in diesen Ländern Bananen zu den lukrativsten Exportgütern gehören, ist das Wohlwollen der Regierungen garantiert.

Die grösste Gefahr für Miss Chiquita ist heute ein Tropical Race 4 (TR4) genanntes Virus, das die Gefässe der Pflanzen verstopft und ganze Plantagen vernichtet. Gegen TR4 gibt es bisher kein Mittel. Inzwischen lässt sich aber mit Genom-Editierung das Erbgut gezielt verändern. An der Queensland University of Technology tüfteln Forscher an einer Miss Chiquita aus dem Reagenzglas. So, wie wir heute Retortenbabys akzeptieren, werden wir uns eines Tages auch an die Babys von Miss Chiquita gewöhnen.

112 Blick »Elon Musk macht den Noah«

Elon Musk macht den Noah

Als der liebe Gott erkannte, welch grässliche Kreaturen er da geschaffen hatte, platzte ihm der Kragen und er beschloss, sein Werk in einer Sintflut zu ersäufen. Wieso seinem «Great Reset» auch alle Tiere zum Opfer fallen sollten, ist nicht schlüssig, aber so will es nun mal die mythologische Erzählung der Sintflut. Gott übergab seinem letzten Fan eine Skizze für den Bau einer Arche. Sie entsprach leider nicht ganz dem Niveau heutiger Ikea-Anleitungen. Biblische Fake News?

Es gab tatsächlich eine grosse Sintflut, aber sie fand bereits vor rund 12 000 Jahren statt, in einer Zeit, als unsere Vorfahren noch die göttliche Sonne anbeteten. Die Gletscher, die bis anhin gewaltige Wassermassen in ihren Eisschilden gebunden hatten, tauten am Ende der letzten Kaltzeit auf. Die Folgen waren katastrophale Überflutungen, die sich über den Planeten ergossen. Der Meeresspiegel stieg um rund 120 Meter, das Schmelzwasser trennte Europa von Afrika, Japan und Australien wurden zu Inseln. (Zum Vergleich: Die Freiheitsstatue ist mit Sockel 93 Meter hoch.)

Elon Musk lässt nun auf Twitter verlauten, dass eine «hundertprozentige Chance» bestehe, dass die Menschheit ausgelöscht werde. Musk sieht überall Gefahren: Killerviren, Asteroideinschläge, Atomkriege, zunehmende Sonnenaktivität, Änderungen im Magnetfeld der Erde, die obligate Sintflut und natürlich Twitter.

Eine Flucht in höher gelegene Regionen könnte hilfreich sein, aber auf Bergspitzen herrscht Dichtestress. Wir sind mittlerweile acht Milliarden.

Elon Musks multiplanetäre Lösung sieht einen Neustart auf dem Mars vor mit einer Kolonialbevölkerung von rund 100 000 Menschen. Diese Auserwählten, die bereits die Erde zugrunde gerichtet haben, kriegten eine zweite Chance. Der Mars hätte in der Tat Vorteile, zumal dort (noch) kein Global Warming stattfindet. Dafür kosmische Strahlung.

Falls Sie eines Tages ein Taxi zum roten Planeten buchen, sollten Sie warme Socken einpacken. Denn laut Nasa liegt die mittlere Temperatur auf dem Mars bei etwa –63 °C (Erde: +14 °C). Aber auch dafür wird es eine Lösung geben, denn «alles, was ein Mensch sich heute vorstellen kann, werden andere Menschen einst verwirklichen» (Jules Verne).

001 Blick »Mit Bitcoins Geld verdienen«

In meiner ersten von mittlerweile 111 Blickkolumnen beschrieb ich im Januar 2018, wieso Bitcoins nicht das »neue Gold«, sondern ein »Schwarz Peter Spiel« sind. Selbstverständlich kann man auch mit etwas Glück beim Kartenspiel reich werden. 

Mittlerweile habe ich mit Bitcoins mehr verdient als mit meinem letzten Roman »Hotel California«. Aber nicht indem ich Bitcoins kaufte, sondern indem ich regelmässig Puts auf fallende Kurse setzte.


Trommelwirbel in der Rue Quincampoix. Als die Tambours verstummen, schlägt ein Gardesoldat den Gong, und Tausende von Menschen rennen los, schreien, rempeln, werden von Kutschen gegen Hauswände gedrückt. Über eine halbe Million Glücksritter sind aus dem Ausland nach Paris gereist, um Aktien der Mississippi-Kompanie zu kaufen. Der Kurs explodiert, steigt innert kürzester Zeit von 500 auf 20’000 Livres. Die Hysterie endet wie alle Spekulationsblasen – mit einem kräftigen Knall. Das war 1718.

Von der holländischen Tulpenzwiebeln-Manie über den Hype mit Eisenbahnaktien im 19. Jahrhundert bis hin zur Dotcom-Blase, stets sind die Vorboten die gleichen: Das Thema beherrscht die Frontseiten der Medien, Taxifahrer diskutieren mit dem Fahrgast die Kursentwicklung, Finanzexperten erklären, wieso jetzt alles anders ist. Das ist stets der Augenblick, wenn die Gier in den Sattel steigt und zum wilden Galopp ansetzt. Zuerst verlieren die Leute den Verstand, dann ihren Einsatz.

Bitcoin ist weder mit erwarteten Goldfunden in Louisiana, Währungsreserven noch mit einer Wirtschaftsleistung unterlegt. Gelobt wird die Anonymität. Die schätzen auch Kriminelle, die im Darknet Handgranaten, Crystal Meth, Kinderpornos und Hackersoftware kaufen. Staaten, die Schwarzgeld bekämpfen, werden den Bitcoin verbieten.

Während Kreditkartenfirmen über 50’000 Transaktionen pro Sekunde abwickeln, schafft das Bitcoinnetzwerk gerade mal vier und bräuchte für das gleiche Volumen circa dreieinhalb Stunden. Denn jede Transaktion muss weltweit auf jedem Computer der Bitcoin-Miner registriert und bestätigt werden. Nicht erstaunlich, dass das Bitcoin-Netzwerk jedes Jahr so viel Strom verbraucht wie die gesamte Schweiz in vier Monaten.

Eisenbahn, Computer, Internet, all diese Innovationen haben überlebt, aber auf der Strecke blieben stets Tausende Pioniere, Firmen und bankrotte Aktionäre. Die Blockchain-Technologie der nächsten Generation wird überleben, aber von den zurzeit über 1400 Kryptowährungen werden nur noch wenige dabei sein.

Trotzdem lässt sich mit Bitcoins Geld verdienen: Wenn man mit einem Put auf fallende Kurse setzt. Aber auch dann gilt: Das Timing ist alles, also wie im richtigen Leben.


 

111 Blick »Bellen vor der Haustür

Regungslos sitzt der neugewählte philippinische Präsident »Bongbong« Marcos an einem Tisch umringt von seinen Oligarchenfreunden, die in ausgelassener Stimmung Party feiern. Der Sohn des Diktators Ferdinand Marcos geniesst still seinen historischen Sieg, während seine Kumpels »Umagang Kay Ganda« anstimmen, »die Sonne der Hoffnung ist endlich zurück«.

