»Schweiz entköppeln«

IMG_0967Das Theater Neumarkt rief zur nationalen „Ent-Köppelung“ auf, um mit Flüchen den bösen Geist des Julius Streicher aus der Seele von Weltwoche Chef Roger Köppel zu vertreiben. Wer ist Julius Streicher?

Julius Streicher (1885 – 1946) war ein furchtbarer Nazi, der selbst Mitgliedern der NSDAP zu rechtsextrem war. Das NSDAP-Mitglied war Herausgeber des antisemitischen Hetzblattes „Der Stürmer“ und leitete ab 1933 das „Zentralkomitee zur Abwehr der jüdischen Greuel- und Boykotthetze“, 1935 publizierte Streicher das Plakat „Todesstrafe für Rassenschande“. Nach Kriegsende wurde er wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zum Tod verurteilt und hingerichtet. Wer zwischen Streicher und Köppel keinen Unterschied sehen will, trivialisiert die grauenhaften Verbrechen der Nazis.

Einer, der sich wie Roger Köppel gerne exponiert und provoziert, bietet seinen Gegnern genügend Angriffsflächen für substanstielle Kritik. Es gehört jedoch zum Repertoire populistischer Kulturschaffender, jeden rechtskonservativen Journalisten mit Nazischurken gleichzusetzen. Ein „rechter Journalist“ ist stets einer, der rechts vom eigenen Standort steht. Wer sich einredet, er verfüge über die moralische Lufthoheit, braucht keine Argumente, er kann sich mit launischen Stammtischparolen begnügen und erntet im eigenen Umfeld stets Applaus.

Mit dem Wortspiel „ent-köppeln“ ist wahrscheinlich „ent-köpfeln“, bzw „ent-haupten“ gemeint. Die Besucher der Homepage werden eingeladen, ihr geliebtes Hassobjekt zu verfluchen. Zur Auswahl standen unter anderem folgende Flüche: Querschnittlähmung, Ebola, Verkehrsunfall. Die Initianten versprachen, den Wünschen der Abstimmungsteilnehmer nachzukommen… Ist das nun Satire, geschmacklose Satire oder bereits ein Fall für die Gerichte? Man stelle sich den Aufschrei bei vertauschten Rollen vor. Welchen historischen Vergleich würden die Initianten ziehen, wenn plötzlich Rechtsextreme zum Marsch auf das Theater Neumarkt in Zürich blasen würden?

Köppel-Bashing ist sehr beliebt, weil es absolut ungefährlich ist und die Initianten zu ernsthaften Kandidaten für kulturelle Auszeichnungen macht. Gefährlicher wäre eine Satire gegen Islamisten, die in Schweizer Innenstädten Hetzschriften (»Buch der einfachen Rechtswissenschaft“) verteilen, die zur Ermordung von Juden, Schwulen und Ungläubigen aufrufen. Aber was die Initianten antreibt ist eben nicht die Sorge um unseren demokratischen Rechtsstaat, sondern das Bemühen um Publicity ohne Leistung.

Es braucht gerade für Kulturschaffende wesentlich mehr Mut, diese Aktionen zu kritisieren, als mit einer selbstverliebten Herde zu blöcken, die jeden Kritiker in den eigenen Reihen als 1/16 Nazi diffamiert und exkommuniziert.

Wir alle lesen Artikel, die uns nerven, vielleicht nervt auch dieser Text, aber man muss ihn nicht zu Ende lesen und wenn man es dennoch tut, muss man ihn aushalten und dabei nicht vergessen, dass Andersdenkende, die sich innerhalb des demokratischen Spektrums artikulieren, keine Feinde sind, sondern einfach Leute, die, aus welchen Gründen auch immer, andere Ansichten vertreten.

Nachtrag: Uebrigens: 500.000 Likes (oder Flüche) gibts für einige hundert Dollar. Sollte für ein subventioniertes Theater kein Problem sein.

© 2016 Blick

#chronos (1948)

Bildschirmfoto 2016-03-11 um 04.15.32«Falls andere das können, kannst du es auch.» Bill Rosenberg (1916–2002), Sohn jüdischer Einwanderer, hatte nach dem Krieg Fabrikarbeiter in Boston mit Snacks und Kaffee beliefert. Als er 1948 bereits zweihundert Catering-Fahrzeuge im Einsatz hatte, eröffnete er die Imbissbude «Open Kettle» (Offene Kanne). Er servierte Donuts mit bunten Fett-Zucker-Glasuren, aber nicht in den üblichen fünf Variationen, sondern in 52 ­verschiedenen Ausführungen. Zwei Jahre später nannte er seinen Betrieb «Dunkin’ Donuts». Heute arbeiten 120 000 Mitarbeiter in 55 Ländern für das Franchise-Unternehmen und Homer Simpson schwärmt immer wieder: «Mmmm, donuts.»

Ein bekennender Donuts-Liebhaber, der sich sogar mit Donuts ablichten liess, war auch US-Präsident Harry S. Truman, der 1948 in seinem Amt ­bestätigt wurde. Er hatte zuvor die Rassen­trennung in den Streitkräften aufgehoben und den Marshallplan unterschrieben, der 5,3 Milliarden Dollar für den Wiederaufbau Europas ­freimachte. Mit den Geldern sollten aber auch neue Absatzmärkte geschaffen und die kommunistische Expansion eingedämmt werden.

Eine halbe Milliarde ging an Deutschland, das im Zuge der Währungsreform die Reichsmark durch die D-Mark ersetzte. Eine Folge davon war die Strafblockade Westberlins durch die ­Sowjetunion. Die Alliierten errichteten eine ­Luftbrücke und versorgten die Berliner aus der Luft. Nebst Nahrungsmitteln brachten die «Rosinenbomber» auch die erste Nummer des Wochenmagazins Stern und die erste Nummer der Masturbationsvorlage Quick unter die Leute. Die Sekretärin des Chefredaktors war Traudl Junge. Kurz vor ihrem Tod diktierte sie ihre ­Memoiren. Der Titel war: «Bis zur letzten Stunde. Hitlers Sekretärin erzählt ihr Leben».

