12 – 24 Weltwoche »Das Büro des Heilands«

Der Mann, hinter den blaugelben Bibelversen
 
Wie so viele Innovationen ist auch der Rohrreiniger Supiro der Nachlässigkeit seines Erfinders geschuldet. Aus Versehen hatte der junge Drogist Heinrich Rohrer 1951 einen Pinsel in einer Ätznatronlauge stehen lassen. Am Morgen war der Stiel noch da, die Haare verschwunden. Und schon hatte der Mann aus Münslingen die Idee für einen Siphonreiniger.
 
Er nannte sein Putzmittel Sipuro, eine Wortschöpfung aus den zwei ersten Buchstaben der Worte Syphon, Putzen und Rohrer. Der vielseitig Talentierte entwarf auch gleich seinen Markenbotschafter, einen fröhlichen Zwerg mit roter Zipfelmütze und schickte ihn später mit dem Slogan »Sipuro Oho!« ins Fernsehen. Er war einer der ersten Werbekunden von SRF.
 
Schon bald erweiterte er sein Sortiment und entwickelte Reinigungsmittel für Toilette, Backofen und Tafelsilber. Der Erfolg machte ihn zum Multimillionär.
 
Und dann geschah etwas, das die Betroffenen ein Erweckungserlebnis nennen. Heinrich Rohrer wurde innert Stunden gottesfürchtig, ein Christ mit einer Mission. 1985 gründete er die »Agentur C«, das »Büro des Heilands« und liess Bibelverse in den blaugelben Farben von Ikea auf F12-Plakate drucken. Einige Passanten fanden Gefallen daran und spendeten Geld für weitere Plakate.
 
Nach dem Verkauf der Firma standen genügend flüssige Mittel zur Verfügung um nach Rohrers Tod im Jahre 1998 eine Merchandising Schiene aufzugleisen. Im Angebot sind heute Regenschirme, Verskarten, Bibel und Zuckerbeutel, von denen bereits über eine Million (sechs Tonnen) produziert wurden. Das Besondere: Alles ist gratis. Jährlich kommen in etwa achtzigtausend Franken an Spenden zusammen.
 
Die mittlerweile über hunderttausend Plakate sollen »die Menschen zum Nachdenken« anregen, doch Verse wie »Du Gott siehst mich«, sorgen eher für Schmunzeln, weil man unwillkürlich an »Big Brother is watching you« denkt. Obwohl die Plakate harmlos sind, gibt es immer wieder Leute, die nicht verstehen wollen, dass Diversität auch bei Meinungen gilt. Sie zerstören Plakate, die nicht ihrer engkarierten Welt entsprechen.
 
Müsste ich einen Spruch aussuchen, würde ich ein Zitat wählen, das ursprünglich wirtschaftspolitisch gemeint war: »Leben und leben lassen«.

Cueni »Demokratie on Demand«

Die deutsche Ampelregierung beklagt, dass die »doofen« Ossis die Regierungspolitik »Gendergerecht gegen die Wand radeln« nicht verstanden haben. Die Ossis (seit ihrem Wahlerfolg allesamt Nazis)« haben die Politik sehr wohl verstanden. Sie erleben sie täglich. Die Schlagzeilen der letzten Tage: »Bankrott-Erklärung eines Staatsanwalts. Warum der Kopf-ab-Killer nicht abgeschoben werden soll. – Die gefährlichsten Messer Bahnhöfe. – Kopfschuss an Gleis 9. – Jahresbericht der Bundespolizei: Straftaten explodieren. – Iraker sticht Betreiber einer Asylunterkunft tot. – Gambier ersticht Somalier vor Supermarkt. – Messermord an Ex-Frau in Berlin. – Tote bei Messerattacke auf Stadtfest.« usw. usf. Man kann jetzt entweder das Problem lösen oder die Berichterstattung erschweren. Wer das Problem unter den Teppich kehrt, gerät selber unter den Teppich.

 

»Vieles, was Höcke & Co. (AfD) in Deutschland wollen, wird in der Schweiz längst gelebt«, schreibt Samuel Schumacher im Blick vom 3. September 2024. Und weiter: »Hinter der radikalen Wahlkampf Rhetorik versteckt sich ein erstaunlich gemässigtes Parteiprogramm. Vieles, was die «Alternative für Deutschland (AfD)» fordert, ist in der Schweiz längst Realität. (…) Radikal, rechtsextrem, nah bei den Nazis: Nach dem Glanzresultat der AfD in Thüringen und Sachsen hört das Klagen in Deutschland nicht auf – und die halbe Welt schaut tief besorgt auf unseren nördlichen Nachbarn.«

Ist die Demokratie in Deutschland in Gefahr?

Im Parteiprogramm der AfD lesen wir unter anderem folgende Forderungen: »Volksabstimmmungen nach Schweizer Vorbild«, »Direktwahl des Bundespräsidenten durch das Volk«. Dem Bayrischen Rundfunk sagte hingegen der stellvertretende Bundesvorsitzende der CDU, Armin Laschet: »Volksentscheide wird es nie und nimmer mit der CDU geben.«

Wenn man damit liebäugelt, demokratisch gewählte Parteien zu verbieten und Kritik an Regierungsmitgliedern strafrechtlich verfolgt, sind Demokratie und Meinungsfreiheit tatsächlich in Gefahr. Der deutsche Trend zur autoritären Staatsführung (DDR 2.0) ist unverkennbar, nicht selten führt sie zu totalitären Staatsführung.

Ob man seine liebgewonnene Weltanschauung der Realität anpasst oder nicht, ist Charaktersache. Das gilt auch für Bundesrat Beat Jans, der scheinbar noch einige Dutzend Messermorde abwartet, bis er sich getraut, seinem Umfeld mitzuteilen, dass er jetzt leider das tun muss, wofür Bundesräte gewählt werden: Grenzen und Einwohner schützen.

 

11 – 24 Weltwoche »Vegane Shrimps machen nicht satt.«

29.08.2024

3602 Anschläge inkl. LZ


Der Westschweizer Nahrungsmittelgigant Nestlé setzte auf Zeitgeist-Nischenprodukte statt auf den Massenmarkt. Es ergeht ihm wie Walt Disney, Budweiser und Adidas.


Gemäss einer repräsentativen Forsa-Umfrage ernährten sich im September 2023 3 Prozent der Deutschen vegan. Mark Schneider, der abrupt entlassene CEO von Nestlé, hatte viel Geld mit der Erforschung und Entwicklung von veganen Lebensmitteln verbraucht. Daran ist er natürlich nicht gescheitert, denn alle Nahrungsmittelhersteller im Premiumbereich litten infolge von Inflation und höheren Rohstoffpreisen an Umsatzeinbussen, weil sie die Preiserhöhungen den Endkunden aufbrummten und diese in der Folge zu Billiganbietern wechselten. Doch die veganen Shrimps und Eier des Deutschen Mark Schneider zeigen die Mentalität von CEOs, die woke Nischenprodukte höher gewichten als das Kerngeschäft mit umsatzstarken Massenprodukten. Für diese Philosophie bezahlt kein Verwaltungsrat seinem CEO ein Jahressalär von über 10 Millionen Franken.

Einfluss der Missionare

Doch Wokeness in Unternehmen ist nicht nur der Anbiederung an den Zeitgeist geschuldet. Die Rating-Agenturen bewerten heute Aktien nicht mehr ausschliesslich nach Ebit-Margen, Cashflow und Ausblick, sondern auch nach weichen Kriterien wie diversity, equity, inclusion, kurz DEI genannt. Diese Ratings sind wiederum verpflichtend für viele Fondsmanager. Ein Unternehmen mit lausiger Bilanz kann im Extremfall besser dastehen als eine solide Firma, die sich einen Deut um die Frauenquote im Verwaltungsrat schert.

Der Einfluss der zahlenmässig unbedeutenden Woke-Missionare auf die Mainstream-Medien ist erstaunlich und vielleicht so folgenreich wie seinerzeit der Hüftschwung von Elvis Presley. Dass sie mit ihrer Gebots- und Verbotskultur auch die Aktien-Ratings beeinflussen, können sie als grossen Erfolg verbuchen, denn gemäss den zahlreichen Online-Umfragen lehnen rund 85 Prozent der Befragten dieses penetrante wokewashing ab. Eine alte Regel besagt: Wer den Massenmarkt erreichen will, soll auf politische Botschaften verzichten. Sonst gilt: Get woke, go broke. Walt Disney crashte den Aktienkurs mit woken Neuverfilmungen um 40 Prozent, Budweiser verlor vorübergehend massiv an Börsenwert, und Adidas schrieb zum ersten Mal seit dreissig Jahren rote Zahlen.

Aktionäre glauben’s nicht

Der Zeitgeist hat ein Verfalldatum wie jedes Mandarinenjoghurt. Nach greenwashing ist nun auch wokewashing in den Grosskonzeren abgelaufen. Google und Meta haben laut CNBC 2023 ihre DEI-Programme gekürzt, Microsoft hat gleich sein ganzes DEI-Team entlassen, weil Diversität und Inklusion «nicht mehr geschäftsrelevant» sind. Das haben auch die Marketingabteilungen von Harley-Davidson, Jack Daniel’s, Johne Deere und Tractor Supply erkannt.

