Clint Eastwood wird 86

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»The Good, the Bad and the Ugly« ist mein Lieblingswestern.

Die für mich bewegendste Szene ist jene, die mit Ennio Morricones »Story of a soldier« unterlegt ist. In meinem Roman »Der Bankier Gottes« habe ich ihm eine Hommage gewidmet. Nachstehend die beiden kurzen Textstellen.


 SIZILIEN Seite 140 / Der Mafiosi Furio wirft den sterbenden Programmierer Bohne zum Auto raus.

Die Straße endete abrupt in einem abgestorbenen Olivenhain. Die Türen von Furios Auto waren weit geöffnet. Furio saß quer auf dem Fahrersitz. Zu seinen Füßen im Staub lag Frank Bohne. Er krümmte sich, stöhnte und presste die Hände gegen die heftig blutende Wunde. Aus dem CD-Spieler drang »The Story of a Soldier«. Ein Trauermarsch.

»Ich muss immer weinen, wenn ich das Stück höre«, sagte Furio leise. Er schaute über die Felder. Irgendwo musste das Meer sein.

»Die Musik stammt von Ennio Morricone. Hast du ›The Good, the Bad and the Ugly‹ gesehen? Von 1966. Mein Jahrgang. Ich habe alle Filme gesehen, die 1966 in die Kinos kamen. Aber nur bei diesem Film musste ich weinen. Nur bei dieser Szene. Immer wenn die Musik einsetzt. Sie ist so traurig.«

»Ich brauche einen Arzt«, wimmerte Bohne. Tränen rannen ihm über die Wangen.

»Pass auf, jetzt kommt der Chor.« Furio sang leise mit:

»Blue grass and cotton. Burnt and forgotten. All hope seems gone. So soldier march on to die

Furio seufzte: »Das stammt aus dem amerikanischen Bürgerkrieg. Im Film müssen die Gefangenen die Musik spielen. Und immer, wenn sie diese Nummer spielen, wissen wir, drüben in der Holzbaracke foltert der Captain wieder einen Gefangenen. Dann gibt’s ein paar harte Schnitte. Faust ins Gesicht, Blut spritzt. Schnitt. Dann draußen der Chor in den grauen Uniformen, abgemagert, verzweifelt, und sie spielen mit Gefühl den Trauermarsch. Dann wieder Cut.«

»Meine Mutter …«, keuchte Bohne, doch die Tränen erstickten seine Stimme, und der Weinkrampf, der ihn übermannte, verstärkte die Schmerzen. Frisches Blut rann über seine Hände.

»Was soll ich deiner Mutter sagen? Wie du gestorben bist? Meinst du, das wird ihr gefallen? Keine Mutter will das hören. Ich bin sicher, du magst nicht mal Oliven.«


Seite 422

Die Mafiosi Furio und Francesco mit dem entführten Albertini

»Kennen Sie die Filme von Sergio Leone?«

»Ja.« Albertini schüttelte genervt den Kopf. Was soll die Frage?

»›The Good, the Bad and the Ugly‹, 1966. Mein Geburtsjahr. Ich habe alles gesehen, was damals in die Kinos kam.«

Francesco atmete tief durch und schaute durch das Panoramafenster in den Garten hinaus. Er kannte Furios Part auswendig.

»Es gibt da eine Szene im Strafgefangenenlager der Nordstaatler. Die gefangenen Südstaatler müssen draußen Musik spielen, ›The Story of a Soldier‹, während drinnen in der Holzbaracke Duco gefoltert wird.«

»Geht’s nicht etwas kürzer?«, unterbrach ihn Francesco.

»Writing is re-writing, ich finde, die Szene wird jedes Mal besser.« Furio wandte sich wieder Albertini zu, der sich allmählich unwohl fühlte.

»Eli Wallach wird in der Holzhütte zusammengeschlagen, gefoltert, der arme Kerl verliert sogar einen Zahn … und am Ende, und genau darauf will ich hinaus, gesteht er doch alles. Gesteht, wo der Goldschatz vergraben liegt. Und da fragt sich der Zuschauer, wieso zum Teufel hat der arme Kerl nicht früher gestanden? Dann hätte er noch all seine Zähne, hm?«

Furio grinste breit. Francesco zuckte die Schultern. Er gab Furio recht. Das war eine neue Wendung. Eine eindeutige Verbesserung.

»Aber dann holen sie Clint Eastwood rein«, sagte Francesco und setzte die Erzählung fort, »weil Eli Wallach gesagt hat, der Goldschatz ist auf dem Friedhof begraben, aber nur der Blonde weiß, in welchem Grab. Und es gibt Tausende von Gräbern da draußen. Also holen sie den Blonden rein. Clint Eastwood. Er sieht das Blut am Boden. Und erneut beginnt die Musik zu spielen …«

»Ja, und jetzt machen wir uns Sorgen«, brummte Francesco wie zu sich selbst.

Furio fuhr fort: »Und Clint Eastwood sagt: Wollen Sie mir die gleiche Behandlung zukommen lassen … Dabei wäre es schöner, wenn er sagen würde: Spielt die Musik für mich? Stellen Sie sich das mal vor. Clint Eastwood kommt rein. Die Musik beginnt zu spielen und er fragt: Spielt die Musik für mich?«

Schweigen.

Furio nahm einen Schluck Wasser und wischte sich die Lippen ab.

Nach einer Weile sagte Luigi: »Ich habe den Film gesehen, ich kenne die Musik, ich erinnere mich an die Szene. Worauf wollen Sie hinaus?«

»Wir werden dir sehr wehtun, Luigi. Und dann wirst du uns alles erzählen.«

Luigi wollte aufspringen, aber er sah, dass Furio bereits seine Waffe auf ihn gerichtet hatte.

»Nicht bewegen«, sagte Furio, »wir wollen damit sagen … nein, wir wollen dir die Chance geben, uns alles zu erzählen, bevor du einen Zahn verlierst. Am Ende wirst du uns eh alles erzählen.«

»Am Ende quasseln sie alle, sie reden sich um den Verstand, weinen, flehen, wimmern, während ihnen das Blut wie Ketchup aus dem Mund läuft«, ereiferte sich Francesco.

»Ich mach’s nicht gerne, ich bin ein Hygiene-Freak, nicht wahr, Francesco?«

Francesco schaute Albertini freundlich an, als wolle er sagen: Mach es uns doch nicht so schwer.


#chronos (1901)

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«Geh’ über die Niagarafälle in einem Fass» war die plötzliche Eingebung, die Annie Taylor während der Pan-American Weltausstellung in Buffalo hatte. Seit dem frühen Tod ihres Ehemannes auf den Schlachtfeldern des Amerikanischen Bürgerkriegs tingelte die mittlerweile 61-jährige Schullehrerin ruhelos und verarmt durch die Staaten. Nach einem Probelauf mit einer Katze fand sie einen Sponsor und stürzte sich in einem mit ­Korken versiegelten Fass aus 53 Metern Höhe die Niagara Fälle hinunter. Da ihr Ruhm nur von ­kurzer Dauer war, versuchte sich die «Queen of the Mist» als Hellseherin, sah aber nicht voraus, dass ihr Sponsor mit ihrem ganzen Hab und Gut abtauchen würde.

Die Pan-American-Exposition inspirierte auch den Anarchisten Leon Czolgosz. Er lauerte dem US-Präsidenten William McKinley auf dem Messegelände auf und erschoss ihn kaltblütig. McKinley erlag acht Tage später den Schussverletzungen und Theodore Roosevelt wurde zum neuen ­Präsidenten vereidigt. Czolgosz starb zwei Monate später auf dem elektrischen Stuhl.

Eines natürlichen Todes starb im Alter von 82 Jahren die britische Monarchin Queen Victoria, Kaiserin von Indien und Ururgrossmutter der ­jetzigen englischen Königin Elisabeth II. Als ­Victorias Ehemann, ihr vergötterter Cousin Albert, an Typhus starb, zog sie sich zurück, trug bis ans Ende ihrer Tage Trauerkleidung. Auf ihren Wunsch hin wurde die «Witwe von Windsor» mit ihrem Brautschleier und einem Alabasterabdruck von Alberts Hand zu Grabe getragen.

