#chronos (1990)

1101900813_400Nachdem die Berliner Mauer am Abend des 9. Novembers 1989 am Freiheitsdrang der DDR-Bürger zerbrochen war, trat am 1. Juli 1990 die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion ­zwischen den beiden ungleichen Staaten in Kraft. Mit der Unterzeichnung des Deutsch-Deutschen Staatsvertrags war die Deutsche Demokratische Republik nach 28 Jahren nur noch Geschichte. Zu einem historischen Augenblick gehören auch prägnante Quotes. Oft kolportiert wird ein ­angebliches Zitat von Willi Brandt: «Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört.» Es gibt jedoch keine einzige Tonaufzeichnung, die die Urheberschaft des früheren Bundeskanzlers belegen könnte.

Trennen, was nicht zusammengehört, war ­hingegen das Motto der baltischen Staaten ­Estland, Lettland und Litauen, die 1940 von der Sowjetunion annektiert worden waren. Im ­Frühjahr 1990 erklärten sie nacheinander ihre Unabhängigkeit.

Zusammenführen, was nicht zusammen­gehört, war wiederum das Bestreben des ­Diktators Saddam Hussein, als er seine Truppen in Kuwait einmarschieren liess. Es war der Beginn des Zweiten Golfkrieges. Eine Koalition, angeführt von den USA und legitimiert durch die Resolution 678 des UN-Sicherheitsrates, startete die Offensive zur Befreiung Kuwaits. Der Krieg, in dem auch neue Taktiken und Waffen zum Einsatz kamen, wurde auch an der Informationsfront geführt: Handverlesene Journalisten (embedded journalists) wurden kämpfenden Militäreinheiten zugewiesen, täglich gebrieft und kontrolliert. Mit dem Kriegsreporter und ­Pulitzerpreisträger Peter Arnett, der vom Dach des Hotels Raschid aus berichtete, inszenierte CNN den Krieg als 24-Stunden-Liveshow. Sein erster Satz war: «Der Himmel über Bagdad ist erleuchtet.»

Roger Waters (Pink Floyd) gab anlässlich des Mauerfalls auf dem Potsdamer Platz das bis anhin grösste Konzert in der Geschichte der Rockmusik. Eine Viertelmillion Zuschauer besuchten das Open-Air-Konzert und sangen «We dont need no thought control». «The Wall» wurde weltweit per Satellit übertragen.

In der Charta von Paris wurde der Kalte Krieg formell beigelegt. Die 34 KSZE-Staaten bekannten sich zur Demokratie als Regierungsform und zur Achtung der Menschenrechte. Das Zentralkomitee der KPdSU gab das Machtmonopol der Partei auf, Michail Gorbatschow wurde zum neuen Präsidenten gewählt, in Moskau wurde das erste ­russische McDonald’s-Restaurant eröffnet. ­Gorbatschows Satz: «Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben», wurde seitdem oft zitiert, manchmal gilt auch: «Wer zu früh kommt, den bestraft das Leben.»

«Es wird keine Fortsetzung des Paten geben», wiederholte Francis Ford Coppola gebetsmühlenartig, wenn ihn Fans und Journalisten mit der Frage nach einem «Der Pate III» löcherten. Doch ein Blick auf sein tiefrotes Bankkonto liess ihn erschauern. Es erging ihm wohl wie Don Michael Corleone: «Grade als ich dabei war auszusteigen, ziehen sie mich wieder rein!» Das Drehbuch basierte erneut auf dem Roman von Mario Puzo. Der Film war in den 80er-Jahren angesiedelt und thematisierte die Skandale des Vatikans und die Neuausrichtung des Mafiabusiness: «Ich brauche keine Schläger. Ich brauche Anwälte!» Der Film wurde für sieben Oscars nominiert, erhielt aber lediglich eine goldene Himbeere für die schlechteste Nebendarstellerin. Geschmäht wurde ­überraschend Sofia Coppola, die Tochter des Regisseurs. Sie liess sich davon nicht unterkriegen und wurde eine erfolgreiche Regisseurin und Drehbuchautorin («Lost in Translation»).

Bob: «Schon lange verheiratet?»

Charlotte: «Danke. Zwei Jahre.»

Bob: «Ich endlose 25.»

© Basler Zeitung; 24.06.2016

Die ersten 50 Chronos Folgen erscheinen im Februar 2016 im Münster Verlag

#chronos (1906)

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Es begann um 05.12 Uhr in der Früh und dauerte nur gerade 43 Sekunden. Genug, um die beiden ­Erdplatten, auf denen San Francisco gebaut ist, um sechs Meter zu verschieben. Ganze Stadtteile stürzten ein und begruben die schlafende ­Bevölkerung auf einer Fläche von 13 Quadrat­kilometern unter den Trümmern. Nach dem Beben der Stärke 8,3 brachen überall Feuer aus, die von geborstenen Gasleitungen genährt wurden. Die Löscharbeiten waren schwierig, weil auch die Wasserleitungen zerstört waren und ­etliche Hausbesitzer ihre Häuser mutwillig ­abfackelten, da die Versicherungen bei Feuer, aber nicht bei Erdbeben Schadenersatz leisteten. ­Hunderte von Plünderern wurden ohne Vorwarnung erschossen.

Für das Automobil bedeutete das Jahrhundertbeben den Durchbruch. Galt das Auto bisher eher als Statussymbol der Reichen, bewiesen die Lkw-Konvois, die den Überlebenden Hilfe ­brachten, ihre Schnelligkeit und Robustheit unter Extrembedingungen.