Ein Grossteil der Bevölkerung lebt in bitterer Armut, die Kindersterblichkeit (bei 1000 Lebendgeburten) liegt bei 26,4 Prozent (Schweiz: 3,68). Das Land hat eine Auslandverschuldung von 12 Trillionen Pesos, das ist eine Zahl mit 18 Nullen. Sparen will man jetzt bei den sozialen Ausgaben. Die Weltbank hat dem heruntergewirtschafteten Inselstaat ein Darlehen von 600 Millionen Dollar gewährt. Doch bereits während der blutigen Diktatur flossen Teile der Entwicklungsgelder direkt in die Taschen des nimmersatten Ehepaars Marcos. Am Ende hatte es dem Land 10 Milliarden Dollar gestohlen. Ihr Sohn »Bongbong« Marcos konnte für seinen Wahlkampf aus dem Vollen schöpfen.

Egal, wieviele Milliarden Hilfsgelder der Westen nach Südoastasien überweist, profitieren werden stets der Marcos-Clan und sein Netzewerk. Auch wenn Joe Biden umgehend gratulierte und die Fortsetzung der Freundschaft beschwor, wird die ehemalige Kolonialmacht den Pufferstaat vielleicht trotzdem verlieren, denn mit Ausnahme der Zweitplazierten Leni Robredo waren alle Präsidentschaftskandidaten antiamerikanisch.

Erstaunlich, denn China besetzt weiterhin die für den maritimen Welthandel wichtigen philippinischen Riffe im südchinesischen Meer, obwohl der Schiedsgerichthof in Den Haag der Klage der Philippinen stattgegeben hat. Davon unbeeindruckt besetzt China das fischreiche Riff Scarborough Shoal mit Armeeeinheiten, schüttet künstliche Inseln auf, baut Hafenanlagen, Flugplätze und stationiert Raketen.

Mit der Wahl von Marcos Junior wird die Kündigung der Pachtverträge für die Nutzung der philippinischen Häfen durch die amerikanische Marine erneut ein Thema sein.  Dann wird auch ein offensichtlich dementer Joe Biden »das Bellen der Hunde« vernehmen. Es wird jedoch eher ein feuerspuckender Drache sein, der an die Kuba-Krise erinnert. Damals, im Oktober 1962, stationierte die UdSSR sowjetische Mittelstreckenraketen auf Kuba. Direkt vor Amerikas Haustür.


Voranzeige: Im August erscheint mein Thriller »Dirty Talking«.


 

Weltwoche: Die Rückkehr des Marcos Clans

Eine von drei auf zwei Magazinseiten gekürzte Version erschien am 5. Mai 2022 in der Weltwoche. Hier lesen Sie die ungekürzte Version.


2016 gewann Rodrigo Duterte, 77, die Präsidentschaftswahlen. Eine Amtszeit dauert sechs Jahre, eine zweite ist gemäss Verfassung nicht erlaubt. Darum nannte Duterte frühzeitig seinen Wunschkandidaten für die kommenden Wahlen am 9. Mai: »Bongbong« Marcos, 64, der Sohn des Diktators Ferdinand Marcos (1917-1989). Der Junior kandidierte damals für das Amt des Vizepräsidenten und unterlag schliesslich der Anwältin Leni Robredo, 56.

Sechs Jahre später kämpfen Marcos und Robredo erneut gegeneinander. Diesmal um die Präsidentschaft. Marcos liegt gemäss der April Umfrage immer noch mit historischen 56 Prozent in Führung, Robredo mit 23 Prozent auf Platz zwei. Sie verspricht, was alle versprechen: Weniger Armut, weniger Kriminalität, weniger Korruption und ein Ende der »Anarchie der Familie«, gemeint ist die in Asien verbreitete Sitte, politische Ämter an den Nachwuchs »weiterzuvererben«.

Duterte wollte ursprünglich als Vizepräsident kandidieren, um nach dem Ausscheiden aus dem Amt der Strafverfolgung zu entgehen. Aber kein Präsidentschaftskandidat wollte ihn als Vize. Der internationale Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag ermittelt gegen ihn wegen 7000 Morden. Duterte kennt die Spielregeln. Nach seinem Wahlsieg 2016 liess er gleich die Justizministerin Leila de Lima, 62, medienwirksam im Parlament verhaften. Sie sitzt immer noch hinter Gittern. Wer rettet nun Duterte? Niemand.

Deal mit Duterte

Jetzt ist »Bongbong« Marcos nicht mehr Dutertes Wunschkandidat, sondern »ein verwöhnter Kokainabhängiger, der zu schwach ist für das Amt des Präsidenten«.  Denn als Vize wählte Marcos ausgerechnet die Rechtsanwältin Sara Duterte-Carpio, 43, die Tochter von Duterte. Die Beziehung zu ihrem Vater ist »kompliziert«. Sie ist die Bürgermeisterin der Millionstadt Davao City. Sie »erbte« das Amt von ihrem Vater, als dieser Präsident wurde. Zuvor war sie sein Vize, jetzt ist ihr Bruder Paolo ihr Vize und auch ihre Mutter und der jüngere Bruder Sebastian bekleiden politische Ämter.

Nebst Marcos und Robredo kämpfen vier weitere Kandidaten um den Einzug in den Malacañang-Palast.

Auf Platz 3 erleidet der siebenfache Boxweltmeister Manny Pacmann Pacquiao, 43, mit 7 Prozent einen Knock-Out. Während er in seiner Heimatprovinz Sarangani als Nationalheld gilt, nimmt ihn in Manila kaum jemand ernst. . Nach seinem letzten Kampf in Las Vegas antwortete der Jahrhundertboxer auf die Frage, ob er Präsident werden wolle, Politik sei schwieriger als boxen. Das ist die bitte Erfahrung, die ihm der Wahlkampf beschert. Er wirkt naiv und sprachlich unbeholfen wie ein Primarschüler, vielleicht kann er nur mit den Fäusten sprechen.

Auch er verspricht, die Korruption zu bekämpfen, hängt aber selber in einem Steuerverfahren fest. Als erste Amtshandlung will er eine »mega prison« für korrupte Beamte in Auftrag geben und Sondergerichte für die Verurteilung der Täter einrichten. Im Kongress glänzt der vielbeschäftigte Sänger, Schauspieler und Markenbotschafter durch Abwesenheit und dass »Schwule schlimmer als Tiere« sind, sei einfach Gottes Gebot. Auf seinen Wahlkampftouren verteilt er Tausendpeso Scheine (ca. 20 Euro). Wie im alten Rom.

Auf Platz 4 liegt mit 4 Prozent der frühere Fernsehstar Isko Moreno, 47, heute Bürgermeister von Manila. Aufgewachsen ist er in den Slums von Tondo vor den Toren Manilas. Er spricht den Slang der Strasse und erklärt seine Politik anhand von Powerpoint-Präsentationen. Er will an den Schulen iPads für alle einführen und mit dem Satellitensystem von Elon Musk ein Frühwarnsystem für Naturkatastrophen einrichten. Mit modernster Hightech-Technologien sollen Drogenbarone und nicht Konsumenten aus dem Verkehr gezogen werden.

Ping Lacson, 73, stagniert bei zwei Prozent. Der ehemalige Generaldirektor der Philippine National Police wurde vor einigen Jahren von Interpol international zur Fahndung ausgeschrieben. Er soll mutmasslich den Journalisten Salvador Bubby Dacer erschossen haben, weil dieser ihn des Insiderhandels bezichtigte. Irgendwie konnte der Untergetauchte seinen Kopf aus der Schlinge ziehen und auf die Philippinen zurückkehren. Man wirft ihm vor, dass er während der Diktatur als Chef der Geheimpolizei für die Folterungen verantwortlich war.