1901 kehrte der Schwarze Tod zurück. Aus Instanbul und Hamburg wurden ­Pestfälle gemeldet. Im ­gleichen Jahr starb Arnold Böcklin, der mit der «Toten­insel» eines der berühmtesten Gemälde des 19. Jahrhunderts gemalt hat. Er starb an einem Schlaganfall. Nur sechs seiner vierzehn Kinder erreichten das ­Erwachsenenalter.
Mit der Unterzeichnung des «Boxerprotokolls» wurde 1901 die Niederlage der chinesischen Qing-Dynastie besiegelt. Die Aufständischen hatten mit Angriffen auf Ausländer und chinesische Christen versucht, die europäischen Kolonial­herren und die USA aus dem Land zu treiben.

In Liverpool erhielt Frank Hornby ein Patent auf seinen Metallbaukasten «Meccano». Obwohl als Spielzeug deklariert, hatten nicht alle Kinder Freude an den gestanzten Blechteilen und ­Verstrebungen, die ihnen Kenntnisse in der ­Montagetechnik mittels Schrauben, Muttern und Rädern vermitteln sollten. Weil meistens die Väter ihre technischen Fähigkeiten demonstrierten, wurden aus den Buben später doch keine ­berühmten Ingenieure.

Berühmt wurden H. G. Wells mit «The First Men in the Moon», Arthur Schnitzler mit ­«Lieutenant Gustl» und Thomas Mann mit den «Buddenbrooks».
Den erstmals 1901 vergebenen Nobelpreis für Literatur erhielt jedoch der Franzose Sully ­Prudhomme. Der Physiker Wilhelm Röntgen erhielt die Auszeichnung für die Entdeckung der Röntgenstrahlen, der Mediziner Emil von Behring für seine Serumtherapie zur Behandlung der Diphtherie und Henry Dunant (Friedens­nobelpreis) für die Gründung des Internationalen Roten Kreuzes.

Nicht berücksichtigt wurde der Psycho­analytiker Sigmund Freund, der in den folgenden Jahren zwölfmal nominiert, aber nie auszeichnet wurde. Er publizierte 1901 sein Werk «Zur ­Psychopathologie des Alltagslebens», in dem er unter anderem den «freud’schen Versprecher» untersuchte, den er für einen «Mechanismus des Unterbewussten» hielt. Ein freud’scher Versprecher wäre zum Beispiel: Wenn Sie im Hochsommer ein Hotelzimmer mit defektem Ventilator betreten und seufzen: «Ich brauche jetzt dringend einen Vibrator».

© Basler Zeitung; 27.05.2016

Sun, fun and nothing to do

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Als Freischaffender müsste ich das bedingungslose Grundeinkommen grossartig finden. Jeden Monat ein kleiner Literaturpreis. Ich müsste dafür nicht einmal in die Tasten hauen. Man erhält eine Leistung ohne Gegenleistung. Geld aus dem Nichts. Nun ist es so, dass die Schweizer Bevölkerung nicht ausschliesslich aus Musikern, Dichtern, Malern und Philosophen besteht. Sonst gebe es ja kein Publikum…

Ein Blick auf die »sauglatten« Kampagnenfotos lässt erahnen, dass die Initianten die gewohnte Rundumversorgung von Hotel Mama nun mit Papa Staat fortsetzen wollen. Ein Bild zeigt einen lachenden jungen Mann auf einem Plastikauto, das für Dreijährige konzipiert ist, andere Bilder zeigen vergnügte Skifahrer auf einem Berg von Einräpplern. Sehen wir das Drama des verwöhnten Kindes? Oder ist es vielleicht ein Hinweis auf die »Weiterbildungen«, die dank dem bedingungslosen Grundeinkommen möglich sein werden? Wie wärs mit einem Weinkurs in den Rebbergen der Toskana?

Leider fehlt den Initianten die Erfahrung, dass zwei Wochen Toskana wesentlich mehr Spass machen, wenn man sich den Aufenthalt zuvor verdient hat. Bewegende Kunst entsteht nicht im Schlaraffenland. Es ist kein Zufall, dass Secondos die reifere Literatur schreiben.

Ich wage die Prognose, dass die »kreative Klasse« bei einer Annahme der Initiative langfristig nicht glücklich würde. Von der Gesellschaft nicht mehr gebraucht zu werden, kann auch deprimierend sein, ein Leben in Zuckerwatte ist nicht so sexy.  Wer sich von anderen aushalten lässt, verliert Würde und Selbstbewusstsein. Wenn Scheitern ausgeschlossen ist, verliert auch der Alltag seinen Reiz.

Wer Geld ohne Gegenleistung erhält, entwickelt mit der Zeit eine Frustration und eine Wut ausgerechnet gegen jene, die seine Utopie verwirklicht haben. Die nächste Forderung wäre eine Erhöhung des bedingungslosen Monatszahlungen, notfalls erhöht man die Mehrwertsteuer, wieso nicht gleich um 25 oder 50 Prozent? Kostet ja nichts, bezahlt der Staat. Wieso nicht gleich massive Steuererhöhungen für all jene, die weiterhin arbeiten? Ein Solidaritätsbeitrag für Coach Potatoes? Aber für Konzerte, Kinos und Sportveranstaltungen müssten die Pioniere für eine neue Wirtschaftsordnung Preisreduktionen erhalten. Schliesslich erhalten auch Rentner Rabatte. Und ist das bedingungslose Grundeinkommen nicht eine Form der Frühverrentnerung?

Ich halte die Initiative für eine Bankrotterklärung: Man will Geld, das man nicht verdient hat, man will das Geld der andern. Man will Geld von einer Gesellschaft, zu der man noch kaum etwas beigetragen hat. Wohlstandsverwahrlosung als Zukunftsmodell.

In Deutschland brechen 70 Prozent der jugendlichen Migranten ihre Berufsausbildung frühzeitig ab, weil die Tiefstlöhne bei Mc Donalds immer noch höher sind als die Lehrlingslöhne. In der Schweiz bleiben freie Stellen in der Landwirtschaft unbesetzt, obwohl 27.000 Migranten und Flüchtlinge im arbeitsfähigen Alter nicht arbeiten. Die Zahlungen der Sozialhilfe sind höher als die Löhne auf dem Bauernhof.

Werden 2500 Franken Jugendliche nicht dazu verführen, der Arbeitswelt fernzubleiben, bevor sie diese überhaupt betreten haben? Wieso soll ein Jugendlicher, der bisher 3000 verdiente, weiterarbeiten, wenn sein bisheriger Fulltimejob lediglich 500 mehr im Monat einbringt? Grundeinkommen plus Schwarzarbeit für 500 wären wohl naheliegend.

Der Slogan, dass alle gleichviel erhalten sollen, klingt nach ultimativer Gerechtigkeit. Das mag, falls überhaupt, für Gesunde gelten, aber ist es auch gerecht für weniger Gesunde?

Wahrscheinlich interessieren sich die vorwiegend jugendlichen Initianten nicht für Behinderte und Pflegebedürftige. Ist es mangelnde Empathie, Egoismus oder eine verminderte Wahrnehmung der Realität ausserhalb der »kreativen Klasse«?

Rudolf Strahm, ehemaliger Preisüberwacher und SP Nationalrat, schrieb vor einigen Wochen: »Nicht jeder hat den gleich hohen Sozialbedarf. Die 367’000 Ergänzungsleistungsbezüger der Schweiz benötigen das Zwei- und Dreifache des versprochenen Grundeinkommens von 2500 Franken pro Monat. Die über 100’000 Pflege- und Betreuungsbedürftigen in den Heimen kosten durchschnittlich 8700 Franken pro Monat. Da reicht das verheissene Grundeinkommen nirgends hin.«

Die Initianten interessieren sich nicht für Kollateralschäden, solange ihre Bedürfnisse befriedigt werden. Jeder, der in der Schweiz lebt, und jeder, der noch in die Schweiz kommt, soll Anrecht auf dieses bedingungslose Grundeinkommen haben. Die Schweiz wäre das einzige Land in der EU. Sie ist schon jetzt das attraktivste, sie wäre danach noch attraktiver. Wieviele Menschen leben in der EU? 508 Millionen?

Weltweit leben weit über eine Milliarde Menschen in Armut, verdienen weniger als einen Franken pro Tag. Mit dreihundert Franken im Monat kann man in der Dritten Welt ganze Grossfamilien in den unteren Mittelstand hieven. Millionen von jungen Männern würden aus sicheren Ländern aufbrechen, um ins Paradies zu gelangen. Man könnte es den Millionen Wirtschaftsmigranten nicht einmal verübeln, ich würde es auch versuchen. Aber wie viele Millionen würden es sein? Nicht einmal die Hälfte der 194 Länder bzw. Staaten, entsprechen unseren Vorstellungen von Freiheit und Demokratie. Also wäre theoretisch der halbe Erdball asylberechtigt, wenn er in seiner Heimat den Militärdienst verweigert. Schwer zu sagen, was sich die Initianten dabei gedacht haben. Mir fällt nichts ein.