Das Drama, das mittels Telegrafie, Print­medien und Fotografie weltweit verbreitet wurde, sorgte für globales Entsetzen. Wie schon nach dem Grossen Beben von Lissabon (1755) entbrannte eine Diskussion über die Theodizee, die der schottische Philosoph David Hume (1711–1776) damals wie folgt beantwortet hatte: «Will Gott Böses verhindern, kann es aber nicht? Dann ist er impotent. Kann er es, aber will es nicht. Dann ist er bösartig.»

In Frankreich wurde im gleichen Jahr ein Gesetz in Kraft gesetzt, dass Kirche und Staat vollständig trennt. ­Religion war nun Privatsache wie Kuchen backen oder ­Fussball spielen.

Ein anderer Erlass bewirkte die Rehabilitierung des jüdischen Offiziers Alfred Dreyfus. Der französische Artillerie-Hauptmann war von einem Pariser Kriegsgericht wegen angebliche Landesverrats verurteilt worden. Antisemi­tische, klerikale und monarchistische Printmedien ­diffamierten jeden, der die Rechtmässigkeit in Zweifel zog. Nachdem der Schriftsteller Emile Zola in seinem Artikel «J’accuse..!» Kritik geübt hatte, musste dieser gar aus dem Land fliehen. 1906 hob das Oberste Berufungsgericht das Urteil auf, Dreyfus wurde rehabilitiert.

Amerikanische Infanteristen besetzten die Republik Kuba und gliederten sie in das ­Verwaltungsgebiet der USA ein. Wenig zimperlich waren auch die Engländer in ­Britisch-Indien. Sie erwirkten mit dem Segen Chinas die totale Entmündigung Tibets. England erhielt das Exklusivrecht, in Tibet Handel zu ­treiben, Telefonleitungen und Strassen zu bauen und Militärstützpunkte zu errichten.

Wieso sind eigentlich Schafhaare im ­Gegensatz zu menschlichen Haaren dauerhaft gelockt? Um der Sache auf den Grund zu gehen, erlernte Karl Nessler (1872–1951) den Barbierberuf, tingelte durch Europa und verliebte sich in Paris in die schöne Katharina. Er bat jedoch nicht um ihre Hand, sondern um drei Strähnen ihres Haares. Nach drei Versuchen hatte er mit seinem selbst gebastelten Hitzestab nicht nur ihre ­Kopfhaut versengt, sondern die «Dauerwelle» erfunden. Sie heiratete ihn trotzdem. Mit seinem patentierten Lockenwickler wurde er vermögend und residierte später an der Londoner Oxford Street. Bei Ausbruch des Krieges wurde er als feindlicher Ausländer enteignet und interniert. Nach Kriegsende schaffte er in New York ein ­fulminantes Comeback mit 500 Mitarbeitern. Er verkaufte seine Firma und investierte den Erlös in Kupferaktien. Der Börsencrash von 1929 kam einer zweiten Enteignung gleich. Nach diesem Unglück kam auch noch Pech dazu: Sein Haus brannte nieder und mit ihm all seine ­Aufzeichnungen und Lizenzverträge.

#chronos (1901)

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«Geh’ über die Niagarafälle in einem Fass» war die plötzliche Eingebung, die Annie Taylor während der Pan-American Weltausstellung in Buffalo hatte. Seit dem frühen Tod ihres Ehemannes auf den Schlachtfeldern des Amerikanischen Bürgerkriegs tingelte die mittlerweile 61-jährige Schullehrerin ruhelos und verarmt durch die Staaten. Nach einem Probelauf mit einer Katze fand sie einen Sponsor und stürzte sich in einem mit ­Korken versiegelten Fass aus 53 Metern Höhe die Niagara Fälle hinunter. Da ihr Ruhm nur von ­kurzer Dauer war, versuchte sich die «Queen of the Mist» als Hellseherin, sah aber nicht voraus, dass ihr Sponsor mit ihrem ganzen Hab und Gut abtauchen würde.

Die Pan-American-Exposition inspirierte auch den Anarchisten Leon Czolgosz. Er lauerte dem US-Präsidenten William McKinley auf dem Messegelände auf und erschoss ihn kaltblütig. McKinley erlag acht Tage später den Schussverletzungen und Theodore Roosevelt wurde zum neuen ­Präsidenten vereidigt. Czolgosz starb zwei Monate später auf dem elektrischen Stuhl.

Eines natürlichen Todes starb im Alter von 82 Jahren die britische Monarchin Queen Victoria, Kaiserin von Indien und Ururgrossmutter der ­jetzigen englischen Königin Elisabeth II. Als ­Victorias Ehemann, ihr vergötterter Cousin Albert, an Typhus starb, zog sie sich zurück, trug bis ans Ende ihrer Tage Trauerkleidung. Auf ihren Wunsch hin wurde die «Witwe von Windsor» mit ihrem Brautschleier und einem Alabasterabdruck von Alberts Hand zu Grabe getragen.

1901 kehrte der Schwarze Tod zurück. Aus Instanbul und Hamburg wurden ­Pestfälle gemeldet. Im ­gleichen Jahr starb Arnold Böcklin, der mit der «Toten­insel» eines der berühmtesten Gemälde des 19. Jahrhunderts gemalt hat. Er starb an einem Schlaganfall. Nur sechs seiner vierzehn Kinder erreichten das ­Erwachsenenalter.
Mit der Unterzeichnung des «Boxerprotokolls» wurde 1901 die Niederlage der chinesischen Qing-Dynastie besiegelt. Die Aufständischen hatten mit Angriffen auf Ausländer und chinesische Christen versucht, die europäischen Kolonial­herren und die USA aus dem Land zu treiben.

