Tabu Thema Tod

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am_ende_ist_schweigenTextbeitrag „Allerheiligen“ / SoBli Magazin

«Begleitet man einen geliebten Menschen im Sterben, kommt es sehr darauf an, ob der Kranke seinen baldigen Tod akzeptieren kann – oder ob er den Überlebenden das Weiterleben missgönnt.

Als meine erste Frau unheilbar erkrankte, erlitt sie eine Angst-Depression und entwickelte eine grosse Wut. Mein gesamtes Umfeld drängte mich, sie ins Spital zu bringen. Wir hatten uns jedoch als Teenager versprochen, dass wir das nie tun würden. Deshalb ertrug ich ihre Aggression und konzentrierte mich auf die Pflege. Erst wenige Tage vor dem Tod akzeptierte sie das Unausweichliche, die Wut erlosch, ihr letztes Wort war: Danke. Es gibt kaum positive Aspekte, wenn jemand aufhört zu existieren.

Mit dem Tod meiner Frau verlor ich die Hälfte der Bekannten. Die Menschen wissen in den ersten Wochen nicht, wie sie reagieren sollen. Nach zwei Monaten schämen sie sich für ihr Fernbleiben und trauen sich nicht mehr, anzurufen. Dabei ist es ganz einfach: Man muss einfach da sein. Mehr nicht. Menschen, die Ähnliches durchmachen mussten, fühle ich mich heute stark verbunden. Wir teilen diese monumentale Erfahrung. Wenn andere über Sterben und Tod sprechen, wissen sie nicht wirklich, worüber sie reden. Als ich selbst sechs Monate auf der Isolationsstation lag und alle mit meinem baldigen Tod rechneten, verlor ich beinahe den gesamten Rest meines Bekanntenkreises. In den Köpfen der anderen stirbt man, bevor man gestorben ist.

Sterben und Tod sind nicht mehr alltäglich. Hölderlins Erkenntnis, wonach sich das Leben auch vom Leid ernährt, ist verloren gegangen. Wir werden von der Geburt bis zum Tod betreut und infantilisiert. Wir glauben, Anrecht auf ewiges Glück zu haben. Über den Tod wird öffentlich nur kokettiert, aber es gibt den Tod der andern und den eigenen Tod. Das ist nicht dasselbe. Meine jetzige Frau und mein Sohn wundern sich oft, wieso ich nie wütend bin und meinen Humor nicht verliere. Ich habe den Krebs und die Situation akzeptiert, ich liebe meine Familie, sie sind nicht schuld an meiner Krankheit. Niemand ist schuld. Es ist einfach Pech.»

Erschienen im Sonntagsblick Magazin vom 26. November 2014

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