Gut möglich, dass das bedingungslose Grundeinkommen eines Tages in einer vollroboterisierten Gesellschaft diskutiert werden muss. Aber zum jetzigen Zeitpunkt ist die Initiative eine Schnapsidee. »Sun, Fun and nothing to do« muss sich noch gedulden.

(c) 2016 Basler Zeitung

#chronos (1965)

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«If you’re going through hell, keep going», sagte der Mann, der zwei Weltkriege überlebte und als britischer Premierminister seinem Volk «Blut und Tränen» versprach. Winston Churchill starb im Alter von 91 Jahren. Er war eine der grossen ­Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts. Für sein historisch-biografisches Werk erhielt er den Nobelpreis für Literatur (1953), seine Lebens­weisheiten gehören heute zu den besten Zitaten seiner Zeit. Vielleicht mit Ausnahme von «No sports». Über die muslimische Welt äusserte er sich unterschiedlich: «Der Einfluss der Religion paralysiert die soziale Entwicklung. Es gibt in der Welt keine rückwärtsgewandtere Kraft.»

In Frankreich wurde General Charles de Gaulle («L’état, c’est moi»; das Zitat stammt ursprünglich vom Sonnenkönig Ludwig XIV.) erneut zum Staats­präsidenten gewählt. «Der Staat bin ich», ist auch heute noch eine sehr beliebte Selbsteinschätzung von weiblichen und männlichen Staatschefs, die gerne über die Köpfe der Parlamente hinweg ­entscheiden. Auf Kuba war es auch die Devise von Fidel Castro. 1965 wurde die Vereinigte Partei der Kubanischen Sozialistischen Revolution (PURSC) in die Kommunistische Partei Kubas (PCC) umbenannt. Den Alltag der Menschen hat es nicht ­wirklich verbessert.

Grossflächige Stromausfälle gab es nicht nur auf Kuba, sondern 1965 auch im Nordosten der USA und in Teilen Kanadas. Für dreissig Millionen Menschen dauerte die Nacht einen ganzen Tag. Neun Monate später wurde ein Babyboom registriert. Vielleicht wären staatlich ­verordnete Stromausfälle die Lösung für Europas ­Überalterung.

Stromausfälle gab es auch in der DDR, aber da 1965 die Antibabypille eingeführt wurde, blieb der Bevölkerungszuwachs bescheiden. Das mag auch daran liegen, dass immer mehr Menschen den «antifaschistischen ­Schutzwall» (Mauer) ­überwanden, um dem ­Diktat der «Abschnitt­sbevollmächtigten« zu ­entkommen. Eine mögliche Wiederaufforstung der Arbeiterklasse wurde also durch die Einführung der Pille eher behindert.

Während sich die DDR-Flüchtlinge, abgesehen von der Freiheitsliebe, keines Verbrechens ­schuldig gemacht hatten, lag der Fall bei Ronald Biggs etwas anders. Dem legendären Posträuber gelang es, mit einer Strickleiter die Gefängnismauern des Londoner Wandsworth-Gefängnisses zu überwinden und mit einem von Komplizen geparkten Möbelwagen eine filmreife Flucht ­hinzulegen. Er verbrachte die nächsten 30 Jahre in Rio und verdiente sein Geld mit Werbung für Alarmanlagen.

In den europäischen Kinos sorgte ein anderer Ganove für Aufsehen: Auric Goldfinger wollte die Goldbestände der USA in Ford Knox radioaktiv verseuchen, damit der Wert seines eigenen ­Golddepots in die Höhe schnellt. In diesem dritten Bond-Film musste Sean Connery das ­internationale Währungssystem retten, das damals noch an Gold gekoppelt war. Obwohl Goldfinger gegen Ende durch den Druckabfall im Flugzeug durch das zersplitterte Kabinen­fenster gesaugt wird, liegt der Unzenpreis nicht mehr bei 35, sondern mittlerweile bei rund 1280 Dollar.

Die Beatles setzten ihren kometenhaften ­Aufstieg fort und veröffentlichten mit «Help» ihr fünftes Album. Die gleichnamige Single erreichte weltweit die Chartspitzen. Ähnlich wie bei «With A Little Help From My Friends», das erst mit der archaischen Interpretation des stimmgewaltigen Joe Cocker dem Text gerecht wurde, erlangte «Help» erst mit der grossartigen Coverversion von Krokus die berührende Tiefe, die man bei der leichtfüssigen Beatles-Darbietung kaum ­wahrgenommen hatte.

When I was younger, so much younger than today, I never needed anybody’s help in any way.

Claude Cueni ist Schriftsteller und lebt in Basel.

www.cueni.ch

© Basler Zeitung; 13.05.2016

Faust Gottes


Sie nennen ihn liebevoll «Pacman», den kleinen Boxer mit dem grossen Kämpferherzen, den Aufsteiger aus den Slums von General Santos City im Süden der Philippinen. Als Emmanuel Dapidran Pacquiao (37) Mitte der achtziger Jahre mit dem Boxen begann, musste er Geld verdienen, um seine Familie zu ernähren. Er sammelte leere Flaschen im Müll. Für seinen ersten Fight erhielt er zwei Dollar.

Seitdem schreibt er Sportgeschichte. In acht Gewichtsklassen wurde er Weltmeister. Letztes Jahr verdiente er laut Forbes 160 Millionen Dollar und besass eine halbe Milliarde Vermögen. Das US-Magazin Time nahm ihn 2009 in das Ranking der hundert einflussreichsten Persönlichkeiten auf. Selbst Boxlegenden wie Muhammad Ali sind von seinem schnellen, aggressiven Stil begeistert, von seinem erbarmungslosen Nachsetzen, wenn der Gegner zu taumeln beginnt. «Pacman» prügelt sich wie ein Strassenkämpfer durch den Ring. Wenn er boxt, sitzt die Nation vor dem TV. Die Kriminalitätsrate sinkt dann auf nahezu null.

Am 9. April dieses Jahres besiegte er in der legendären MGM Grand Garden Arena von Las Vegas Timothy Bradley und verkündete anschliessend seinen Rücktritt vom Boxsport. Er wolle sich ab jetzt seiner Politkarriere widmen. Sie hatte 2010 begonnen, als er nach einer ersten, misslungenen Kandidatur mit 80 Prozent der Stimmen zum Regierungschef der südlichen Provinz Sarangani gewählt und Abgeordneter im Kongress geworden war.

«Anarchie der Familien»

Jetzt hat er die nächste Stufe der Karriereleiter erklommen. Vor drei Tagen wurde er in den Senat gewählt, in sechs Jahren darf er für das Amt des Staatspräsidenten kandidieren. Er hat gute Chancen, denn die geringe Institutionalisierung der Parteien führt oft zu spontanen Parteiwechseln. Die Wähler entscheiden sich nicht für Parteien, sondern für Celebrities oder für Mitglieder der elitären Grossfamilien, die seit Jahrhunderten Politik und Gesellschaft dominieren und oft auch Gatten und Kinder an den Schaltstellen der Macht platzieren.

Pacquiaos Ehefrau Jinkee ist bereits Vizegouverneurin der Provinz Sarangani, und niemand zweifelt daran, dass auch ihre fünf Kinder früher oder später politische Ämter bekleiden werden. Die «Anarchie der Familien» führt dazu, dass die reichen Clans ihren Nachwuchs gleich durchnummerieren, wie das bei Herrschern üblich ist (und bei Päpsten üblich war). Der amtierende Präsident Benigno Aquino III. «erbte den Thron» von seiner Mutter Corazon Aquino. Sie war die Ehefrau von Benigno Aquino Jr., der als Oppositionsführer erschossen worden war. Nicht ungewöhnlich für ein Land, das in den letzten zwölf Jahren während der Wahlkämpfe jeweils 120 bis 310 Tote zu beklagen hatte. Nicht umsonst nennt man die Philippinen den «Wilden Westen Asiens».

Pacquiao hat seine Politikkarriere minutiös geplant, mittlerweile behauptet er, Gott habe das entschieden. Der liebe Gott war nicht immer präsent im Leben dieses Mannes, der von klein auf erfahren musste, dass es angesichts der erbärmlichen Armut in seinem Land weder einen barmherzigen noch einen allmächtigen Gott geben konnte. Seinen kometenhaften Aufstieg feierte das Energiebündel mit ausgelassenen Partys, reichlich Alkohol und als rastloser Frauenheld.