In Liverpool erhielt Frank Hornby ein Patent auf seinen Metallbaukasten «Meccano». Obwohl als Spielzeug deklariert, hatten nicht alle Kinder Freude an den gestanzten Blechteilen und ­Verstrebungen, die ihnen Kenntnisse in der ­Montagetechnik mittels Schrauben, Muttern und Rädern vermitteln sollten. Weil meistens die Väter ihre technischen Fähigkeiten demonstrierten, wurden aus den Buben später doch keine ­berühmten Ingenieure.

Berühmt wurden H. G. Wells mit «The First Men in the Moon», Arthur Schnitzler mit ­«Lieutenant Gustl» und Thomas Mann mit den «Buddenbrooks».
Den erstmals 1901 vergebenen Nobelpreis für Literatur erhielt jedoch der Franzose Sully ­Prudhomme. Der Physiker Wilhelm Röntgen erhielt die Auszeichnung für die Entdeckung der Röntgenstrahlen, der Mediziner Emil von Behring für seine Serumtherapie zur Behandlung der Diphtherie und Henry Dunant (Friedens­nobelpreis) für die Gründung des Internationalen Roten Kreuzes.

Nicht berücksichtigt wurde der Psycho­analytiker Sigmund Freund, der in den folgenden Jahren zwölfmal nominiert, aber nie auszeichnet wurde. Er publizierte 1901 sein Werk «Zur ­Psychopathologie des Alltagslebens», in dem er unter anderem den «freud’schen Versprecher» untersuchte, den er für einen «Mechanismus des Unterbewussten» hielt. Ein freud’scher Versprecher wäre zum Beispiel: Wenn Sie im Hochsommer ein Hotelzimmer mit defektem Ventilator betreten und seufzen: «Ich brauche jetzt dringend einen Vibrator».

© Basler Zeitung; 27.05.2016

#chronos (1965)

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«If you’re going through hell, keep going», sagte der Mann, der zwei Weltkriege überlebte und als britischer Premierminister seinem Volk «Blut und Tränen» versprach. Winston Churchill starb im Alter von 91 Jahren. Er war eine der grossen ­Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts. Für sein historisch-biografisches Werk erhielt er den Nobelpreis für Literatur (1953), seine Lebens­weisheiten gehören heute zu den besten Zitaten seiner Zeit. Vielleicht mit Ausnahme von «No sports». Über die muslimische Welt äusserte er sich unterschiedlich: «Der Einfluss der Religion paralysiert die soziale Entwicklung. Es gibt in der Welt keine rückwärtsgewandtere Kraft.»

In Frankreich wurde General Charles de Gaulle («L’état, c’est moi»; das Zitat stammt ursprünglich vom Sonnenkönig Ludwig XIV.) erneut zum Staats­präsidenten gewählt. «Der Staat bin ich», ist auch heute noch eine sehr beliebte Selbsteinschätzung von weiblichen und männlichen Staatschefs, die gerne über die Köpfe der Parlamente hinweg ­entscheiden. Auf Kuba war es auch die Devise von Fidel Castro. 1965 wurde die Vereinigte Partei der Kubanischen Sozialistischen Revolution (PURSC) in die Kommunistische Partei Kubas (PCC) umbenannt. Den Alltag der Menschen hat es nicht ­wirklich verbessert.

Grossflächige Stromausfälle gab es nicht nur auf Kuba, sondern 1965 auch im Nordosten der USA und in Teilen Kanadas. Für dreissig Millionen Menschen dauerte die Nacht einen ganzen Tag. Neun Monate später wurde ein Babyboom registriert. Vielleicht wären staatlich ­verordnete Stromausfälle die Lösung für Europas ­Überalterung.

Stromausfälle gab es auch in der DDR, aber da 1965 die Antibabypille eingeführt wurde, blieb der Bevölkerungszuwachs bescheiden. Das mag auch daran liegen, dass immer mehr Menschen den «antifaschistischen ­Schutzwall» (Mauer) ­überwanden, um dem ­Diktat der «Abschnitt­sbevollmächtigten« zu ­entkommen. Eine mögliche Wiederaufforstung der Arbeiterklasse wurde also durch die Einführung der Pille eher behindert.

Während sich die DDR-Flüchtlinge, abgesehen von der Freiheitsliebe, keines Verbrechens ­schuldig gemacht hatten, lag der Fall bei Ronald Biggs etwas anders. Dem legendären Posträuber gelang es, mit einer Strickleiter die Gefängnismauern des Londoner Wandsworth-Gefängnisses zu überwinden und mit einem von Komplizen geparkten Möbelwagen eine filmreife Flucht ­hinzulegen. Er verbrachte die nächsten 30 Jahre in Rio und verdiente sein Geld mit Werbung für Alarmanlagen.

In den europäischen Kinos sorgte ein anderer Ganove für Aufsehen: Auric Goldfinger wollte die Goldbestände der USA in Ford Knox radioaktiv verseuchen, damit der Wert seines eigenen ­Golddepots in die Höhe schnellt. In diesem dritten Bond-Film musste Sean Connery das ­internationale Währungssystem retten, das damals noch an Gold gekoppelt war. Obwohl Goldfinger gegen Ende durch den Druckabfall im Flugzeug durch das zersplitterte Kabinen­fenster gesaugt wird, liegt der Unzenpreis nicht mehr bei 35, sondern mittlerweile bei rund 1280 Dollar.

Die Beatles setzten ihren kometenhaften ­Aufstieg fort und veröffentlichten mit «Help» ihr fünftes Album. Die gleichnamige Single erreichte weltweit die Chartspitzen. Ähnlich wie bei «With A Little Help From My Friends», das erst mit der archaischen Interpretation des stimmgewaltigen Joe Cocker dem Text gerecht wurde, erlangte «Help» erst mit der grossartigen Coverversion von Krokus die berührende Tiefe, die man bei der leichtfüssigen Beatles-Darbietung kaum ­wahrgenommen hatte.