Sozialist Leody De Guzmann, 62, erreicht mit 0,03 Prozent das palliative Stadium. Er will die direkte Demokratie einführen, den Diktator Marcos aus dem Heldenfriedhof verbannen, den Dialog mit den Terroristen im Süden suchen und die 250 reichsten Familienclans mit einer einmaligen Steuer von 20 Prozent zur Kasse bitten. Was ihm jedoch fehlt, sind Sponsoren, denn De Guzmann hat kein Geld und seine Wähler haben auch keins. Sponsoren setzen auf aussichtsreiche Kandidaten und erwarten eine Gegenleistung, »utang na lob«, die gegenseitige Bringschuld. Was im familiären Umfeld die Bande stärkt und das fehlende Sozialsystem ersetzt, fördert in der Politik die Korruption. Es kommt nicht von ungefähr, dass man Kongressabgeordnete »Tongressmen« nennt, bestechliche Männer.

Parteien haben auch in diesem Wahljahr kaum Bedeutung. Die Menschen wählen mit Vorliebe Celebrities aus dem Showbizz. Medienpräsenz, Singen und Tanzen scheinen wichtiger als politische Versprechen, die eh keiner einlöst. Beliebt sind auch die Oligarchenclans, die seit Jahrhunderten in ihren Provinzen Politik und Gesellschaft dominieren und sich mit privatfinanzierten öffentlichen Bauten und Geldgeschenken die Wählergunst erkaufen. Ihre Namen haben einen hohen Widererkennungswert und die Clanmitglieder gelten unabhängig von den Untaten ihrer Vorfahren als Celebrities.

Die meisten Marcos-Wähler hätten lieber erneut Rodrigo Duterte gewählt, das Original. „Bongbong« Marcos ist zweite Wahl. Doch wo Duterte draufsteht, steckt der Marcos-Clan drinn, eine Polit-Dynastie, die seit Generationen die Provinz Ilocos Norte beherrscht. Die beiden Familien waren schon immer eng miteinander befreundet. Dutertes Vater diente bereits unter dem Diktator. Die Marcos finanzierten 2016 einen Teil von «Dirty Harrys» Wahlkampf. Als Gegenleistung vergass Duterte sein Wahlversprechen, die gestohlen Marcosmilliarden aufzuspüren. Und mehr noch: Der Clan durfte den einbalsamierten Leichnam des Diktators auf dem Heldenfriedhof begraben. Seit 1993 war der Patriarch auf dem Familienanwesen in einem Glassarg aufbewahrt und in der Warteschlaufe. Die «National Historical Commission of the Philippines» war entsetzt, Angehörige von Ermordeten protestierten. Vergebens.

Am 4. Februar fand die von der Wahlkommission »Comelec« gewünschte erste grosse Fernsehdebatte statt. Zahlreiche TV- und Radiostationen waren anwesend.  Journalistinnen und Journalisten sollten die sechs Anwärter befragen. Einer fehlte: „Bongbong« Marcos. Er mag keine kritischen Fragen. Das sind Fragen nach den 75’000 dokumentierten Verbrechen die sein »geliebter Dad« begannen hat: 70000 wurden in Militärlagern interniert, 34000 davon gefoltert, 3240 ermordet, einige Tausend sind spurlos verschwunden. Es sind Fragen nach dem Verbleib der geraubten 10 Milliarden Dollar, die der Clan dem Land gestohlen hat. Die Schweiz blockierte damals 685 Millionen Dollar Marcos-Gelder auf Schweizer Bankkonten und gab sie nach Jahren an den philippinischen Staat zurück. Das kleptokratische Regime der Marcosfamilie galt in jener Zeit als das zweitkorrupteste der Welt. Und diese Epoche nennt „Bongbong« Marcos das »Goldene Zeitalter der Philippinen«.

Zur Eröffnung seiner Wahlkampagne hielt er eine 20minütige Rede, in der er einundzwanzigmal das Wort »Einheit« benützte. Das ist sein Programm: Einheit. Und die blutige Vergangenheit soll man »den Geschichtsprofessoren überlassen«. Marcos greift keine Mitbewerber an, das finden seine Wähler sympathisch. Er lässt angreifen, das halten seine Fans für Fakenews. Marcos reagiert nicht auf Beleidigungen. Dass Duterte ihn ein verwöhntes Rich Kid nennt, sieht er ihm nach. Er mimt den Gentleman, der über den Dingen steht. Auch schriftliche Interviews lehnt er ab. Er stellt die Fragen. Wie in der TV-Show »Toni Talks«. Die befreundete Schauspielerin und Moderatorin Toni Gonzaga, 38, führte das Vieraugengespräch. Marcos war einst ihr Trauzeuge. Wir erfuhren, dass sein geliebter »Dad« einmal allen seinen Klassenkameraden ein Eis spendierte. So einer war sein Vater, unglaublich nett. Und einmal lacht Bongos Marcos in die Kamera: »Alle grossen Männer haben viele Feinde. Wenn du deine Gegner wütend machst, hast du einen guten Job gemacht.«

Am liebsten tritt Marcos alleine auf und hat alles unter Kontrolle. In über 200 Videoblogs schwärmt er von seinem grossartigen «Dad», dem »besten Präsidenten, den die Philippinen jemals hatten«. Wir erfahren, dass er die gleiche Kleidergrösse hat wie sein Vater, die gleiche Stimme, und dass er und der Diktator praktisch identisch sind. Bereits als 23-Jährigen ernannte ihn sein Vater zum Vizegouverneur der Heimatprovinz Ilocos Norte, sechs Jahre später zum Gouverneur. Als Strohmann der Telekommunikationsfirma Philcomsat bezog er ein für die damalige Zeit astronomisches Jahresgehalt von rund 1,16 Millionen Dollar. Seine Videoblogs sind Homestories, Reality-Soaps.

Zahlreiche Organisationen und Privatpersonen, darunter etliche Angehörige von Folteropfern, verlangten von der Wahlaufsichtskommission COMELEC die Disqualifikation von Marcos, weil er mittlerweile 23 Milliarden Peso angehäufter Steuerschulden hat. Bereits 1997 hatte ihn das Oberste Gericht zur Zahlung verpflichtet. Gemäss Verfassung kann er deshalb nicht kandidieren. Die COMELEC müsste ihn ablehnen. Sie tut es nicht.