Doch eines Tages war schlagartig Schluss, wie sein damaliger Trainer Freddie Roach dem britischen Guardian erzählte : «He doesn’t party any more, doesn’t drink anymore, doesn’t fuck around with girls no more.» Was war geschehen, dass Pacquiao plötzlich auf Partys, Alkohol und One-Night-Stands verzichtete?

Ob es unmittelbar nach einem besonders harten linken Haken in einem Boxkampf geschah, ist nicht bekannt – auf jeden Fall berichtet Pacquaio mit kindlicher Begeisterung, dass er zwei Engel erblickt habe – weiss, mit grossen Flügeln. Dann sei ihm auch noch der Chef persönlich erschienen, Gott. Pacquiao suchte keinen Neurologen auf, sondern legte den Rosenkranz seiner erzkatholischen Mama Dionisia beiseite und wurde evangelikaler Christ. Seitdem ist er per du mit dem Allmächtigen und beginnt angeblich zu zittern, wenn er seine Ankunft spürt. Pacquiao sagt, dass er jetzt viele Träume und Visionen habe, deshalb wolle er sich seit Beendigung seiner Boxkarriere nur noch nach den Befehlen Gottes richten.

So wie mancher Kettenraucher nach erfolgreichem Entzug militanter Nichtraucher wird, mutierte Lebemann Pacquiao zum ultrareligiösen Eiferer, zum militanten Prediger. Er ersetzte Trainerlegende Roach durch den Prediger Dudley Rutherford und zitiert seitdem in jedem Interview religiöse Kalendersprüche. Das ist beinahe schiefgegangen. Im Februar verpasste sich Pacquiao mit einer Bemerkung fast selbst einen K.-o.-Schlag. In einem Fernsehinterview behauptete er, dass Homosexuelle «schlimmer als Tiere» seien. Er erlebte darauf einen Shitstorm. In einer Umfrage danach verlor er vorübergehend 12 Prozentpunkte.

Pacquiao entschuldigte sich darauf eher halbherzig. Doch dann läutete er eine weitere Runde ein und sagte, er habe nur die Bibel zitiert: Homosexuelle verdienten gemäss der Bibel den Tod. 3. Mose 20,13. Punkt. Er habe nur die Wahrheit gesagt, die Wahrheit aus der Bibel, und er würde nur Gottes Befehl gehorchen.

Amerikanische Sportgrössen distanzierten sich von «Pacman». Hauptsponsor Nike nannte die Äusserungen «absolut widerwärtig» und kündigte mit sofortiger Wirkung die Zusammenarbeit: «Wir haben keine Beziehung mehr zu Manny Pacquiao.» Andere Sponsoren zogen nach. Für den grössten privaten Steuerzahler der Philippinen war dies freilich nur ein kleiner Parkschaden.

Religiöse Eiferer sind selten konsequent. Es ist nicht überliefert, ob Gott Pacquiao eingeflüstert hatte, Steuern zu hinterziehen. 2009 schuldete er dem Steueramt rund 300 Millionen Dollar, seine Konten wurden eingefroren, das Steuergericht verfügte einen Pfändungsbeschluss. Aber selbst als man ihn längst überführt hatte, stritt Pacquiao alles ab: «Der Herr ist mein Licht und mein Heil; vor wem sollte ich mich fürchten?» (Psalm 27,1)

Konvertiten aller Couleurs vereint die Vehemenz, mit der sie ihre neue, extremistische Ideologie vertreten. Es ist, als ob sie befürchteten, auch von diesem neuen Glauben wieder abzufallen. So wie Wahhabiten genau nach dem Leben des Propheten leben wollen, aber dennoch Mobiltelefone benützen und sich die Zähne bei Ungläubigen flicken lassen, so will auch Pacquiao die Bibel nicht als Patchwork aus geschichtlichen Ereignissen und historisierenden Mythen verstehen, sondern als genaue Anleitung für ein Leben im 21. Jahrhundert.

Gegen Sexualaufklärung

Was man von einem Senator Pacquiao in den nächsten sechs Jahren erwarten darf, darauf weist sein Leistungsausweis als Kongressabgeordneter hin. Obwohl die Philippinen gemäss Unicef zu jenen zehn Ländern gehören, die am meisten mangelernährte Kinder unter fünf Jahren aufweisen, opponierte Pacquiao gegen jegliche Form von Geburtenkontrolle und Sexualaufklärung: Die Überbevölkerung sei gottgewollt. Mit solchen Einsichten wurde er zum religiösen Maskottchen der kirchlichen Institutionen. Mit Genugtuung nahmen sie zur Kenntnis, dass Pacquiao die Kandidatur von Rodrigo Duterte für das Amt des neuen Staatspräsidenten nicht unterstützen wollte. Duterte hatte den Papst einen Hurensohn genannt. Doch wenige Tage vor dem Urnengang wechselte Pacquiao ins Lager des umstrittensten Kandidaten. Schliesslich will er ihn in sechs Jahren im Präsidentenamt beerben.

Einige Medien kritisieren, dass Pacquiao nicht die geringste Ahnung von den zu behandelnden Dossiers habe und sich mehr für seine Karriere als Sänger, Model, Schauspieler und Prediger interessiere. Ein Journalist schrieb, er finde das nicht so schlimm. Als Kongressabgeordneter sei «Pacman» an nur vier von 179 Sitzungen erschienen. Er hoffe, dass Pacquiao auch als Senator nicht öfter erscheinen werde.

Claude Cueni ist Schriftsteller und lebt in Basel. In seinem zuletzt erschienenen Roman «Pacific Avenue» beschreibt er zwei Reisen auf die Philippinen, eine im Jahre 1521 an Bord von Magellans «Trinidad» und eine im Jahre 2015 zu seiner philippinischen Verwandtschaft.

© Die Weltwoche; 12.05.2016; Ausgaben-Nr. 19; Seite 54

Der Dirty Harry der Philippinen

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Der Inselstaat wählt einen neuen Präsidenten: Er wird wohl Rodrigo Duterte heissen

Von Claude Cueni

Manila. Morgen Sonntag finden in der «ältesten Demokratie Südostasiens» Wahlen statt. Letzten Herbst hatten sich 130 Kandidaten für das Amt des philippinischen Staatspräsidenten beworben, vier sind noch im Rennen. In Führung liegt Rodrigo Duterte (71) mit 33 Prozent. 22 Jahre lang war er Bürgermeister von Davao City und hat in seinen sieben Amtszeiten die kriminellste Stadt der Philippinen in die sicherste Stadt des Landes verwandelt. Er lehnte die Nomination für den «World Mayor Prize» mit der Begründung ab, er habe nur seinen Job getan. Sein Lieblingsausdruck ist «Fuck you».

Wer ist dieser «tough-talking mayor», der in aufreizender Lässigkeit auftritt, an Wahlkampfveranstaltungen von Zehntausenden Menschen wie ein Rock- star gefeiert wird und sich mit einer MP auf dem Cover des Hochglanzmagazins Esquire Philippines abbilden lässt? Die Financial Times nennt ihn «Dirty Harry», Al Jazeera «The Punisher».

«Digong» nennen ihn die Filipinos, und sie glauben ihm, was er sagt, und was er sagt, lässt Demokraten erbleichen. Duterte verspricht den Menschen nicht weniger als die Befreiung der Philippinen von Korruption und Kriminalität innerhalb von sechs Monaten. In einem Fernsehinterview konfrontierte ihn die Moderatorin mit den Vorwürfen der Justizministerin, wonach er in Davao City für die Morde der Todesschwadronen verantwortlich sei.

«Ja», antwortete Duterte gelassen, «wir haben Davao gesäubert. Wenn einer in meine Stadt kommt und ein Kind vergewaltigt, erschiesse ich ihn.» Sollte er Präsident werden, wird er am ersten Tag eine Warnung an alle Kriminellen abgeben, «stop it, right now!», und anschliessend jeden öffentlich hängen, der weiter mit Drogen dealt. Süchtigen bietet er hingegen das modernste Rehab-Zentrum des Inselstaates an.