Die neuen Grenz­ziehungen nach dem Zweiten Weltkrieg schafften die Grundlage für zahlreiche neue Kriege. Der UN-Teilungsplan konnte die jüdisch-arabischen Spannungen erwartungs­gemäss nicht entschärfen. Kurz vor Beendigung des britischen Mandats verlas Ben-Gurion am 14. Mai 1948 die israelische Unabhängigkeits­erklärung. Bereits am nächsten Tag griff eine ­arabische Allianz, bestehend aus Ägypten, Syrien, Libanon, ­Jordanien und dem Irak, den neuen Staat an. Sie ­wiesen den UN-Teilungsplan zurück, ­bestritten das Existenzrecht Israels und wollten die neuen Nachbarn vernichten.

Nicht minder kriegerisch ging es in ­Griechenland zu. Hier tobte ein Bürgerkrieg ­zwischen Regierungstruppen und kommunistischen Rebellen, die von der Sowjetunion ­unterstützt wurden. Auch Asien kam nicht zur Ruhe. In China marschiert Maos Volksbefreiungsarmee in die Mandschurei ein; Korea wurde in zwei Staaten aufgespalten: Im Norden terrorisierte fortan die totalitäre «demokratische» ­Volksrepublik ihre Bürger, im Süden wurde die Republik Korea (Südkorea) ausgerufen. Auch die Aufteilung von Britisch-Indien in ein muslimisch dominiertes Pakistan und ein hinduistisch ­geprägtes Indien führte zu kriegerischen ­Auseinandersetzungen um den ehemaligen ­Fürstenstaat Kaschmir. Dabei kam der ­berühmteste Pazifist seiner Zeit ums Leben: der 78-jährige Anwalt, Asket, Revolutionär und «religiöse Atheist» Mahatma Gandhi fiel einem ­Attentat zum Opfer.

1948 brachte der deutsch-französische ­Regisseur Max Ophüls (1902–1990) den Film «Brief einer Unbekannten» in die US-Kinos. Der Film basierte auf der Novelle eines anderen ­Pazifisten: Stefan Zweig (1881–1942). Er war an der «Zerstörung seiner geistigen Heimat Europa» verzweifelt und hatte sich mit einer Überdosis Veronal sechs Jahre zuvor in Brasilien das Leben genommen.

#chronos (1948) Folge 35

#DunkinDonuts #Israel #rosinenbomber #StefanZweig #quick

Die ersten 50 chronos Folgen erscheinen Ende Jahr in Buchform

#chronos (1979)

chronos1979«Und sie bewegt sich doch!» 1979 setzte Papst Johannes Paul II. eine Kommission ein, um nach dreieinhalb Jahrhunderten die Rehabilitierung von Galileo Galilei (1564–1642) zu prüfen. Nach Jahren intensiver Forschung kamen die ­vatikanischen Ermittlungsbehörden zum Schluss, dass dem toskanischen Gelehrten Unrecht ­geschehen war und dass die Erde doch ziemlich rund ist. Einige Islamgelehrte wie Bandar ­al-Khaibari predigen heute noch, dass die Erde stillsteht. Wissenschaftliche Erkenntnisse müssen stets gegen die Religion erkämpft werden.

«1979» hatte auch für die islamische Welt eine grosse Bedeutung. Es entspricht dem Jahr 1400 des islamischen Kalenders. Gemäss Überlieferung beginnt dann die «Endzeit». Schah Mohammad Reza Pahlavi, der Schah von Persien, setzte sich in Begleitung von Kaiserin Farah Diba ins Ausland ab und überliess den Pfauenthron dem 77-jährigen Religionsführer Ayatollah ­Khomeini. Dieser hob die seit fünfzig Jahren ­geltende Säkularisierung wieder auf, führte die Scharia ein und entzog den Frauen alle Rechte, die sie einst im Zuge der «Weissen Revolution» erhalten hatten.

Auch in Nicaragua wurde ein Alleinherrscher gestürzt. Sandinistische Revolutionstruppen ­marschierten in der Hauptstadt Managua ein und beendeten die 35-jährige Diktatur des Somoza- Clans. Der letzte Somoza floh mit seinem ­Generalstab nach Florida. Die mit grotesker ­Brutalität ­regierende Somoza-Dynastie hatte fast die gesamte ­Wirtschaft des ­Landes unter ihre Kontrolle gebracht. ­Aufgrund ihrer ­antikommunistischen ­Haltung waren sie lange von den USA unterstützt und an der Macht gehalten worden.

Auch in Kambodscha wurde ein Diktator gestürzt: Pol Pot. Die vietnamesische Armee marschierte in Phnom Penh ein und beendete die Terrorherrschaft der ­maoistischen Roten Khmer, die beim Versuch, das Land in eine »blühende kommunistische Zukunft« zu führen, rund zwei Millionen ­Menschen umgebracht hatten. Viele flohen. Ein Frachtschiff nahm die ersten vietnamesischen Flüchtlinge auf und rettete über 11 000 von ihnen vor dem Ertrinken und dem Hungertod. Das Schiff hiess »Cap ­Anamur« und gab der Hilfsorganisation deutscher Notärzte den Namen.

Friedlicher endete die Abspaltung des ­nördlichen Juras vom Kanton Bern nach 165-jähriger Zugehörigkeit. Ganz so gewaltfrei verliefen die Geburtswehen des 26. Schweizer Kantons allerdings nicht: Der Separatist Christophe Bader hatte vor dem Berner Rathaus eine Bombe zünden wollen. Der Sprengsatz detonierte frühzeitig. Er wurde nicht in Stücke gerissen, sondern von der Wucht der Explosion getötet. Als seine Mutter in der Aufbewahrungshalle in Saignelégier vom «letzten Schweizer Terroristen» Abschied nahm, fragte sie den toten Sohn: «Warum hast du das getan? War das dein Leben wert?»

Sowjetische Truppen landeten in Kabul und setzten eine neue kommunistische Führung ein. Es war erst der Auftakt zu einem ­langjährigen Konflikt der das Vietnam der ­Sowjetunion ­werden sollte. Nach dem Abzug 1989 folgte bald einmal ein Bürgerkrieg und der Aufstieg der ­Taliban.