Imelda Marcos, 92, die Witwe des verstorbenen Diktators, hat es nie verwunden, dass ihr Clan 1986 von der EDSA-Revolution aus dem Land vertrieben wurde. Corazon Aquino übernahm darauf die Präsidentschaft und gründete als erste Handlung die Presidential Commission on Good Government (PCGG), die ausschliesslich die Aufgabe hat, die verschwundenen Marcos-Milliarden aufzustöbern. Interne Korruption schmälerte den Erfolg. 1991 wagte der Clan deshalb die Rückkehr auf die Philippinen. Imelda spottete in Interviews, es gebe wesentlich mehr Geld als die PCGG bisher aufgestöbert habe: »Uns gehört praktisch alles auf den Philippinen.«

Sie gehört zum Clan der Romualdez, einem der achtzehn Grossfamilien, die seit Generationen den Inselstaat beherrschen. 1993 wurde sie wegen Diebstahls zu 18 Jahren Gefängnis verurteilt, fünf Jahre später hob das Oberste Gericht das Urteil »wegen technischer Fehler« auf. Sie sass nicht einen Tag hinter Gittern. Seit 2014 arbeitet sie daran, dass ihr Sohn Präsident wird und sie zurück in »ihren« Malacañang-Palast bringt. Sie selbst hatte mittlerweile 901 Klagen am Hals und wurde 2018 zu 42 Jahren Gefängnis verurteilt. Aber die »Königin der Diebe« musste ihre Strafe »aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters« nie antreten. Sie war einst das Glamour-Girl der Philippinen, der Malacañang-Palast ein bisschen Buckingham. Sie brachte die Beatles nach Manila, im Oktober 1975 stiegen in Quenzon City die Legenden Muhammad Ali und Joe Frazier in den Ring. Und Fidel Castro gestand ihr, er habe noch nie eine so schöne Frau gesehen. Sie sagt: »Mag sein, dass ich der grösste Star der Gegenwart bin, aber ich bin vor allem die Sklavin der kleinen Leute.«

2014 schmiedete sie einen Plan. Zuerst sollte der ramponierte Ruf der Familie wiederhergestellt werden, um eine spätere Rückkehr zur Macht zu ermöglichen. Das böte die Möglichkeit, die PCGG aufzulösen und alle Strafverfahren gegen kriminelle Clanmitglieder einzustellen. Die Familie kontaktierte die New Yorker Firma Cambridge Analytica (CA), die in den Sozialen Medien versuchte, mit Mikrotargeting das Wahlverhalten zu beeinflussen. Ex-Angestellte und Whistleblower Brittany Kaiser sagt, die Familie habe um ein Rebranding des Familiennamens »Marcos« gebeten. CA schlitterte 2018 in die Insolvenz. Marcos beauftragte eine philippinische Partnerfirma und startete eine gewaltige Desinformationskampagne. Chinesische und philippinische Trollfarms veranstalten seitdem ein beispielloses Brainwashing und verbreiten täglich auf Facebook, TikTok, Youtube, Twitter und Instagram koordinierte Fakenews und zünden Shitstorms gegen die Zweitplazierte Leni Robredo. Geld hat er genug.

Die Pandemie hat zahlreiche Debatten ins Internet verschoben. Von Anfang an fokussierte „Bongbong« Marcos seine Kampagne auf die Sozialen Medien. Hier findet er seine Zielgruppe, junge Menschen, die nach der Diktatur geboren sind. Antonio La Viña, 62, ein ehemaliger Direktor der Ateneo Schule, einer Kaderschmiede für zukünftige Regierungsbeamte, sagt, die Hälfte der Wähler sei zwischen 18 und 41, sie hätten das blutige Kriegsrecht nie am eigenen Leib erfahren. Informationen beziehen sie aus den Sozialen Medien. Es sei sehr einfach, diese Jugend davon zu überzeugen, dass Folter und Morde nie stattgefunden haben. Selbst in ihren Schulbüchern fehlten Fakten zum blutigen Kriegsrecht.

Noch vor zehn Jahren bestritten in einigen Provinzen katholische Priester den Geschichtsunterricht und lehrten, dass Adam und Eva die ersten Menschen auf Erden waren. Leichtgläubige Teenager mit tiefem Bildungsniveau sind leicht zu begeistern. Sie mögen den Glamour, den der Clan ausstrahlt. Sie halten Marcos für einen richtigen Monsieur, der das Ansehen der Philippinen im Ausland wiederherstellen wird. Gebildet sei er auch noch. Erwähnt man, dass sein angeblicher Abschluss an der Oxford University genauso Fake ist wie es damals die Tapferkeitsmedaillen seines Vaters waren, reagieren seine Anhänger irritiert. Ob man denn nicht wisse, dass das alles Fakes sind? Marcos erhielt damals in Oxford einen Trostpreis in Form eines »Spezialdiploms«. Obwohl Clare Woodcock, der Pressesprecher der Universität, öffentlich bestätigt hat, dass Marcos nie einen Bachelor abgeschlossen hat, vertrauen seine Anhänger TikTok mehr als den Medien.

Es ist aber nicht nur die Jugend, die Marcos wählt. Es sind auch Teile der älteren Generation, die damals dem Diktator applaudierten und sich jetzt einen Marcos II wünschen, einen »strong man«.

Am Sonntag, dem 9. Mai, wird der No-show-Kandidat »Bongbong« Marcos zusammen mit der Dutertetochter Sara die Wahlen gewinnen und im Juni mit Mutter Imelda und Senatorenschwester Imee Marcos, 66, in den Malacañang Palast einziehen. Sie werden das »Goldene Zeitalter« fortsetzen. Das »Goldene Zeitalter« des Marcos Clans.


Claude Cueni ist Schriftsteller und lebt in Basel. Er ist mit einer Filipina verheiratet und Autor des Philippinen-Romans »Pacific Avenue«.

Zuletzt erschienen im Verlag Nagel & Kimche die Romane »Genesis« (2020) und »Hotel California« (2021).

Im August (2022) erscheint in der Edition Königstuhl sein Thriller »Dirty Talking«.


 

Bartholdis Strassburger Denkmal

 

Sie ist da und man sieht sie doch nicht. Man fährt jeden Morgen an ihr vorbei und achtet nur auf das Rotlicht. Schützend hält sie ein Schild über eine verzweifelte Frau und einige verstörte Kinder. Das tut sie schon seit 1895. Seit 119 Jahren trotzt sie nicht mehr den Preussen, sondern Luftverschmutzung und Temperaturschwankungen: die Helvetia im Strassburger Denkmal, das gegenwärtig restauriert wird und von einer Schutzplane umhüllt ist.

Das Denkmal stammt von Frédéric-Auguste Bartholdi (1834–1904). Der Bildhauer besuchte die Schulen in Paris. Zur gleichen Zeit studierte ein anderer Junge im Internat vis-à-vis: Gustave Bönickhausen dit Eiffel, der später seinen Namen in Gustave Eiffel abänderte, um wegen der deutsch-französischen Spannungen die Akzeptanz für seinen geplanten Turm zu erhöhen.

Beide reisten, wie es damals für Künstler üblich war, nicht mehr nach Italien, sondern in den Orient, und liessen sich inspirieren. Beim Anblick der monumentalen Pyramiden und der gewaltigen Sphinx erwachte in ihnen der Ehrgeiz, Gigantisches zu erschaffen und dadurch Unsterblichkeit zu erlangen. Im Gegensatz zu den meisten Künstlern des 19. Jahrhunderts brachten sie nicht die Syphilis (maladie franÇaise) nach Hause, sondern pralle Skizzenblöcke, Zeichnungen und erste Fotografien.

Gegensätzliche Charaktere

Während Gustave Eiffel zum genialen Ingenieur, zum Eisenmagier avancierte, verlor sich Bartholdi in gigantische Projekte: Einen neuen Koloss von Rhodos wollte er de Lesseps für die Eröffnung des Suezkanals verkaufen. Die zahlreichen Entwürfe einer Beduinin, die mit ihrer Fackel die Welt erleuchtet, sind noch heute im Geburtshaus von Bartholdi, dem heutigen Museum Bartholdi in Colmar, zu besichtigen.