Der neue CEO Laurent Freixe war 2017 bei der Wahl von Mark Schneider zweite Wahl. Jetzt soll es der 62-Jährige richten. Nestlé-Verwaltungsratspräsident Paul Bulcke bestreitet, dass Freixe bloss eine Übergangslösung ist. Sollen wir glauben, dass Laurent Freixe seinen 80. Geburtstag als Nestlé-Angestellter feiern wird? Die Aktionäre glauben das nicht und schicken die im Vergleich zu den Mitbewerbern sowieso überbewertete Aktie nochmals einen Stock tiefer.

Auch der weiter andauernde Abfluss von Geldern in die Big Seven der IT-Branche wird Freixe keine Lorbeeren einbringen, und jene Grossaktionäre, die den CEO-Wechsel gepusht haben, werden jetzt wohl nach 2021 auf den Verkauf der restlichen L’Oréal-Aktien drängen. Nestlés Beteiligung von 20,1 Prozent entspricht 10 Prozent von Nestlés Marktkapitalisierung und würde die Rückkehr zum Kerngeschäft «Ernährung» unterstreichen. Dass Freixe nach eigenen Angaben Kitkat isst, wird nicht ausreichen.

Der Zeitgeist hat ein Verfalldatum. Nach «greenwashing» ist nun auch «wokewashing» abgelaufen.

10 – 24 Weltwoche »Friedenstauben unter Beschuss«

«We Are the World» sangen im Jahre 1985 drei Dutzend Künstler den von Michael Jackson und Lionel Richie komponierten Hit. Er wurde zur meistverkauften Single des Jahres.

 

«We Are Europe» meint wohl die deutsche Kriegstreiberin Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP), die man nicht mehr Kriegstreiberin nennen darf, wenn sie die Friedensmission von Ungarns Präsident Viktor Orbán kommentiert: «Er vertritt nicht Europa. Hinter ihm steht keiner.»

 

«Keiner», das ist gemäss den Umfragen die Mehrheit der Bevölkerung in Europa, der Ukraine und auch in den USA. Die Menschen wollen ein Ende des Krieges, reden statt töten. Sie wollen Gespräche, die eines Tages zu Friedensverhandlungen führen.

 

Für Europas Politiker-Elite besteht die EU jedoch nicht aus 448 Millionen Menschen, sondern aus EU-Abgeordneten, dem neuen Politadel. Kaum gewählt, haben sie für das Fussvolk nur noch Verachtung übrig und wechseln in den Selfie-Modus, vertreten nur noch, was ihrer Karriere zugutekommt und koppeln sich von den Menschen ab, die ihre fürstlichen Löhne und Privilegien bezahlen.

 

Den Krieg in der Ukraine verfolgen die Strack-Zimmermanns abends vor dem Fernseher wie eine neue Version des Gameklassikers Civilization. Auf schön gestalteten Landkarten markieren farbige Pixel Truppenverschiebungen.

 

Mittlerweile sind auf russischer und ukrainischer Seite fast eine Million Menschen gestorben oder verletzt worden. Wer schon einmal ein Familienmitglied verloren hat, weiss, welches Leid über Eltern, Ehefrauen und Kinder hereinbricht. Fehlt es Strack-Zimmermann, die im Februar am Rande der Münchener Sicherheitskonferenz im spassigen Taurus-T-Shirt posierte, etwa an Empathie?

 

Friedenstauben weht ein rauer Wind entgegen. Sie werden wie Moorhühner abgeschossen. In den 1970er-Jahren galten Pazifisten als linke Moralisten, wenn sie für «Give Peace A Chance» und «Make Love Not War» demonstrierten. Doch heute lehrt uns der Mainstream, dass auch die Moral dem Zeitgeist unterliegt.

 

Friedensengel gelten nun als Rechte, als Rechtsextreme oder gar als Dreiviertel-Nazis und wenn Orbán das tut, was eigentlich die Schweiz hätte tun können – (als sie noch neutral war) – wird versucht, der ungarischen Friedenstaube die Flügel zu stutzen. Weil sie Orbán heisst. Egal was er tut oder sagt, es ist des Teufels, weil Orbán immer Orbán ist. Selbst wenn er etwas Gescheites tut. Obama erhielt 2009 für weniger den Friedensnobelpreis.

 

Die Welt ist nicht schwarz-weiss. Auch wenn Fairplay in der Politik ein Fremdwort ist, muss man Orbán zugutehalten, dass er es wenigstens versucht. Vielleicht sollten seine Kritiker, insbesondere jene, die beim Nato-Gipfel in Washington für die Fotografen posieren, selber an die Front. Gemeinsam mit Putin.

09 – 24 Weltwoche Interview mit Bischof Bonnemain

«Neutralität ist nicht Gleichgültigkeit»

Joseph Maria Bonnemain ist vielleicht der ungewöhnlichste Bischof der Schweiz. Der Churer Hirte ist nicht nur Theologe, sondern auch Arzt, Jurist und Bodybuilder. Hier spricht er über Gott und die Welt, die Liebe, den Tod und den Sinn des Lebens.


 

Chur

Im Hof des bischöflichen Schlosses in Chur werden meine Frau Dina und ich von einem freudig lächelnden Mann erwartet, der alles verkörpert, was er von der Kirche verlangt: Schlichtheit, Demut, Bescheidenheit. Er hat stets den Schalk in den Augen, doch bei grossen Themen wirkt er ernst und entschlossen. Er mag Menschen und ihre Gesellschaft, und die Besucher kommen nicht darum herum, diesen sympathischen Menschen zu mögen. Er hat das, was sich viele wünschen: Charisma.

Joseph Maria Bonnemain ist der 89. historisch nachweisbare Bischof des Bistums Chur. Hier residierten einst Bischöfe, die auch Fürsten waren und ihre geistliche Macht zur Ausweitung ihrer territorialen weltlichen Herrschaft einsetzten. Hier herrschten Bischöfe, die sich auch mal gegen aufgebrachte Gläubige verteidigen oder dem regionalen Adel Paroli bieten mussten. Der historische Esssaal ist bereits für drei Personen gedeckt. In diesen Gemäuern entstand Mitte des 16. Jahrhunderts das älteste Kochbuch der Schweiz, mit 515 Rezepten.

Weltwoche: Bischof Bonnemain, Sie sind 1948 in Barcelona geboren. Ihr Vater war Jurassier. Wäre es an der EM zum Spiel Schweiz gegen Spanien gekommen, wen hätten Sie unterstützt?

Joseph Maria Bonnemain: Ich fiebere mit der Schweiz. Seit meiner frühesten Kindheit hat mir mein Vater seine Liebe zur Schweiz mitgegeben. Ich kann nicht alle Matches anschauen, mir fehlt dazu die Zeit. Aber ich versuche, den Stand der Spiele zu verfolgen. Den Match Schweiz-Italien konnte ich im Public Viewing «Calanda Arena» in Chur verfolgen. Ich habe es wirklich genossen und den Sieg der Schweiz dort mitgefeiert.

Weltwoche: Wir beobachten oft, wie sich Spieler beider Mannschaften beim Betreten des Rasens bekreuzigen oder nach einem Tor dankend zum Himmel hinaufschauen. Schiesst Gott Tore?

Bonnemain: Nein. Gott will, dass alle Menschen Sieger werden. Er hat nicht dieselbe Logik wie die Menschen hier auf Erden.

Weltwoche: Wie wichtig ist Sport in Ihrem Leben? Mit 76 sehen Sie fitter aus als mancher Sechzigjährige. Bis zur Bischofswahl stemmten Sie regelmässig Hanteln im Fitnessstudio, heute kommen Sie seltener dazu. Der Gesundheit zuliebe? Oder weil Sie die Ausschüttung des «Antriebshormons» Dopamin in eine positive Stimmung versetzt?

Bonnemain: Tatsächlich sind die Entwicklung und die Erhaltung der Muskulatur wichtig für die physische und psychische Gesundheit. Daneben gehört auch eine Portion Eitelkeit dazu – das leugne ich nicht.

Weltwoche: Betrieben Sie bereits als Teenager Krafttraining?

Bonnemain: Nein, damals spielte ich Fussball und Volleyball, machte regelmässig Jogging und bin oft schwimmen gegangen. Seit mehr als dreissig Jahren mache ich Krafttraining. Schwimmen kann ich nur noch in den Ferien, und für Jogging bleibt mir leider keine Zeit mehr.

Weltwoche: Nach 1967 kamen Sie als Neunzehnjähriger in die Schweiz und studierten an der Universität Zürich Medizin und promovierten dort. In diesem Alter verliebte sich Papst Benedikt XVI. in eine Studentin. Papst Franziskus erzählte einmal, dass ihm während seiner Studienzeit eine Studentin «für eine Woche den Kopf verdreht» habe. Wie war das beim Studenten Joseph Bonnemain?

Bonnemain: Ich war sehr in Blanca verliebt. Ich stellte mir eine kinderreiche Familie vor. Aber schliesslich ist es – wie man weiss – anders herausgekommen.

Weltwoche: Wann reifte der Entschluss, Priester zu werden? Wieso wurden Sie nicht Arzt?