In den USA startete der erste Star-Trek-­Kinofilm: «Wieso arbeiten die Transporter der Enterprise nicht, Mr. Scott?» Marlon Brando ­brillierte in «Apocalypse Now» («Wie nennt man das, wenn Mörder Mörder anklagen?») und ­Ridley Scott inszenierte seinen ersten «Alien». Einer der bedeutendsten Surrealisten des 20. Jahrhunderts hatte das Monster erschaffen: der Schweizer H. R. Giger. Nach dem Oscar­gewinn (1980) erhielt er in der Heimat keine grosse Ausstellung mehr. Erfolg hat viele Neider.

© Basler Zeitung – Claude Cueni ist Schriftsteller und lebt in Basel.

#chronos (1958)

 

 Young-Pele-Magazine-Cover-Photo- 306-2 army--a Vertigo 300

«Spiel gut», riet der dänische Kunsttischler Ole Kirk Christiansen seinem Sohn Godtfred, als er ihm in den 30er-Jahren Holzbauklötze zum Spielen gab. Am 28. Juli 1958 meldete sein ­mittlerweile erwachsener Sohn das Steckprinzip für Spielbausteine zum Patent an. Als Markenname wählte er «Leg godt» (dt.: «Spiel gut»). ­Daraus wurde auf dem Patentamt das besser ­verständliche «Lego». Der Konzern erwirtschaftet heute einen Jahresumsatz von ca. 3,4 Milliarden Euro. Trotz einiger Produkteflops und Shitstorms von Gender-Expertinnen und Umweltaktivisten bewerfen auch heute noch Kinder ihre nicht erziehbaren Eltern mit Lego-Bausteinen und ­zwingen ihre Grosseltern, auf allen vieren nach vermissten Einzelstücken zu suchen.

Auf Spurensuche war auch Mount-Everest-Bezwinger Edmund Hillary, als er den Gipfel erreichte. Er hielt Ausschau nach Hinweisen auf eine eventuell frühere Ersteigung durch die vor 29 Jahren in Gipfelnähe verschollene ­Seilschaft von Mallory und Irvine. Er fand angeblich ­keinerlei Spuren. Einem Zweifler sagte er, dass es nicht darauf ankomme, wer als Erster oben war, sondern wer als Erster wieder unten war, lebendig.

Während auch in Europa während des «Kalten Krieges» Gefriertemperaturen erreicht wurden, erstarkte die Friedensbewegung und marschierte im weltweit ersten «Ostermarsch» auf das Gelände des Kernwaffen­forschungs-Zentrum in Aldermaston (Grossbritannien). Die ­«Campaign for Nuclear ­Disarmament» hatte dazu ­aufgerufen und dem britischen Künstler und Kriegsdienstverweigerer Gerald Herbert Holtom (1914 – 1985) den Auftrag erteilt, ein Logo zu entwerfen. Sein­ ­«Peace»-Zeichen wird heute weltweit als Friedenssymbol verwendet.

Weniger Probleme mit dem Kriegsdienst hatte Elvis Presley, der mit dem Truppentransportschiff General Randall in Bremer­hafen anlegte, um als Soldat einer ­Panzereinheit bei der in Deutschland stationierten US-Armee Wehrdienst zu leisten. Der damals grösste Star der Rock- und Popkultur wurde bei seiner Ankunft von kreischenden Fans frenetisch begrüsst.

Selfies waren noch nicht möglich. In Deutschland kam gerade das erste Autotelefon in den ­Verkauf, es kostete allerdings noch die Hälfte eines Neuwagens. Für Deutschland bedeutsamer war das neue Gleichstellungsgesetz, das Frauen fortan erlaubte, auch ohne die Zustimmung des Ehemannes einen Beruf auszuüben. Da Frauen nun weniger Zeit zum Kochen haben würden, brachte Knorr eine Fertigsuppe mit Champignons auf den Markt, «die wirklich den höchsten ­Anforderungen entspricht».

Den höchsten Anforderungen genügte auch der bisherige Ministerpräsident Charles de Gaulle, den die Franzosen mit grosser Mehrheit (78 Prozent) zum französischen Staats­präsidenten ­wählten. Charles de Gaulle bezeichnete sich selbst als Monarchist: «Je suis un ­monarchiste, la ­République n’est pas le régime qu’il faut à la France.»

«Einer allein fährt manchmal ohne Ziel herum. Zwei zusammen haben meistens ein Ziel» war eine Dialogzeile aus Alfred Hitchcocks ­«Vertigo» mit James Stewart und Kim Novak. Der Film wurde seinerzeit von Filmkritikern als «weit hergeholter Unsinn» bezeichnet und ist heute auf der S&S Liste als einer der besten Filme aller Zeiten aufgeführt. Jede Expertenschaft ist relativ.

Absolut sicher waren sich hingegen die ­Experten bei der Einschätzung eines 17-jährigen Brasilianers, der im WM-Finale gegen Schweden (2:5) zwei Tore zum Sieg beitrug. Nach 1283 Toren in 1364 Spielen sagte Fussballgott Pelé: «Ein Leben ohne Fussball kann ich mir nicht ­vorstellen. Ich hoffe, man kann auch im Himmel Fussball spielen…»

© Basler Zeitung 12.1.2016

#chronos (2008)

  58389 business-magazine-fidel-castro-small-60725 000001079454

Am 8. Januar 2008 rief der demokratische Senator Barack Obama anlässlich einer Rede im Bundesstaat New Hampshire zum ersten Mal: »Yes, we can!« Obwohl sein Wahlkampfmanager den Slogan »Change can believe in« festgelegt hatte, setzte sich der aus der Kinder TV Serie »Bob der Baumeister« entliehene Slogan durch. Drehbuchautor und Beatles Fan Keith Chapman (*1959) hatte den Zwischenruf am Ende des Songtextes »All you need ist love« genutzt. Der Slogan »Ja, wir können«, oder sinngemäss »Ja, wir schaffen es«, wurde darauf oft kopiert. Zuletzt von einer deutschen Physikerin, die tatsächlich glaubte, es gebe keine Obergrenzen.

