© NZZ – 06.05.2025- Benedict Neff
Da es sich um einen kostenpflichtigen Artikel handelt, kann ich leider nur die Kernsätze wiedergeben. Sehr lesenswert:
John Joseph Mearsheimer, 77, ist ein US-amerikanischer Politikwissenschaftler an der University of Chicago. Im Vorfeld der amerikanischen Wahlen von 2016 und 2020 erklärte Mearsheimer, den linken Kandidaten Bernie Sanders zu unterstützen.
Mearsheimer im Interview:
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Es steht ausser Frage, dass Russland in die Ukraine eingefallen ist, aber die entscheidende Frage ist, warum Putin so handelte. Der Grund war, dass er eine Nato-Erweiterung in die Ukraine als existenzielle Bedrohung ansah. Dies ist ein klassischer Präventivkrieg. Er wollte verhindern, dass die Nato Militärstützpunkte auf ukrainischem Boden errichtet. Das war für die Russen inakzeptabel. Genauso wie es für die Vereinigten Staaten inakzeptabel war, dass die Sowjetunion Raketen auf Kuba stationierte. John F. Kennedy machte den Sowjets während des Kalten Krieges klar, dass die Vereinigten Staaten militärische Gewalt anwenden würden, wenn sie die Raketen nicht entfernen würden. Und Putin machte klar, dass er militärische Gewalt anwenden würde, wenn wir die Nato-Erweiterung in die Ukraine nicht stoppen würden. Die beiden Situationen sind bemerkenswert ähnlich.
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Das Problem ist, dass die meisten Menschen im Westen die Nato-Erweiterung in die Ukraine nicht als existenzielle Bedrohung ansehen, aber das ist leicht gesagt, wenn man in der Schweiz sitzt. Wenn man jedoch Russland ist und eine Geschichte von Invasionen aus dem Westen hat, wird man nervös, man bekommt Angst. Und genau das ist passiert.
(…)Wir haben Putin provoziert, und er ist einmarschiert. (…) Im Februar 2022 war die Ukraine de facto Mitglied der Nato, und deshalb ist er zu diesem Zeitpunkt einmarschiert.
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Im Februar 2014, als die Krise ausbrach, war die Ukraine noch nicht nennenswert in die Nato integriert. Aber bis zum Februar 2022 hatte sich die Lage erheblich verändert. Die Vereinigten Staaten und die Europäer haben nach dem Februar 2014 die Ukrainer bewaffnet und ausgebildet. Der Grund, warum sich die Ukrainer nach Ausbruch des Krieges so gut geschlagen haben, ist, dass sie gut bewaffnet und gut ausgebildet waren. Und genau das hat Putin provoziert. Er hat verstanden, was vor sich ging. Die Russen haben im Vorfeld des Krieges versucht zu verhandeln, aber wir haben Verhandlungen abgelehnt.
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Die Europäer wollen sich nicht der Tatsache stellen, dass sie – zusammen mit den USA – für diese Katastrophe verantwortlich sind. Also haben sie diese Geschichte erfunden, dass er ein Imperialist sei und dass er darauf aus sei, die gesamte Ukraine zu erobern, um dann Gebiete in Osteuropa zu erobern und schliesslich Westeuropa zu bedrohen. So ist er in den Köpfen der grossen Mehrheit der Menschen in Europa und den Vereinigten Staaten der Bösewicht. Aber wenn man meiner Argumentation folgt, dann ist der Westen der Bösewicht. Und das wollen die Vereinigten Staaten und die Europäer natürlich nicht hören.
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Hätte es im April 2008 oder danach keine Bestrebungen gegeben, die Ukraine in die Nato aufzunehmen, wäre die Ukraine heute innerhalb ihrer Grenzen von vor 2014 intakt. Die Krim wäre heute Teil der Ukraine.
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Nehmen wir an, die Vereinigten Staaten und ihre Nato-Verbündeten geben der Ukraine Sicherheitsgarantien, dann geben sie der Ukraine im Grunde genommen eine Garantie nach Artikel 5.
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Ich hoffe, dass ich mich irre, aber ich halte es für fast unmöglich, dass wir ein sinnvolles Friedensabkommen erreichen werden. Ich glaube, dass dieser Krieg auf dem Schlachtfeld entschieden wird und dass wir am Ende einen eingefrorenen Konflikt haben werden.
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Tatsache ist, dass Trump kein Interesse an der Ukraine hat. Ja, dass er aus Europa raus will. Trump verachtet die Europäer. Er möchte, dass die Vereinigten Staaten sich Asien zuwenden. Trumps Wut auf die Europäer wird mit der Zeit noch wachsen. Und die Wut der Europäer auf Trump wird auch wachsen. Die Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und Europa werden sich während seiner restlichen Amtszeit verschlechtern.
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Sobald die Amerikaner nicht mehr die dominierende Kraft in der europäischen Sicherheitspolitik sind, werden die Europäer erhebliche Probleme haben, eine gemeinsame Handlungsfähigkeit zu entwickeln.