When I was younger, so much younger than today, I never needed anybody’s help in any way.

Claude Cueni ist Schriftsteller und lebt in Basel.

www.cueni.ch

© Basler Zeitung; 13.05.2016

#chronos (1970)

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Die Arschkarte. 1970 entschied sich die Duden­redaktion, dieses feminine Substantiv in ihren mittlerweile zwei Milliarden Worte umfassenden Sprachkorpus aufzunehmen. Die «Arschkarte» wurde nach Einführung der Roten Karte im ­Fussball populär. Um Verwechslungen zu ­vermeiden, bewahrten die Schiedsrichter die Gelbe Karte in der Brusttasche, die Rote Karte in der Gesässtasche und zogen fortan nach grobem Foulspiel die «Arschkarte». Wenn heute jemand vom Pech verfolgt ist, sagt er: «Ich habe die ­Arschkarte gezogen.»

Die deutschen Fernsehzuschauer konnten ab 1970 die Tagesschauen von ARD und ZDF in Farbe empfangen. Was sie nun in Farbe sahen, war aber genauso unerfreulich wie das, was sie zuvor in Schwarz-Weiss gesehen hatten: US-Präsident Richard Nixon kündigte in einer Fernseh­ansprache den Angriff auf Kambodscha an, in Ohio wurden vier Anti-Vietnam-Demonstranten von Nationalgardisten erschossen, palästinen­sische Terroristen töteten neun israelische ­Schulkinder, Swissair-Flug 330 wurde Opfer eines Terroranschlags, in Deutschland wurde die ­Terrorgruppe Rote Armee Fraktion gegründet und die «marxistisch-leninistische demokratische Front zur Befreiung Palästinas» verübte ein ­Attentat auf Jordaniens König Hussein I. und bescherte dem Land einen verlustreichen ­Bürgerkrieg («Schwarzer September»).

Im friedlichen Teil der Welt begeisterte man sich nach drei depressiven Weinjahrgängen für den sensationellen 70er Bordeaux in Saint-Emilion und Pomerol. Der 1970er Château Pétrus gilt heute gar als Jahrhundertwein. Genauso erfolgreich war der Jahrgang der Film- und Musikproduktionen.

Alain Delon, André ­Bourvil, Yves Montand und Gian Maria Volonté waren die «Vier im roten Kreis». Mit dem epischen Gangsterfilm schuf Jean-Pierre Melville einen Klassiker, der sowohl in Europa als auch in Amerika begeisterte. Kultregisseur Michelangelo Antonioni drehte mit dem Roadmovie «Zabriskie Point» eine Hommage an die 68er-Bewegung, während Arnold Strong in den europäischen Kinos als «Herkules» sein Filmdebüt gab und ­später als Arnold Schwarzenegger Weltruhm erlangte.

1970 erhielt der Erfinder Douglas C. Engelbart ein Patent auf einen «X-Y-Positions-Anzeiger für Bildschirmsysteme», das heute der Einfachheit halber «Maus» genannt wird. Die Firma Apple lizenzierte in den 80er-Jahren diese «Maschine-Mensch-Schnittstelle» und brachte sie als Kugelmaus erstmals in ihrem Rechner «Lisa» auf den Markt. Trotz grosser Werbekampagne scheiterte der Rechner. Er war zu teuer.

Erfolgreichere Werbung betrieb Jägermeister: «Ich trinke Jägermeister, weil mir Roland tatsächlich nur seine Briefmarkensammlung gezeigt hat.» Gezeigt wurde eine hübsche, junge Frau mit einer offenen Flasche Jägermeister und einem Glas. Nachträglich für Ironie sorgt auch die VW- ­Werbung von 1970: «Es gibt noch Dinge, auf die man sich verlassen kann.»

Sex sells. Die britische Boulevardzeitung The Sun druckte erstmals ein Seite-drei-Girl auf der Frontseite und steigerte damit die Auflage um sage und schreibe 40 Prozent. Ob das den heute weltweit grassierenden Auflagenschwund der Printmedien stoppen könnte?

Nicht mehr aufzuhalten war die Trennung der «Fab Four» aus Liverpool. Zehn Jahre hatten ­ausgereicht, um eine der grössten Rockbands aller Zeiten zu werden und mit 200 Songs Musikgeschichte zu schreiben. Mit «Let It Be» brachten die zerstrittenen Pilzköpfe John Lennon und Paul McCartney ihre Abschieds-LP doch noch zustande.

For though they may be parted

There is still a chance that they will see

There will be an answer

Let it be

#chronos (1966)

 the-good-the-bad-and-the-ugly-il-buono-il-brutto-il-cattivo.9123 mao beattles-1966_3318771b frauenstimmrecht1920 simon-and-garfunkel-bookends 

«We’re mo­re po­pu­lar than Je­sus now.» Als John Len­non in ei­nem In­ter­view mit dem Lon­do­ner Eve­ning Stan­dard sag­te, sie sei­en nun po­pu­lä­rer als Je­sus, boy­kot­tier­ten Ra­dio­sta­tio­nen die ­Bea­tles Songs; re­li­gi­öse Fa­na­ti­ker ver­brann­ten öf­fent­lich ih­re Al­ben. Für die Pu­ber­tie­ren­den der 60er-Jah­re ein kla­res Kaufsi­gnal. Die Bea­tles do­mi­nier­ten gleich mit meh­re­ren Singles die in­ter­na­tio­na­len Charts.