Bonnemain: Ich war glücklich als Arzt in Zürich tätig. Als Mitglied des Opus Dei hatte ich mich dafür entschieden, mitten im Alltag und im Berufsleben die Nachfolge Christi konsequent zu leben. Gleichzeitig wollte ich offen sein für all das, was Gott in meinem Leben vorhaben könnte. Als 1975 der Gründer des Opus Dei mich fragen liess, ob ich bereit wäre, für das Studium der Theologie nach Rom zu gehen, habe ich ja gesagt. Später Priester zu werden, war dann eine logische Folge meiner Bereitschaft.

Weltwoche: In Rom studierten Sie Philosophie und Theologie, in Navarra Kirchenrecht. Sie sprechen fünf Sprachen, haben zwei Doktortitel und waren bis 1991 Mitglied der Delegation des Heiligen Stuhls bei der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Genf. Das schafft Neider. Viel Feind, viel Ehr’?

Bonnemain: Weder Neid noch Ehr’. Wie Paulus schreibt, ergänzen sich die verschiedenen Charismen und Fähigkeiten. Im christlichen Leben versuchen wir, mit dem, was wir haben und können, nützlich für die anderen zu sein. Gross ist nur, was man aus Liebe tut und in Liebe. Alles andere ist vergänglich, banal, Schall und Rauch.

Weltwoche: Papst Franziskus ernannte Sie im Februar 2021 zum Bischof von Chur. Elf Domherren waren dagegen, die Hälfte des Wahlgremiums. Der Widerstand der Konservativen gegen Sie ist geblieben, inner- und ausserhalb der Schlossmauern. Muss ein Bischof morgens im Bett bleiben, will er es allen recht machen?

Bonnemain: Konservativ und progressiv sollten in der Kirche keine Kriterien sein. Katholisch heisst: allumfassend. Papst Franziskus wiederholt oft, dass es in der Kirche Platz für alle gebe, dass alle in der Kirche willkommen seien. Ich wäre ein komischer Bischof, wenn ich die Gläubigen – innerhalb und ausserhalb der Schlossmauern – in Feinde und Freunde einteilen würde. Ich bin für alle da, und ich erlebe viel Wohlwollen seitens der Mehrheit der Gläubigen im Bistum. Ich erneuere meine Hoffnung tagtäglich, auch das Herz jener erreichen zu können, die mit meinem seelsorglichen Wirken noch nicht zufrieden sind.

Weltwoche: Sie haben 37 Jahre als Spitalseelsorger gearbeitet und Todkranke und Sterbende begleitet. Was bereuen Menschen am Ende ihres Lebens am meisten?

Bonnemain: Jeder Mensch ist einmalig. Was ein Mensch in der Sterbestunde im Herzen empfindet, bleibt ein Geheimnis. Ich würde dennoch sagen, dass das, was viele Menschen in jener Stunde belastet, ist, mit Ihren Lieben noch nicht Versöhnung und Frieden geschlossen zu haben.

Weltwoche: Werden Nichtreligiöse plötzlich religiös? Oder ist es so, dass eh nur Religiöse Ihren Beistand wünschten?

Bonnemain: Was heisst religiös sein? Wir bleiben im Leben Suchende, bis zuletzt. Gerade diese Sehnsucht, diese Suche verbindet uns mit dem Geheimnis des Lebens und der Ewigkeit. Im Spitalalltag hatte ich mit vielen verschiedenen Menschen zu tun – auch bezüglich Religiosität –, und ich durfte von allen lernen.

Weltwoche: Die französische Autorin Colette sagte einst: «Hatte ich doch ein wunderschönes Leben, hätte ich das bloss früher gewusst.» Waren das auch schon mal Ihre Gedanken?

Bonnemain: Es wäre wunderbar, wenn ich einmal meine Tage auf Erden nur noch mit einem aufrichtigen Dank abschliessen könnte. Eine Frage beschäftigt mich aber immer mehr: Warum bin ich in einem Land, in dem alles vorhanden ist, wo Frieden herrscht und Wohlstand, mit einer herrlichen Landschaft, hingegen Abermillionen Menschen ihr Leben lang unter äusserst prekären Umständen, mitten in Krieg, Armut und Leiden, leben müssen? Werde ich dafür nicht Rechenschaft ablegen müssen? Wird mich Gott nicht fragen, wofür hast du dein Leben eingesetzt?

Weltwoche: Wir leben im Zeitalter der Individualisten. Alles wird personalisiert, vom T-Shirt bis zur Medizin, jeder will Influencer sein und lechzt nach fünfzehn Minuten Ruhm. Ist es überhaupt noch möglich, die Wünsche von Konservativen und Reformern unter einen Hut zu bringen, bevor sich die christliche Gemeinschaft in spirituelle Ersatzreligionen aufsplittert?

Bonnemain: Unsere Zeit hat den Menschen nicht neu erfunden. Seit dem ersten Schöpfungsmorgen neigt der Mensch dazu, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Gleichzeitig aber erahnt er, dass er nur im Du und im Wir seine Verwirklichung findet. Der Mensch ist Beziehung und Kommunikation. Echte Kommunikation ist immer persönlich. Die ganze virtuelle, hybride Kommunikationspalette wird dem nicht gerecht und kann uns letztlich nicht erfüllen. Jesus hat nicht für sich selbst gelebt und ist nicht für sich selbst gestorben. Sein Testament war und ist: Liebt einander, wie ich euch geliebt habe. Diese Botschaft ist auch heute höchst aktuell. Wir brauchen keine Ersatzreligionen, sondern die Frische des Urchristentums.

Weltwoche: Haben heute junge Influencerinnen auf Tiktok mehr Einfluss als erfahrene Seelsorger auf der Kanzel?

Bonnemain: Je nachdem, was Influencerinnen auf Tiktok und was erfahrene Seelsorger auf der Kanzel mit ihrem Leben und Vorbild ausstrahlen. Wir brauchen eine Pandemie des Guten, der Liebe. Jeder, der solche Viren in sich trägt, ist ein Segen für die Welt, ganz egal, auf welchem Kanal er sendet.

Weltwoche: Den Kirchen laufen die Gläubigen davon. Verlieren die Menschen den Glauben an Gott oder den Glauben an die Institution?

Bonnemain: An eine Institution braucht niemand zu glauben. Die Kirche ist viel mehr als eine Institution oder eine Organisation. Die Kirche ist entstanden, als die Ersten sich so sehr von Jesus Christus angezogen fühlten und ihm bedingungslos nachfolgten. Das war nicht sosehr ein menschliches Tun, sondern die Wirkung des Heiligen Geistes. Deswegen hat die Kirche Zukunft.

Weltwoche: Um Bücher zu schreiben, braucht man keine Mitgliedschaft in einem Schriftstellerverband. Braucht es eine Kirche, um an Gott zu glauben?

Bonnemain: Ich erwähnte bereits, dass der Mensch Beziehung ist. Man braucht keine Kirche, um an Gott zu glauben. Aber alle, die an Gott glauben, erahnen, dass sie mit den anderen, die ebenfalls glauben, verbunden sind. Es gibt keinen Glauben purer Individualisten. Der Glaube öffnet das Herz für andere, und die anderen öffnen uns das Herz für Gott. Gott ist ein mütterlicher Vater aller Menschen. Die Menschen, die an ihn glauben, tragen bereits den Keim der Kirche in ihrem Herzen.

Weltwoche: 2000 Jahre nach dem griechischen Philosophen Epikur und 300 Jahre vor Auschwitz fragte sich auch der schottische Philosoph David Hume, wieso Gott so viel Leid zulasse: «Möchte Gott Böses verhindern, kann es aber nicht, dann ist er impotent, könnte er es, tut es aber nicht, dann ist er bösartig.» Was antworten Sie Epikur, Hume & Konsorten?

Bonnemain: Würde ich denken, die Antwort auf das Vorhandensein des Bösen und des Leidens zu haben, wäre ich naiv. Ich hätte nicht viel von Gott und den Menschen verstanden. Es bleibt ein Rätsel. Dennoch: War Christus am Kreuz wirklich absolut ohnmächtig? Oder offenbarte er nicht genau dort die Allmacht der Liebe? Gott hat sich dafür entschieden, keine märchenhafte Welt hervorzuzaubern, sondern eins zu werden mit den Abgründen des Menschlichen, um gerade dort im tiefsten Abgrund, den unsichtbaren Samen der Liebe einzupflanzen. Indem wir glauben, wissen wir, dass sich am Ende der Zeiten das Gute durchsetzen wird. Es geht um die Wahrheit über die Freiheit des Menschen. Wir tragen die Verantwortung, dass es weniger Leid und Böses auf der Welt gibt. Der Glaube ans Jenseits ist keine billige Vertröstung, sondern ein kräftiger Ansporn, alles zu tun, damit die Welt menschlicher wird.

Weltwoche: Meine philippinische Ehefrau kam vor vierzehn Jahren in die Schweiz. Bevor sie in den Flieger stieg, fragte sie, ob in der Nähe meines Wohnorts eine Kirche sei. Das sei sehr wichtig für sie. Als sie nach ein paar Jahren realisierte, dass im Raum Basel die Mehrheit religionslos ist und trotzdem das wesentlich bessere Leben hat, verlor sie schrittweise ihren Glauben. Können Sie das nachvollziehen?