Die tägliche Korruption
Seinen ersten Konkurrenten, Vizepräsident Jejomar Binay, muss er nicht mehr fürchten. Binay ist in einen Korruptionsskandal verwickelt, er fiel auf 17 Prozent zurück. Korruption ist im korruptesten Land Asiens Lifestyle, «daily business». Der Clan steht über den Gesetzen, es herrscht die «Anarchie der Familien», Nachfahren werden wie Herrscher und Päpste durchnummeriert. Auch für den nächsten Konkurrenten, den früheren Innenminister Mar Roxas II. (58), hat Duterte nur Spott übrig. Roxas II., der steinreiche Enkel des ehemaligen Präsidenten Manuel Roxas (1946–1948), kauft Stimmen für 500 Pesos (circa 10 Franken) und im grossen Stil Facebook-Likes aus Russland und China. Acht Milliarden Dollar internationaler Hilfsgelder für die Opfer des Taifuns Yolanda (2013) sind in seinem Büro verschollen. Er liegt bei 22 Prozent.

Dutertes dritter Gegner ist eine Frau: die Senatorin Grace Poe (48). Sie erlebte einen Shitstorm, als sich ihre angeblich erfolgreiche Businesskarriere in den USA als Halbtagesjob in einer Montessori-Schule entpuppte. The Manila Times nannte sie «The Fake», die Fälschung. The Philippine Inquirer titelte: «Zero Performance». Jetzt sind Grace Poe Werte von 35 auf 21 Prozent gesunken und «Dirty Harry» zieht allen davon, obwohl er kein Fettnäpfchen auslässt. Er macht sexistische «Witze», nannte den Papst einen Hurensohn und den blutrünstigen Diktator Ferdinand Marcos (1965–1986) gar den «besten Präsidenten, den die Philippinen je hatten».

Die Politanalystin Lourdes Tiquia erklärt Dutertes überraschenden Erfolg damit, dass er es geschafft hat, sich als einzige Alternative zum unglaublich korrupten Establishment zu positionieren. Während die Oligarchen Roxas II. und Binay in luxuriösen Villen leben und ihre Wahlkampfhelfer gut bezahlen, arbeiten mittlerweile über eine halbe Million Filipinos ehrenamtlich für ihren «Digong» und drucken auf eigene Kosten Poster und T-Shirts. Duterte verspricht nicht Kontinuität, er verspricht den radikalen Wandel. Er lebt in einem bescheidenen Haus, tritt in kaputten Schuhen auf und verzichtet auf jede «Kostümierung». Freddie Aquilar, der philippinische Bob Dylan, hat ihm einen Wahlkampfsong gewidmet. Alles, was in der Film- und Musikbranche einen Namen hat, steht geschlossen hinter dem Mayor.

Carlos Conde von Human Rights Watch in the Philippines sieht Dutertes Popularität als Folge des totalen Zusammenbruchs von Recht und Ordnung und sorgt sich um die Menschenrechte. Dan Mariano, ein Politanalyst in Manila, schreibt, dass die unglaubliche Kriminalität die Menschen traumatisiere und dass Duterte auf diesem Gebiet einen aussergewöhnlichen Leistungsausweis habe. Nur ihm traut man zu, ein «game-changer» zu sein, einer, der das Spiel dreht.

Bewaffnete Konflikte
Auf den zukünftigen Präsidenten warten herkulische Aufgaben. Laut Unicef zählen die Philippinen zu den zehn Ländern weltweit, welche die höchste Anzahl an fehlernährten Kindern unter fünf Jahren haben. 22 Millionen Menschen sind täglich von Hunger betroffen. Das ist erstaunlich, denn eigentlich könnten die Philippinen mit einer BIP-Wachstumsrate von über sechs Prozent eine florierende Volkswirtschaft sein. Doch der Reichtum erfasst nicht die breiten Schichten: Fast die Hälfte der 110 Millionen Einwohner lebt unter der Armutsgrenze, die Überbevölkerung hat groteske Ausmasse erreicht. Zu allem Übel stemmt sich die katholische Kirche mit ihrem Medienimperium gegen jegliche Form von Geburtenkontrolle und Sexualaufklärung.

Eine weitere Baustelle sind die zahlreichen bewaffneten Konflikte auf der südlichen Insel Mindanao: Die kommunistische New People’s Army (NPA), der bewaffnete Arm der kommunistischen Partei der Philippinen (CPP), entführt seit 46 Jahren laufend Armeeangehörige und Polizisten. 13 Tage vor der Wahl begab sich «Dirty Harry» ins Rebellenlager und kam mit fünf entführten Polizisten zurück.

Ein permanentes Ärgernis sind auch die islamistischen Abu-Sayyaf-Terroristen, Verbündete des Islamischen Staates. Sie haben vor einigen Tagen eine kanadische Geisel geköpft. Seit 1991 hat Abu Sayyaf mehrere Tausend Menschen verletzt, entführt, getötet, enthauptet oder in die Luft gesprengt.

Auch aussenpolitisch wird der neue Präsident gefordert sein. Die Philippinen sind der wichtigste Standort für die Abhörstationen der National Security Agency (NSA) im pazifischen Raum. Obwohl die beiden Pachtverträge bereits 1991 gekündigt wurden, sind die USA immer noch stationiert. Sie haben ein Argument in der Höhe von 500 Millionen überwiesen. Auf den sich ab-zeichnenden Sieg Dutertes reagierten sie letzten Monat mit einer millionenschweren Medienkampagne gegen den «Donald Trump der Philippinen».

Auch die Chinesen sind mittlerweile hellhörig geworden. Duterte will die von China beanspruchten Spratly-Inseln im Alleingang zurückerobern. Die Marine soll ihn mit einer philippinischen Fahne auf der Insel absetzen. Der chinesische Marineadmiral Wang Kang Shang kommentierte, man könne phi­lippinische Fischer wegschicken, auch die philippinische Navy könne man wegschicken, aber nicht den Präsidenten der Philippinen. Darauf sei China nicht vorbereitet.

In den letzten Umfragen sämtlicher Institute und Online-Medien führt Duterte wenige Tage vor der Wahl immer noch mit grossem Abstand. Seine Gegner sind im Panikmodus und wechseln eilig ins Duterte-Lager. Teddy Locsin, Starmoderator beim News Chanel The World Tonight (ABS-CBN) sagt: «Das Land ist in Anarchie versunken. Nur noch ein Cäsar kann das Problem lösen.» Duterte sei der Einzige, der sich noch nie bereichert habe.

Aber auf den Philippinen fallen Entscheidungen nicht immer an der Urne. 1983 wurde Oppositionsführer Aquino II. auf dem Flughafen erschossen. In den letzten Tagen wurden der Stadtrat Heinrich Apostol, der Vizebürgermeister Ronaldo Lucas und einer von Dutertes Wahlkampfmanagern erschossen. Bei jeder Wahl in den letzten zwölf Jahren wurden durchschnittlich 120 bis 310 Menschen getötet. In Cebu gibts gemäss Cebu Daily NewsAuftragskiller für 45 Dollar.

Häufiger ist Wahlbetrug, wie man ihn der früheren Präsidentin Gloria Macapagal-Arroyo (2001–2010) nachträglich aufgrund von Telefon­mitschnitten nachgewiesen hat. Seit Montag melden Expats aus Kalifornien, Japan, Hongkong, Kuwait und Dubai programmierten Wahlbetrug. Kreuzt man auf dem Wahlzettel «Duterte» an und schiebt ihn in den Smartmatic-Automaten, steht auf der ausgedruckten Wahlquittung manchmal der Name «Roxas II.». Auf Nachfrage von CNN Philippines gestand die Wahlkampfkommission (Comelec), sie habe die Software und die Hardware der Wahlautomaten immer noch nicht zertifiziert, obwohl jugendliche Hacker bereits demonstriert hatten, wie einfach sich die Automaten manipulieren lassen. Der CEO der Comelec ist Andy D. Bautista, der ehemalige Wahlkampfmanager von Roxas II. Letzten Herbst hatte er Grace Poe und Duterte auf Drängen von Roxas II. von der Wahl ausgeschlossen und später nach Protesten wieder zugelassen.

Angriff in der Zielgeraden
Für den Fall, dass Roxas II. den Wahlsieg erschwindelt, drohen die Duterte-Wähler mit einer Neuauflage der gewaltfreien People Power Revolution (Edsa), die 1986 den Diktator Ferdinand Marcos (mit acht Milliarden im Handgepäck) ins Exil getrieben hat. Die kommunistische New People’s Ar- my (NPA) droht gar mit Revolution. Anonymus will alle Regierungsrechner lahmlegen, falls Präsident Aquino III., wie angekündigt, einen Wahlsieg Du- tertes nicht respektiert.