Mit den «Vier Al­ten» mein­te Mao Ze­dong nicht die «Fab Four» aus Li­ver­pool, son­dern die Pfei­ler der «Gros­sen Pro­le­ta­ri­schen Kul­tur­re­vo­lu­ti­on»: al­te Denk­wei­sen, al­te Kul­tu­ren, al­te Ge­wohn­hei­ten, al­te Sit­ten. Al­les soll­te zer­schla­gen wer­den. Voll­stre­cker wa­ren die Ro­ten Gar­den, die ­Tau­sen­de von Men­schen tö­te­ten, Stadt­be­woh­ner ver­trie­ben, Woh­nun­gen plün­der­ten und fast 5000 his­to­ri­sche Stät­ten für im­mer zer­stör­ten. In Tei­len Chinas herrsch­te Bür­ger­krieg. Ein­mal mehr ­schei­ter­te der Ver­such, die Rea­li­tät ei­ner Ideo­lo­gie an­zu­pas­sen, die der Na­tur des ­Men­schen wi­der­spricht.

In der Schweiz er­hiel­ten nach den Kan­to­nen Neu­en­burg und Waadt auch die Bas­le­rin­nen das Stimm- und Wahl­recht. Dass die Schweiz als ei­nes der letz­ten eu­ro­päi­schen Län­der das Frau­en­stimm­recht ein­führ­te, lag we­ni­ger an den an­geb­lich «hin­ter­wäld­le­ri­schen Schwei­zern», son­dern ein­fach dar­an, dass in al­len üb­ri­gen Län­dern das Frau­en­stimm­recht nicht nach ei­ner de­mo­kra­ti­schen Volks­ab­stim­mung ein­ge­führt wur­de, son­dern von oben dik­tiert wor­den war.

Von oben dik­tiert wur­de auch, was auf den In­dex Li­brorum Pro­hi­bi­torum («Ver­zeich­nis der ver­bo­te­nen Bü­cher») kam. Das war ein Ver­zeich­nis der rö­mi­schen In­qui­si­ti­on aus dem Jah­re 1559, das fort­wäh­rend ­ak­tua­li­siert wur­de und zu­letzt 6000 ver­bo­te­ne Bü­cher ­auf­lis­te­te. 1966 wur­de der In­dex ein­ge­stellt, da Ka­tho­li­ken trotz der an­ge­droh­ten Ex­kom­mu­ni­zie­rung wei­ter­hin die ver­bo­te­nen Lie­bes­ge­schich­ten von Balzac und Du­mas la­sen.

Gros­ses ver­kün­de­te auch die UNO mit ih­rem Men­schen­rechts­pa­ket über bür­ger­li­che und po­li­ti­sche Rech­te so­wie über wirt­schaft­li­che, so­zia­le und kul­tu­rel­le Rech­te. Wahr­schein­lich ist das ei­ne oder an­de­re man­gel­haft über­setzt wor­den. An­ders ist nicht zu er­klä­ren, dass aus­ge­rech­net 2015 der sau­di­sche Bot­schaf­ter Fai­sal bin Hassan Trad zum Vor­sit­zen­den ei­ner Be­ra­ter­grup­pe des UN-Men­schen­rechts­rats ge­wählt wur­de.

Bad Guys wur­den auch im Ki­no po­pu­lär. In Ser­gi­os Leo­nes «Zwei glor­rei­che Ha­lun­ken», (Il buo­no, il brut­to, il cat­ti­vo) spiel­te Clint East­wood den wort­kar­gen Kopf­geld­jä­ger, den na­men­lo­sen De­spe­ra­do, der zum An­ti­hel­den des Jahr­zehnts wur­de. Nach Be­en­di­gung sei­ner Dol­lar-Tri­lo­gie woll­te Leo­ne sei­nen neu­en Star für die Hauptrol­le von «Spiel mir das Lied vom Tod» ver­pflich­ten. Die fi­nan­zi­el­len Er­war­tun­gen von Clint East­wood wa­ren aber so, dass sich Ser­gio Leo­ne nach ei­nem har­ten Re­de­du­ell für den da­mals kaum be­kann­ten Charles Bron­son ent­schied.

Ein 18-jäh­ri­ger Schü­ler er­schoss in Ari­zo­na sechs Frau­en. Bei sei­ner Fest­nah­me sag­te er, er ha­be be­rühmt wer­den wol­len. Wie hiess er schon wie­der?

Auf den Thea­ter­büh­nen be­schimpf­te Pe­ter Hand­ke sein Pu­bli­kum («Pu­bli­kums­be­schimp­fung»), wäh­rend Fried­rich Dür­ren­matts «Me­te­or» die Erdat­mo­sphä­re er­reich­te. Im US-Fern­se­hen star­te­te die TV-Se­rie «Star Trek» (Raum­schiff En­ter­pri­se), die bis 1969 erst­aus­ge­strahlt wur­de; in den in­ter­na­tio­na­len Charts er­schie­nen un­zäh­li­ge Ohr­wür­mer, die heu­te Klas­si­ker der Pop Ge­schich­te sind: «Paint It Black», «Pa­per­back Wri­ter», «Sum­mer In The Ci­ty», «The Last Train To Clarks­ville», «Mon­day Mon­day», «Rai­ny Day Wo­man», «The Sound of Si­lence»:

«Hel­lo dar­kness, my old fri­end

I’ve co­me to talk with you again.»

#chronos (1976)

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«Warum willst du den Job?»

«Ich kann nachts nicht schlafen», antwortete der «Taxi Driver» Travis Bickle (Robert De Niro) im gleichnamigen Film von Martin Scorsese. Der preisgekrönte und kontrovers diskutierte Film zeigte die psychische Deformation von «Gottes einsamstem Mann», das Abgleiten von Frustration in einen zerstörerischen Wahn: «Hört zu, ihr Wichser, ihr Scheissköpfe. Hier ist ein Mann, der sich nicht mehr alles gefallen lässt.»