Bonnemain: Ich würde nicht wagen, zu behaupten, dass Ihre Frau ihren Glauben verloren hat. Vielleicht hat sich ihre frühere Sicht des Glaubens verändert. Wir sind und bleiben alle Suchende. Wir tragen alle unsere Kirche im Herzen. Selbst die grössten Errungenschaften einer guten, entwickelten, modernen Gesellschaft können dem, was wir Menschen im Tiefsten suchen, nicht genügen. Wir suchen eine Liebe, die uns unendlich erfüllt und nicht verrät. Eine Schönheit, die nie verwelkt, eine unendliche Harmonie ohne Misstöne, eine Fülle ohne Ende, eine Wahrheit ohne jegliche Spur von Lüge, eine Weisheit, die alle Fragen beantwortet.

Weltwoche: Im Buch Henoch, das angeblich ursprünglich zum Alten Testament gehörte, wird beschrieben, wie die Götter ihre Söhne als Wächter auf die Erde schicken und diese mit Erdenfrauen Kinder zeugen, die Nephilim, die riesenhaften Helden der Antike. Was halten Sie vom Buch Henoch?

Bonnemain: Meines Wissens gehörten die apokryphen Henoch-Bücher nie zum christlichen Kanon der Bibel; nur die Gestalt Henochs kommt in unserer Bibel vor. Auf jeden Fall darf man die Bibel nicht buchstäblich verstehen. Es gibt verschiedene Kriterien der Interpretation, die beachtet werden müssen. Man muss die Gattung des Buchs berücksichtigen, den historischen Kontext, die Absicht, mit der das Buch geschrieben wurde, die Parallelstellen vergleichen und so weiter. Vieles im Alten Testament kann man nur im Licht des Neuen Testaments richtig deuten.

Weltwoche: Papst Franziskus bezeichnete die Nato-Osterweiterung als «Bellen vor der Haustür». Mittlerweile geben US-Senatoren öffentlich zu, dass sie mit dem provozierten Stellvertreterkrieg Russland schwächen und ihre Industrie erneuern. Sollte sich die Kirche vermehrt politisch äussern?

Bonnemain: Je nachdem, was man unter Kirche versteht. Jeder Christ und jede Christin trägt eine ethische und politische Verantwortung. Der Glaube dispensiert uns nicht, uns politisch zu engagieren, im Gegenteil. Dieses persönliche Engagement sollte aber nicht als die grundlegende Position der Weltkirche deklariert werden. Jeder ist im Gewissen frei, auch im politischen Bereich. Zugleich bleibt die Kirche eine moralische und ethische Instanz. Sich für Freiheit und Frieden, für die Menschenrechte, für Gerechtigkeit und die Bewahrung der Schöpfung sowie für das menschliche Leben und seine unantastbare Würde und viele andere Werte einzusetzen, gehört zum Auftrag der Kirche. Das hat mit Politik zu tun.

Weltwoche: Die Schweiz hat mit der Übernahme der Sanktionen ihre Neutralität aufgegeben. Sollte sich der Vatikan als neutrale Plattform für Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine anbieten?

Bonnemain: Neutralität ist nicht Gleichgültigkeit. Wir dürfen gegenüber menschlichem Leiden, Aggressionen und Ungerechtigkeiten nicht gefühllos bleiben. Neutralität verstehe ich als Position zugunsten der Menschlichkeit, der Vermittlung, des Friedens. Es ist kein minimales Engagement, sondern ein maximales. So viel ich weiss, hat der Vatikan von Anfang an versucht, zu vermitteln, damit der Aggressionskrieg Russlands gegen die Ukraine endet, damit ein anhaltender Friede erreicht werden kann.

Weltwoche: Der Kriegsreporter Peter Scholl-Latour sagte einst, er fürchte nicht den Islam, sondern die Schwäche des Westens. Ist die als Toleranz kaschierte Feigheit und Ängstlichkeit des Westens langfristig eine Gefahr für Christen in Europa, wie sie bereits eine Gefahr für Juden in der westlichen Welt ist?

Bonnemain: Fundamentalismus, Fanatismus, Extremismen und ideologische Nationalismen sind echte Gefahren für die Menschheit, auf allen Seiten. Toleranz, Meinungsfreiheit, Pluralität, die Überzeugung einer universellen Geschwisterlichkeit und die Heilkraft der Vergebung und der Versöhnung sind die einzigen Mittel, unsere Welt langfristig zu retten. Aggression, Hass und Vergeltung können nicht mit Aggression, Hass und Vergeltung überwunden werden.

Weltwoche: Am 26. Juli feiern Sie Ihren 76. Geburtstag. Wie feiert der Bischof von Chur?

Bonnemain: Am Nachmittag empfange ich voll Freude hier in Chur siebzig Velofahrende, die zwischen La Brévine NE, dem kältesten Ort der Schweiz, und dem heissesten Ort der Schweiz, Grono GR, unterwegs sind. Das ist mein Tag.

Weltwoche: Ungefähr in drei Jahren endet voraussichtlich Ihre Amtszeit. Werden Sie den Papst um Verlängerung bitten?

Bonnemain: Um keine Sekunde. Ich werde aber, solange er der Ansicht ist, dass ich brauch- und tragbar bin, weiterwirken.

Weltwoche: Papst Franziskus hat Luis Tagle, den ehemaligen Erzbischof von Manila, nach Rom geholt. Bis 2022 war dieser als Kardinalpräfekt der Kongregation für die Evangelisierung der Völker zuständig. Er gehört wie auch Papst Franziskus und Sie zu den bodenständigen Würdenträgern, die Bescheidenheit und Demut vorleben. Wird Kardinal Tagle eines Tages der Oberhirte von zwei Milliarden Christen?

Bonnemain: Ich bin kein Prophet und überlasse die Orakel den sogenannten «Vatikanisten». Ich habe Verschiedenes von Kardinal Tagle gelesen und bin von seiner Schlichtheit und Bescheidenheit beeindruckt. Seine grosse Fähigkeit, mit einfachen Worten und Bildern die Frohbotschaft an den Menschen zu bringen, bewundere ich. Würde er Papst werden, würde ich mich freuen.

Weltwoche: Mögen Sie jetzt noch den Standardfragebogen der Weltwoche beantworten?

Bonnemain: Ich will’s probieren.

Weltwoche: Was ist der Sinn des Lebens?

Bonnemain: Lieben zu lernen und glücklich zu sein.

Weltwoche: Was ist die grösste Ungerechtigkeit auf Erden?

Bonnemain: Einige Menschen als wertvoller als andere einzustufen.

Weltwoche: Worauf freuen Sie sich jeden Tag?

Bonnemain: Die Möglichkeit zu haben, allen zu sagen, dass Gott uns liebt.

Weltwoche: Welche Ihrer wahrhaftigsten Überzeugungen würden nur die wenigsten Menschen mit Ihnen teilen?

Bonnemain: Dass wir nur das haben, was wir restlos schenken.

Weltwoche : Wovon träumen Sie?

Bonnemain: Von einer Welt, in der sich alle lieben.

Weltwoche: Gibt es ein Leben nach dem Tod?

Bonnemain: Viel mehr als das: Das hundertprozentige Leben beginnt nach dem Tod.

Weltwoche: Was ist das Wichtigste im Leben eines Bischofs?

Bonnemain: Dasselbe wie im Leben eines jeden Menschen – dass er versucht, Gott und den Nächsten zu lieben.

Weltwoche: Mit wem würden Sie bei einer Tasse Kaffee am liebsten diskutieren? Worüber?

Bonnemain: Mit Wladimir Putin – über sein Weltbild.

Weltwoche: Wer oder was inspiriert Sie am meisten?

Bonnemain: Jesus Christus.

Weltwoche: Was ist das grösste Missverständnis, das über Sie in Umlauf ist?

Bonnemain: Dass ich alleine die Kirche verändern kann.

Weltwoche: Wenn Sie für einen Tag allein bestimmen könnten in der Schweiz, was würden Sie sofort ändern?

Bonnemain: Unser Zögern, die eigene Komfortzone zu verlassen.

Weltwoche: Womit kann man Sie auf die Palme bringen?

Bonnemain: Es braucht viel, bis man mich auf die Palme bringt. Ich ertrage aber nur schwer, wenn man anderen gegenüber lieb- oder respektlos wird.

Weltwoche: Womit kann man Ihnen eine Freude bereiten?

Bonnemain: Fast alles bereitet mir Freude, vor allem wenn Menschen miteinander liebevoll umgehen.

Weltwoche: Was ist der beste Rat, den Sie je bekommen haben?

Bonnemain: Was anscheinend der Schutzengel Papst Johannes XXIII. gesagt hat: «Giovanni, non prenderte troppo sul serio.» («Giovanni, nimm dich nicht zu ernst.»)

Weltwoche: Was würden Sie dem fünfzehnjährigen Joseph Maria Bonnemain heute raten?

Bonnemain: Sei nicht so eingebildet, und denke nicht, dass die anderen vor dir keine Ahnung «von Tuten und Blasen» gehabt hätten.

Weltwoche: Welche historischen Persönlichkeiten bewundern Sie?

Bonnemain: Thomas Morus, Albert Schweitzer und Mutter Teresa von Kalkutta.

Weltwoche: Welcher Mensch bekommt nicht die Anerkennung, die er verdient?

Bonnemain: Derjenige, der überzeugt ist, keine Anerkennung zu verdienen.

Weltwoche: Was ist das Schönste an der Schweiz?

Bonnemain: Der Friede und die Bereitschaft zum Kompromiss.

Weltwoche: Welches Ziel möchten Sie noch erreichen?