»Yes, we can« muss sich auch Sotheby’s gedacht haben, als sie 2008 an einer Auktion die »Merda d’artista« des italienischen Konzeptkünstlers Piero Manzoni für 132.000 Dollar versteigerte. Der Künstler hatte 1961 neunzig nummerierte Dosen mit jeweils 30 Gramm seiner Fäkalien gefüllt und zum damaligen Goldkurs von 37 Dollar pro Unze verkauft. Piero Manzoni soll von seinem Vater, einem Dosenfabrikanten, dazu inspiriert worden sein als dieser beim Anblick seiner Kunstwerke sagte: »Deine Arbeit ist Scheisse.« Einer der Kunstsammler konnte nicht widerstehen und zerstörte die Dose, um Klarheit zu schaffen. Es war tatsächlich drinn, was draussen draufstand. Die zerstörte Dose wurde nicht wertlos, sondern zu einem neuen Kunstwerk: »Boîteouverte de Piero Manzoni«.

2008 lag der Unzenpreis für »das barbarische Relikt« nicht mehr bei 37 Dollar, sondern bei über 1000 US Dollar pro Feinunze Gold. Tage zuvor hatte die Investmentbank Lehman Brothers Insolvenz angemeldet und der US Börse den höchsten Tageseinbruch seit Bestehen des Aktienindexes beschert. Der Oelpreis stieg auf über 100 US Dollar (zurzeit unter 30). Die US Aufsichtsbehörde musste die vom Bankrott bedrohten Hypothekarbanken Fannie Mae und Freddie Mac retten.

Ein unglaublicher Fall von Inzest erschütterte die Weltöffentlichkeit: In Oesterreich war eine 40jährige Frau befreit worden, die von ihrem Vater 24 Jahre lang in einem Keller festgehalten und vergewaltigt worden war. Sie hatte während ihrer Gefangenschaft sieben Kinder geboren. Zwei Jahre zuvor hatte bereits der Fall der Oesterreicherin Natascha Kampusch ein weltweites Medienecho ausgelöst. Sie war als Zehnjährige entführt und acht Jahre lang festgehalten worden.

»Ich sterbe fast jeden Tag« spottete Fidel Castro in Anspielung an all die misslungenen Mordanschlägen, »das macht mir viel Spass und ich fühle mich dadurch nur gesünder«. Nach 49 Dienstjahren trat der am längsten regierende nichtmonarchische Herrscher des 20. Jahrhunderts von all seinen Aemtern zurück und übergab das Zepter seinem fünf Jahre jüngeren Bruder Raul. Er sollte das sozialistische Einparteiensystem weiterführen, obwohl seine Tauglichkeit längst von der Geschichte widerlegt worden war.

»I’m alone and I deserve to be all alone«, sagte der 56jährige Mickey Rourke in Darren Aronofskys Veteranen Drama »The Wrestler«. Der Film begeisterte 2008 die amerikanischen Kinozuschauer und bescherte dem Ex-Boxer (»Ich wollte wieder ein Mann sein«) einer seiner zahlreichen unerwarteten Comebacks auf der grossen Bühne. Bob Dylan schrieb über Mickey Rourke: »Er kann dein Herz mit einem einzigen Blick brechen.«

Die britische Sängerin Amy Macdonald erreichte mit ihrer Single »Mr Rock & Roll« die Chartsplazierungen im übrigen Europa. Sie besang die narzistische Selfie Generation: »So called Mr. Rock & Roll, Is dancing on his own again, Talking on his phone again«.

Realität versus Ideologie

Jugendliche-belaestigen-Frauen-in-Kairo-Archivbild-Manchmal muss man seine liebgewonnene Ideologie der Realiltät anpassen.

Als Muslima aufgewachsene Femen-Aktivistin Zana Ramadani: «Das Frauenbild, das uns in der Silvesternacht entgegenschlug, wird im gesamten islamischen Kulturkreis gelebt. In Mazedonien, wo ich herkomme, hätte unter Muslimen genau das Gleiche passieren können. Auch in Pakistan oder Bangladesch. In jedem islamischen Land hätte das passieren können und passiert dort auch täglich. Denn die Werte sind schuld an den Geschehnissen. Es sind die Werte des Islam.»

Die Zivilisastionsstufe einer Kultur ist an der Gleichberechtigung von Mann und Frau abzulesen.

#chronos (1954)

randNobelpreisträger Albert Einstein diente gläubigen Christen jahrzehntelang als Beweis, dass selbst die intelligentesten Menschen der Welt an einen Gott glauben. Doch 1954, ein Jahr vor seinem Tod, schrieb Einstein in einem Brief an den Philosophen Erich Gutkind: «Das Wort Gott ist für mich nichts als Ausdruck und Produkt menschlicher Schwächen, die Bibel eine Sammlung ehrwürdiger aber doch reichlich primitiver Legenden«, Religion sei eine «Inkarnation primitiven Aberglaubens». Sein Bekenntnis zum Atheismus wurde 2008 bei Bloomsbury für 207’600 Pfund versteigert und am 18. Oktober 2012 für drei Millionen und 100 Dollar weiterverkauft.

1954 klagte der Science-Fiction-Autor L. Ron Hubbard bei einem Autorentreffen in New York über die schlechte Bezahlung von SF-Autoren. Sein Kollege Harlan Ellison riet ihm, eine Religionsgemeinschaft zu gründen, um wenigstens Steuerbefreiung zu erlangen. Hubbard gründete die Firma «Scientology», nannte sie «Religionsgemeinschaft», seine späteren Mitarbeiter «Geistliche», sein Büro «Kirche» und schuf mit einer Science-Fiction-Story eine milliardenschwere Psychosekte, die labilen Jugendlichen mit überteuerten Kursen das Geld aus der Tasche zieht.

Wesentlich günstiger und unterhaltsamer war der Roman «Der Herr der Ringe», der 1954 in England unter dem Originaltitel «The Lord of the Rings» erschien. Autor John Ronald Reuel Tolkien verkaufte den grossen Klassiker der Fantasy-Literatur mittlerweile über 150 Millionen Mal.