Eiffel und Bartholdi wurden Rivalen. Eiffel war der Nachfahre einer Dynastie von sieben Generationen von Tapezierern. Er wollte nicht verkleiden, sondern freilegen, damit die nackte Ingenieurskunst zum Vorschein kam. Bartholdi, der Besessene mit italienischen Wurzeln, wollte Patriotismus in Stein hauen, die Herzen der Menschen berühren, aber vor allem das Herz seiner Mutter. Gegensätzlicher hätten die beiden Charaktere nicht sein können, doch die Freimaurerloge Grand Orient de France zwang sie schliesslich zur Zusammenarbeit an der Freiheitsstatue, denn für das innere Gerüst brauchte Bartholdi den besten Ingenieur der damaligen Zeit.

Der plötzliche Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges 1870 unterbrach ihre Karrieren. Die fehlerhafte und gekürzte Übersetzung einer Depesche hatte den gekränkten Kaiser Napoleon veranlasst, den Preussen den Krieg zu erklären. Bartholdi, der heissblütige Patriot, zog in den Krieg.

Die Preussen setzten den Strassburgern übel zu und erweckten das Mitleid der Schweizer. Abordnungen aus Basel, Bern und Zürich erbarmten sich ihrer und erhielten nach zähen Verhandlungen von der badischen Regierung die Erlaubnis, 1400 Frauen, Kinder und Greise aus der schwer belagerten Stadt, in die Schweiz zu bringen. Der Baron Hervé de Gruyer, ein glühender Strassburger Patriot, wollte der Schweiz später aus Dankbarkeit ein Denkmal schenken.

1895 war es so weit. Bartholdi war mit seiner Freiheitsstatue weltberühmt geworden und sein Konterfei zierte selbst Wein- und Käseetiketten in den New Yorker Spirituosenläden. Gustave Eiffel hatte gegen den Widerstand von tout Paris seinen Eisenturm pünktlich zur Weltausstellung fertiggestellt, obwohl ihn einige für die Phallus-Fantasien eines narzistisch Verhaltensgestörten hielten. Sogar Victor Hugo und Émile Zola unterschrieben die Petition, die in ganzseitigen Inseraten publiziert wurde; der Turm sei die «Kathedrale der Alteisenhändler», Ale­xandre Dumas attestierte diesem Eisenskelett, das sich «wie der Tod über Paris erhob», gar eine «frappierende Hässlichkeit». Eiffel wagte sich an ein noch grösseres Projekt, den Panamakanal, doch die Malariamücken brachten ihn zu Fall, ein gigantischer Finanzskandal vor Gericht, und dann krachte auch noch die von ihm konstruierte Brücke in Münchenstein in die Birs und riss 73 Menschen in den Tod.

Auch das Strassburger Denkmal war keine einfache Geburt. In einem Rapport vom September 1891, an die federführende Fachkommission des Innendepartementes, wird festgehalten, dass «die Figuren Anlass zu gewissen Beobachtungen» geben. Kein Detail ist zu klein, um nicht erörtert zu werden. Bemängelt wird u. a. dass die Körperhaltung des Kindes zu sehr der Körperhaltung des Engels gleicht, die einen wollen ein Knie ändern, die andern eine Fussstellung, Bartholdi war bestimmt nicht zu beneiden. Aber wie üblich hat Bartholdi das Projekt zu Ende gebracht.

Das Strassburger Denkmal steht immer noch auf dem Centralbahnplatz beim Bahnhof SBB. Die Figurengruppe stellt eine Frau mit Kindern dar, die von einem Engel und einer Helvetia beschützt werden. Doch die Frauenstatuen sind bei Bartholdi nie, was sie vorgeben zu sein. Die Helvetia ist ein weiterer Avatar der Göttin Minerva- Athena, eine abgewandelte Kopie der ersten Entwürfe der Freiheitstatue.

Denkmäler sind manchmal beliebt, manchmal nicht, oft sind sie anfangs umstritten oder gar unerwünscht (wie die Freiheitsstatue) oder gar verhasst (wie der Eiffelturm), dann mutieren sie zum Wahrzeichen einer Stadt, eines Landes oder gar zu einem Symbol. Und dann kommen die Woke Ignoranten und glauben, Sie könnten Geschichte umdrehen, wenn sie Monumente zerstören.

Das Strassburger Denkmal steht für die zweite Hälfte des zweiten 19. Jahrhunderts, für die atemberaubende Epoche der Gründerzeit, dem Zeitalter der Beschleunigung, als Eisenbahnen die Pferdekutschen ablösten, als Telegrafieren bis zu den Goldgräbern in Klondike möglich wurde; es ist die Epoche der zahlreichen bekannten Unbekannten: Der Reisekofferhersteller Louis Vuitton lässt sich von Gustave Eiffel Stahlträger für seinen ersten Laden in Paris bauen, Flaubert schreibt «Emile Bovary», US-Präsident Ulysses Grant besucht Bartholdis Pariser Atelier, Detektiv Allan Pinkerton («We never sleep») gründet die weltweit grösste Privatdetektei, Marx und Engels schreiben gegen das Elend in den Fabriken an. Es ist die Epoche des überbordenden Enthusiasmus, der bahnbrechenden Erfindungen wie Grammofon, Dynamit, Telefon, Glühbirne und Repetiergewehr. Die Begeisterung für neue Technologien kennt kaum Grenzen, Europa ist im Aufbruch, es entstehen die ersten grossen Industriedynastien.

Eine gewaltige Epoche

Es ist die Epoche des rücksichtslosen Kolonialismus in einer zunehmend vernetzten Welt, es ist die Tragödie des gnadenlosen 14-Stunden-Tags in stickigen Fabrikhallen, der Aufstieg Amerikas, der Untergang Englands und von Bismarcks Staatsräson. Im Zuge der industriellen Revolution entsteht ein neuer Realismus in der Literatur, Mary Shelley erschafft «Frankenstein», Jules Verne taucht 20 000 Meter tief ins Meer. Wir erleben die letzten grossen Typhus- und Cholera-Epidemien, ein Jahrhundert voller Finanz- und Weltwirtschaftskrisen. Der neue Goldstandard befeuert den Goldrausch in Alaska und mit der Beendigung des Deutsch-Französischen Krieges von 1870, ziehen unheilvolle Wolken am Himmel auf. Es ist die Geburt des Nationalismus, der das nächste Jahrhundert in Flammen ­setzen wird.

Das Strassburger Denkmal ist nicht einfach ein Klotz aus Carrara-Marmor, es ist die Erinnerung an eine gewaltige Epoche, an einen grossen Künstler und an eine hilfsbereite Stadt.

Und wäre Bartholdi noch am Leben, wer weiss, ob er dem Bundesrat nicht vorschlagen würde, auf einem unserer Berge eine monumentale Statue zu errichten, eine sitzende Helvetia. Dass er uns erneut eine seiner Liberty-Modelle unterjubeln würde, für die angeblich seine vergötterte Mutter Modell stand, sollte uns nicht kümmern. Wir sollten uns anhören, wieso das nicht möglich ist und es dann trotzdem versuchen.

110 Blick »Freie Rede und reiche Wichser«

 

«Wieso gehört am Ende alles reichen Wichsern, die machen können, was sie wollen?», kommentierte ZDF-Moderator Jan Böhmermann den Verkauf von Twitter an Elon Musk. Solche Sätze wird er auch in Zukunft twittern dürfen, denn das Ziel von Elon Musk ist «free speech». Freie Rede bedeutet das Recht, Dinge zu sagen, die niemand hören will.