Aufsehen erregte 1976 auch eine Studie der US-Regierung, wonach weltweit pro Kopf 12 330 Dollar für Rüstungsgüter und nur gerade mal 129 Dollar für Schulbildung ­ausgegeben ­werden.

Erkenntnisse anderer Art erlangte ein ­Unterausschuss des US-Senats in der Lockheed- Affäre: Angehörige der Geschäftsführer des ­Flugzeugbauers hatten insgesamt 22 Millionen Bestechungsgelder bezahlt, um den Verkauf von Militärflugzeugen «argumentativ» zu unterstützten. Die Millionenbeträge waren an «Volks­vertreter» nach Deutschland, Italien und Japan ­geflossen und hatten Rücktritte und Verur­teilungen zur Folge. In den Niederlanden wurde Prinz Bernhard gezwungen, alle öffentlichen ­Ämter abzugeben. Der Partylöwe bestritt stets, 1,1 Millionen Dollar Schmiergelder erhalten zu haben. Nach seinem Tod wurde es öffentlich: Er hatte doch.

«Das Dogma ist weniger wert als ein Kuhfladen», hatte der chinesische Diktator ­philosophiert, der 1976 von geschätzten 1,5 Millionen Menschen zu Grabe getragen wurde. Wie gross die Wunden sind, die der kommunistische Staatsgründer und Massenmörder Mao Zedong mehreren Generationen zugefügt hat, zeigte ein Ereignis im Jahre 2016: In der Provinz Hanan wurde eine gigantische Mao-Statue von 37 Metern Höhe errichtet. Bereits nach wenigen Tagen war sie zerstört. Von Vandalen sagten die einen, wegen einer fehlenden Baubewilligung sagte die Regierung.

1976 ereignete sich in den Produktionshallen der italienischen «Todesfabrik» (La Republica) Icmesa eine Explosion. Erst nach neun Tagen ­meldete die Eigentümerin Hoffmann-La Roche/Givaudan die Zusammensetzung der Giftwolke: Dioxin. Inzwischen waren in Seveso die Blätter der Bäume vergilbt und Haustiere gestorben. Über 600 Menschen wurden evakuiert, die Zahl der Missgeburten vervierfachte sich darauf. Die ­Ursachen des bisher grössten Giftgasunglücks der ­Nachkriegszeit waren mangelhafte Technik und unqualifizierte Hilfskräfte. Roche weigerte sich, Entschädigungen in Höhe von 300 Millionen zu bezahlen. Die ersten Todesopfer kommentierte der damalige Roche-Chef Adolf Jann so: «Die Frau, die leider gestorben ist, litt unter Asthma.» Erst nach einem Jahr zahlte Roche 30 Millionen in einen «Soforthilfefonds»: «Wir haben nicht die Absicht, die Schulden der ganzen Lombardei zu bezahlen.»

Ein ganz anderes Gift besang die Rockband Eagles auf ihrem fünften Album. War der Song «Hotel California» eine Metapher für die Drogensucht, ein Hotel, das scheinbar jeden Wunsch erfüllt und aus dem es kein Entrinnen mehr gibt?

«You can checkout any time you like, but you can never leave!» Songwriter Don Felder schrieb später in seiner Autobiografie, «Hotel ­California» sei immer das, was die Menschen darin sehen möchten.

1976 gründeten Steve Jobs, Steve Wozniak und Ronald Wayne mit einem Startkapital von 1300 Dollar die Garagenfirma Apple. Wayne stieg am nächsten Tag gleich wieder aus. Wer zu früh geht, den bestraft das Leben auch. Aber wieso «Apple»? Wozniak schrieb in seiner Auto­biografie, dass Jobs gerade eine Apfeldiät machte und der Name dann vor dem Konkurrenten Atari im Telefonbuch stehen würde.

#chronos (1948)

Bildschirmfoto 2016-03-11 um 04.15.32«Falls andere das können, kannst du es auch.» Bill Rosenberg (1916–2002), Sohn jüdischer Einwanderer, hatte nach dem Krieg Fabrikarbeiter in Boston mit Snacks und Kaffee beliefert. Als er 1948 bereits zweihundert Catering-Fahrzeuge im Einsatz hatte, eröffnete er die Imbissbude «Open Kettle» (Offene Kanne). Er servierte Donuts mit bunten Fett-Zucker-Glasuren, aber nicht in den üblichen fünf Variationen, sondern in 52 ­verschiedenen Ausführungen. Zwei Jahre später nannte er seinen Betrieb «Dunkin’ Donuts». Heute arbeiten 120 000 Mitarbeiter in 55 Ländern für das Franchise-Unternehmen und Homer Simpson schwärmt immer wieder: «Mmmm, donuts.»

Ein bekennender Donuts-Liebhaber, der sich sogar mit Donuts ablichten liess, war auch US-Präsident Harry S. Truman, der 1948 in seinem Amt ­bestätigt wurde. Er hatte zuvor die Rassen­trennung in den Streitkräften aufgehoben und den Marshallplan unterschrieben, der 5,3 Milliarden Dollar für den Wiederaufbau Europas ­freimachte. Mit den Geldern sollten aber auch neue Absatzmärkte geschaffen und die kommunistische Expansion eingedämmt werden.

Eine halbe Milliarde ging an Deutschland, das im Zuge der Währungsreform die Reichsmark durch die D-Mark ersetzte. Eine Folge davon war die Strafblockade Westberlins durch die ­Sowjetunion. Die Alliierten errichteten eine ­Luftbrücke und versorgten die Berliner aus der Luft. Nebst Nahrungsmitteln brachten die «Rosinenbomber» auch die erste Nummer des Wochenmagazins Stern und die erste Nummer der Masturbationsvorlage Quick unter die Leute. Die Sekretärin des Chefredaktors war Traudl Junge. Kurz vor ihrem Tod diktierte sie ihre ­Memoiren. Der Titel war: «Bis zur letzten Stunde. Hitlers Sekretärin erzählt ihr Leben».