Leider verlief auch das Jahr 1954, wie alle Jahre davor und danach, nicht ohne kriegerische Konflikte. Kaum hatte der Indochina-Krieg mit der Niederlage der Grande Nation geendet, begann Paris einen achtjährigen Kolonialkrieg gegen die algerische Widerstandsbewegung FLN. Die «französische Doktrin» der «schmutzigen Kriegsführung» erlaubte grausamste Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung und kostete rund einer Million Menschen das Leben.

Gemäss der Devise des römischen ­Schriftstellers Flavius Vegetius Renatus (ca. 390 n. Chr.), man müsse für den Krieg rüsten, wenn man den Frieden wolle, zündeten die USA nach «Ivy Mike» (1952), die zweite und bisher stärkste Wasserstoffbombe über dem Pazifik. Sie entsprach der 846-fachen Stärke der Hiroshima-Bombe, war aber noch nicht ausreichend, um den Planeten im Ernstfall gänzlich auszulöschen. Es wird weiter geforscht.

Der Kalte Krieg wurde auf allen Ebenen ­ausgetragen. US-Präsident Dwight D. Eisenhower unterschrieb den «Communist Control Act of 1954», der die Mitgliedschaft und Unterstützung der Kommunistischen Partei unter Strafe stellte. Da im gleichen Jahr mit der Fernsehnorm NTSC das Farbfernsehen eingeführt wurde, konnte man die McCarthy-Prozesse («Sind Sie oder waren Sie jemals…?») auch in Farbe mitverfolgen.

Zum beginnenden Übergewicht der amerikanischen Bevölkerung trug aber nicht nur das stundenlange Glotzen bei, sondern auch die Fastfood-Kette Burger King, die in Miami ihr erstes Schnellimbissrestaurant eröffnete.

Ein historischer Tag war der 11. April 1954. Der britische Programmierer William Tunstall-Pedoe hatte ermittelt, dass dieser Tag der langweiligste Tag des 20. Jahrhunderts gewesen sei, weil an diesem Datum die wenigsten bedeutenden Ereignisse stattgefunden hätten.

Aufregender war hingegen das erste Transistorradio von Texas Instruments, das kurz vor Weihnachten in die Läden kam. Der kleine Regency TR-1 brachte Elvis Presley mit dem alten Blue-Song «That’s All Right» in die Wohnzimmer. Es war der Beginn seiner Jahrhundertkarriere als Rock-’n’-Roll-Star.

Bild: 1954 präsentieren Wissenschaftler der RAND Corporation den Entwurf eines Home Computers, den sie für das Jahr 2004 prognostizieren

Wahlkampf auf den Philippinen

Weltwoche_duterte«Gott wird weinen»

Hier das Original PDF mit allen Bildern.

Claude Cueni

Auf den Philippinen, der ältesten Demokratie Südostasiens, stehen Wahlen an. Der Favorit für das Präsidentenamt rühmt sich, Teil von Todesschwadronen gewesen zu sein. Andere Kandidaten versprechen, mit Ausserirdischen zu kooperieren. Bericht aus einem Land, in dem Recht und Ordnung zusammengebrochen sind. Von Claude Cueni

Jose Larry Maquinana, 41, ist einer von aktuell 130 Kandidaten, die sich für das Amt des philippinischen Staatspräsidenten bewerben. Maquinana hält seine Wahlkampfreden in einem Hakenkreuz-Shirt und verspricht den knapp 100 Millionen Filipinos die stärkste Armee der Welt. Nicht minder irritierend ist Romeo John Ygonia, 51, der sich «Erzengel Luzifer» nennt und von einem mysteriösen Meister erkoren wurde, sein Land zu retten. Einer seiner Konkurrenten ist Allan Carreon, 43, Grillmeister bei der Fastfood-Kette «Wendy’s». Er verspricht, Kontakt zu Ausserirdischen aufzunehmen und sich von diesen beraten zu lassen. Psychiatrische Betreuung würde auch Arturo Pacheco Reyes, 65, brauchen, der sich als Nachkomme Moses sieht, der nun seine Landsleute ins gelobte Land führen wird. Hat ihn etwa Angela Merkel eingeladen?

Von den 130 Bewerbern hatten anfangs nur gerade vier ernsthafte Chancen: der amtierende Innenminister und Investmentbanker Mar Roxas II., Vizepräsident Jejomar Binay, Medienfachfrau Grace Poe und Rodrigo Roa Duterte, der seine Kandidatur erst in letzter Minute einreichte und laut Umfragen bereits in Führung liegt. Die Financial Times nennt ihn «Dirty Harry», Al-Dschasira spricht von ihm als «The Punisher». Duterte, 70, ist Rechtsanwalt und Politiker, arbeitete für Staatsanwaltschaft und Polizei, war 22 Jahre lang Bürgermeister von Davao City und verwandelte während seiner sieben Amtszeiten die kriminellste Stadt der Philippinen in die sicherste Stadt des Landes. Er war noch erfolgreicher als der New Yorker Bürgermeister Rudolph Giuliani III, der in seiner Amtszeit (1994–2001) mit seiner «zero tolerance»-Strategie die Kriminalität um 57 Prozent senkte. Duterte verspricht, die gesamten Philippinen von Korruption und Kriminalität zu befreien, mit Methoden, die Demokraten erbleichen lassen. Aber ist die älteste Demokratie Südostasiens überhaupt ein funktionierender Rechtsstaat?

Manndeckung bei Stimmabgabe

Die Stimmabgabe in den ländlichen Provinzen erinnert eher an die römische Antike, als die Kandidaten auf dem Forum ihre Tische aufstellten und den Bürgern ihre Stimme abkauften. Auf der Insel Negros kostet eine Stimme 250 Peso, also rund 5 Dollar. Der Captain des Barangay, der Gemeindepräsident, geht mit einem Kumpel von Haus zu Haus, verteilt Peso-Scheine und ringt jedem das Versprechen ab, für ihn zu stimmen. In den verarmten Provinzen mit ungenügender Strom- und Wasserversorgung nimmt man das Geld gerne an. Keiner würde es wagen, sein Versprechen am Wahltag zu brechen, bei der Stimmabgabe herrscht enge Manndeckung.