Ist Böhmermann, der mit den Regelungen der US-Aufsichtsbehörde SEC offenbar nicht vertraut ist, auch ein «reicher Wichser», nur weil er gemäss Vermögensseiten geschätzte fünf Millionen besitzt? Es ist komplizierter. Das schnoddrige Etikett hängt nicht wirklich vom Vermögen ab.

Klimaaktivistin Carla Reemtsma (24) erbte im Schlaf ein millionenschweres Aktienpaket. Zusammen mit ihrer Cousine Luisa Neubauer und Millionärin Greta Thunberg sind sie die Opinion Leaders der deutschen Klimabewegung. Sie haben in ihrer Kindheit alles genossen, was die Verbrennung fossiler Stoffe möglich machte, sind privilegiert um die Welt gereist, haben den Altersrassismus salonfähig gemacht und monetarisieren auf Twitter sehr erfolgreich den unmittelbar bevorstehenden Weltuntergang. Werden sie dafür kritisiert? Entbindet die «richtige Gesinnung» von jedem Verdacht? Gab es einen Shitstorm, als Multimilliardär Jeff Bezos die «Washington Post» kaufte?

Elon Musik verdiente sein Vermögen nicht mit Reden, sondern mit Taten. Mit Tesla und Solarcity tut er mehr für das Klima als der gesamte Akademikernachwuchs, der sich mit Märtyrermiene auf Kreuzungen klebt und die Leute davon abhält, rechtzeitig zur Arbeit zu erscheinen. Schmälert sein finanzieller Erfolg mit SpaceX seine Verdienste?

Celebrities drohen wie üblich mit dem Verlassen von Twitter (und werden trotzdem bleiben). Was fürchten sie denn? Hass und Hetze? Die Grenzen der Meinungsfreiheit zieht der Gesetzgeber und nicht die aktuelle Woke-Redaktion des Kurznachrichtendienstes. Gemäss einer Twitter-Umfrage sagen 70 Prozent der Teilnehmer, dass es auf Twitter keine Meinungsfreiheit mehr gibt.

Musk setzt um, was der französische Philosoph Voltaire am Vorabend der Aufklärung forderte und hofft, dass auch «seine schlimmsten Kritiker auf Twitter verbleiben werden». Denn das sei genau das, was mit «free speech» gemeint sei.

Interview. XUND auf Besuch beim Schriftsteller Claude Cueni

XUND auf Besuch beim Schriftsteller Claude Cueni

Interview: Jörg Weber / 21. April 2022

«Selbstmitleid ist Zeitverschwendung»


XUND: Vor 12 Jahren sind Sie an Leukämie erkrankt. Hatten Sie Symptome, die Sie veranlassten, sich untersuchen zu lassen?

Claude Cueni: Ja, nach dem Krebstod meiner ersten Frau brach mein Immunsystem zusammen. Das war 2008. Meine Nebenhöhlen waren über Monate entzündet und ich verlor immer mehr Kraft und Energie. Am Ende kam ich kaum noch die Treppe hoch. Ich führte meine Erschöpfung auf die anspruchsvolle Pflege meiner verstorbenen Frau zurück. Nachdem der Krebs überall Metastasen gestreut hatte, veränderte sich ihr Wesen und sie wurde sehr bösartig und aggressiv und bestand darauf, dass nur ich sie pflege. 24 Stunden am Tag.

Wie wurde die Leukämie bei Ihnen entdeckt?

Nach ihrem Tod untersuchte ein Hals-Nasen-Ohren-Arzt mein Blut. Eine Knochenmarkpunktion ergab: Akute Lymphatische Leukämie (ALL). Ich wollte nach der Punktion nach Hause und kochen, aber der Arzt auf der Hämatologie sagte, ich müsse gleich hierbleiben, man müsse sofort alle Checkups durchführen, damit man in zwei Tagen mit den Chemos beginnen könne. Mein Sohn war alleine zu Hause. Aufgrund seiner Gehbehinderung war er auf mich angewiesen. Um ihn machte ich mir mehr Sorgen.

Wie wurde die Krankheit behandelt?

Ich lag sechs Monate auf der Isolierstation der Hämatologie des Basler Unispitals, erhielt Chemoinfusionen und wurde bestrahlt. Kaum jemand rechnete damit, dass ich überlebe. Aus den Augen aus dem Sinn. Ich verlor praktisch meinen gesamten Bekanntenkreis. Infolge Hirnblutungen fiel ich ins Koma. Man musste mir beidseitig den Schädel aufbohren. Gerade rechtzeitig wurde nach fünfeinhalb Monaten ein geeigneter Spender gefunden.

Sind Sie mit der medizinischen Betreuung und Behandlung in all den Jahren zufrieden?

Aber sicher! Ich hatte das grosse Glück, dass ich in der Schweiz erkrankte und im Basler Universitätsspital behandelt wurde. Ich empfinde enorm viel Sympathie und Dankbarkeit für das Personal in der Hämatologie. Ich bewundere ihre Leistung, ihre Herzlichkeit und ihre mentale Stärke. Es ist nicht einfach, den ganzen Tag mit Schwerstkranken zu verbringen.

In Ihrem jüngsten Buch «Hotel California» bezeichnen Sie sich als «Schreibmaschine». Trotz Ihrer schweren Erkrankung waren Sie unermüdlich schriftstellerisch tätig und haben unter anderem mehrere Bücher, diverse Artikel und Zeitungskolumnen veröffentlicht. War und ist das Schreiben für Sie auch eine Art Therapie?

Ich habe immer viel geschrieben. Aber nie so viel wie ich wollte, da ich stets viele private Aufgaben hatte. Als ich an Leukämie erkrankte, gab mir das Schreiben Struktur und stärkte meinen Durchhaltewillen. Man will ja ein Buch zu Ende schreiben. In meinem autobiographischen Roman «Script Avenue» schrieb ich: «Solange ich schreibe, werde ich nicht sterben». Jedes Mal, wenn ich ein Buch beendet hatte, realisierte ich, dass ich gemäss Statistik längst tot sein müsste und bereits in der Nachspielzeit lebe. Also begann ich gleich mit dem nächsten Roman und kehrte in meine fiktiven Welten zurück.

Welche Auswirkungen hatte und hat die Corona-Pandemie auf Ihr Leben?

Ich bin seit 12 Jahren immunsupprimiert, d.h. ich muss täglich Medikamente einnehmen, die das Immunsystem unterdrücken. Deshalb verbringe ich eh jeden Winter in Quarantäne. Mit Corona wurden es jedoch 24 Monate. Ich wäre auch länger in Quarantäne geblieben, damit Gesunde nicht eingeschränkt werden. Wegen Corona habe ich notwendige Untersuchungen aufgeschoben. Leider rächt sich das jetzt.

Konnten Sie sich trotz Ihrer Krankheit und den Medikamenten, die Sie nehmen müssen, gegen Corona impfen lassen?

Meine jetzige Frau Dina und ich haben zwei Biontech-Pfizer-Impfungen und den Booster erhalten. Ich habe zurzeit noch ausreichend Antikörper.