Bonnemain: Etwas beizutragen, dass viele Menschen glücklich werden können.

Weltwoche: Was macht das Leben lebenswert?

Bonnemain: Die Gemeinschaft.

Weltwoche: Bischof Bonnemain, danke für dieses Gespräch.

«Ich war sehr in Blanca verliebt. Ich stellte mir eine kinderreiche Familie vor. Aber schliesslich kam es anders.»

«Wir brauchen eine Pandemie des Guten, der Liebe.»

«Gibt es ein Leben nach dem Tod?» –

«Mehr als das: Das hundertprozentige Leben beginnt nach dem Tod.»

«Gott ist ein mütterlicher Vater aller Menschen»: Seelsorger Bonnemain.

«Bereitschaft zum Kompromiss»: Bischof Bonnemain, Autor Cueni (l.).

08 – 2024 Weltwoche: »Dinner for One auf dem Bürgenstock«

Im Mai vor zwei Jahren gab Papst Franziskus der Nato eine Mitschuld an Russlands Aggression. Er nannte es «Bellen vor der Haustür». Shitstorm. Hatte man schon vergessen, wie die USA reagierten, als die damalige Sowjetunion während der Kubakrise 1962 vor der amerikanischen Haustür bellte?

Papst Franziskus stand mit seiner Kritik nicht allein. Der damalige Bundesrat Ueli Maurer behauptete im August 2022, der Krieg in der Ukraine sei ein «Stellvertreterkrieg». Grosser Shitstorm. Und ein Jahr später schrieb Peter Bodenmann (SP): «Wer einen Krieg finanziert, entscheidet auch über dessen Ende. Und wer Kriege nicht gewinnen kann, sollte sie möglichst schnell beenden.» Im März 2023 sprach Alain Berset (SP) von einem «Kriegsrausch», den er in «gewissen Kreisen» spüre.

Heute wissen wir, sie hatten alle recht. Sie sagten es bloss zu früh.

Eine «Friedenskonferenz» auf dem Bürgenstock soll es nun richten, doch ein «Dinner for One» ist so absurd, als würde mein Verleger allein über meine Honorare «verhandeln». Es ist eher eine Fundraising-Veranstaltung für einen Showbiz-Präsidenten, der zu Hause jene Freiheitsrechte mit Füssen tritt, die er angeblich für den Westen verteidigt. Er wird sich erst an den Verhandlungstisch setzen, wenn es die USA erlauben oder die  Waffenlieferungen einstellen oder das letzte ukrainische Kind Waise geworden ist. Im Nachhinein wäre den zigtausend Witwen «Land gegen Frieden» lieber gewesen. Vermutlich.

Reflexe von Geschichtsblinden

Auch den Menschen im Westen, die es langsam leid sind, permanent mit neuen manipulativen Angstkampagnen domestiziert zu werden, wird es allmählich zu bunt. Sie haben nicht erst seit der Corona-Pandemie Zweifel an der Aufrichtigkeit von Politik, Medien und Institutionen. Sie haben andere Sorgen, als ausserhalb der Nato-Grenzen einen Bruderkrieg zwischen zwei völlig korrupten Staaten zu finanzieren. Zurzeit zählen wir weltweit 43 innerstaatliche Konflikte und Kriege. Wieso soll man ausgerechnet für den eh russisch sprechenden Donbass einen dritten Weltkrieg riskieren, seine Waffenkammern leeren und Milliarden Steuergelder verpulvern? Weil Putin anschliessend die Atommächte Frankreich und England angreift?

Profitieren wird wie üblich der «militärisch-industrielle Komplex», vor dem der scheidende US-Präsident Dwight D. Eisenhower am Abend des 17. Januar 1961 im Fernsehen gewarnt hatte: «Wir müssen auf der Hut sein vor unberechtigten Einflüssen des militärisch-industriellen Komplexes, ob diese gewollt oder ungewollt sind. Die Gefahr für ein katastrophales Anwachsen unbefugter Macht besteht und wird weiter bestehen. Wir dürfen niemals zulassen, dass das Gewicht dieser Kombination unsere Freiheiten oder unseren demokratischen Prozess bedroht.»

Was Geschichtsblinde heute reflexartig als Verschwörungstheorie verspotten, war die Warnung eines Mannes, der fast sein gesamtes Erwachsenenleben in Uniform verbracht hatte. Auch John F. Kennedy kritisierte den «militärisch-industriellen Komplex», der ihn stets zu neuen militärischen Abenteuern drängte, und Donald Trump gestand freimütig ein, dass man ihm laufend neue Drehbücher für Kriege im Ausland vorgelegt habe und wie man diese rechtfertigen könne.

Kurz nach Ausbruch des Krieges war der »Frieden zum Greifen nahe« schreibt der involvierte Schweizer Spitzendiplomat Jean-Daniel Ruch in seinen Memoiren. Der Friedensplan lag auf dem Tisch, doch am 26. April 2022 erklärte US-Verteidigungsminister Lloyd Austin, dass es Washingtons Ziel sei, Russland zu schwächen. Das sei das Ende der Hoffnungen auf die türkische Vermittlung mit Schweizer Beteiligung gewesen. Und seitdem wurden je nach Schätzung eine halbe Million Menschen getötet oder verwundet. 

Es gibt leider zu viele, die von diesem Krieg profitieren, gewollt oder ungewollt. Der französische Verteidigungsminister Sébastien Lecornu gestand im September 2023, dass der Krieg in der Ukraine auch Chancen für die französische Industrie biete, «sorry, dass ich das so direkt sage, aber wir müssen dazu stehen».

Profitieren werden auch jene Schweizer Politiker, die mit Steuergeldern ihre Spendierhosen stopfen, um ihre Reputation (für einen späteren Job auf der internationalen Bühne) zu steigern. Profitieren werden auch Hotellerie, Gastronomie, Luft- und Bodentaxis und die «petites sœurs des cœurs», die Escort-Girls rund um den Vierwaldstättersee.

«Dinner for One» ist der Gipfel der Heuchelei. Für die Menschen in den Schützengräben bedeutet er «Dinner for Nobody».

07 – 2024 Weltwoche: Meine Schweizerin des Jahres.

Welcher vernünftige Mensch überlässt ausgerechnet seinen Tod dem Zufall? Ich wollte selbstbestimmt sterben. Dabei half mir Erika Preisig. Sie führte mich zum Leben zurück. Jetzt hat sie vor Gericht einen historischen Erfolg errungen.


Dr. med. Erika Preisig, Präsidentin der Sterbehilfeorganisation Eternal Spirit, ist nach acht Jahren rechtskräftig vom Vorwurf der vorsätzlichen Tötung freigesprochen worden. Das Bundesgericht hat eine Beschwerde der Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Landschaft abgewiesen. Die hatte gegen Erika Preisig ein Verfahren unter anderem wegen vorsätzlicher Tötung eingeleitet. Von Instanz zu Instanz verringerte sich die Schuld, bis schliesslich das oberste und letzte Gericht feststellte: Die Ärztin Erika Preisig ist unschuldig.

Was musste diese Frau, die für so viele Menschen die letzte Hoffnung war (und weiterhin ist), in all den Jahren alles ertragen? Einige Medienleute nannten sie gar «Dr. Tod». Mit Journalismus hat das nichts mehr zu tun. Schon eher mit mangelnder Lebenserfahrung und mangelnder Empathie für die Betroffenen.

Sie bat mich, noch etwas aushalten

Ich lernte Erika Preisig im Jahre 2010 kennen. Nach meiner leukämiebedingten Knochenmarktransplantation teilte die Nachtschwester meiner Frau mit, man könne jetzt nichts mehr für mich tun. Ich kontaktierte am nächsten Tag Erika Preisig und bat um einen Termin für eine Sterbebegleitung. Ich wollte zu Hause sterben. Mit Pentobarbital. Wie meine erste Frau. Sie hatte sich nach vierzehn Jahren Krebs zu Hause mit Pentobarbital von ihren Schmerzen befreit.

Es war nicht Suizid, es war Schmerzbekämpfung mit Todesfolge. Ihr Arzt hatte ihr zwar versprochen, dass heute niemand mehr mit Schmerzen stirbt, aber meine Frau war Krankenschwester, sie wusste Bescheid. Sie erhielt Morphiumspritzen. Als die Dosis erhöht werden musste, nahm die Atemnot zu. Sie schaffte kaum noch ein paar Schritte allein. Sie wollte es beenden. Ihr Arzt schlug vor, dass man sie ins künstliche Koma versetzt. Für wen sollte das gut sein? Für das Guinness-Buch der Rekorde?

Ich traf deshalb Erika Preisig, um einen Sterbetermin zu vereinbaren. Sie hatte vorgängig meine gesamte Krankenakte gelesen. Zu meinem Erstaunen zückte sie nicht gleich ihren Terminkalender, wie das eine andere Sterbehilfeorganisation zuvor gemacht hatte, sondern unterhielt sich mit mir mehrere Stunden lang. Am Ende bat sie mich, noch etwas auszuhalten, es könne vielleicht wieder erträglicher werden; und auch wenn ich nie mehr gesund würde, würde ich vielleicht wieder das geniessen, was immer noch möglich sei.

Sie wollte keine Rechnung schreiben. Einige Medienleute unterstellten ihr später finanzielle Interessen. Schlossen sie von sich auf andere? Bezahlen sie ihre Reisen zu Interviewpartnern aus der eigenen Tasche?