Eigentlich hätten die Filipinos gerne den abtretenden Präsidenten Benigno S.  Aquino III., behalten, aber das Gesetz verbietet eine zweite Amtszeit. Aquino III. ist der Sohn der vom Volk verehrten früheren Präsidentin Corazon Aquino II., die wiederum die Witwe des 1983 auf dem Flughafen erschossenen Oppositionsführers Benigno Aquino Jr. ist. Die Präsidentschaft des abtretenden Aquino III. lief unter dem Motto «Daang Matuwid» – der aufrechte Gang. Er hatte sich vorgenommen, während seiner Regierungszeit die Korruption zu bekämpfen. Gemäss einem früheren Finanzminister beträgt sie 50 Prozent des Staatshaushalts. Im Korruptionsindex von Transparency International belegen die Philippinen Rang 85. Zum Vergleich: Die Schweiz liegt auf Rang 5. Korruption ist auf den Philippinen Lifestyle, daily business. Der Familienclan steht über den Gesetzen, denn verlassen kann man sich nur auf die Familie. Symptomatisch war der «pork barrel»-Skandal im Jahr 2013, der zu landesweiten Demonstrationen führte. Viele Abgeordnete hatten Billionen Peso an Staatsmitteln Scheinorganisationen überwiesen, die wiederum die Billionen Peso diskret an die Abgeordneten zurücküberwiesen. Eine Filipina, die in einem Callcenter in Manila arbeitet, sagt: «Wir nennen unsere Abgeordneten ‹tongress men›: bestechliche Männer. Es ist denen egal, ob wir nichts zu essen haben. Niemand interessiert sich für uns.»

Aufgrund eines korrupten Staatsapparates, fehlender Rechtssicherheit und des Mangels an Sozialsystemen vertrauen Filipinos lieber dem Gesetz von «utang na loob», der gegenseitigen Dankbarkeitsschuld. «Tust du mir – oder der Cousine des Onkels meiner Schwägerin – einen Gefallen, ist es meine Pflicht, mich zu ‹revanchieren›.» So wäscht eine Hand die andere, wie das auch in Griechenland zum alltäglichen Durchwursteln gehört. Irgendwie ist jeder im Kommissionsgeschäft tätig. Selbst Polizeibeamte fühlen sich «utang na loob» mehr verpflichtet als dem Eid, den sie einst abgelegt haben.

Im November wurde publik, dass Flughafenangestellte in Manila beim Check-in Gewehrpatronen in die Koffer von Touristen schmuggeln und diese dann als Terrorverdächtige abführen. In einem Hinterzimmer kann man, ganz unbürokratisch, das Lösegeld entrichten. Ein Dauerärgernis sind auch die Zollbeamten, die sich immer wieder in den über siebzig Zentimeter grossen Balik-bayan-Boxen bedienen, die Expats nach Hause schicken.

Vor zwei Jahren wurden im Rahmen der Kampagne «Faule Eier in Uniform» 49 Polizisten der National Capital Region (NCR) gefeuert und 67 vom Dienst suspendiert. Vorgeworfen wurde ihnen Autodiebstahl, Erpressung von Drogendealern, Beschlagnahmung von Autos für den Privatgebrauch, Erpressung von Touristen, schwere Körperverletzung gegen Frauen und Kinder, Vergewaltigung, Totschlag und Auftragsmorde. Ein Killer in Uniform kostet gemäss einer Tageszeitung auf Cebu 45 Dollar. Nicht umsonst nennt man das Land den «Wilden Westen Asiens».

Die Philippinen sind heute ein verarmtes Drittweltland. Das war nicht immer so. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren die Philippinen nach Südkorea die zweitstärkste Wirtschaftsmacht Südostasiens, bis Ferdinand Marcos 1965 Präsident der Philippinen wurde und ab 1972 das Land als Diktator mit blutiger Hand zu regieren begann – worauf das Volk ihn 1986 zum Teufel jagte. Die USA flogen ihn nach Hawaii aus. Im Handgepäck hatte er 30 Milliarden Volksvermögen. Imelda kam als Witwe nach einigen Jahren zurück und lebt heute in Manila in einer der teuersten Attikawohnungen der Philippinen. Einem Reporter sagte sie: «Ich bin der Star und der Sklave der kleinen Leute, und es kostet mich weit mehr Arbeit und Zeit, mich für einen Besuch in den Elendsvierteln zurechtzumachen als für einen Staatsbesuch.»

Laut Unicef zählen die Philippinen zu den zehn Ländern weltweit, die die höchste Anzahl fehlernährter Kinder unter fünf Jahren haben. 22 Millionen Menschen sind täglich von Hunger betroffen, fast die Hälfte der Einwohner verdient weniger als einen Dollar pro Tag.

Feudale Strukturen

Das ist erstaunlich, denn eigentlich könnten die Philippinen mit einer BIP-Wachstumsrate von über 6 Prozent eine florierende Volkswirtschaft sein. Doch der Reichtum erfasst nicht die breiten Schichten: In der Landwirtschaft leben  45 Prozent der Menschen unter der Armutsgrenze. Der jährliche Vermögenszuwachs der vierzig reichsten Familien entspricht 76 Prozent des Bruttoinlandprodukts (im Vergleich zu Japan mit 3 Prozent). Es sind noch immer die feudalen Strukturen, die die spanischen Konquistadoren nach der Landung Magellans im Jahre 1521 installiert hatten, die das politische Bild prägen. Die Spanier hatten die Verwaltung der neuen philippinischen Kolonie lokalen Häuptlingen anvertraut und sie auf diese Weise in die Herrschaft eingebunden. (Mit Hilfe keltischer Fürsten hatte bereits Cäsar Gallien kolonialisiert.) Aus dieser einheimischen Spezies entstand die Principalía, eine einheimische Führungsschicht, verwöhnt mit Privilegien und Ländereien, die bis heute von Generation zu Generation weitervererbt werden. Als Geldeintreiber boten sich spanische Missionare an: Sie schwärmten in alle Landesteile aus, lernten die einheimischen Dialekte, predigten das Christentum und zogen Steuern ein.