Am Montag gab es einen letzten Versuch, Duterte noch auf der Zielgeraden zu bodigen. Senator Trillanes IV. be.hauptete, Duterte habe ein Schwarzgeldkonto mit 221 Millionen Pesos. Die Anwälte beider Seiten trafen sich zum Showdown in den Räumlichkeiten der Bank of the Philippine Islands (BPI). Dutertes Kontostand betrug umgerechnet 325 Franken, auf dem Dollarkonto hatte er 5021 Dollar, eine Zahlung oder einen Kontostand von 221 Millionen Pesos hat es nie gegeben. Trillanes IV. gibt nicht auf. Er prophezeit bei einem Sieg Dutertes einen Militärputsch, weil der Major die Kommunisten in Min­danao an der Regierung beteiligen will. Fortsetzung folgt.

In Erwartung eines Duterte-Sieges brachte gestern eine verängstigte Dealerin Drogen im Wert von 1,7 Millionen Peso auf einen Polizeiposten in Dumaguete City (Negros Oriental). Sie hatte die Warnung des «Punishers» gehört: «Stop it, right now! Or I kill you.» Disiplina Duterte.

Claude Cueni ist Schriftsteller und lebt in Basel. In seinem zuletzt erschienenen Roman «Pacific Avenue» beschreibt er zwei Reisen auf die Philippinen, eine im Jahre 1521 an Bord von Magellans «Trinidad» und eine im Jahre 2015 zu seiner philippinischen ­Verwandtschaft.

Weitere Artikel über die Philippinen:

Weltwoche, Dezember 2015, »Gott wird weinen«

 

#chronos (1970)

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Die Arschkarte. 1970 entschied sich die Duden­redaktion, dieses feminine Substantiv in ihren mittlerweile zwei Milliarden Worte umfassenden Sprachkorpus aufzunehmen. Die «Arschkarte» wurde nach Einführung der Roten Karte im ­Fussball populär. Um Verwechslungen zu ­vermeiden, bewahrten die Schiedsrichter die Gelbe Karte in der Brusttasche, die Rote Karte in der Gesässtasche und zogen fortan nach grobem Foulspiel die «Arschkarte». Wenn heute jemand vom Pech verfolgt ist, sagt er: «Ich habe die ­Arschkarte gezogen.»

Die deutschen Fernsehzuschauer konnten ab 1970 die Tagesschauen von ARD und ZDF in Farbe empfangen. Was sie nun in Farbe sahen, war aber genauso unerfreulich wie das, was sie zuvor in Schwarz-Weiss gesehen hatten: US-Präsident Richard Nixon kündigte in einer Fernseh­ansprache den Angriff auf Kambodscha an, in Ohio wurden vier Anti-Vietnam-Demonstranten von Nationalgardisten erschossen, palästinen­sische Terroristen töteten neun israelische ­Schulkinder, Swissair-Flug 330 wurde Opfer eines Terroranschlags, in Deutschland wurde die ­Terrorgruppe Rote Armee Fraktion gegründet und die «marxistisch-leninistische demokratische Front zur Befreiung Palästinas» verübte ein ­Attentat auf Jordaniens König Hussein I. und bescherte dem Land einen verlustreichen ­Bürgerkrieg («Schwarzer September»).

Im friedlichen Teil der Welt begeisterte man sich nach drei depressiven Weinjahrgängen für den sensationellen 70er Bordeaux in Saint-Emilion und Pomerol. Der 1970er Château Pétrus gilt heute gar als Jahrhundertwein. Genauso erfolgreich war der Jahrgang der Film- und Musikproduktionen.

Alain Delon, André ­Bourvil, Yves Montand und Gian Maria Volonté waren die «Vier im roten Kreis». Mit dem epischen Gangsterfilm schuf Jean-Pierre Melville einen Klassiker, der sowohl in Europa als auch in Amerika begeisterte. Kultregisseur Michelangelo Antonioni drehte mit dem Roadmovie «Zabriskie Point» eine Hommage an die 68er-Bewegung, während Arnold Strong in den europäischen Kinos als «Herkules» sein Filmdebüt gab und ­später als Arnold Schwarzenegger Weltruhm erlangte.

1970 erhielt der Erfinder Douglas C. Engelbart ein Patent auf einen «X-Y-Positions-Anzeiger für Bildschirmsysteme», das heute der Einfachheit halber «Maus» genannt wird. Die Firma Apple lizenzierte in den 80er-Jahren diese «Maschine-Mensch-Schnittstelle» und brachte sie als Kugelmaus erstmals in ihrem Rechner «Lisa» auf den Markt. Trotz grosser Werbekampagne scheiterte der Rechner. Er war zu teuer.

Erfolgreichere Werbung betrieb Jägermeister: «Ich trinke Jägermeister, weil mir Roland tatsächlich nur seine Briefmarkensammlung gezeigt hat.» Gezeigt wurde eine hübsche, junge Frau mit einer offenen Flasche Jägermeister und einem Glas. Nachträglich für Ironie sorgt auch die VW- ­Werbung von 1970: «Es gibt noch Dinge, auf die man sich verlassen kann.»

Sex sells. Die britische Boulevardzeitung The Sun druckte erstmals ein Seite-drei-Girl auf der Frontseite und steigerte damit die Auflage um sage und schreibe 40 Prozent. Ob das den heute weltweit grassierenden Auflagenschwund der Printmedien stoppen könnte?

Nicht mehr aufzuhalten war die Trennung der «Fab Four» aus Liverpool. Zehn Jahre hatten ­ausgereicht, um eine der grössten Rockbands aller Zeiten zu werden und mit 200 Songs Musikgeschichte zu schreiben. Mit «Let It Be» brachten die zerstrittenen Pilzköpfe John Lennon und Paul McCartney ihre Abschieds-LP doch noch zustande.

For though they may be parted

There is still a chance that they will see

There will be an answer

Let it be

#chronos (1966)

 the-good-the-bad-and-the-ugly-il-buono-il-brutto-il-cattivo.9123 mao beattles-1966_3318771b frauenstimmrecht1920 simon-and-garfunkel-bookends 

«We’re mo­re po­pu­lar than Je­sus now.» Als John Len­non in ei­nem In­ter­view mit dem Lon­do­ner Eve­ning Stan­dard sag­te, sie sei­en nun po­pu­lä­rer als Je­sus, boy­kot­tier­ten Ra­dio­sta­tio­nen die ­Bea­tles Songs; re­li­gi­öse Fa­na­ti­ker ver­brann­ten öf­fent­lich ih­re Al­ben. Für die Pu­ber­tie­ren­den der 60er-Jah­re ein kla­res Kaufsi­gnal. Die Bea­tles do­mi­nier­ten gleich mit meh­re­ren Singles die in­ter­na­tio­na­len Charts.

Mit den «Vier Al­ten» mein­te Mao Ze­dong nicht die «Fab Four» aus Li­ver­pool, son­dern die Pfei­ler der «Gros­sen Pro­le­ta­ri­schen Kul­tur­re­vo­lu­ti­on»: al­te Denk­wei­sen, al­te Kul­tu­ren, al­te Ge­wohn­hei­ten, al­te Sit­ten. Al­les soll­te zer­schla­gen wer­den. Voll­stre­cker wa­ren die Ro­ten Gar­den, die ­Tau­sen­de von Men­schen tö­te­ten, Stadt­be­woh­ner ver­trie­ben, Woh­nun­gen plün­der­ten und fast 5000 his­to­ri­sche Stät­ten für im­mer zer­stör­ten. In Tei­len Chinas herrsch­te Bür­ger­krieg. Ein­mal mehr ­schei­ter­te der Ver­such, die Rea­li­tät ei­ner Ideo­lo­gie an­zu­pas­sen, die der Na­tur des ­Men­schen wi­der­spricht.

In der Schweiz er­hiel­ten nach den Kan­to­nen Neu­en­burg und Waadt auch die Bas­le­rin­nen das Stimm- und Wahl­recht. Dass die Schweiz als ei­nes der letz­ten eu­ro­päi­schen Län­der das Frau­en­stimm­recht ein­führ­te, lag we­ni­ger an den an­geb­lich «hin­ter­wäld­le­ri­schen Schwei­zern», son­dern ein­fach dar­an, dass in al­len üb­ri­gen Län­dern das Frau­en­stimm­recht nicht nach ei­ner de­mo­kra­ti­schen Volks­ab­stim­mung ein­ge­führt wur­de, son­dern von oben dik­tiert wor­den war.