Claude Cueni: «Der aussergewöhnlichste Autor der Schweiz»

Matthias Ackeret, Chefredaktor Branchenmagazin «persönlich»

Sie gehören nicht zu den «Mainstream-Schriftstellern» und packen auch in den Medien – wie in Ihrer «Blick»-Kolumne – Themen an, die andere lieber ignorieren. Ein Jahr nach dem Anschlag auf die Satire-Zeitschrift «Charlie Hebdo» 2015 in Paris erschien Ihr Bestseller «Godless Sun», der das Thema Islamismus kritisch beleuchtet. Hatten Sie nie Angst, wie die Mohamed-Karikaturisten von Islamisten «bestraft» zu werden?

Ich gehöre nicht zu den Autoren die ihre Bedeutung überschätzen. Da ich in jener Zeit nur mit viel Glück am hellichten Tag einem Raubüberfall entkam, beantragte ich einen Waffenschein und kaufte mir einen Revolver. Naja, er liegt seitdem in einer Schublade. Und wenn mich einer erschossen hätte, wäre es eher aktive Sterbehilfe gewesen.

Während der ersten Covid-Welle in der Schweiz, erschien Ihr Roman «Genesis. Pandemie aus dem Eis». Wie kamen Sie auf die Idee zu diesem Roman, der sozusagen von der Realität eingeholt wurde?  

Ein Bericht über jahrtausendalte Viren, die man im auftauenden Permafrost gefunden hat, brachte mich auf das Thema. Aber ich hatte nie Interesse einen dystopischen Roman zu schreiben. Im Zentrum steht eine indische Köchin, die vor ihrem Clan nach London flüchtet. Es geht um Menschen und nicht um Themen. Zwei Monate nachdem ich den Vertragsvertrag unterzeichnet hatte, begann die Pandemie. Es wird leider weitere geben.

Abgesehen von den Auswirkungen Ihrer Krankheit: Fällt Ihnen das Schreiben heute aufgrund der Routine und Erfahrung leichter als in Ihren Anfängen als Schriftsteller? Zu welcher Tageszeit sind Sie am produktivsten?

Ja, sehr viel leichter. Wenn ich an einem Roman arbeite, träume ich fast jede Nacht Szenen und murmle Dialoge im Schlaf. Meine verstorbene Frau weckte mich jeweils auf, sie war «not amused», meine jetzige Frau ist Asiatin und nimmt es mit Humor, denn sie weiss: ich arbeite. Wenn ich aufstehe, kann ich weiterschreiben, als hätte ich das, was ich gleich schreiben werde, bereits erlebt. Mit jedem neuen Roman lerne ich dazu, die Dialoge sind geschliffener, die Szenen besser geschnitten. Es ist wohl Murphys Law, dass mir das Schreiben zwar leichter fällt, aber der Körper zerfällt. Da ich auch nachts Muskel- und Nervenschmerzen habe, bin ich spätestens um 02.00 Uhr wach. Nach 12.00 Uhr sind die Batterien leer. Frühmorgens ist meine produktivste Zeit.

XUND-Lesern, die noch nichts von Ihnen gelesen haben: welches Ihrer Bücher empfehlen Sie ihnen als erste Lektüre aus Ihrer Feder?

Niemand muss meine Bücher lesen. Aber wenn jemand fragt, nenne ich den historischen Roman «Das Grosse Spiel» über den Papiergelderfinder John Law. Mein Sohn hatte die Idee. Das Buch war auf Platz 1 der Schweizer Bestsellerliste und wurde in 13 Sprachen übersetzt. In China war es auf der Jahresliste der lesenswertesten Bücher.

Vielleicht ist auch der autobiographische Roman «Script Avenue» erwähnenswert. Mein Sohn hat mich dazu ermuntert, als ich im Spital lag. Die Zuschauer von SRF wählten den Roman zur bewegendsten Geschichte des Jahres und verliehen ihm den »Golden Glory«.

Sie haben in jüngeren Jahren viele Drehbücher für erfolgreiche Fernsehfilme und Fernsehserien wie «Peter Strohm», «Eurocops», «Autobahnpolizei Cobra 11» oder «Tatort» geschrieben. Sehen Sie sich heute noch gern Serien an?

Auf Netflix manchmal. Aber keine deutschsprachigen Serien. Die wollen belehren und nicht unterhalten. Ich wollte kürzlich «Barbarian» schauen, aber die Kelten denken und reden so wie im Jahre 2022, die sind alle woke, das ist unfreiwillig komisch. Nachhaltig beeindruckt hat mich auf Netflix «Queen’s Gambit». Der Film ist aus meiner Sicht perfekt, einfach grandios, ein Meisterwerk. Ich habe ihn bereits dreimal angeschaut.

Ihr letztes Buch «Hotel California» haben Sie als Vermächtnis ihrer 3- jährigen Enkeltochter Elodie gewidmet. Was wollten Sie Elodie damit weitergeben?

Meine Lebenserfahrung, obwohl ich mir im Gegensatz zu vielen Kulturschaffenden bewusst bin, dass ich nicht das Mass aller Dinge bin. Doch das Leben unter dem Damoklesschwert schärft den Blick für das Wesentliche.

2019 lag ich wieder auf der Intensivstation. Die Ärzte sagten mir, es könne jetzt jederzeit zu Ende gehen. Meine Frau fuhr mich nach Hause und ich begann einen Abschiedstext für meine damals noch ungeborene Enkelin Elodie zu schreiben. Ich wollte ihr sagen, was im Leben wirklich zählt, weil man das erst am Ende des Lebens realisiert. Wenn es zu spät ist. Wenn es vorbei ist. Doch der Text ist mir total entglitten und es wurde ein surrealistischer Lebensratgeber in Romanform.

Welche Bücher lesen Sie selbst gegenwärtig?

Keine. Ich lese täglich ca. drei Stunden die internationale Presse: Hongkong, Philippinen, Europa und später USA. Mehr geht nicht. Die Spätfolgen der erfolgreichen Knochenmarktransplantation haben nicht nur 60 Prozent meiner Lunge abgestossen, sondern auch die Augen und anderes mehr geschädigt.

Wann darf Ihre Fangemeinde Ihr nächstes Buch erwarten?

Im August erscheint »Dirty Talking«. Ob es dann noch ein nächstes Buch geben wird, weiss ich nicht. Ich bin letztes Jahr an einem weiteren Krebs erkrankt. Das ist nach 12 Jahren Immunsupression nicht ungewöhnlich, aber auch kein Trost. Dann hat die Polyneuropathie, eine weitere Spätfolge der Bestrahlungen, die Nerven in den Händen geschädigt. Ich kann nicht mehr stundenlang schmerzfrei tippen. Diktieren kommt für mich nicht in Frage, denn ich bin ein impulsiver Schnellschreiber, der permanent korrigiert. Da würde jede Schreibkraft den Verstand verlieren.

Wie wird man mit einer solchen Situation fertig?

Selbstmitleid ist Zeitverschwendung. Man muss sich über das freuen, was noch möglich ist und nicht über das ärgern, was nicht mehr möglich ist. Ich habe trotzdem viel Freude am Leben. Ich habe ein sehr inniges Verhältnis zu meinem Sohn und eine ausserordentliche Frau, die mich mit viel Liebe und Humor durch mein Martyrium begleitet. Mit ihrer Lebensfreude hat sie die philippinische Sonne in meinen Alltag gebracht. In ihrer Kultur zählt nur die Gegenwart.