Heidnische Christen

Heute regieren immer noch achtzehn weitverzweigte Familienclans mit spanischen Wurzeln die hundert Millionen Filipinos im fünftgrössten Inselstaat der Welt. Die Einheimischen begegnen diesem Umstand mit Gleichgültigkeit und wählen aus den Reihen der Principalía oft Schauspieler, Schlagersternchen, Sportler und sogar die Witwe Imelda Marcos und ihre Kinder in staatliche Ämter. Gemeinsam bilden sie die alten und neuen Kolonisatoren und geniessen den Schutz der mächtigen Bischöfe. Siebzig Prozent der Abgeordneten entstammen diesen Familiendynastien.

Aber wer vertritt die Menschen, die auf Müllhalden wie denen von Smokey Mountain oder Payatas leben? Tausende von minderjährigen scavengers (Aasfresser, Müllsammler) stochern mit Eisenhaken in den bis zu vierzig Meter hohen Müllbergen, um am Ende des Tages 50 Peso (ca. einen Dollar) verdient zu haben. Als eine kleine Filipina Papst Franziskus anlässlich seines Besuches weinend fragte, wieso Gott das alles zulasse, sagte er: «Lasst uns mit diesem Mädchen weinen.» Er hätte Thomas de Maizière zitieren können: «Ein Teil meiner Antwort würde dich nur verunsichern.»

Der wohl grösste Feind der Philippinen ist die katholische Kirche. Sie landete mit den spanischen Konquistadoren auf der Insel Mactan und startete hier die Christianisierung Südostasiens. Die meisten philippinischen Stämme (bis auf die Sippe des Nationalhelden Lapu-Lapu) nahmen die neue Religion achselzuckend an und beteten insgeheim weiterhin zu ihren Göttern, auch wenn diese nun andere Namen und Gesichter hatten. Ähnlich arrangierten sich auch die Kubaner nach dem Einfall der spanischen Konquistadoren. Die aus Afrika importierten Gottheiten wurden christlichen Heiligen zugeordnet. Nicht umsonst nennt man diese Christen «heidnische Christen», da ein Patchwork aus animistischen Religionen, Geistern, Aberglauben und Christentum ihren Alltag bestimmt. Die Religion ist, ähnlich wie im Nahen Osten, wo ein vorislamisches Religionsverständnis gelebt wird, der grösste Hemmschuh für Aufklärung und Innovationen. Zivilisatorische Fortschritte müssen stets gegen die Religion erkämpft werden. Wie viele Erfindungen der letzten 300 Jahre stammen aus nicht säkularisierten Ländern?

Es ist das Verdienst des abtretenden Präsidenten Aquino III., dass er sich gegen den erbitterten Widerstand der katholischen Bischofskonferenz durchsetzte und im drittgrössten katholischen Land der Welt das «Reproductive Health Law» einführte. Dieses erlaubt Sexualaufklärung an Schulen und den erleichterten Bezug von Verhütungsmitteln. Obwohl die Bischöfe wie üblich mit der Exkommunikation aller zustimmenden Kongressabgeordneten drohten, setzte sich die Regierung durch. Infolge Armut, religiöser Indoktrination und mangelhafter Bildung leiden die ländlichen Gegenden unter einer unkontrollierten Bevölkerungsexplosion. Arbeitslose Familien mit zehn Kindern sind keine Seltenheit. Die Kinder werden an Verwandte oder Nachbarn abgegeben, im schlimmsten Fall an die Sexindustrie ausgeliehen, oder sie fristen in den Städten ein armseliges Dasein als Strassenkinder ohne Zukunftsperspektive.

Für viele ausländische Investoren sind die Philippinen ein rotes Tuch: Sie dürfen lediglich 40 Prozent an einem Unternehmen halten und sind oft Nötigung oder Erpressung durch Polizeikräfte ausgesetzt. Geschichten von Polizeibeamten, die westliche Firmengebäude betreten und zwei Laptops, einen Flachbildschirm und vier iPhones einfordern, sind keine Seltenheit. Bis vor einigen Jahren exportierte das Land Reis. Nachdem die EU und die USA ihre eigene Reisproduktion subventionierten, brachen die Preise auf den Philippinen zusammen. Heute müssen die Philippinen teuren Reis importieren, und die Verursacher schicken «Entwicklungshilfe»; die Hälfte versickert wie üblich in den Taschen korrupter Politiker. Wenigstens der Tourismus könnte eine bedeutende Einnahmequelle sein, verfügen doch die Philippinen über paradiesische Sandstrände und Naturlandschaften von unglaublicher Schönheit. Aber Korruption und Kriminalität sind omnipräsent.

Wirtschaftliche Impulse kommen vorwiegend aus den Zentren in Manila und Cebu City, wo internationale Grosskonzerne für Arbeitsplätze sorgen. Allein der indische Branchengigant Aegis People Support beschäftigt in seinen Callcentern Tausende Filipinas. Im Zeitalter der Globalisierung gibt es immer ein Land, das noch billiger ist. Im Gegensatz zu den Inderinnen sprechen Filipinas das verständlichere amerikanische Englisch. Das kommt daher, dass sie die amerikanische Kultur lieben und konsumieren, sie wachsen mit US-Serien, US-Charts und Fastfood auf. Die Sympathie mag verblüffen, haben doch die Amerikaner während des Philippinisch-Amerikanischen Kriegs (1899–1902) rund eine Million Zivilisten getötet. Unter dem Kommando von 26 Generälen, die noch an den blutigen Indianerkriegen teilgenommen hatten, ermordeten sie 20 Prozent der philippinischen Bevölkerung. Oberbefehlshaber General Jacob H. Smith, ein Veteran des Wounded-Knee-Massakers, wollte die ganze Inselgruppe in eine «heulende Wildnis» verwandeln: «Ich wünsche keine Gefangenen. Ich wünsche, dass ihr tötet und niederbrennt; je mehr getötet und niedergebrannt wird, umso mehr wird es mich freuen.» No bad feelings. Diese Gleichgültigkeit gegenüber den Widrigkeiten des Schicksals prägt noch heute die philippinische Kultur, die wenig Interesse für Vergangenes zeigt: «Wieso soll ich mich für Geschichte interessieren, das ist ja schon vorbei.»