Was ist denn eigentlich so falsch an einer «Freitodbegleitung»? Palliativmediziner Steffen Eychmüller kritisierte vor Jahren die Sterbehilfe: «Es ist Ausdruck des Zeitgeistes. Man lebt selbstbestimmt, man managt sein eigenes Leben und seinen eigenen Tod.» Was soll daran falsch sein? Jedem seine Weltanschauung. Es steht auch keinem Palliativmediziner zu, wildfremden Menschen die eigene Weltanschauung aufzuzwingen. Fühlt er etwa die Schmerzen der Sterbewilligen? Eychmüller sagte damals: «Unsicherheit, das Schicksal, der grössere Zusammenhang – das wird alles ausgeklammert.» Was soll daran falsch sein? Die einen glauben an einen «grösseren Zusammenhang», die anderen nicht.

Gegner der Sterbehilfe romantisieren oft das Sterben inmitten der Angehörigen. Wenn jemand vor dem sicheren Tod steht, von monatelangen Schmerzen zermürbt, hat er nur einen Wunsch: aus diesem Leben verschwinden. Auf «gemeinsames Nachdenken» wird gerne verzichtet, auch auf all die «wertvollen Erfahrungen». So was kann nur einem Gesunden einfallen. Eychmüller führte damals aus, Sterbehilfeorganisationen seien gut für «Leute, die extrem individualistisch bis egoistisch leben, alles selber regeln und nichts dem Zufall überlassen wollen». Wieso soll Eigenverantwortung egoistisch sein? Egoistisch wem gegenüber? Welcher vernünftige Mensch überlässt ausgerechnet sein Sterben dem Zufall? Es ist ausgerechnet die Gewissheit, dass man sein Leiden im Notfall rasch beenden kann, die einem hilft, Schmerzen zu ertragen und den Alltag trotzdem zu geniessen. Ohne diese Sicherheit fühlt man sich wie in einem Auto ohne Handbremse.

Acht Jahre üble Nachrechte

Erika Preisig ist Historisches gelungen. Ihr Erfolg wird auch die Basis sein, auf der Sterbehilfeorganisationen in anderen Ländern weitere Fortschritte erzielen werden. Damit ihre Landsleute nicht mehr die beschwerliche Reise in die Schweiz antreten müssen, um endlich würdevoll von ihrem Leiden erlöst zu werden.

Acht Jahre unter dem Damoklesschwert, acht Jahre Diffamierungen und Ächtung, acht Jahre Unterstellungen und üble Nachrechte. Das hat enorm viel Kraft gekostet, auch Gesundheit. Das hat Erika Preisig nicht verdient, den Titel «Schweizerin des Jahres» schon eher.

06 – 2024 Weltwoche: Vatikan ermittelt gegen Schweizer Bischöfe

Der Vatikan ermittelt zurzeit gegen sechs Schweizer Bischöfe wegen Vertuschung und sexuellen Missbrauchs. Bezahlen könnte der Schweizer Steuerzahler


Ausgerechnet Peter Lauener (53), der frühere Sprecher von Lügenbaron Alain Berset, coacht jetzt als Kommunikationsberater die Schweizer Bischöfe. Er sagt, die katholische Kirche «stelle sich endlich ihrer Vergangenheit». Und ewig grüsst das Murmeltier.

Die (bisher) 52 Missbrauchsopfer, die Anträge auf Entschädigung eingereicht haben, können mit Beträgen zwischen 10.000 und 20.000 rechnen. Das sind zwischen einer halben und einer ganzen Million. Indirekt bezahlt das teilweise der Steuerzahler, also auch Reformierte (20,5 Prozent), Muslime (5,9 Prozent) und Religionslose (33,5 Prozent). Wenn weitere Missbrauchsopfer Anträge stellen, und davon ist auszugehen, wird auch das jährliche «Fastenopfer» nicht mehr ausreichen.

Es wird alles beim Alten bleiben. Nach dem Zweiten Weltkrieg flohen Tausende NS-Verbrecher mit Hilfe des Vatikans über die «Rattenlinie» nach Südamerika. Beim Boxenstopp in Rom wurden sie mit falschen Papieren ausgestattet. Heute ermöglicht die «Rattenlinie» das Untertauchen in der Dritten Welt. Auf den Philippinen würde es keine Mutter wagen, den Missbrauch ihres Kindes zu melden.


 

 

Prof. Jakob Passweg über Krebs: «Wir sehen immer wieder eindrückliche Heilungen»

Prof. Jakob Passweg, Chefarzt der Hämatologie, Basler Unispital und Präsident der Stiftung Krebsforschung Schweiz


«Wir sehen immer wieder eindrückliche Heilungen»


Sonntagszeitung vom 21. April 2024

 

Felix Straumann,Nik Walter

 

«Ich brauche das Wort Heilung nicht gerne, aber wenn bei einem Patienten der Krebs fünf Jahre lang nicht zurückkommt, dann ist er wahrscheinlich geheilt»: Jakob Passweg, Chefarzt und Präsident der Stiftung Krebsforschung Schweiz.

 

Herr Passweg, die Nachricht, dass die erst 42-jährige Kate an Krebs leidet, hat weltweit grosse Wellen geschlagen. Wie ungewöhnlich ist Krebs in diesem Alter?

 

Krebs ist prinzipiell eine Krankheit des höheren Alters. Er ist eine Folge von Gendefekten, die bei der Zellteilung entstehen. Solange wir jung sind, funktioniert alles sehr zuverlässig. Doch mit den Jahren summieren sich die Fehler. Eine Ausnahme ist eine Form von Leukämie, die vor allem Kinder trifft. Das hat damit zu tun, dass in jungen Jahren das Immunsystem massiv umgebaut wird und dabei Gendefekte auftreten können.

 

Krebs mit 40 Jahren ist aber selten.

Ja, aber das heisst nicht, dass es nicht auch junge Menschen treffen kann. Gerade bei verbreiteten Krebsarten wie Darm- und Brustkrebs kommt das vor. Das war immer schon so. Genetische Unfälle können nicht nur im Alter auftreten. Bei einzelnen Krebsarten spielen auch vererbte Risikogene eine Rolle. Ein Beispiel ist die BRCA-Mutation, die insbesondere das Risiko für eine Brustkrebserkrankung im jüngeren Alter erhöht.

 

Manche sind wegen der Erkrankung von Kate besorgt. Wie sinnvoll ist es, bereits mit 30 zur Krebs­früherkennung zu gehen?

Das bringt wenig – ausser man hat ein familiär erhöhtes Risiko, wie es zum Beispiel bei Brustkrebs vorkommen kann. Für die verschiedenen Screenings gibt es empfohlene Altersangaben, die in der Regel gut begründet sind. Bei der Mammografie ist dies zum Beispiel ab 50. Ab dann ist die Häufigkeit von Tumorbildungen hoch genug, um einige zu entdecken. Bei jüngeren Frauen sind die Tumore dafür zu selten. Die negativen Auswirkungen einer Früherkennung können dann die positiven überwiegen.

 

Man hört immer wieder, dass Krebs bei jungen Menschen zunimmt. Stimmt das?

Da bin ich nicht so sicher. Eine Zunahme ist allein aufgrund des Bevölkerungswachstums zu erwarten. Zudem gehen die Leute heute häufiger zur Früherkennung, vor allem von Brust-, Darm- und Prostatakrebs. Das führt dazu, dass Krebsfälle früher entdeckt werden und eine Verschiebung zu den Jüngeren stattfindet, ohne dass Krebs dadurch häufiger geworden wäre. Durch Screenings entdeckt man auch Tumore, die gar nie zu einem Problem geworden wären. Das erhöht die Fallzahl ebenfalls.

 

Bei Kindern und Jugendlichen zeigen Daten des Bundes jedoch eine leichte Zunahme der Fallzahlen pro Einwohner.

Diesen Schluss lassen die Zahlen nicht unbedingt zu. Klar ist, dass es keinen Trend nach unten gibt. Das würde ich auch so erwarten, da es bei den bekannten Risikofaktoren in den letzten Jahren keine grösseren Veränderungen gegeben hat. Bei einer eindeutigen Zunahme müssten wir uns grosse Sorgen machen. Das würde bedeuten, dass es unbekannte Risiken gäbe, die wir unbedingt identifizieren müssten. Bis jetzt gibt es keine Hinweise darauf. Mögliche Risikofaktoren wie Strahlung durch Atomkraftwerke, Hochspannungs­leitungen oder Mobilfunk wurden gut untersucht. Bei allen konnte man keinen nennenswerten Einfluss auf das Krebsrisiko finden.

 

Welches sind die wichtigsten bekannten Risikofaktoren?

Rund ein Drittel der Krebserkrankungen wäre vermeidbar. Dabei sind die drei wichtigsten Risikofaktoren, die wir beeinflussen können: Rauchen, Rauchen und Rauchen. Danach kommen Alkohol und Übergewicht. Dass wir es in der Schweiz bis heute nicht geschafft haben, die Raucherquote bei den Jugendlichen stärker zu senken, ist beschämend. Bei uns rauchen rund 26 Prozent der Jugendlichen, in den USA sind es 15 Prozent.

 

Braucht es mehr Rauchstopp-Kampagnen?