Die neuen Grenz­ziehungen nach dem Zweiten Weltkrieg schafften die Grundlage für zahlreiche neue Kriege. Der UN-Teilungsplan konnte die jüdisch-arabischen Spannungen erwartungs­gemäss nicht entschärfen. Kurz vor Beendigung des britischen Mandats verlas Ben-Gurion am 14. Mai 1948 die israelische Unabhängigkeits­erklärung. Bereits am nächsten Tag griff eine ­arabische Allianz, bestehend aus Ägypten, Syrien, Libanon, ­Jordanien und dem Irak, den neuen Staat an. Sie ­wiesen den UN-Teilungsplan zurück, ­bestritten das Existenzrecht Israels und wollten die neuen Nachbarn vernichten.

Nicht minder kriegerisch ging es in ­Griechenland zu. Hier tobte ein Bürgerkrieg ­zwischen Regierungstruppen und kommunistischen Rebellen, die von der Sowjetunion ­unterstützt wurden. Auch Asien kam nicht zur Ruhe. In China marschiert Maos Volksbefreiungsarmee in die Mandschurei ein; Korea wurde in zwei Staaten aufgespalten: Im Norden terrorisierte fortan die totalitäre «demokratische» ­Volksrepublik ihre Bürger, im Süden wurde die Republik Korea (Südkorea) ausgerufen. Auch die Aufteilung von Britisch-Indien in ein muslimisch dominiertes Pakistan und ein hinduistisch ­geprägtes Indien führte zu kriegerischen ­Auseinandersetzungen um den ehemaligen ­Fürstenstaat Kaschmir. Dabei kam der ­berühmteste Pazifist seiner Zeit ums Leben: der 78-jährige Anwalt, Asket, Revolutionär und «religiöse Atheist» Mahatma Gandhi fiel einem ­Attentat zum Opfer.

1948 brachte der deutsch-französische ­Regisseur Max Ophüls (1902–1990) den Film «Brief einer Unbekannten» in die US-Kinos. Der Film basierte auf der Novelle eines anderen ­Pazifisten: Stefan Zweig (1881–1942). Er war an der «Zerstörung seiner geistigen Heimat Europa» verzweifelt und hatte sich mit einer Überdosis Veronal sechs Jahre zuvor in Brasilien das Leben genommen.

#chronos (1948) Folge 35

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Die ersten 50 chronos Folgen erscheinen Ende Jahr in Buchform

#chronos (1979)

chronos1979«Und sie bewegt sich doch!» 1979 setzte Papst Johannes Paul II. eine Kommission ein, um nach dreieinhalb Jahrhunderten die Rehabilitierung von Galileo Galilei (1564–1642) zu prüfen. Nach Jahren intensiver Forschung kamen die ­vatikanischen Ermittlungsbehörden zum Schluss, dass dem toskanischen Gelehrten Unrecht ­geschehen war und dass die Erde doch ziemlich rund ist. Einige Islamgelehrte wie Bandar ­al-Khaibari predigen heute noch, dass die Erde stillsteht. Wissenschaftliche Erkenntnisse müssen stets gegen die Religion erkämpft werden.

«1979» hatte auch für die islamische Welt eine grosse Bedeutung. Es entspricht dem Jahr 1400 des islamischen Kalenders. Gemäss Überlieferung beginnt dann die «Endzeit». Schah Mohammad Reza Pahlavi, der Schah von Persien, setzte sich in Begleitung von Kaiserin Farah Diba ins Ausland ab und überliess den Pfauenthron dem 77-jährigen Religionsführer Ayatollah ­Khomeini. Dieser hob die seit fünfzig Jahren ­geltende Säkularisierung wieder auf, führte die Scharia ein und entzog den Frauen alle Rechte, die sie einst im Zuge der «Weissen Revolution» erhalten hatten.

Auch in Nicaragua wurde ein Alleinherrscher gestürzt. Sandinistische Revolutionstruppen ­marschierten in der Hauptstadt Managua ein und beendeten die 35-jährige Diktatur des Somoza- Clans. Der letzte Somoza floh mit seinem ­Generalstab nach Florida. Die mit grotesker ­Brutalität ­regierende Somoza-Dynastie hatte fast die gesamte ­Wirtschaft des ­Landes unter ihre Kontrolle gebracht. ­Aufgrund ihrer ­antikommunistischen ­Haltung waren sie lange von den USA unterstützt und an der Macht gehalten worden.

Auch in Kambodscha wurde ein Diktator gestürzt: Pol Pot. Die vietnamesische Armee marschierte in Phnom Penh ein und beendete die Terrorherrschaft der ­maoistischen Roten Khmer, die beim Versuch, das Land in eine »blühende kommunistische Zukunft« zu führen, rund zwei Millionen ­Menschen umgebracht hatten. Viele flohen. Ein Frachtschiff nahm die ersten vietnamesischen Flüchtlinge auf und rettete über 11 000 von ihnen vor dem Ertrinken und dem Hungertod. Das Schiff hiess »Cap ­Anamur« und gab der Hilfsorganisation deutscher Notärzte den Namen.

Friedlicher endete die Abspaltung des ­nördlichen Juras vom Kanton Bern nach 165-jähriger Zugehörigkeit. Ganz so gewaltfrei verliefen die Geburtswehen des 26. Schweizer Kantons allerdings nicht: Der Separatist Christophe Bader hatte vor dem Berner Rathaus eine Bombe zünden wollen. Der Sprengsatz detonierte frühzeitig. Er wurde nicht in Stücke gerissen, sondern von der Wucht der Explosion getötet. Als seine Mutter in der Aufbewahrungshalle in Saignelégier vom «letzten Schweizer Terroristen» Abschied nahm, fragte sie den toten Sohn: «Warum hast du das getan? War das dein Leben wert?»