Von oben dik­tiert wur­de auch, was auf den In­dex Li­brorum Pro­hi­bi­torum («Ver­zeich­nis der ver­bo­te­nen Bü­cher») kam. Das war ein Ver­zeich­nis der rö­mi­schen In­qui­si­ti­on aus dem Jah­re 1559, das fort­wäh­rend ­ak­tua­li­siert wur­de und zu­letzt 6000 ver­bo­te­ne Bü­cher ­auf­lis­te­te. 1966 wur­de der In­dex ein­ge­stellt, da Ka­tho­li­ken trotz der an­ge­droh­ten Ex­kom­mu­ni­zie­rung wei­ter­hin die ver­bo­te­nen Lie­bes­ge­schich­ten von Balzac und Du­mas la­sen.

Gros­ses ver­kün­de­te auch die UNO mit ih­rem Men­schen­rechts­pa­ket über bür­ger­li­che und po­li­ti­sche Rech­te so­wie über wirt­schaft­li­che, so­zia­le und kul­tu­rel­le Rech­te. Wahr­schein­lich ist das ei­ne oder an­de­re man­gel­haft über­setzt wor­den. An­ders ist nicht zu er­klä­ren, dass aus­ge­rech­net 2015 der sau­di­sche Bot­schaf­ter Fai­sal bin Hassan Trad zum Vor­sit­zen­den ei­ner Be­ra­ter­grup­pe des UN-Men­schen­rechts­rats ge­wählt wur­de.

Bad Guys wur­den auch im Ki­no po­pu­lär. In Ser­gi­os Leo­nes «Zwei glor­rei­che Ha­lun­ken», (Il buo­no, il brut­to, il cat­ti­vo) spiel­te Clint East­wood den wort­kar­gen Kopf­geld­jä­ger, den na­men­lo­sen De­spe­ra­do, der zum An­ti­hel­den des Jahr­zehnts wur­de. Nach Be­en­di­gung sei­ner Dol­lar-Tri­lo­gie woll­te Leo­ne sei­nen neu­en Star für die Hauptrol­le von «Spiel mir das Lied vom Tod» ver­pflich­ten. Die fi­nan­zi­el­len Er­war­tun­gen von Clint East­wood wa­ren aber so, dass sich Ser­gio Leo­ne nach ei­nem har­ten Re­de­du­ell für den da­mals kaum be­kann­ten Charles Bron­son ent­schied.

Ein 18-jäh­ri­ger Schü­ler er­schoss in Ari­zo­na sechs Frau­en. Bei sei­ner Fest­nah­me sag­te er, er ha­be be­rühmt wer­den wol­len. Wie hiess er schon wie­der?

Auf den Thea­ter­büh­nen be­schimpf­te Pe­ter Hand­ke sein Pu­bli­kum («Pu­bli­kums­be­schimp­fung»), wäh­rend Fried­rich Dür­ren­matts «Me­te­or» die Erdat­mo­sphä­re er­reich­te. Im US-Fern­se­hen star­te­te die TV-Se­rie «Star Trek» (Raum­schiff En­ter­pri­se), die bis 1969 erst­aus­ge­strahlt wur­de; in den in­ter­na­tio­na­len Charts er­schie­nen un­zäh­li­ge Ohr­wür­mer, die heu­te Klas­si­ker der Pop Ge­schich­te sind: «Paint It Black», «Pa­per­back Wri­ter», «Sum­mer In The Ci­ty», «The Last Train To Clarks­ville», «Mon­day Mon­day», «Rai­ny Day Wo­man», «The Sound of Si­lence»:

«Hel­lo dar­kness, my old fri­end

I’ve co­me to talk with you again.»

Panini sei Dank

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© Die Weltwoche; 14.04.2016

Es gibt einen ganz speziellen Grund, weshalb ich auch als Erwachsener hinter Panini-Alben her bin. 

Als ich kürzlich das neue Panini-Album «Uefa Euro 2016» kaufte, fragte die Kioskverkäuferin: «Bilder?» – «Keine Bilder», antwortete ich, «nur das leere Album.» Ich sah ihr förmlich an, wie sich ihre Schläfenarterien verengten und sie angestrengt darüber nachdachte, wer von uns beiden heute Morgen seine Pillen vergessen hat.

Normale Menschen besorgen sich ein Panini-Album und kaufen dann so lange Bilder, bis das Album voll ist. Manchmal verzweifeln die Schüler an fehlenden Bildchen und bieten für einen Ronaldo ein Date mit der grossen Schwester an. Aber ein Panini-Album ist wesentlich mehr, kann wesentlich mehr sein; das hängt natürlich vom Abstraktionsvermögen des Betrachters ab. Für mich waren Panini-Alben immer der ultimative Beweis dafür, wieso Hardcore-Sozialismus weder als Brettspiel noch in der realen Welt funktioniert: Panini, das ist die Jagd nach Trophäen, das Sammeln, der Wettlauf gegen die andern, der Wunsch, der Erste zu sein, der das Album bis auf den letzten Kicker vollgeklebt hat. Jagen und Sammeln sind (nach dem unstillbaren Fortpflanzungstrieb) zwei jener Urinstinkte, die den Menschen antreiben, seit er von den Bäumen runtergestiegen ist und den aufrechten Gang geprobt hat, um sich einen ersten Überblick über seine neuen Jagdgründe zu verschaffen. Würde der Staat jedem Bürger bedingungslos ein leeres Album und ein komplettes Set an Bildchen nach Hause liefern, wäre der Spass nur halb so gross. Man mag später den Hochzeitstag vergessen, aber das erste Panini-Album, das vergisst man nie.

Die Gebrüder Panini tricksen nicht

Ich besorgte mir 1970 mein erstes Panini-Album, «Mexico». Damals waren die Alben noch gratis, hinterlistige Marketingstrategen hatten gerade mal das «Anfixen» erfunden und dadurch manches Haushaltsbudget während der Weltmeisterschaften in Schieflage gebracht. Ich konnte mir keine Bildchen leisten, erhielt aber aus Mitleid von meinen Mitschülern dreimal Víctor Espárrago von Nacional Montevideo, weil es diesen schmalgesichtigen Uruguay-Stürmer in Panini-Form angeblich öfter gab als Fussballgott Pelé oder den Rechtsaussen (ist sportlich gemeint) Jairzinho. 1970 war nicht nur die Geburt des ersten WM-Panini-Albums, sondern auch die Geburt des Gerüchts, laut dem die Gebrüder Panini tricksen würden. Angeblich seien Superstars seltener als No-Name-Kicker. Das Gerücht hielt sich derart hartnäckig, dass die Mathematiker Sylvain Sardy und Yvan Velenik von der Universität Genf der Sache mit wissenschaftlichen Methoden auf den Grund gingen. Wenig überraschend war die Erkenntnis, dass es sich beim allerersten Bild nie um eine Doublette handelt. Mit jedem eingeklebten Sticker sinkt natürlich die Wahrscheinlichkeit, ein fehlendes Bild zu ergattern. Um zu testen, ob alle 640 (bis 660) Bilder mit derselben Regelmässigkeit auftauchen, kauften die Wissenschaftler zwölf Boxen à hundert Päckchen mit jeweils fünf Bildern, also insgesamt 6000 Sticker. Das Ergebnis war für Verschwörungstheoretiker eine herbe Enttäuschung: Jeder Spieler kam neun Mal vor. Die Panini-Gruppe, die heute mit rund tausend Mitarbeitern in über hundert Ländern einen Umsatz von zirka 800 Millionen Euro erzielt, trickst also nicht.

Tauschhandel dringend empfohlen

Da Verschwörungstheorien nebst Kochen und Fitness zu den neuen Ersatzreligionen des 21. Jahrhunderts gehören, hält sich das Gerücht dennoch weiterhin. Aber die Wissenschaft hatte es schon immer schwer gegen Gläubige und Abergläubische.

Für die ersten 550 Bildchen benötigt man gemäss den beiden Mathematikern 233 Tüten, für die nächsten neunzig Abziehbildchen weitere 233 Tüten. Das gilt auch für die allerletzten drei fehlenden Bildchen. Somit ist Tauschhandel dringend empfohlen.