Interview: Jörg Weber

www.cueni.ch


Biografie kompakt

Claude Cueni

Geboren 1956 in Basel. Muttersprache Französisch. Nach dem frühzeitigen Abbruch der Schule reiste Cueni durch Europa, schlug sich mit zwei Dutzend Gelegenheitsjobs durch, die immer auch der Stoffbeschaffung dienten. Nach  zehn erfolglosen Jahren veröffentlichte er Hörspiele, Theaterstücke, Krimis und über 50 Drehbücher für Film- und Fernsehen.


 

 

109 Blick »Fortschritt durch kulturelle Aneignung«

155 nach Christus schwärmte der griechische Autor Aelius Aristides für Globalisierung und kulturelle Aneignung. Entlang der Handelsrouten wurden Produkte getauscht, zu Hause kopiert und weiterentwickelt. «Cultural appropriation» führte meistens zu einer Bereicherung und Beschleunigung des Fortschritts. Ohne diese gegenseitige Inspiration würden heute noch grosse Teile der Menschheit als Nomaden durch die Steppen ziehen, mit Holzspeeren ihr Mittagessen jagen und Emojis an die Höhlenwände malen. Einige würden bereits in der Bronzezeit leben, andere zum Mond fliegen.

 

Um zu realisieren, wie bescheuert die Kritik der «kulturellen Aneignung» ist, muss man das konsequent zu Ende denken: People of Colour dürfen dann weder Handy noch Internet nutzen, keine Autos fahren, keine Lifte betreten, keine Antibiotika einnehmen. Und kein Nichtweisser dürfte «Give peace a chance» singen. Denn all diese Errungenschaften wurden nun mal von Weissen vollbracht, aber kein Bleichgesicht käme auf die Idee, People of Colour die Nutzung ihrer kulturellen Leistungen übel zu nehmen.

 

Im Gegenteil: Es ist uns völlig egal, ob Nichtweisse jodeln, in Appenzeller Trachten herumlaufen oder Fondue essen. Wir sehen das eher als Kompliment. Und haben wir nicht selbst arabische Zahlen, Geometrie, Astronomie, Schiesspulver, Papierherstellung, den Blues und vieles mehr übernommen? 

 

Darf man sich morgen noch exotische Sprachen aneignen? Es ist schon erstaunlich, dass diese Absurditäten Universitäten erobern. Wie wohlstandsverdorben muss man sein, um solche «Probleme» zu erfinden? Erleben wir nicht bereits in der Gastronomie, wie kulturelle Aneignung Speisekarte und Lifestyle bereichern?

 

Wer diese gegenseitige Befruchtung ablehnt, erschwert die Verständigung zwischen den Kulturen, grenzt sich ab und spaltet die Gesellschaft wie Rechtsextreme, die Fremdartiges ablehnen. Auch wenn die Motivation eine andere ist. 

 

Die Welt ist nun mal bunt wie die Natur und hat nichts übrig für diesen totalitären Zeitgeist. Tragen Sie Dreadlocks, tanzen Sie Samba, kochen Sie indonesisch und schicken Sie Ihre Kinder in Indianerkostümen an die Fasnacht. Wenn jemand damit ein Problem hat, ist es sein Problem und nicht Ihr Problem.

Verlängert Nestlé Putins Krieg?

Gastkommentar, Blick vom 21.3.2022

Die Arbeitsgruppe Dritte Welt Bern nannte 1974 ihre Studie «Nestlé tötet Babys» und kritisierte das Marketing, das dazu führe, dass stillfähige Mütter ihren Babys lieber Nestlés Milchpulver verabreichten und dieses mit verunreinigtem Wasser zubereiteten. In späteren Jahren wurde dem weltweit grössten Nahrungsmittelkonzern vieles vorgeworfen: Tierversuche, Kinderarbeit, die Zerstörung des Regenwaldes und die Gewinnung von Flaschenwasser, das je nach Region zu einem Absinken des Grundwasserspiegels führte.

Nestlé wurde zu einem Lieblingsfeind der NGOs. Wer Nestlé bashte, war stets auf der sicheren Seite. Denn alles, was «multinational» ist und erfolgreich Milliarden umsetzt, ist für viele bereits des Teufels. Man vergisst dabei gern, dass es nicht Secondhandshops sind, die Schulen, Spitäler und Sozialsysteme finanzieren. Trotzdem muss Kritik geübt werden, wenn Kritik angebracht ist. Aber 1974 ist nicht 2022.

Der Naturforscher Alexander von Humboldt (1769–1859) sagte einst, die gefährlichste aller Weltanschauungen sei die Weltanschauung derer, die sich die Welt nie angeschaut haben. Hat einer der Anti-Nestlé-Demonstranten jemals einen Geschäftsbericht von Nestlé gelesen?

2017 wurde der deutsche Mark Schneider CEO und begann im Eiltempo einen Konzern umzukrempeln, der in 189 Ländern 328 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beschäftigt. Das zu Recht kritisierte Wassergeschäft in den USA wurde grösstenteils abgestossen, Schneider steckte rund eine Milliarde in fleischlose Ernährung, stufenweise Reduktion von Zucker und Salz, umweltfreundliche Verpackungen und nachhaltiges Wirtschaften. Nicht zur Freude aller Aktionäre. Haben die Nestlé-Hater diesen Wandel nicht mitbekommen? Auch wenn die Motive mehrheitlich geschäftlicher Natur sind, ändert es nichts daran, dass der Konzern grüner wird, als man sich das jemals hätte vorstellen können.

Nach «Nestlé tötet Babys» skandiert man heute, dass Nestlé Putins barbarischen Krieg mitfinanziert. Aus diesem Narrativ lassen sich eindrückliche Fotomontagen kreieren. Doch es geht nicht um Rohstoffe, Elektronik oder militärisch nutzbares Material, das den Krieg verlängern würde. Es geht um Nahrungsmittel, die in Russland für den russischen Markt produziert werden und 7000 Angestellten (und ihren Familien) ein geregeltes Einkommen sichern. Ähnlich wie Nestlé verfahren auch Konkurrenten wie Mondelez, Danone und Unilever.

Man kann das kritisieren, wenn man abends friedlich in einem Wohnzimmer sitzt, das mit russischem Gas geheizt wird, und dabei eine Pizza Buitoni (Nestlé) isst, anschliessend einen Becher Häagen-Dazs (Nestlé) geniesst und sich zum Abschluss einen Nespresso genehmigt.

Ein Kollege von mir lebt in Russland, ist in der Ukraine geboren, dort lebt auch seine gesamte Verwandtschaft. Putins Krieg hat seinen internationalen Onlineshop ruiniert. Bei einem Produktions- und Lieferstopp von Grundnahrungsmitteln würde sich die Wut nicht gegen Putin richten, sondern gegen den Westen. Das würde eine Normalisierung nach Kriegsende doch erheblich erschweren.

Wer wirklich Putin mit Boykotten finanziell austrocknen will, muss aufhören, täglich (!) für 660 Millionen Euro russisches Gas und Öl zu importieren und in Kauf nehmen, dass auch eigene Betriebe lahmgelegt werden und zu Hause ein bisschen gefroren wird. Frieren für den Frieden? Lieber nicht, werden einige sagen, und eine gelbblaue Fahne aus dem Fenster hängen und ein paar bunte Smarties (Nestlé) einwerfen.