Eigentlich müsste man sich gar nicht um diejenigen kümmern, die bereits rauchen. Es würde genügen, zu verhindern, dass die Jungen damit beginnen. Die Krebsrate würde automatisch deutlich sinken. Dabei geht es nicht nur um Lungentumore, auch die Häufigkeit von Brustkrebs, Blasenkrebs, Prostatakrebs und vielen anderen würde sinken.

 

In den letzten Jahren hat sich bei der Behandlung von Krebs viel bewegt. Was ist aus Ihrer Sicht der grösste Fortschritt?

Ein Riesenerfolg ist sicher die Erkenntnis, dass Gebärmutterhalskrebs eine Viruserkrankung ist. Als ich vor 40 Jahren Arzt wurde, war das überhaupt nicht klar. Seither ist es gelungen, gefährliche Virustypen zu identifizieren und eine Impfung zu kreieren, die es ermöglicht, die Erkrankung stark zurückzudrängen. Was objektiv der grösste Erfolg ist, ist aber natürlich schwierig zu sagen.

 

«Den grössten Erfolg sehen wir beim schwarzen Hautkrebs, dem Melanom.»

Für Sie persönlich?

Die Entwicklung beim Leberkrebs. Weltweit ist er einer der häufigsten Krebsarten. Er wird ebenfalls durch eine Virusinfektion ausgelöst, vor der heute die Hepatitis-Impfungen gut schützen. Dadurch konnten viele Krankheitsfälle verhindert werden.

 

Und bei den Therapien?

Da stehen sicher die neuen Immun- und zellulären Therapien im Vordergrund. Da kam der Durchbruch vor über zehn Jahren mit den sogenannten Checkpoint-Inhibitoren. Lange hatte man vergeblich versucht, die Immunabwehr zu stimulieren. Doch dann stellte sich heraus, dass das Immunsystem bei der Bekämpfung von Krebszellen immer mit angezogener Handbremse arbeitet. Die Checkpoint-Inhibitoren lösen diese Handbremse. Das hat den Unterschied gemacht, nur aufs Gaspedal drücken hatte keinen Erfolg. Aber bei den Checkpoint-Inhibitoren gilt: Sie funktionieren nur bei gewissen Tumorarten.

 

Bei welchen?

Den grössten Erfolg sehen wir beim schwarzen Hautkrebs, dem Melanom. Metastasierende Melanome waren lange unheilbar, heute sind sie zu einem gewissen Prozentsatz heilbar. Auch beim Lungenkrebs wirken die Checkpoint-Inhibitoren gut.

 

Kommt der Krebs nicht wieder zurück?

Beim Melanom nicht. Ich brauche das Wort Heilung nicht gerne, aber wenn bei einem Patienten der Krebs fünf Jahre lang nicht zurückkommt, dann ist er wahrscheinlich geheilt.

 

Das macht Hoffnung.

Es gibt aber auch Krebsformen mit null Fortschritten. Bei einigen weiss man nicht, welche Gene das Tumorwachstum steuern. Bei anderen kennt man die Mechanismen ziemlich gut, schafft es aber nicht, ein Medikament zu entwickeln.

 

Zum Beispiel bei Bauch­speichel­drüsen­krebs oder gewissen Hirntumoren?

Ja, es gibt aber noch viele weitere. Auch bei gewissen Leukämien kennen wir zwar die defekten Stoffwechselwege, haben aber nichts, um diese zu blockieren.

 

«Der Fortschritt verläuft nie linear», sagt Jakob Passweg. «Mal geht es vorwärts, dann passiert wieder 20 Jahre lang nichts.»

Neben den Checkpoint-Inhibitoren existieren noch weitere Immuntherapien.

Das stimmt. Zum Beispiel bispezifische Antikörper. Diese erkennen gleichzeitig die Oberflächenstruktur einer Tumorzelle und einer Immunzelle und bringen diese dadurch zusammen. Die Immunzelle vernichtet die Tumorzelle dann. Ausserdem gibt es die sogenannten CAR-T-Zellen, die bei jedem Patienten genetisch so modifiziert wurden, dass sie ebenfalls bestimmte Krebs-Antigene erkennen und die Tumorzellen so zerstören können.

 

Was kommt als Nächstes?

Das Team meines Kollegen Heinz Läubli am Unispital Basel arbeitet mit sogenannten Tumor-infiltrierenden Lymphozyten oder TILs. Das sind Immunzellen, die gerne in den Tumor einwandern. Die Kollegen isolieren diese Lymphozyten aus Tumormetastasen der Patienten und vermehren sie in der Laborschale. Die so aufbereiteten TILs spritzen sie nachher den Patienten wieder ins Blut. Im Körper sollen die TILs dann den Tumor beseitigen.

 

Das funktioniert?

Beim Melanom gibt es eine randomisierte Studie aus Holland, wo man zeigen konnte, dass die TIL-Therapie einen Überlebensvorteil bietet gegenüber anderen Immuntherapien. In Basel sind jetzt mehrere Patienten mit TILs behandelt worden. Derzeit erarbeiten meine Kollegen ein neues Therapieprotokoll, um auch Patienten mit Lungenkarzinomen mit TILs zu behandeln.

 

Werden die TILs die nächste Erfolgsgeschichte?

Der Fortschritt verläuft nie linear. Mal geht es vorwärts, dann passiert wieder 20 Jahre lang nichts. Bei den Immuntherapien glaubte man am Anfang, dass man den Schlüssel habe, um alle Krebsarten zu bekämpfen. Doch das stimmt eben leider nie. Tumore sind wahnsinnig heterogen. Gemeinsam ist ihnen einzig, dass die Zellen nicht ausgereift sind und sich unkontrolliert teilen. Aber das machen sie auf ganz verschiedene Arten. Ein Problem ist auch, dass wir uns bei Krebs immer noch zu stark an den Organen orientieren. Man spricht von Lungenkrebs, Leberkrebs oder Pankreaskrebs. Eine moderne Einordnung müsste die Tumore nach molekularen Eigenschaften einteilen.

 

Was heisst das?

Das bedeutet, dass man in verschiedenen Tumorarten und Organen zum Teil die gleichen genetischen Veränderungen finden kann. Zudem ist es auch nicht so, dass bei Lungenkrebs immer der gleiche Stoffwechselweg ausser Kontrolle geraten ist. Das gilt auch für Leberkrebs, Pankreaskrebs und viele andere. In diesen Fällen identifiziert man die zentrale Genmutation im Tumor, die das unkontrollierte Wachstum antreibt, und versucht, sie mithilfe der sogenannten molekularen Therapien zu stören. Allerdings gibt es solche Treiber-Mutationen nicht bei allen Krebsarten.

 

Bei den Immuntherapien geht man anders vor?

Ja, hier gelten andere Gesetzmässigkeiten. So gibt es Tumore, deren Zellen so stark verändert sind, dass man sie molekular kaum angreifen kann. Dafür sind sie für eine Immuntherapie gut geeignet, weil sie stark mutieren und dadurch viele Antigene produzieren und exponieren, sodass die Immunabwehr dort besser eingreifen kann.

 

Ist die Gefahr einer Resistenzbildung bei molekularen Therapien grösser als bei immunologischen?

Nein, das kommt bei beiden Therapieformen vor. Bei einer Immuntherapie geht die Geschichte so: Man produziert zum Beispiel eine CAR-T-Zelle gegen das Oberflächenprotein CD19 auf Lymphomzellen. Dann merkt man, dass es zu einem Rückfall kommt, weil CD19 plötzlich von der Zelloberfläche verschwindet. Das ist nicht gut, aber so läuft es leider manchmal. Analog dazu kann sich bei einer molekularen Therapie auf den Tumorzellen die Andockstelle für ein Medikament verändern, sodass dieses seine Wirkung nicht mehr entfalten kann.

 

Der Krebs erfindet sich immer wieder neu und kommt zurück.

Der Krebs ist hinterhältig und macht es wahnsinnig schlau. Dabei nutzt er aber die genau gleichen Evolutionsmechanismen wie alle anderen Zellen. Er ist genetisch instabil, er verändert sich beständig. Bei jeder Genmutation besteht das Risiko, dass es für die Krebszelle schlecht ist und sie stirbt. Das ist dem Krebs aber egal, denn dafür hat eine benachbarte Krebszelle vielleicht eine Mutation, die sie gegen das Medikament resistent macht. Es braucht nur eine einzige solche Zelle, und schon wird es problematisch.

 

«Der Krebs entsteht aus unseren eigenen Zellen. Er ist kein Alien.»

CAR-T-Therapien gelten als vielversprechend und sind erst wenige Jahre auf dem Markt. Wie viele Menschen werden in der Schweiz heute damit behandelt?

Im Jahr 2023 waren es zwischen 150 und 200. Das ist nicht wenig!

 

Wie erfolgreich ist die Therapie?

40 bis 50 Prozent der Behandelten können damit geheilt werden. Wir sehen immer wieder eindrückliche Heilungen, zum Beispiel bei einem Patienten, von dem ich erwartet habe, dass er bald sterben würde. Er erhielt eine einzige CAR-T-Behandlung und läuft heute herum, wie wenn nichts wäre.

 

Erleben Sie solche durchschlagenden Erfolge häufig?