«Ich bin Teil der death squads»

Ohne die monatlichen Überweisungen der etwa zehn Millionen Menschen zählenden Diaspora könnten viele Grossfamilien nicht überleben. Während die Männer meistens auf See anheuern oder sich auf arabischen Ölfeldern verdingen, arbeiten die Frauen als Haushälterinnen in Asien, im Nahen Osten oder als Krankenschwestern in Europa und den USA. Die jährlichen Geldüberweisungen von knapp 20 Milliarden Dollar machen heute 9 Prozent des Bruttoinlandproduktes aus. Ein ehemaliger Chefarzt eines Schweizer Universitätsspitals sagt: «Filipinas gehören zu den zuverlässigsten Mitarbeiterinnen, man findet sie heute auch in Operationssälen und Führungspositionen. Bei den Patienten sind Filipinas äusserst beliebt.» Jene Filipinas, die in muslimischen Ländern wie Katar oder Saudi-Arabien arbeiten, nehmen sogar in Kauf, dass sie vom ganzen Clan jahrelang vergewaltigt werden und im Falle einer Anzeige auf dem Polizeiposten wegen ausserehelichen Verkehrs ins Gefängnis kommen. Glücklich sind jene, die in freie, säkularisierte Gesellschaften auswandern. Befragt man sie nach ihrem ersten Eindruck, erhält man stets ähnliche Antworten. Vier Genfer Filipinas, die einen Take-away-Stand betreiben, sagen: «Am Anfang war es ein Kulturschock. Hier ist alles sauber und geordnet. Es ist grossartig, wie ihr mit der Zeit umgeht, alles ist perfekt organisiert, hier fühlt man sich sicher.» Vielleicht sollte man ab und zu das eigene Land durch die Augen der Expats betrachten, um die Vorzüge eines funktionierenden demokratischen Rechtsstaates gebührend zu schätzen, denn «die gefährlichste Weltanschauung ist die Weltanschauung derer, die die Welt nie angeschaut haben» (Alexander von Humboldt).

Eine ewige Baustelle bleibt die Insel Mindanao im Süden der Philippinen. Sie ist seit dem 14. Jahrhundert muslimisch. Hier treibt ein chaotischer Haufen durchgeknallter philippinischer und indonesischer Terrorjunkies sein Unwesen. Sie nennen sich Abu Sayyaf, Moro National Liberation Front, Moro Islamic Liberation Front, Bangsamoro Islamic Freedom Fighters, legen Bomben in Warenhäusern, entführen Schmetterlingsjäger und Biologielehrer und solidarisieren sich abwechselnd mit al-Qaida und dem Islamischen Staat – und berufen sich stets auf den Koran. Immer mehr glauben, dass nur Rodrigo Roa Duterte all diese Probleme lösen kann. Wer also ist Duterte? In einem TV-Interview konfrontierte ihn die Moderatorin mit den Vorwürfen der Justizministerin Leila de Lima, die behauptet, er sei in Davao City für Hunderte von Morden der dortigen Todesschwadronen verantwortlich.

«Wie nahe stehen Sie den death squads?», fragte sie. «Ich bin Teil von ihnen», antwortete Duterte gelassen. Die Moderatorin hielt die Antwort für einen Scherz und fragte nach, ob es ihm ernst sei mit dem, was er da soeben gesagt habe. «Ja», sagte Duterte, «wir haben Davao gesäubert. Wenn einer in meine Stadt kommt und ein Kind vergewaltigt, erschiesse ich ihn.» – «Haben Sie selber Menschen getötet?» – «Ja», sagte er emotionslos, «wenn ich an der Reihe bin, dann gehe ich raus.» – «Sie kandidieren für das Amt des Staatspräsidenten. Falls Sie gewählt würden . . .» – «Dann würde ich nicht 500 töten, sondern 100 000. Und die korrupten Politiker in Manila werde ich auch töten und ihre Leichen in die Manila Bay werfen, um die Fische zu füttern, so dass die Fische fett werden. Gott wird weinen, falls ich Präsident werde.» Mit solchen Aussagen ist er Kult geworden. Man sagt, er sei ein «Mann mit Eiern», gradlinig, absolut unbestechlich, kompromisslos, ein «Dirty Harry» eben.

Zwei Freundinnen

Laut der letzten Umfrage des renommierten Meinungsforschungsinstituts SWS vom 28. November liegt Duterte mit 38 Prozent in allen Landesteilen und Einkommensschichten in Führung. Ein Konkurrent nach dem andern gerät ins Straucheln: Vizepräsident Jejomar Binay ist in einen Korruptionsskandal verstrickt, Grace Poe wurde nachträglich von der Wahlkommission ausgeschlossen, weil diese «plötzlich» Zweifel an ihrer reinrassigen Herkunft hatte. Dutertes letzter Konkurrent ist der vom amtierenden Präsidenten favorisierte Innenminister und Investmentbanker Mar Roxas II. Er liegt mit 15 Prozent weit abgeschlagen auf dem letzten Rang und schmiedet angeblich fleissig Intrigen. Kürzlich wurde Duterte vorgeworfen, er sei gleichzeitig mit zwei Frauen verheiratet und habe erst noch eine Freundin. Duterte antwortete, das sei nicht wahr, er habe zwei Freundinnen, und versprach: «I will not be like other presidents.»

Carlos Conde, Verantwortlicher für die Philippinen bei Human Rights Watch, bezeichnet Dutertes Popularität als Folge des Zusammenbruchs von Recht und Ordnung. Bei einer Wahl Dutertes fürchtet er einen Abbau der Menschenrechte. Dan Mariano, ein Politanalyst und Kolumnist in Manila, schreibt, dass die Kriminalität im Land am meisten Ängste schüre. Er traue dem «Punisher» zu, ein «game changer» zu sein. Über den weiteren Spielverlauf entscheiden die Philippinen am 9. Mai 2016.

Claude Cueni ist Schriftsteller und lebt in Basel. In seinem  im Herbst erschienenen Roman «Pacific Avenue» beschreibt er  zwei Reisen auf die Philippinen, eine im Jahre 1521 an Bord von Magellans «Trinidad» und eine im Jahre 2015 zu seiner  philippinischen Verwandtschaft (Wörterseh. 440 S., Fr. 36.90).

© Die Weltwoche; 17.12.2015