Sowjetische Truppen landeten in Kabul und setzten eine neue kommunistische Führung ein. Es war erst der Auftakt zu einem ­langjährigen Konflikt der das Vietnam der ­Sowjetunion ­werden sollte. Nach dem Abzug 1989 folgte bald einmal ein Bürgerkrieg und der Aufstieg der ­Taliban.

In den USA startete der erste Star-Trek-­Kinofilm: «Wieso arbeiten die Transporter der Enterprise nicht, Mr. Scott?» Marlon Brando ­brillierte in «Apocalypse Now» («Wie nennt man das, wenn Mörder Mörder anklagen?») und ­Ridley Scott inszenierte seinen ersten «Alien». Einer der bedeutendsten Surrealisten des 20. Jahrhunderts hatte das Monster erschaffen: der Schweizer H. R. Giger. Nach dem Oscar­gewinn (1980) erhielt er in der Heimat keine grosse Ausstellung mehr. Erfolg hat viele Neider.

© Basler Zeitung – Claude Cueni ist Schriftsteller und lebt in Basel.

#chronos (1958)

 

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«Spiel gut», riet der dänische Kunsttischler Ole Kirk Christiansen seinem Sohn Godtfred, als er ihm in den 30er-Jahren Holzbauklötze zum Spielen gab. Am 28. Juli 1958 meldete sein ­mittlerweile erwachsener Sohn das Steckprinzip für Spielbausteine zum Patent an. Als Markenname wählte er «Leg godt» (dt.: «Spiel gut»). ­Daraus wurde auf dem Patentamt das besser ­verständliche «Lego». Der Konzern erwirtschaftet heute einen Jahresumsatz von ca. 3,4 Milliarden Euro. Trotz einiger Produkteflops und Shitstorms von Gender-Expertinnen und Umweltaktivisten bewerfen auch heute noch Kinder ihre nicht erziehbaren Eltern mit Lego-Bausteinen und ­zwingen ihre Grosseltern, auf allen vieren nach vermissten Einzelstücken zu suchen.

Auf Spurensuche war auch Mount-Everest-Bezwinger Edmund Hillary, als er den Gipfel erreichte. Er hielt Ausschau nach Hinweisen auf eine eventuell frühere Ersteigung durch die vor 29 Jahren in Gipfelnähe verschollene ­Seilschaft von Mallory und Irvine. Er fand angeblich ­keinerlei Spuren. Einem Zweifler sagte er, dass es nicht darauf ankomme, wer als Erster oben war, sondern wer als Erster wieder unten war, lebendig.

Während auch in Europa während des «Kalten Krieges» Gefriertemperaturen erreicht wurden, erstarkte die Friedensbewegung und marschierte im weltweit ersten «Ostermarsch» auf das Gelände des Kernwaffen­forschungs-Zentrum in Aldermaston (Grossbritannien). Die ­«Campaign for Nuclear ­Disarmament» hatte dazu ­aufgerufen und dem britischen Künstler und Kriegsdienstverweigerer Gerald Herbert Holtom (1914 – 1985) den Auftrag erteilt, ein Logo zu entwerfen. Sein­ ­«Peace»-Zeichen wird heute weltweit als Friedenssymbol verwendet.

Weniger Probleme mit dem Kriegsdienst hatte Elvis Presley, der mit dem Truppentransportschiff General Randall in Bremer­hafen anlegte, um als Soldat einer ­Panzereinheit bei der in Deutschland stationierten US-Armee Wehrdienst zu leisten. Der damals grösste Star der Rock- und Popkultur wurde bei seiner Ankunft von kreischenden Fans frenetisch begrüsst.

Selfies waren noch nicht möglich. In Deutschland kam gerade das erste Autotelefon in den ­Verkauf, es kostete allerdings noch die Hälfte eines Neuwagens. Für Deutschland bedeutsamer war das neue Gleichstellungsgesetz, das Frauen fortan erlaubte, auch ohne die Zustimmung des Ehemannes einen Beruf auszuüben. Da Frauen nun weniger Zeit zum Kochen haben würden, brachte Knorr eine Fertigsuppe mit Champignons auf den Markt, «die wirklich den höchsten ­Anforderungen entspricht».

Den höchsten Anforderungen genügte auch der bisherige Ministerpräsident Charles de Gaulle, den die Franzosen mit grosser Mehrheit (78 Prozent) zum französischen Staats­präsidenten ­wählten. Charles de Gaulle bezeichnete sich selbst als Monarchist: «Je suis un ­monarchiste, la ­République n’est pas le régime qu’il faut à la France.»

«Einer allein fährt manchmal ohne Ziel herum. Zwei zusammen haben meistens ein Ziel» war eine Dialogzeile aus Alfred Hitchcocks ­«Vertigo» mit James Stewart und Kim Novak. Der Film wurde seinerzeit von Filmkritikern als «weit hergeholter Unsinn» bezeichnet und ist heute auf der S&S Liste als einer der besten Filme aller Zeiten aufgeführt. Jede Expertenschaft ist relativ.

Absolut sicher waren sich hingegen die ­Experten bei der Einschätzung eines 17-jährigen Brasilianers, der im WM-Finale gegen Schweden (2:5) zwei Tore zum Sieg beitrug. Nach 1283 Toren in 1364 Spielen sagte Fussballgott Pelé: «Ein Leben ohne Fussball kann ich mir nicht ­vorstellen. Ich hoffe, man kann auch im Himmel Fussball spielen…»

© Basler Zeitung 12.1.2016