Immer wieder. Das hält uns am Laufen. Wenn bei einer Therapie alle Patienten sterben, verliert man den Glauben an seine Arbeit. Wir erleben aber auch grosse Niederlagen, bei denen die Therapie manchmal sogar zum Tod beiträgt. Damit muss man auch umgehen können.

 

Angesichts der teils sehr erfolgreichen neuen Therapien: Werden konventionelle Behandlungen wie Chemotherapie, Chirurgie oder Bestrahlung bald einmal hinfällig?

 

Nein. Chemotherapien haben nach wie vor ihren Platz. Chirurgie ist sogar eher noch wichtiger geworden. Sie hat sich auch massiv verändert, sie ist intelligenter geworden. Zum Beispiel mit sogenannten adjuvanten Konzepten. Kate hatte zum Beispiel eine Operation und bekam danach eine adjuvante Chemotherapie, damit der Tumor möglichst nicht wiederkommt.

 

Wie neu ist diese kombinierte Behandlung?

Das war in den 1990er-Jahren ein revolutionäres Konzept. 40 Prozent der Patienten wurden nach einer Operation rückfällig, auch wenn der Chirurg geglaubt hatte, alles entfernt zu haben. Mit einer adjuvanten Therapie nach dem Eingriff konnte man die Zahl der Rückfälle um etwa ein Drittel reduzieren.

 

Ist auch Bestrahlung trotz der neuen Therapieformen weiterhin verbreitet?

Das setzt man ebenfalls immer noch sehr häufig ein. Wir verwenden alle konventionellen Behandlungsmethoden nach wie vor. Zusätzlich zu den neuen molekularen und immuntherapeutisch gerichteten Therapien.

 

Welche Rolle spielt die Diagnostik?

Der Bereich hat sich revolutioniert! Es wird heute sehr viel Diagnostik im molekularen Bereich betrieben. Bei Leukämien suchen wir nach mutierten Krebsgenen. Wir analysieren auch, wie viele dieser Mutationen im Tumor zu finden sind und wie viele nach der Therapie noch übrig bleiben. Auch die Bildgebung ist viel besser geworden. Heute gibt es PET-CT-Scans, mit denen man genau schauen kann, wo im Körper es überall Tumorherde gibt. Zusammengefasst kann man sagen: Die Diagnostik hat sich revolutioniert, die Therapie hat sich revolutioniert.

 

Derzeit werden auch Impfungen getestet, die als Therapie zum Einsatz kommen sollen. Dabei nutzt man auch die RNA-Technologie, die man von der Covid-Impfung kennt. Wo steht man da?

 

Dieser Ansatz steckt noch in den Kinderschuhen. Krebsimpfungen sind eine grosse Hoffnung, aber wir müssen schauen, was daraus wird.

 

Was ist die Idee dahinter?

Die Impfungen sind wie die molekularen Therapien gegen krebsspezifische Oberflächenproteine gerichtet. Das Problem dabei ist, dass es sehr schwierig ist, diese spezifischen Antigene zu identifizieren. Der Krebs entsteht aus unseren eigenen Zellen. Er ist kein Alien. Dementsprechend finden sich die meisten Antigene von Krebszellen auch auf normalen Zellen. Jeder und jede von uns hat angefangen als befruchtete Eizelle, die sich in die Gebärmutter eingenistet und sich die Blutversorgung der Mutter zunutze gemacht hat, um selbst zu wachsen. Wenn Krebszellen das machen, ist dies also nichts Ungewöhnliches. Deshalb wird man den Krebs auch nie wirklich besiegen können in dem Sinne, dass man ein Medikament findet, das alle Krebserkrankungen wegmachen kann. Das war lange ein Traum.

05 – 2024 Weltwoche: »Eine Jurassierin in Basel«

Wunschwelten

Eine Jurassierin in Basel

Meine französischsprachige Mutter hat sich in der Deutschschweiz nie integriert.Warum sollten es junge Männer aus Afghanistan und Nordafrika tun?


Claude Cueni

Darf dieser Mann für Deutschland singen?», fragte die Bild -Zeitung 1998 besorgt, als sich der Sänger Guildo Horn («Guildo hat euch lieb!») in der deutschen Vorentscheidung mit 60 Prozent der Stimmen für die Eurovision qualifizierte. Dank der negativen Presse erlangte Guildo Horn grosse Medienaufmerksamkeit. Guildos Liebe stiess jedoch nicht auf Gegenliebe. Von den meisten Ländern erhielt er null Punkte. Er landete auf Platz sieben.

Auch bei den Themen Migration und Integration vertraten seit Herbst 2015 einige die Meinung, wir müssten alle Gäste Angela Merkels lieben, dann würden wir das schon schaffen. Doch als es die Gäste waren, die uns zunehmend schafften, hatten einige die Idee, man müsse kostenlose Sprachkurse anbieten. In diesem Punkt waren sich alle einig: Ohne Sprachkenntnisse ist Integration kaum möglich. Doch auch mit dieser Massnahme liess sich die Wunschwelt nicht realisieren. Die kostenlosen Kurse waren kein Renner. Viele haben sich gewundert: Wieso wollen sie unsere Sprache nicht erlernen? Haben wir sie zu wenig geliebt? Oder liebten sie uns gar nicht?

Buchhandlung und Tombola

Ich habe mich nicht gewundert. Meine Mutter wuchs in einem jurassischen Dorf auf. Ihr gesamtes Erwachsenenleben verbrachte sie in Basel. Mit ihr hätte man keine Wunschwelt realisieren können. Auch nicht mit Geld. Meine Mutter liess sich nicht integrieren, weil sie die deutsche Sprache hasste, weil sie die Deutschschweizer ( les boches ) nicht mochte und weil es in Basel schon so viele Jurassier gab, dass diese ihre eigene Kirche, ihre eigene Buchhandlung und ihre eigenen Tombolaabende hatten. Integration war gar nicht mehr notwendig.

Wenn man schon meine Schweizer Mutter nicht integrieren konnte, wie soll man dann einen jungen Mann aus Nordafrika oder Afghanistan integrieren? Die «Experten», die gerne für uns einordnen, haben meistens den gleichen Ratschlag: Wir müssen uns mehr bemühen. Es liegt an uns. Wer anmerkt, dass einige Zuwanderer nicht uns lieben, sondern unsere Sozialsysteme und unsere Beutegesellschaft, gerät umgehend in Verdacht, ein Rechter zu sein, wobei das heute gleichbedeutend ist mit Rechtsextremen oder Nazis.

Die deutsche Kabarettistin Monika Gruber brachte es kürzlich auf den Punkt: «‹Du bist rechts›, das ist das Schlimmste, was man über jemanden sagen kann, der gar nicht rechts ist und auch nicht rechts denkt. Mit einem solchen Satz stellst du den anderen in eine Ecke, aus der er nicht mehr herauskommt. [. . .] Es gibt aktuell in Deutschland eine aggressive politische und mediale Minderheit, die für sich in Anspruch nimmt, die einzig gültige Wahrheit für sich gepachtet zu haben. Jeder, der auch nur im Geringsten von dieser Ideologie abweicht, wird sofort diskreditiert, diffamiert. [. . .] Dieses ewige Links-rechts-Einordnen finde ich ohnehin vollkommen veraltet. Es muss doch in einer Demokratie möglich sein, über kontroverse Themen [. . .] sachlich zu diskutieren.»

Auch bei der Migration sollten Realisten zu Wort kommen, die ihr ideologisches Weltbild nicht im Elfenbeinturm gebastelt haben. Der ehemalige Fallschirmjäger Denny Vinzing sagte 2021 nach seiner Rückkehr aus Afghanistan der NZZ : «Die meisten halte ich nicht für integrierbar. Sie leben nach ganz anderen Werten. Die Stellung der Frau ist radikal anders. Die kommen hier nicht zurecht.»

Hubachers Erkenntnis

Mittlerweile sind religiös motivierte Morde, Vergewaltigungen und Raubüberfälle im EU-Raum an der Tagesordnung. Selbst Medien, die bis vor kurzem noch jeden Skeptiker diffamiert haben, nehmen die Realität zur Kenntnis. Das tat bereits der Sozialdemokrat Helmut Hubacher (1926–2020) in einem Weltwoche -Interview von 2019: «Wir haben nie eine Lösung gefunden, wie man anständig mit den Ausländern umgehen und trotzdem kritisch sein konnte. Für viele Sozialdemokraten war jeder Ausländer ein armer Siech, den man wie einen Kranken hegen und pflegen musste. Dass auch Ausländer kriminell sein und nicht anständig arbeiten können, wurde ausgeblendet.»

Man löst das Problem nicht, indem Facebook und Co. dazu angehalten werden, kritische Beiträge zu löschen. Man löst das Problem auch nicht, wenn man die Nationalität der Straftäter verschweigt. Wer die Realität zugunsten seiner Wunschwelt unter den Teppich kehrt, gerät selber unter den Teppich. Deutschland ist ein warnendes Beispiel: Gut Ausgebildete wandern aus, nicht Integrierbare wandern ein. Peter Scholl-Latour warnte einst: «Wer halb Kalkutta aufnimmt, hilft nicht etwa Kalkutta, sondern wird selbst zu Kalkutta.» Kalkutta liegt heute in Nordafrika und im Nahen und Mittleren Osten. Ein Blick in die Klassenzimmer genügt, um zu realisieren, dass nicht alle Guildo lieben.