Aber mit wem sollte ich meine drei Víctor Espárragos tauschen? Dafür kriegte ich höchstens einen Ersatzspieler aus der damaligen Sowjetunion. Aber mein eigentliches Problem war Julius Cäsar. Wegen einer Zwei in Latein (grosszügig aufgerundet) wurde mein mitleiderregendes Panini-Album zwischen Kartoffelschalen und Kaffeesatz versenkt, Mülltrennung hatte die Dudenredaktion noch nicht ins Wörterbuch aufgenommen. Trotz dieser gutgemeinten erzieherischen Massnahme endete mein «De bello Gallico» bei Bibracte. Ich interessierte mich darauf mehr für Frauenfussball, aber eher ausserhalb des Spielfeldes. 1990, Italien, da schlug ich richtig zu, nicht aus Trotz, sondern weil mein achtjähriger Sohn vom Fussballfieber besessen war. Wir gingen zum nächsten Kiosk, und er blickte voller Bewunderung zu mir hoch, als ich die Kioskfrau fragte: «Wie viele Boxen haben Sie an Lager? Drei? Wir nehmen alle drei.»

«Habe ich jetzt zwei Kinder?», fragte meine (2008 verstorbene Frau), als wir erhobenen Hauptes nach Hause zurückkamen. Ich erklärte ihr, dass wir all diese Bildchen brauchten, um unseren Sohn für das tägliche, mehrstündige Reha-Programm zu motivieren. Nach kurzer Zeit brauchte es bereits zwei Bilder für eine Reha-Stunde, und kurz bevor mein Sohn alles hinschmeissen wollte, kapitulierte ich und schmiss, wie damals Vercingetorix sein Schwert, ihm die letzte Box vor die Füsse. Als das Album voll war, gab es Schwierigkeiten mit der Motivation. Später lernte ich, dass Kinder, die fürs Malen bezahlt werden, rasch den Spass an der Sache verlieren, während Kinder, die ohne Bezahlung malen, die Freude am Malen behalten. Parallelen zur Kulturförderung sind rein zufällig.

1994 war mein Sohn schon ein bisschen aus dem Alter heraus, ich noch mittendrin – vermutete jedenfalls die Kioskfrau, denn ich kaufte immer noch bei jeder WM das neue Panini-Album. Aber ab 1994, «USA», wieder ohne Bildchen.

Es war ein Italiener aus Mailand, der schliesslich hinter mein dunkles Geheimnis kam. «Ist es Zufall», fragte er, «dass in Ihrem Vatikanthriller ‹Gehet hin und tötet› fast alle Kardinäle und Mafiosi die Spielernamen der italienischen Nationalmannschaft von 1990 haben?»

Ich gestand ihm, dass ich die Namen für meine Film- und Romanfiguren den Panini-Alben entnehme, jeweils zwei Spielernamen für einen Romannamen. Von Salvatore Schillaci (Juventus) nahm ich den Vornamen, von seinem damaligen Klubkollegen Roberto Baggio den Nachnamen; Luigi De Agostini gab dem Vertrauten des Papstes den Vornamen, Franco Baresi von der AC Milan einem Mafioso den Nachnamen, und so erhielten alle Figuren beim ersten gedanklichen Casting ihre Namenstaufe.

Das ist der wahre Grund, wieso ich heute noch Panini-Alben kaufe. Zu oft gab es in den Fernsehredaktionen Diskussionen, weil ihnen ein russischer oder schwedischer Name eher spanisch vorkam. In solchen Situationen fragte ich jeweils scheinheilig in die Runde, ob nicht ein Ronald Koeman 1990 für die holländische Nationalmannschaft gespielt habe, Koeman sei doch ziemlich holländisch wie auch de Boer oder de Goey.

Wie sage ich es der Kioskdame?

Natürlich müsste ich heute keine Panini-Alben mehr kaufen. Sucht man zum Beispiel nach philippinischen Vor- und Nachnamen, googelt man die Liste der Senatoren in Manila oder die der Angestellten der Stadtverwaltung von Bacolod oder abonniert gleich das E-Paper des Philippine Daily Inquirer. Zwei Personen ergeben jeweils einen Namen, das ist nach wie vor Standard. Da aber nicht alle Kulturen unsere Schriftzeichen haben, bleiben Panini-Alben weiterhin integraler Bestandteil einer seriös geführten Autorenbibliothek.

Das alles hätte ich gerne der Kioskdame erklärt, aber hinter mir drängten ein paar fiebrige Jungs, die dringend Bildchen kaufen mussten.

© Die Weltwoche; 14.04.2016

 

#chronos (1976)

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«Warum willst du den Job?»

«Ich kann nachts nicht schlafen», antwortete der «Taxi Driver» Travis Bickle (Robert De Niro) im gleichnamigen Film von Martin Scorsese. Der preisgekrönte und kontrovers diskutierte Film zeigte die psychische Deformation von «Gottes einsamstem Mann», das Abgleiten von Frustration in einen zerstörerischen Wahn: «Hört zu, ihr Wichser, ihr Scheissköpfe. Hier ist ein Mann, der sich nicht mehr alles gefallen lässt.»

Aufsehen erregte 1976 auch eine Studie der US-Regierung, wonach weltweit pro Kopf 12 330 Dollar für Rüstungsgüter und nur gerade mal 129 Dollar für Schulbildung ­ausgegeben ­werden.

Erkenntnisse anderer Art erlangte ein ­Unterausschuss des US-Senats in der Lockheed- Affäre: Angehörige der Geschäftsführer des ­Flugzeugbauers hatten insgesamt 22 Millionen Bestechungsgelder bezahlt, um den Verkauf von Militärflugzeugen «argumentativ» zu unterstützten. Die Millionenbeträge waren an «Volks­vertreter» nach Deutschland, Italien und Japan ­geflossen und hatten Rücktritte und Verur­teilungen zur Folge. In den Niederlanden wurde Prinz Bernhard gezwungen, alle öffentlichen ­Ämter abzugeben. Der Partylöwe bestritt stets, 1,1 Millionen Dollar Schmiergelder erhalten zu haben. Nach seinem Tod wurde es öffentlich: Er hatte doch.

«Das Dogma ist weniger wert als ein Kuhfladen», hatte der chinesische Diktator ­philosophiert, der 1976 von geschätzten 1,5 Millionen Menschen zu Grabe getragen wurde. Wie gross die Wunden sind, die der kommunistische Staatsgründer und Massenmörder Mao Zedong mehreren Generationen zugefügt hat, zeigte ein Ereignis im Jahre 2016: In der Provinz Hanan wurde eine gigantische Mao-Statue von 37 Metern Höhe errichtet. Bereits nach wenigen Tagen war sie zerstört. Von Vandalen sagten die einen, wegen einer fehlenden Baubewilligung sagte die Regierung.

1976 ereignete sich in den Produktionshallen der italienischen «Todesfabrik» (La Republica) Icmesa eine Explosion. Erst nach neun Tagen ­meldete die Eigentümerin Hoffmann-La Roche/Givaudan die Zusammensetzung der Giftwolke: Dioxin. Inzwischen waren in Seveso die Blätter der Bäume vergilbt und Haustiere gestorben. Über 600 Menschen wurden evakuiert, die Zahl der Missgeburten vervierfachte sich darauf. Die ­Ursachen des bisher grössten Giftgasunglücks der ­Nachkriegszeit waren mangelhafte Technik und unqualifizierte Hilfskräfte. Roche weigerte sich, Entschädigungen in Höhe von 300 Millionen zu bezahlen. Die ersten Todesopfer kommentierte der damalige Roche-Chef Adolf Jann so: «Die Frau, die leider gestorben ist, litt unter Asthma.» Erst nach einem Jahr zahlte Roche 30 Millionen in einen «Soforthilfefonds»: «Wir haben nicht die Absicht, die Schulden der ganzen Lombardei zu bezahlen.»

Ein ganz anderes Gift besang die Rockband Eagles auf ihrem fünften Album. War der Song «Hotel California» eine Metapher für die Drogensucht, ein Hotel, das scheinbar jeden Wunsch erfüllt und aus dem es kein Entrinnen mehr gibt?

«You can checkout any time you like, but you can never leave!» Songwriter Don Felder schrieb später in seiner Autobiografie, «Hotel ­California» sei immer das, was die Menschen darin sehen möchten.

1976 gründeten Steve Jobs, Steve Wozniak und Ronald Wayne mit einem Startkapital von 1300 Dollar die Garagenfirma Apple. Wayne stieg am nächsten Tag gleich wieder aus. Wer zu früh geht, den bestraft das Leben auch. Aber wieso «Apple»? Wozniak schrieb in seiner Auto­biografie, dass Jobs gerade eine Apfeldiät machte und der Name dann vor dem Konkurrenten Atari im Telefonbuch stehen würde.